Putin als Vorbild in der Diktatur Nicaragua.

Diktator und Kirchenverfolger Daniel Ortega: Freund von Putin. Und von Kardinal Obando (Managua) einst an die Macht gebracht!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Angesichts des Krieges Putins gegen die Ukraine wird manchmal übersehen, wie weit der Einfluß Putins auch bis nach Lateinamerika reicht, etwa in Nicaragua: Für die Diktatur unter der Herrschaft von Daniel Ortega und seinem Familienclan ist Putin geradezu ein Vorbild!

2.
Darauf weist jetzt der Nicaragua Spezialist Thomas Krämer, Münster, hin. Er kennt seit mehr als 30 Jahren die Verhältnisse in Mittelamerika, er ist Geschäftsführer der auf Zentralamerika spezialisierten „Romero-Initiative – Stimme der Gerechtigkeit“. In Heft 2/2022 der Zeitschrift „Presente“ schreibt Thomas Krämer auf S. 18 ff. u.a.:

„Vor eineinhalb Jahren trat in Nicaragua das Gesetz 1040 zur Regulierung ausländischer Agenten in Kraft. Über 200 NGOs wurde mit fadenscheinigen Gründen die Rechtspersönlichkeit entzogen. Kritische Organisationen in Nicaragua sollen dauerhaft mundtot gemacht werden, die Zivilgesellschaft zerstört werden. Dies führte zu einer Paralyse der NGOs. Auch hier orientiert sich Staatschef Ortega an Putin.
Das Gesetz in Nicaragua wird im Volksmund „Ley Putin“ (Gesetz Putin) oder „Ley Rusa“ (Russisches Gesetz) genannt. Das nicaraguanische Gesetz wurde eins zu eins von einem russischen Gesetz abgeschrieben. Hier wie dort geht es um den Aufbau eines autoritären Staates, der keine öffentliche Kritik zulässt.
Russland fördert solche Entwicklungen weltweit – was die Gegenwehr sehr schwer macht. So haben in Nicaragua alle internationalen Proteste und Sanktionen nichts bewirkt, denn die Regierung kann auf die verstärkte Unterstützung von Russland und China zählen“.

3.
Das wird oft vergessen und verschwiegen:
Dass Daniel Ortega und seine Gattin Camilla Murillo so allmächtig in Nicaragua werden konnten, verdanken sie der Unterstützung des damals sehr einflußreichen und reichen Kardinals und Erzbischof von Managua Obando y Bravo (Mitglied im Salesianerorden Don Boscos). Obando y Bravo, lebte von 1926- 2018, von 1970 bis 2005 war er Erzbischof von Managua, die Befreiungstheologen attackierte er aufs heftigste, unterstützt von Papst Johannes Paul II.
Einst war Erzbischof Obando politischer Gegner der Sandinisten, auch von Ortega. Nach der ideologischen Wende Ortegas nach Rechtsaußen konnte sich dieser der starken Unterstützung durch den Kirchenfürsten erfreuen. Weil Ortega bereit war, im Sinne der katholischen Kirche eines der ganz strengen Gesetze zum Verbot der Abtreibung in Nicaragua durchzusetzen. Das allerwichtigste katholische Grunddogma, das „Pro-Life-Radikal“, hatte also gesiegt (siehe dazu: LINK

Und heute werden die progressiven Kräfte der katholischen Kirche von Ortega und Co.unterdrückt – dem reaktionären Kardinal und Ortega – Gehilfen „sei Dank“.
Reaktionäre Politik von theologisch-reaktionären Kardinälen (und anderen Kirchenfürsten) hat verheerende Konsequenzen für die Menschen, die Demokratie, die Freiheit, die Frauen!

Hintergrund – Infos:
„Von dem konservativen Kardinal Miguel Obando y Bravo, den die Sandinisten beschuldigten, im Bürgerkrieg die rechten Contras unterstützt zu haben, ließ sich Ortega 2005 mit seiner langjährigen Weggefährtin Rosario Murillo verheiraten. Zuvor bat Ortega öffentlich um Verzeihung für die Fehler der Vergangenheit, unter vier Augen versprach er dem Kardinal eine wertkonservative Politik, sollte er wieder an die Macht kommen. Damit war der Keim für eines der striktesten Abtreibungsgesetze Amerikas gelegt. Was die beiden annäherte, war die Notwendigkeit: Ortega brauchte das Wohlwollen der Kirche für seine Wiederwahl, Oban­do brauchte Straffreiheit für seinen Ziehsohn Roberto Rivas. Der hatte über Jahre hinweg krumme Geschäfte mit der Regierung Alemán getätigt und der Kirche Stipendien, eine Radiofrequenz und Lizenzen zur zollfreien Einfuhr von Luxusautos verschafft. Rivas ist seit 20 Jahren Vorsitzender des Wahlrats“.

Über den Ziehsohn Roberto Rivas des zölibatär (?) lebenden Kardinals Obando, schreibt der „Spiegel“ sehr viel deutlicher: „Womöglich hütet der Kardinal Obando auch noch ein süßes Geheimnis: Roberto Rivas, der von Ortega eingesetzte Präsident der Wahlbehörde, ist der Sohn von Obando y Bravos langjähriger Privatsekretärin und Haushälterin. Sein Vater ist nicht bekannt….Quelle: Der SPIEGEL, Artikel vom 1.2.2009: LINK       Ebenso ist wichtig: LINK

Und heute wird die katholische Kirche von Diktator Ortega verfolgt:
Denuncian 190 ataques contra la Iglesia Católica en Nicaragua en menos de 4 años (Es werden 190 Attacken angeprangert gegen die katholische Kirche in Nicaragua in weniger als 4 Jahren)
POR DAVID RAMOS | ACI Prensa
En menos de cuatro años, la Iglesia Católica en Nicaragua ha sufrido 190 ataques y profanaciones, entre ellos un incendio en la Catedral de Managua, así como acoso policial y persecución a obispos y sacerdotes bajo el régimen de Daniel Ortega, actual presidente del país.
La investigación “Nicaragua: ¿una iglesia perseguida? (2018-2022)” de la abogada Martha Patricia Molina Montenegro, integrante del Observatorio Pro Transparencia y Anticorrupción, advierte que “el rol de la iglesia católica ha sido fundamental en la crisis de vulneración de derechos humanos que enfrenta Nicaragua”.
Como respuesta a este papel de la Iglesia Católica, indica el informe de Molina Montenegro, el régimen de Daniel Ortega, que gobierna Nicaragua ininterrumpidamente desde 2007 de la mano de su esposa Rosario Murillo, “inició una persecución indiscriminada en contra de obispos, sacerdotes, seminaristas, religiosas, grupos laicales y hacia todo lo que tenga relación directa o indirecta con la iglesia católica”.
El documento recuerda la crisis que estalló en abril de 2018, con protestas en Nicaragua por una serie de reformas al sistema de seguridad social, que aumentaba la contribución de empresas y empleados, así como deducciones a los jubilados.
Las manifestaciones comenzaron en la ciudad de León y se fueron extendiendo por todo el país.

