Sexueller Missbrauch durch einen hochrangigen Priester im Spanien des 17. Jahrhunderts: „Der Prozess versandete“…

Eine historische Studie zum sexuellen Missbrauch.

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht 2021, aktualisiert am 23.7.2023

1. Zur Einführung:

Die Geschichte der Homosexuellen war und ist eine von der heterosexuellen Mehrheit ignorierte Leidensgeschichte. In 69 Staaten wird auch heute noch, 2023, Homosexualität strafrechtlich verfolgt, in 11 Staaten droht Homosexuellen die Todesstrafe. Quelle: LINK   
Ohne körperliches Leiden, ohne Verfolgung, ohne Scheiterhaufen konnten nur einige wenige prominente Homosexuelle, modern gesprochen ohne „Outing“, überleben, es waren Fürsten und Päpste, Bischöfe und Pfarrer und Ordensobere und „einfache Mitglieder“ von Ordensgemeinschaften.
Und wie bei der jeder Geschichte von unterdrückten Minderheiten gibt es, abgesehen vom Judentum, auch keine ausgebreitete, gründliche Forschung zur Geschichte der Verfolgung der Homosexuellen, obwohl etwa in Spanien und Italien viele Dokumente zur Verfolgung und Ausrottung der Homosexuellen durch die katholische Inquisition in den Archiven vorliegen.

2.

Es ist förmlich ein Glückstreffer, wenn man in Deutschland Beiträge kirchenunabhängiger Historiker findet zu dem Thema. Ich empfehle die Lektüre des Aufsatzes von Prof. Raphael Carrasco „Sodomiten und Inquisitoren im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts“. Die Studie ist erschienen in dem Sammelband „Die sexuelle Gewalt in der Geschichte“, hg. von dem Historiker Alain Corbin, Wagenbach Verlag, 1992, dort S. 45-58. Die französische Ausgabe erschien 1989. Das Buch ist auf Deutsch nur noch antiquarisch verfügbar…

3. Über den sexuellen Missbrauchs eines spanischen Priesters aus dem Merzedarier-Orden im 17. Jahrhundert , dargestellt von Raphael Carrasco, siehe die ausführliche Darstellung:  LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Willkommen im Religions-Philosophischen Salon Berlin

Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist seit 2007 eine Initiative von Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus.

Gründer und Initiatoren des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ sind:

Christian Modehn,  1948 in Berlin – Friedrichshagen geboren, nach dem Abitur am Goethe -Gymnasium in Berlin – Wilmersdorf, Studium der katholischen Theologie (Staatsexamen nach 6 Jahren Studium in München, St. Augustin bei Bonn bzw. Universität San Anselmo, Rom) und Philosophie (Magister Artium in München, über Hegel). Christian Modehn arbeitet seit 1973  als freier Journalist über die Themen Religionen, Kirchen und Philosophien, für Fernseh- und Radiosender der ARD, sowie für die Zeitschrift PUBLIK – FORUM, sowie früher auch für “Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt” (Hamburg), “Informations Catholiques Internationales” (Paris), “de bazuin” (Utrecht)  usw.. Zur Information über einige meiner Hörfunksendungen und Fernsehdokumentationen klicken Sie bitte  hier.

Hartmut Wiebus, 1944 in Seehausen/Altmark geboren, hat in Berlin (F.U.) Pädagogik (Diplomarbeit über Erich Fromm) und Psychologie studiert, und vor allem als evangelischer Klinikseelsorger gearbeitet.

…………

Seit Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 gab es keine öffentlichen Salon – Veranstaltungen (“Präsenz-Veranstaltungen”) mehr, sondern nur Debatten in kleinerem Kreis; hingegen werden oft neue Beiträge als Hinweise zur Debatte auf unserer Website publiziert.

Warum ein religionsphilosophischer Salon?

1.

Der Titel und die „Sache“ „philosophischer Salon“ sind alles andere als verstaubt. Das Interesse an philosophischen Gesprächen und Debatten in überschaubarem Kreis, in angenehmer Atmosphäre (also in einem „Salon“), ist evident.
(Frontal-) Vorträge – etwa in Akademien – vor zahlreichem, weithin bloß zuhörendem Publikum sind oft Ausdruck autoritären Belehrens. Ein Salon ist ein freundlicher Ort des Dialogs.