La violenta represión del gobierno, recuerda el informe de Molina Montenegro, dejó al menos 355 muertos.
En 2021, en medio de denuncias de fraude y de persecución política contra sus contendores, Ortega se reeligió por tercera vez como Presidente de Nicaragua.
Martha Patricia Molina Montenegro recordó que “antes de abril 2018 los atropellos hacia la iglesia eran esporádicos. Después de esa fecha, las hostilidades incrementaron y suben de tono”.
“El lenguaje ofensivo y amenazante de la pareja presidencial contra la jerarquía católica se hicieron cada vez más evidentes y frecuentes; y las acciones de algunas instituciones públicas en contra del trabajo caritativo de la iglesia incrementaron”, señaló.
Aunque “no podemos afirmar que todos los percances compilados en este estudio han sido planeados y ejecutados por los seguidores de Ortega-Murillo”, dijo, “tampoco se puede alegar la no culpabilidad”.
“Lo cierto es que en años anteriores a que el presidente Ortega asumiera el poder, no se realizaban esos ataques frontales en contra de la institución religiosa”, indicó.
El informe de Molina Montenegro señala que en 2018 se registraron 46 ataques contra la Iglesia Católica, entre ellos el ingreso de una turba a la Catedral de Managua , amenazas de muerte a sacerdotes nicaragüenses y profanaciones de distintos templos.
En 2019 ocurrieron 48, entre los que destacan amenazas de muerte contra Mons. Silvio José Báez Ortega, Obispo Auxiliar de Managua, que ese mismo año se tuvo que exiliar fuera de Nicaragua.
En 2020 se produjeron 40 ataques contra la Iglesia, entre ellos profanaciones y el ataque con una bomba molotov a la Catedral de Managua, dañando la capilla de la Sangre de Cristo.
En 2021 se registraron otros 35 ataques, incluyendo profanaciones y robos en iglesias, así como insultos de Daniel Ortega contra los obispos y sacerdotes católicos.
En lo que va de 2022 ya se han contabilizado 21 ataques, entre los que se encuentran el acoso policial contra Mons. Rolando José Álvarez, Obispo de Matagalpa y Administrador Apostólico de la Diócesis de Estelí, en mayo de este año.

SEHR WICHTIGES DOKUMENT:
Para leer el informe completo “Nicaragua: ¿una iglesia perseguida? (2018-2022)”, puede ingresar (hier klicken). AQUÍ.

Wer sich für die Christliche Initiative Romero e.V. (CIR) interessiert:
Schillerstraße 44a · D-48155 Münster
E-Mail: cir@ci-romero.de
Telefon +49 (0) 251 / 67 44 13 – 0
Fax +49 (0) 251 / 67 44 13 – 11)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Buddhismus und Christentum: Was beide Religionen miteinander verbindet. Ein neues Buch von Perry Schmidt-Leukel.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Bestimmte populäre Klischeevorstellungen (auch „Generalisierungen“ genannt) über das angebliche „Wesen“ „der“ Religionen haben sich leider durchgesetzt: Zum Beispiel: „Der“ Buddhismus sei eigentliche eine atheistische Weltanschauung, die „Erlösung des Menschen“ werde für Buddhisten in einem „Nichts“ enden. Hingegen sei das Christentum gebunden an den „personalen“ Gott, der als Heil und Erlösung ein Leben im Himmel verspricht.

2.
Gegen diese Klischee-Vorstellungen hat der Religionswissenschaftler Prof. Perry Schmidt-Leukel (Universität Münster) vielfach schon wichtige Publikationen vorgelegt. Sein neues Buch hat den Titel „Das himmlische Geflecht“, ein vielleicht auch leicht ironisch zu verstehender Titel, der andeuten soll: Wenn man den Blick in die himmlische, göttliche und alles gründende Sphäre lenkt, dann sind die verschiedenen Religionen viel stärker miteinander verbunden, als man populär annimmt. Darum der Untertitel: „Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. In dem Buch geht es um überraschende, durchaus der Sache angemessen anspruchsvolle Überlegungen, die vom Leser hohe Konzentration erfordern.

3.
„Anders“ ist dieser Religionsvergleich, weil er die innere Pluralität der jeweiligen Religionen stark herausstellt. Und dabei entdeckt: Zwischen einzelnen Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und einzelnen Lehren bestimmter christlicher Traditionen besteht (trotz der kulturell und sprachlich bedingten Distanz) doch eine Nähe, eine überraschende Verbundenheit, wenn nicht Gleichheit der Überzeugungen! Dabei ist dem Autor klar: Traditionell bestimmte und begrenzte Interpretationen der jeweiligen Religion können auch zur Einsicht „unversöhnlicher Gegensätze“ führen. Aber Schmidt-Leukel ist es wichtiger, Komplementaritäten in den lehrmäßigen Überzeugungen beider Religionen herauszuarbeiten!

4.
Das neue Buch Schmidt-Leukels ist also ein neuer Vergleich zwischen Christentum und Buddhismus, der sich allerdings auf die objektiv greifbare Ebene der Lehren und Schriften begrenzt. Und da präsentiert der Autor eine große Fülle und Vielfalt. Es geht ihm also nicht um den von konkreten Menschen gelebten Glauben, der sich als je eigener Glaube oft als eine sehr persönliche „Synthese“ von Christentum und Buddhismus versteht. Also etwa: „Ich bin katholisch und gleichzeitig Zen-Buddhist“. Diese religiöse bzw. spirituelle „Doppel-Identität“ (ein „persönliches Oszillieren zwischen den Unterschieden“, S. 355) ist eines der seit langem schon diskutierten Themen Schmidt-Leukels.

5.
Das Buch zeigt also ausführlich: „Es steckt immer irgendein Stück Christentum im Buddhismus und irgendein Stück Buddhismus im Christentum“ (S. 350).

6.
Diese Forschungslinie nennt Schmidt-Leukel mit einem eher ungewöhnlichen, schwierigen, aus der Mathematik stammenden Begriff „fraktal“. Aber die mit diesem schwierigen Begriff gemeinte Sache erschließt sich auch, wenn man sich nicht auf den Begriff fixiert und die einführenden, sehr anspruchsvollen methodischen oder „Meta“-Überlegungen (S. 18-89) den Spezialisten erst mal überlässt.

7.
Es bleibt also interessant, wie diese Linie (siehe Nr. 5) an sechs zentralen Lehren beider Religionen konkretisiert wird, also: „Weltflucht oder Weltzuwendung?“, „Impersonales Absolutem oder personaler Gott?“, „Verblendung oder Sünde?“, „Erwachter Lehrer oder inkarnierter Gottessohn?“, Selbsterlösung oder Fremderlösung?, „Glückseliges Entwerden oder glückselige Gemeinschaft?“.

8.
Nur auf eines dieser Kapitel soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden: Gibt es Gemeinsamkeiten in der buddhistischen Lehre von Buddha als dem erwachten Lehrer und der christlichen Überzeugung von Jesus als dem inkarnierten Gottessohn?
Schmidt-Leukel weiß: Bisher wurde zwischen dieser genannten populären Deutung Buddhas und Jesus Christus „ein Gegensatz“ (S. 225) gesehen. Der manchmal noch gelesene katholische Theologe Romano Guardini habe in seinem Werk „Der Herr“ (veröffentlicht in der Nazi-Zeit 1937) ein gewisses Verständnis für Buddha gehabt, erläutert Schmidt-Leukel. Aber, so Guardini, Buddhas „Wert“ stehe doch hinter Christus zurück. Buddha sei bestenfalls wie Johannes der Täufer als ein Vorläufer Christi zu verstehen (S. 227). Schmidt-Leukel zeigt hingegen, dass Gautama (der Buddha) häufig als Lehrer, großer Lehrer bezeichnet wird und dabei eine „autoritative Verkündigung der Wahrheit“ (S. 237) gelebt hat, wie in einem Akt der Offenbarung“ (ebd.). Jesus wird in den vier Evangelien „41 mal Lehrer genannt wird, kein anderer Titel wird ihm häufiger beigelegt, Jesus ist der Lehrer der Wahrheit (S. 235). Wenn beide, der Buddha und Jesus, also Lehrer sind und als Lehrer verehrt werden, ist Jesus Christus dann noch einmalig, wie Christen oft behaupten? Man muss wohl die sehr deutliche Aussage des großen Zen-Meisters Thich Nat Hanh respektieren: Er sagte: „Natürlich ist Christus einmalig, aber wer ist nicht einmalig? Sokrates, Mohammed, der Buddha, Sie und ich, wir alle sind einmalig“ (S. 245)

9.
Das neue Buch Schmidt-Leukels „Das himmlische Geflecht“ bietet ausführlich neue Erkenntnisse für ein neues Verständnis des Miteinanders von Buddhismus und Christentum. Schmidt-Leukel befreit also von dem Eindruck, beide Religionen würden sich fremd oder gar feindlich oder als Konkurrenten gegenüberstehen.
Beide Religionen stehen einander nahe, sie sind viel ähnlicher als oft angenommen, sie haben eine interne Vielfalt, bei der sich gerade die beiden Religionen gemeinsamen Lehren zeigen. Eine solche Religions-Theologie kann auch politische Wirkungen haben und eher das friedliche Miteinander fördern.

10.
Die Verbundenheit von Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und bestimmter christlicher Traditionen ließe sich auch auf andere Religionen ausweiten, etwa auf den Islam oder bestimmte Formen des Hinduismus. Und wie sieht es im Verhältnis der vielen christlichen Kirchen untereinander aus? Da ist es längst erwiesen, dass ein so genannter Reform-Katholik (des „synodalen Weges“) einem progressiven Lutheraner oder Reformierten näher steht als etwa einem Katholiken des Opus Dei oder der Legionäre Christi. Und ein liberal-theologischer Remonstrant kann einem Humanisten oder einem Unitarier (Anti-Trinitarier) näher stehen als einem „rechtgläubigen“ Calvinisten.
Aber da spielen dann doch normative Kategorien eine Rolle: Bisher ist offensichtlich niemand auf den Gedanken kommen, etwa gemeinsame Glaubensinhalte etwa zwischen den Zeugen Jehovas und den Pfingstgemeinden oder dem Katholizismus herauszuarbeiten? Oder gemeinsame Glaubensinhalte von Mormonen und Anglikanern? Offenbar haben im allgemeinen religionswissenschaftlichen und theologischen Bewusstsein etwa die „Zeugen Jehovas“ oder die „Mormonen“ a priori gar nicht den „Wert“, in einen interreligiösen Vergleich gezogen zu werden. Ist dieses Urteil gerecht, spielen da die Definitionen von „Sekte“ eine Rolle? Aber können nicht auch Teile, oft maßgebliche Teile einer Großkirche eine „Sekte“ sein? Ist etwa das Selbstverständnis des Papstes und des vatikanischen Klerus (auch in der totalen Ablehnung des Priestertums für Frauen) nicht auch Ausdruck einer Sekten-Mentalität? Aber dieses Faktum wird im Interreligiöser Disput nicht benannt. Warum? Weil eben die Institution römische Kirche oder auch orthodoxe Kirche so alt ist und als so „ehrwürdig“ propagiert wird. Da kann nichts von einer Sekte sein…

11.
Noch einmal zu den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten im Buddhismus und Christentum. Man müsste philosophisch nach dem einen gemeinsamen Geist der Menschen fragen, der über alle verschiedenen Kulturen und Sprachen hinaus sich im Laufe der Geschichte Ausdruck schafft in verschiedenen Religionen und religiösen Lehren. Wenn das so ist: Dann stehen die sich aufgrund des „letztlich“ einen schöpferischen Geistes sehr nahe, trotz aller sprachlichen Differenzen und zeitlichen „Abstände“.

12.
Die vielen Religionen als Ausdruck des EINEN, allen Menschen gemeinsamen Geistes zu verstehen, war die Leistung Hegels. An ihn wäre in dem Zusammenhang zu erinnern. Und Hegels Thema, dass es einen gedanklichen Fortschritt in der Geschichte der (Lehren der) Religionen gibt, wäre neu zu stellen. Fortschritt war ja für Hegel immer ein Fortschritt im Bewusstsein (!), also im Wissen, der Freiheit. Er meinte, es gebe auch in der Religionsgeschichte (des einen Geistes) einen Fortschritt hinsichtlich des Erkennens und Wissens der göttlichen Wirklichkeit.
Kriterium war für ihn: Stiftet und fördert eine Religion die Freiheit und Würde des religiösen Menschen? Ich halte dieses Kriterium der Unterscheidung in der pluralen religiösen Welt für sehr wichtig. Falls nicht, dann möchte man auf jede Religionskritik verzichten. Das aber wäre eine Form einer post-modernen Religionstheorie, einer Theorie, für die alle Religionen gleich gut, gleich hübsch, gleich human sind. Dass dies faktisch nicht der Fall ist, dürfte klar sein. Wer also faktische Religionen kritisiert, verurteilt sie nicht, will sie nicht bekämpfen. Er will nur für ein differenziertes Denken sorgen. Und hoffentlich für die ständige Reform, „Weiter-Entwiocklung“ dieser Religionen.
Dies sind Fragen, die sich mir nach der Lektüre des sehr empfehlenswerten, höchst anspruchsvollen Buches von Perry Schmidt-Leukel ergeben.

Perry Schmidt-Leukel, „Das himmlische Geflecht. Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. Gütersloher Verlagshaus, 2022, 415 Seiten, viele Literaturangaben auch zu vielen lesenswerten Arbeiten des Autors, ein Personenregister, 26 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die französischen Bischöfe sind nicht gegen Marine Le Pen. Die Schande.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 20.4.2022. Wieder ist Religionskritik und Kirchenkritik eine aktuelle Hauptaufgabe der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie…

Die angesehene katholische Tageszeitung “La Croix”, Paris, publiziert am 20.4.2022 ein Interview mit dem katholischen Soziologen und Theologen Jean-Marie Donegani, Paris, über die immer größere Bereitschaft der Katholiken, der so genannten praktizierenden Katholiken besonders,  für die rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen am 24.4.2022 zu stimmen.

Die Nerven in Frankreich liegen blank, einige Tage vor der entscheidenden Präsidentschaftswahl. Wird die rechtsextreme Marine le Pen Präsidentin? Dann hätte auch Europa riesige Probleme, zusätzlich zum Krieg Putins gegen die Ukraine und der Covid-Pandemie usw…

Und das Unglaubliche, aber Faktische ist: Etwa 40 % der praktizierenden Katholiken haben im ersten Wahlgang bereits rechtsextrem gewählt. Sie folgen damit der Mutlosigkeit, Ignoranz und Demokratiefeindlichkeit (?) der französischen Bichöfe, die offiell in ihren Verlautbarungen nicht vor den Rechtsextremen warnten und damit alle Prinzipien der katholischen Soziallehren ignorierten. Sind diese Herren Bischöfe selbst etwas sehr rechtslastig? Bei einigen, wie dem Bischof von Fréjus oder von Bayonne, ist diese Tendenz allgemein bekannt!

Professor Donegani sagt in dem Interview u.a.:

“Eine Sache erstaunt mich, nämlich, dass die Bischöfe meinen, den Katholiken bloß zu sagen: “Tut, was ihr richtig findet” anstelle von “Gebt acht bei dieser Wahl”. Die Stellungnahme der Bischöfe scheint mir nicht sehr intelligent zu sein. An der Banalisierung der extremen Rechten teilzunehmen, ist nicht sehr hilfreich, das wird sogar kontraproduktiv sein. Die Kirche beansprucht immer, die Gewissen der Menschen zu prägen, dann hätte sie in ihrer Stellungnahme zur Wahl sehr viel weiter gehen müssen. … Man kann der extremen Rechten nicht seine Stimme geben, wenn diese Partei etwas Böses und Übles banalisiert. Das Übel und das Böse, das ist für diese Partei die Feier und Bejahung der Ungleichheit, der Kultur des Hasses und der Spaltung der Gesellschaft”.

Am 24.4.2022 werden im Fall eines Wahlsieges von Le Pen die Bischöfe scheinheilig sagen: “Wir haben doch unser Bestes getan. Wir sind wie immer ohne Schuld”.

Das ist aber falsch: Diese denkfaulen Bischöfe haben dann den Wahlsieg der Rechtsextremen zugelassen, wenn nicht befördert. Das ist die Wahrheit, die dann wie üblich kein Kleriker hören und akzeptieren wird. Die geistig noch wachen Katholiken werden weiter in Scharen dieser Kleriker-Kirchen fern bleiben. Und ihren christlichen Glauben auf eigene Art leben.

copyright: Christian Modehn, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.

 

 

Frankreichs Bischöfe schweigen zur Wahl von Marine Le Pen und ihrer rassistischen Partei

Vor der Wahl des Präsidenten am 24.4.2022

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 20.4.2022.

1.
Wenn Marine Le Pen zur Präsidentin Frankreichs gewählt wird am 24.4. 2022, und das ist nicht unwahrscheinlich laut neuesten Umfragen, dann ist davon natürlich nicht nur Frankreich betroffen. Sie wird mit ihrem rechtsradikalen Programm innenpolitisch gegen eine humane Ausländer- und Flüchtlingspolitik agieren, das Motto:“Préference Nationale“. Macron wird also ihr „Franzosen zuerst“ durchsetzen und dabei ignorieren, wie viele Millionen Franzosen mit „französischem Pass“ leben, jene also die Vorfahren haben aus „dem Ausland“ und viel für Frankreich getan haben, auch wenn sie in der Banlieue oft unter erbärmlichen Bedingungen leben müssen. Sie wird weiterhin „Islamismus“ und Islam verwechseln…
Die Situation ist auch außenpolitisch sehr bedrohlich, weil Madame Le Pen die EU spalten wird, weil sie dadurch Europa schwächen will im Sinne ihres Gönners Wladimir Putin.
2.
Den „religionsphilosophischen, und das heißt immer religions-kritischen und konfessions-kritischen Salon Berlin“ interessiert vor allem, wie sich die katholischen Bischöfe als die Führer dieser stets kleiner werdenden Herde der französischen Katholiken zur Wahl stellen. Siehe dazu schon am 10.4.: LINK

3.
Die Bischöfe wollen sich jetzt neutral, vielleicht etwas diplomatisch klug geben, man möchte sagen liberal oder auch verängstigt: Denn sie nennen keine explizite Wahlempfehlung für den Demokraten Macron und warnen nicht deutlich vor der rassistischen Partei Le Pens. In Zeiten der tiefen Krise der Demokratie wegen der bevorstehenden Wahl einer rechtsextremen Präsidentin wäre eine klare demokratische Positionierung der Bischöfe dringend geboten! Aber die Bischöfe sprechen kein klares Nein aus zur Wahl von Le Pen. Dabei haben schon im ersten Wahlgang 41% der Katholiken für die Kandidaten der rechten und rechtsextremen gewählt.
Die Bischöfe haben jetzt offenbar Angst, sich in diesem kleinbürgerlichen katholischen Le Pen Milieu unbeliebt zu machen. Der Politologe Pierre-Louis Choquet , Mitglied des „Kollektivs Anastasia“, fordert nun, förmlich in höchster Not, die Bischöfe auf, endlich um der Rettung der Demokratie willen entschieden zur Wahl von Macron aufzurufen und absolutes Nein gegen Le Pen auszusprechen.
Choquet erinnert daran, dass in den Jahren der Nazi-Besetzung, während des rechtsextremen und antisemitischen Pétain-Regimes, die meisten Bischöfe zu diesem Regime geschwiegen haben. Erst im Jahr 1997 haben dann die Bischöfe diese damalige Solidarität mit den Rechtsextremen bedauert, betont Choquet: „Wenn jetzt die Bischöfe sich auf eine unentschiedene Position bei der Präsidentenwahl versteifen, könnte das furchtbare, zerstörerische Konsequenzen fürs Gemeinwohl haben. Bischöfe, beweist euren Mut, und ruft offen dazu auf, Marine Le Pen zu verhindern“.
Einzig der Erzbischof von Strasbourg, Luc Ravel, hat sich offen für die Wahl Macron ausgesprochen! Allerdings nicht in seiner Funktion als Bischof, sondern nur als Bürger Ravel, als citoyen…
4.
Das tun die offenbar verängstigten und feigen Bischöfe aber nicht. Es kann sein, dass die bischöfliche Unentschiedenheit in die Katastrophe einer Präsidentin Marine Le Pen führt. Katholizismus und Rechtsextremismus (auch Faschismus) hat sich oft schon gut vertragen, man denke an die Nähe des Klerus zu Mussolini, Hitler, Franco, Trujillo, usw.
5.
Die „Protestantische Föderation Frankreichs“ ist da demokratischer und klüger: Sie erinnert eine Woche vor der Wahl daran, dass mit der Wahl von Le Pen viele soziale Aktivitäten auch der Protestanten kaum noch Chancen zum Überleben haben. Die demokratisch gewählten Sprecher der Protestanten sagen: Aber wir Bürger befinden uns keineswegs in einer Aussichtslosigkeit. Noch können wir Le Pen verhindern.
Und die Protestanten können stolz sein, dass schon im ersten Wahlgang 36 Prozent der Protestanten Macron gewählt haben, dass ihre Wahlbeteiligung extrem hoch war und bei 83% lag. Nur 17% der Protestanten haben im ersten Wahlgang für Le Pen gestimmt.
6.
Wenn Le Pen am 24.4. 2022 Staatspräsidentin Frankreichs werden sollte und die Katholiken durch ihr Wahlverhalten maßgeblich beteiligt sind, wird den Bischöfen nichts anderes einfallen als zu jammern. Sie werden alle Verantwortung von sich weisen und wie üblich einmal betonen: „Wir wollten doch als Bischöfe gegen die Homo-Ehe eintreten und gegen die Abtreibung und gegen die Euthanasie-Gesetze“….alles Themen, die von Rechtsradikalen unterstützt werden. Auch wenn Marine le Pen sich jetzt zu den Themen moderater gibt. Und die Bischöfe werden sich fragen lassen, ob diese ihre traditionellen Werte im Augenblick höchster Gefährdung der Demokratie so im absoluten Zentrum stehen dürfen. Siehe dazu die dringende Wahlempfehlung für Macron von einigen katholischen Intellektuellen: LINK.
7.
Macron ist in seiner Politik als Präsident das geringere Übel. Aber er ist ein Demokrat. Eine gerechte Sozialpolitik, eine Überwindung der Armut, eine starke Besteuerung des Vermögens der vielen Reichen und Millionäre usw. ist von ihm zwar nicht zu erwarten. Aber mit Macron kann wenigstens noch qualifiziert über eine gerechte Gesellschaft debattiert werden. Das ist schon viel, in Demokratien. Vielleicht wird er, wenn er denn siegt, auch die vielen tausend Wähler des linken Präsidentschaftskandidaten Mélenchon (er erhielt am 10.4. …. der Stimmen) etwas mehr respektieren und deren sozialpolitische Forderungen.
8.
Dass das französische Wahlsystem, wie es seit de Gaulle (im Jahr 1958 durch Volksabstimmung eingeführt) praktiziert wird, dringend umfassend reformiert werden müsste, ist ein anderes Thema. Seit Jahren wird diese französische „Wahlmonarchie“ von einigen Publizisten und Politologen kritisiert: Es ist wirklich ein Präsident, der wie ein Monarch (die Revolution von 1789 scheint vergessen!) eine sehr große Machtfülle auf sich vereint. „Ich kenne in Westeuropa kein Land, in dem der Staatschef (Präsident) so mächtig und das Parlament so ohnmächtig ist…Der Präsident kontrolliert die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Gewaltenteilung zum Zwecke demokratischer Machtbegrenzung? Nicht in Frankreich!“, schreibt der der Frankreich-Kenner, Autor und Theaterregisseur Benjamin Korn in „Lette International“, Winter 2020, Seite 39f., unter dem Titel „Der Wahlmonarch“, sehr lesenswert!). Mélenchon („La France insoumise“) war der einzige Präsidentschaftskandidat 2022, der offen für das Ende dieser Wahlmonarchie, also der 5. Republik, eingetreten war. Das „Wahlkönigtum“ nennt Benjamin Korn eine „bizarre Erfindung de Gaulles“. Er hat „Monarchie und Republik zusammengeleimt“.
9.
Mit Benjamin Korn, Paris, kann man auch entdecken, warum in Frankreich seit Jahrzehnten schon eine starke rechtsextreme Bewegung, als philosophische Schule (Nouvelle Droite) und als Vielzahl von Parteien (darunter die immer mächtiger werdende Partei „Front National“ bzw. jetzt „Rassemblement National“ der Le Pen-Familie) bestimmend ist. In seinem sehr lesenswerten Beitrag in „Lette International“, Ausgabe Frühjahr 2012, Seite 29f. schreibt Benjamin Korn unter dem Titel „Das große Schweigen. Die Kunst des Wegsehens und die Geschichtslügen der Grande Nation“: „Charles de Gaulle hat den Franzosen ein für allemal das Wegsehen (also die Ignoranz ihrer eigenen Nazi-Verstrickung) eingebleut, als er in seiner berühmten Rede (25.8.1944) die Lüge auftischte, die Franzosen hätten den Krieg gewonnen, statt den Franzosen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern: Dass sie den Krieg katastrophal verloren, sich mehrheitlich der Kollaboration mit den Nazis schuldig gemacht haben…Hätte Frankreich seiner Vergangenheit offen ins Auge geblickt, seine demütigende Niederlage eingestanden, die eigenen Kriegsverbrechen aufgearbeitet, seine Bewunderung für Marschall Pétain aufgegeben, seinen hausgemachten Antisemitismus analysiert, dann gäbe es nicht ein Wählerpotential von 20 bis 30 Prozent für den Front National, die Le Pen Partei“. Das schrieb, wie gesagt, Benjamin Korn im Jahr 2012!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Sehnsucht nach Gott: Anregungen von Max Horkheimer.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.4.2022

1.
Zuerst eine philosophische Besinnung: Was ist denn Sehnsucht: Ein Wort, das in diesen Zeiten des Krieges die seelische und leibliche, also die totale Not der Menschen zu durchbrechen sucht. Sehnsucht ist inmitten des Mordens die Sehnsucht nach Frieden. Nur Frieden erst mal, als Schweigen der Waffen, als Stillstand der Waffen, als Beginn von Verhandlungen, die zu einem dauerhaften Frieden führen sollten – in Gerechtigkeit: Also: Strenge Bestrafung der Täter und Initiatoren des Krieges. Man nenne sie beim Namen und habe nicht wie Papst Franziskus Angst, überhaupt den Namen des Kriegstreibers Putin auszusprechen.
2.
Sehnsucht nach Frieden haben die Menschen in der Ukraine, hoffentlich auch immer mehr Menschen in Russland als Protest gegen den Diktator Putin. Sehnsucht nach Frieden hat die ganze demokratische Welt, der die Menschenrechte noch wichtig sind.
3.
Das ist philosophisch entscheidend: Sehnsucht nach Frieden kann die genannte demokratische Menschheit nur haben, weil sie früher, eigentlich noch vor kurzem, Zeiten und Räume des Friedens kennengelernt hat. Nur wer einmal Frieden erlebt hat, kann Sehnsucht nach Frieden erleben.

4.
Zu Max Horkheimer Erkenntnis: Wie steht es dann mit der Sehnsucht nach Gott? Bekanntlich hat der Begründer der Kritischen Theorie und Leiter des „Instituts für Sozialforschung“ Max Horkheimer zumal im Alter von der Sehnsucht nach dem Absoluten gesprochen. Das Interview, das der Journalist Helmut Gumnior mit Max Horkheimer führte und dann 1970 als Buch veröffentlichte, wurde mit dem Titel „Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen“, Furche Verlag, Hamburg, 2. Auflage 1971 (9.-16.Tausend!) veröffentlicht.
5.
Diese Sehnsucht „nach dem ganz Anderen“ ist nur ein anderer Name für die Sehnsucht nach Gott. „Das Bewusstsein unserer Verlassenheit, unserer Endlichkeit, ist kein Beweis für die Existenz Gottes, sondern es kann nur die Hoffnung (kursiv gesetzt von Horkheimer) hervorbringen, dass es ein positives Absolutes gibt…Ausdrücklich gesagt: Das Wissen um die Verlassenheit des Menschen ist nur möglich durch den Gedanken an Gott, aber nicht durch die absolute Gewissheit Gottes.“ (S. 56 in dem genannten Buch).
6.
Horkheimer spricht in dem Interview auch von Theologie, aber er meint damit nicht die übliche kirchliche Form des religiösen Fragens und Suchens. Horkheimer sagt: „Theologie bedeutet hier das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist“ (S. 61). Konkreter wird Horkheimer: „Religion ist die Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit. Diese kann in der säkularen Gesellschaft niemals verwirklicht werden“ (S. 69).
7.
Viele Aspekte, die Horkheimer in dem Interview anspricht, etwa zur Erotik, sogar zur „Pille“, können hier nicht vertieft werden. Wichtig ist hier nur, dass Horkheimer als eine immer schon mit-gegebene Struktur des menschlichen Lebens die Sehnsucht nach dem Absoluten nennt. Der Mensch, also das Wesen der Sehnsucht, des Überschreitens alles Objekthaften, Gegebenen, Weltlichen. Im Überschreiten zeigt sich, was der Mensch ist. Kraft der Vernunft gelingt das Überschreiten.
8.
Wenn man diese Erkenntnis in eine andere Form des philosophischen Denkens übersetzt: Dann ist der Mensch ein Wesen der Sehnsucht, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Liebe, nach einem „ganz Anderen“, nach dem Göttlichen, das man im Denken und Fühlen der Sehnsucht erreicht, ohne es greifen, umgreifen oder definieren zu können.

Die Sehnsucht nach Gott ist also Ausdruck für den Gedanken des Menschen an Gott. Der Mensch denkt also aufgrund seiner Verfassung, die auch die Situation der Verlassenheit einschließt, an Gott. Dieses Denken führt im Sinne Horkheimers nicht zum beweisbares Wissen. Aber es ist ein Denken, das etwas anderes ist als eine Illusion. Illusionen sind zerbrechlich, sie können zerstört werden. Die Sehnsucht ist etwas, was im Menschen bleibt, selbst in schwierigsten Situationen.
9.
Wäre das der Sinn von Ostern? Ostern als Fest der Sehnsucht im beschriebenen Sinne? Auch der Sehnsucht, dass der Geist stärker ist als die Gewalt, dass der Friede als Idee niemals zu töten ist von Tyrannen. Auch nicht von Putin.

Siehe auch meinen Hinweis anläßlich eines Salon-Gespräches unseres religionsphilosophischen Salon in Berlin am 15.12.2017. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Osteransprache des Papstes 2022, die nicht gesprochen wurde.

Ein Hinweis von Christian Modehn am Ostermontag, 18.April 2022: Siehe auch den ausführlicheren Hinweis: LINK

Manchmal bricht sich eine Utopie durch, etwa eine Utopie, was ein Papst in Rom zu Ostern 2022 eigentlich hätte sagen müssen! Wenn er mutig wäre, d.h. politisch präzise und damit wirksam. Wenn er also nicht bloß spirituelles Allgemeines (manche sagen Blabla) gesprochen hätte von seiner hübschen Loggia am Petersplatz aus, weit erhaben über den Menschen auf dem Platz.

Dies also hätte der Papst sagen sollen, selbstverständlich ist dies ein Hinweis, also kein Dogma:

Präsident Putin, beenden Sie sofort diesen Krieg!” Und der Papst wiederholt dann immer wieder diese Worte in allen ihm zur Verfügung stehenden Sprache, sogar auf Russisch sagt er sie,  selbst die alten Kardinäle an seiner Seite sprechen dann mit, solange, bis die ganze Menge auf dem Petersplatz ebenfalls brüllt und schreit und weint: Putin, beenden Sie dieses Ihr Morden, beenden Sie sofort diesen Ihren Krieg”.

Und dieses Brüllen und Schreien zusammen mit dem Papst wird zu einem großen Spektakel in ganz Rom, nun wirklich “urbi et orbi”. Auf dem Petzersplatz dauert es eine ganze halbe Stunde lange, pünktlich bis 12.20 Uhr am Ostersonntag, ein Spektakel, das in die ganze Welt übertragen wird und die Welt erschüttert…Und sehr viele sagen auf einmal: Dieses Spektakel ist doch wirksamer als diese ewig selben frommen Worte und Floskeln und spirituellen Vertröstungen der üblichen Osteransprachen…

Dieses hier beschriebene Ereignis auf dem Petersplatz zu Ostern 2022 ist natürlich angesichts dieser Kirche nur ein Traum, eine Utopie, sie beschreibt einen Skandal päpstlicher Politik.

Franziskus ist sich zu fein, (Stand 18.4.2022) überhaupt einmal mal den Namen Putin oder auch Russland auszusprechen. Schon Pius XII. war sich zu fein (zu diplomatisch?) angesichts des grauenhaften Mordens an den europäischen Juden, den Namen Adolf Hitler auszusprechen. So sind halt die Kleriker, sie denken zuerst an das Wohl ihrer Kirche in Russland oder damals im Nazi-System.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Gibt es „das“ Böse“? Oder nur „den bösen Menschen“?

Für einen differenzierten Umgang mit „dem moralisch Bösen“.

Ein Hinweis als Diskussionsbeitrag von Christian Modehn.

1.

Es gibt Taten: Folter, Mord, Totschlag und Erschießen Unschuldiger im Krieg, also Taten, die von jedem Menschen verurteilt und bekämpft werden, von Menschen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben und ihrem Gewissen entsprechen.
In solcher theoretischen wie praktischen Zurückweisung von Folter, Mord, Totschlag, Erschießen Unschuldiger im Krieg usw. stellt sich, spontan, wie von selbst, bei Menschen mit Gewissen die Erkenntnis ein: Diese Taten sind böse. Sie dürfen nicht sein, sie sollen deswegen verhindert/beendet werden und sie müssen bestraft werden.

2.

Bestimmte Taten bestimmter Menschen, also der Mörder, der hemmungslos mordenden Soldaten, der Politiker und Generäle, die vom sicheren Schreibtisch aus das Morden befehlen, werden von der Vernunft und dem mit ihr korrespondieren Gewissen als böse bewertet: “Diese Taten darf es unter Menschen nicht geben“.
Und genau so wichtig ist die evidente Erkenntnis: Es sind Menschen, Täter, Mörder, die, fast umfassend bestimmt von böser Gesinnung und wegen ihrer freien Entscheidung fürs Böse, als böse Menschen bewertet werden.

3.

Es ist nicht so, dass man, wie so oft in der theologischen und philosophischen Tradition, annehmen muss: Angesichts böser Taten böser Menschen sollte man zuerst und vor allem von „dem Bösen“ sprechen. Dabei wird „das Böse“ als eine objektiv bestehende Macht angenommen, die sozusagen als solche für sich – als „Idee“ etwa – existiert und die dann bei bestimmten Menschen sichtbar wird und sich spürbar durchsetzt. Die Täter werden in diesem traditionellen Denkmodell zu Leuten, die dieses Böse als eine objektive Idee verwirklichen und sichtbar in die Welt setzen.

4.
Einen treffenden Ausdruck für diese traditionelle These bietet die immer noch bestehende Praxis des katholische Exorzismus: Dabei versucht ein speziell ausgebildeter Priester als Teufels-Spezialist durch verschiedene Gebete und Riten, einen Menschen von der (angeblichen) Gewalt des Teufels zu befreien. Der Teufel wird dann als die objektive Macht des Bösen angesehen: Der Teufel bzw. das Böse habe von dem Menschen Besitz ergriffen. Und diese objektive Macht kann durch die Kraft Gottes, vermittelt durch den Priester, aus dem Menschen vertrieben werden.

5.

Ein anderes Beispiel für die traditionelle Bewertung „des Bösen“: Der Theologe Kardinal Karl Lehmann hat auf dem Ökumenischen Kirchentag 2001 in Berlin einen sehr umfangreichen Vortrag gehalten zum Thema: „Ratlos vor dem Bösen?“ Und er begann, selbstverständlich für einen Theologen, sogleich von dem „Geheimnis des Bösen“ zu sprechen, er sprach am Anfang sogar von dem „fast undurchdringlichen Geheimnis des Bösen“, er sprach davon, „das das Böse sich gerne in seinem eigenen Ursprung verbirgt“ usw.
Also: „DAS Böse“ wurde und wird noch immer von vornherein als eine ideelle Realität angenommen, als ein metaphysisches Prinzip, das ins Menschenleben förmlich inkarniert ist.
Nicht der böse Mensch wird dann analysiert, sondern es geht um die metaphysische Frage: Wie kann Gott dieses Prinzip, „das Böse“ , neben sich als dem Allmächtigen zulassen? Ist Gott selbst vielleicht irgendwie auch „ein bißchen böse“ mit einem bösen „Neben-Gott“? Genau dies sind konsequenterweise die Themen, die der traditionell gelehrte Kardinal Lehmann dann „abhandelt“. Aber zur Klärung, der Frage: Wie umgehen mit den sichtbaren und spürbaren bösen Taten böser Menschen (!) und den sich festsetzenden bösen Mentalitäten und Strukturen, findet sich in dieser metaphysischem Spekulation nichts.
Diese traditionelle Reflexion hat für die bösen Täter nur den „Vorteil“, dass sie als solche theologisch und philosophisch gar nicht angeklagt und gegebenenfalls ausgeschaltet werden müssen. Es ist ja „das Böse“, diese „Idee,“ die in den Menschen waltet! „DAS Böse“ muss, wie auch immer, bekämpft werden, also in diesem traditionellen Denken nicht der Böse oder die Böse. Aber „DAS Böse“ zu bekämpfen, ist schon aufrgrund der Allgemeinheit und Unbestimmtheit zum Scheitern bestimmt. Trotzdem wird theologisch davon immer nich geplaudert, wenn das Böse in dieser Optik bekämpft wird, dann nach kirchlicher Vorstellung geistig, spirituell, vor allem sakramental, durch Taufe, Beichte, Kommunion.

Auch die alte theologische Ideologie der Erbsünde muss in dem Zusammenhang genannt werden, also die so genannte totale Verfallenheit aller Menschen seit Anbeginn in einen sündigen Zustand. Die Erbsünde wurde in diesem Mythos von Gott als Strafe verhängt, als die ersten Menschen im Paradies sündigten. Das ist ein Mythos, der keinerlei vernünftige Aufklärung zum Thema Böses erschließt. Man sollte ihn beiseite legen, er hat viel Unsinn bewirkt und seelisches Leiden erzeugt: Etwa: Diese Erbsünde werde in der sexuellen Begegnung und Zeugung/Empfängnis übertragen, so die offizielle Lehre der katholischen Kirche bis heute. Daran wird festgehalten, nur weil dieser heilige Greis Augustinus (gestorben 430) dies einmal gesagt und mit aller Gewalt durchgesetzt hat…Er wollte damit die Kirche und den Klerus als Macht stärken, denn nur der Klerus der Kirche kann die Taufe spenden, die von der Erbsünde befreit…

6.

Der Kampf gegen „das Böse“ wird also für die klassische Reflexion nur metaphysisch, nur religiös, geführt. Entsprechend versteht die Kirche die Bitte, an Gott gewandt, im „Vater Unser“ (Matthäus Evangelium, Kap. 6, 13): “Erlöse uns von dem Bösen“ als Bitte, von der wirksamen Idee und metaphysischen Realität DES (sachlich verstandenen) Bösen erlöst zu werden. Dabei ist diese Deutung einseitig! Auf Altgriechisch heißt es:
ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ.
O πονηρós bedeutet zweierlei: Die schlechte Eigenschaft von Dingen UND auch die moralisch schlechte, nichtswürdige, boshafte Person. Darum sollte man im Gebet „Vater Unser“ diese Bitte auch so verstehen: Erlöse uns von der bösen und nichtswürdigen Person, etwa dem Diktator, dem Henker, dem Mörder, dem Krieger. So würde Beten politisch analytisch präzise… Nebenbei: Die Bitte „Erlöse uns von dem Bösen“ fehlt in der Überlieferung des „Vater Unser“ im Lukas-Evangelium!

7.

Ich plädiere also dafür, anstelle von „Das Böse“ im ideellen, metaphysischen Sinn nun vor allem und vermehrt DEN und DIE bösen Menschen zu reflektieren und zu analysieren.
Dabei wird nicht geleugnet, dass jeder Mensch in einzelnen seiner Taten auch böse ist, aber diese alltägliche Boshaftigkeit ist etwas anderes als die grausame Tat, wie das(Kriegs-) Verbrechen usw.
Der Philosoph Martin Seel hat in seinem empfehlenswerten Buch „111 Tugenden – 111 Laster“ (Frankfurt M. 2012) gezeigt, dass alle von ihm vorgestellten Tugenden auch zu Lastern werden können und ebenso alle Laster auch zu Tugenden werden können. In diesem “Hin und Her” zwischen Tugend und Laster bewegen sich die Menschen.

Nur ein Laster wird nie eine Tugend: Die Grausamkeit (S. 30-31). „Der Grausame nimmt die Schmerzen seines Gegenüber nicht wahr, oder sie sind ihm gleich – oder er ergötzt sich daran… Er sieht nur sich und seine Begierden und Ideale: Eine Extremform der Egomanie und Bösartigkeit, von der auch staatliche wie nichtstaatliche Vereinigungen befallen sein können…Wer anderen gegenüber habituell grausam ist, ist es zugleich gegen sich selbst. Der Grausame muss eine Härte auch sich selbst gegenüber entwickeln, mit der er die eigenen Regungen under Zartheit und des Mitleids, der zugestandenen Unsicherheit und Schwäche unterdrückt…Sein Tun ist nicht einmal zu seinem Guten“ (S. 31). Hanna Arendt sagt in ihren Vorlesungen “Über das Böse” (München 2015, Seite 42) zum Sadismus als dem Tun des Bösen um des Bösen willen: “Sadismus ist das Laster aller Laster”.

8.

Jeder und jede wird bei diesen Sätzen zu den grausamen Bösen (Sadisten) konkrete Leute nennen, nicht nur Hitler oder Stalin usw., sicher heute auch die jetzige Clique der Führer in der russischen Diktatur. Und man wird sich in dem Zusammenhang fragen, ob die Politiker in Europa, vor allem in Deutschland, die geistige und moralische Kraft hatten, die Bösen (Menschen, Politiker) als solche, etwa in Russland, RECHTZEITIG zu erkennen.

Mit anderen Worten: Wer sich vor allem für DAS Böse als Idee usw. interessiert, übersieht DEN Bösen.

9.

Wer das Böse bekämpfen und überwinden will, muss also konkret den Bösen oder die Bösen verstehen, beim Namen nennen, bekämpfen und überwinden. Wer hingegen auf „DAS Böse“ fixiert bleibt, kann nur noch beten, dass das Böse, das Übel, der Teufel usw. bitte wieder verschwinden.

Wer nur „das Böse“ bekämpfen will, weigert sich, bewusst oder unbewusst, sich auf das politische Analysieren und das politische Handeln einzulassen. Nur dann wird außer Kraft gesetzt das „metaphysische Jammern“, das sich bekanntlich so äußert: „Das Böse hat sich wieder durchgesetzt“. Oder: „Gott hat uns verlassen“, „Die Apokalypse beginnt“, „Der Teufel und der Antichrist beginnen ihre Weltherrschaft“. Gegen solche diffusen Objektivierungen im Erleben böser Taten gilt es zu argumentieren. Sie verhindern den klaren Blick, und der gilt der deutlichen Analyse der bösen Tat eines bösen Menschen.

10.

Zur Erklärung und Vertiefung sollte man sich auf die Erkenntnisse von Immanuel Kant beziehen. Hier nur einige Grundlinien zu dem von Kant selbst als sehr komplex, als sehr schwierig verstandenen Thema „das Böse“.
Für Kant gilt: „Sittlich böse ist nur, was unsere eigene Tat ist“.
Der Ursprung des „Böses Tun“ zeigt sich in der Analyse der menschlichen Freiheit und der aus ihr folgenden Handlung. Es gibt für Kant keinen Naturtrieb im Menschen, böse zu sein.

Das Böses-Tun folgt vielmehr einer Maxime, die sich jemand frei wählt, also einen eigenen, bloß subjektiven Grundsatz, um dann von der allgemeinen Sittlichkeit abzuweichen. Der böse Mensch kennt also die moralischen Gesetze, die zum Guten aufrufen im Gewissen, aber setzt sich in freier Tat von diesen Grundsätzen ab und folgt seinen eigenen bösen Maximen. Dieser Mensch glaubt, für sich selbst Ausnahmen gelten zu lassen hinsichtlich der absoluten Gültigkeit des moralischen Gesetzes. Dieser Mensch, betont Kant, belügt sich selbst. Dabei bietet der kategorische Imperativ eine Art Kompass, der die Entscheidung erleichtert, was gut und was böse ist.

Das Setzen böser Maximen durch die Menschen ist für Kant nicht das Sich-Durchsetzen eines dem Menschen schon bereits vorgegebenen bösen Zustandes. Vielmehr: Das Setzen böser Maximen ist ein Gebrauch der Freiheit.

Aber wer sich für böse Maximen entschieden hat, also dann auch böse handelt und Böses in die Welt setzt, hat für Kant aber noch das Erlebnis einer Pflicht, die ihn aufruft, sich zu bessern. Diese Veränderung der Denkungsart des bösen Menschen ist so umfassend, dass sie Kant eine „REVOLUTION der Denkungsart“ nennt. Diese Änderung entspricht, so wörtlich, der „Heiligkeit der Pflicht“, die fordert, dem Gewissensspruch zu entsprechen. Wer guten Maximen folgt, also dem universalen moralischen Gesetz folgt, lebt als eine Art „neuer Mensch“ dann im Reich der Tugend, und dieses Reich ist so etwas wie das Reich Gottes auf Erden.

Es gibt für Kant also keine böse Natur des Menschen, der Mensch ist für Kant nicht wesentlich, nicht vom Wesen her böse, wie bestimmte (vor allem klassisch-protestantische) Theologen in Treue zu Augustinus aus dem 5. Jahrhundert noch heute sagen.

Es gibt aber für Kant im Menschen einen „Hang“ zur Annahme böser Maximen, einen Hang, nicht moralischen Maximen zu folgen.

11.

Diese Erkenntnisse hat Hannah Arendt vertieft, etwa auch in der genannten Vorlesung aus dem Jahr 1965 “Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik”. Sie legt allen Nachdruck darauf, dass jeder Mensch zum Gespräch mit sich selbst (auch Reflexion genannt) in der Lage ist. In diesem prüfenden Gespräch des Menschen mit seinem eigenen Denken und seinem Tun erlebt der Mensch, wie ihm der eigene Geist, die Vernunft, die Möglichkeit der guten und der bösen Entscheidung freilegt. “Das moralische Gesetz in mir (von dem Kant spricht) erhebt meinen menschlichen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit , in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwwelt unabhängiges Leben offenbart” (ein Zitat, das Arendt auf S. 35 f des genannten Buches bietet, es stammt von Kant selbst aus seiner “Kritik der praktischen Vernunft”, A 289).

Hannah Arendt legt allen Nachdruck darauf, dass das, was Gewissen genannt wird, heute als Bewusstsein seiner selbst verstanden werden sollte, als “die Fähigkeit, mit deren Hilfe wir uns selbst kennen und wahrnehmen” (S. 49). Nur wer zum Gespräch mit sich selbst bereit ist, hat die Chance, Gutes zu tun... “Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten” (S. 77). Die schlimmsten Typen sind also “die gedankenlosen Kreaturen” (S. 76). Wer total zum Bösen abgedriftet ist, realisiert das “wurzellose Böse, dann  gibt es keine Person mehr, der man je vergeben könnte” (S. 78).

12.

Zurück zu Kant: Dies sind die Perspektiven, die Kant eröffnet: Der Mensch kann sich in seiner Freiheit entscheiden, er kann gegen sein Gewissen handeln und Böses tun, also etwa aus politischen und wirtschaftlichen Interessen Mord und Totschlag freiwillig begehen. Mit diesem Denken, das als Denken dem verbrecherischen Handeln vorausgeht, wird ein Mensch durch seine Entscheidung ein böser Mensch. Hier ist die Rede von Menschen, die zu einer eigenen Reflexion und zur eigenen freien Entscheidung in der Lage sind, das sind wohl die meisten. Nicht gemeint sind Mörder, die aufgrund einer physischen Abartigkeit etwa ihres Gehirns, zu einem zwanghaften bösen Tun getrieben sind.

13.

Das Handeln in Freiheit hat naturgemäß immer persönliche und genauso auch gesellschaftliche Voraussetzungen. Wenn etwa die Geld-Gier oberste Norm für viele Menschen in der Gesellschaft ist oder der Nationalismus und die Sehnsucht nach dem allmächtigen, starken Staat, dann kann der einzelne sich nur mit Mühe diesem Trend entziehen… und nur mit Mühe moralisch gut leben. Man denke etwa an das Eingebundenen der meisten Menschen in die kapitalistische und neoliberale „Ordnung“, an deren Verheißungen in der total gewordenen Werbung und dem Konsumismus. Unter diesen Bedingungen nicht gierig und böse zu werden, ist schwer und gelingt in alternativen Gruppen.
Diese Gewöhnung an das Böses-Tun kann so stark werden, dass für den Täter bzw. die Täter keine Umkehr zur Vernunft und Menschlichkeit möglich erscheint. Im individuellen Bereich werden solche Täter in Rechtsstaaten bestraft und eingesperrt, in der Politik muss der Rechtsstaat im äußersten Fall diese Leute isolieren und ausschalten.
Dabei steht auch fest: Wer Mörder bestraft oder mörderische Politiker ausschaltet, ist als freier Mensch auch selbst immer gefährdet, seine eigene Freiheit zu missbrauchen. Es gibt also nicht einerseits “den Bösen“ und „den Guten“ auf der anderen Seite. Wer aktuell Böse bestraft, war vielleicht selbst einmal böse oder wird böse.

14.

Wer über Böses nachdenkt, sollte den Menschen analysieren und nicht in ideelle metaphysische Welten ausweichen. Diese vernebeln nur die Klarheit im Verstehen oder sie führen zu Ausreden und Entschuldigungen, etwa: „Nicht ich war schuld am Böses-Tun, es war der Teufel, die Erbsünde, die Partei, die Kirche usw., die mich zur Tat angetrieben hat“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.