2.

In unserem religionsphilosophischen Salon soll das Philosophieren geübt werden, also das selbstkritische, systematische Nachdenken. Das Thema Religion wird auch in den heutigen Philosophien ernst genommen. Philosophische Religionskritik hat nicht mehr Sinn zu beweisen, dass Religion bedeutungslos ist, im Gegenteil: Philosophische Religionskritik zeigt, welche Form einer vernünftigen Religion bzw. Spiritualität heute zur Lebensgestaltung gehören kann. Und welche Gestalten von Religion/Kirchen/”Sekten” alles andere als einen befreienden Charakter haben. Der Klerikalismus herrscht ungebrochen in der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen; im weiten Feld des Evangelischen nimmt die Herrschaft der fundamentalistischen evangelikalen Kirchen ständig. freisinnige, vernünftige christliche Kirchen sind leider marginal (vgl. die Remonstranten). 

3.

Unser religionsphilosophischer Salon ist wichtig angesichts des tiefgreifenden religiösen Umbruchs in Deutschland /Europa. Die Bindung an die Kirchen lässt bekanntlich immer mehr nach. Die so genannte Säkularisierung nimmt zu. Aber Säkularisierung bedeutet gerade nicht automatisch Zunahme des Atheismus. Religionsphilosophische Salons können die Themen der Religionen und das subjektive Bewegtsein durch religiöse Fragen angesichts der Kirchenkrise vernünftig weiterführen, in der Freiheit des Geistes… über den Klerikalismus oder den vielfältigen religiösen Fundamentalismus hinaus.

4.

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es nur im Plural, die (Religions-)Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika dürfen nicht länger als „zweitrangig“ behandelt werden. In welcher Weise Religion dort zum „Opium“ wird angesichts des Elends so vieler Menschen, ist eine besonders relevante Frage, auch angesichts der Zunahme christlicher und muslimischer Fundamentalismen. Dringend wird die Frage: Inwieweit ist philosophisches Denken Europas eng mit dem kolonialen Denken verbunden?

5.

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien bieten also in ihren vielfältigen Entwürfen unterschiedliche Hinweise zur Fähigkeit der Menschen, ihre engen Grenzen zu überschreiten und sich dem im Denken zu nähern, was die Tradition Gott oder Transzendenz nennt. Dabei treten diese unterschiedlichen Entwürfe in einen lernbereiten Dialog. In unserem religionsphilosophischen Salon gibt es z.B.ein starkes Interesse am (Zen-) Buddhismus.

6.

Uns ist es wichtig uns zu zeigen, dass Menschen im philosophischen Bedenken ihrer tieferen Lebenserfahrungen das Endliche überschreiten können und sollen und das Göttliche, das Transzendente erreichen können. Das Göttliche als das Gründende und Ewige zeigt sich dabei im Denken als bereits anwesend. Es ist sozusagen unthematisch gegenwärtig im Geist des Menschen.
Wenn der Mensch nach dem Göttlichen fragt, hat er also notwendigerweise „immer schon“ ein gewisses Vorverständnis vom Göttlichen. Dieses „Vorwissen“ gilt, nebenbei, für alles Fragen und Suchen.

7.

Insofern ist Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auch eine subjektive Form der Lebensgestaltung, d.h. eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln.
Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie kennt keine Dogmen, sicher ist nur das eine Dogma: Umfassend selbstkritisch zu denken und alle Grenzen zu prüfen, in die wir uns selbst einsperren oder in die wir durch andere, etwa durch politische Propaganda, durch Konsum und Werbung im Neoliberalismus, eingeschlossen werden. In dieser Offenheit, Grenzen zu überschreiten, zeigt sich die Lebendigkeit der Religions -Philosophie. Philosophieren ist etwas Lebendiges, im Unterschied zu vielen klerikalen Konfessionen ist sie nichts Erstarrtes voller Verbotsschilder

8.

Diese „Entdeckungsreisen“ der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können angestoßen werden durch explizit philosophische Texte, aber auch durch Poesie und Literatur, Kunst und Musik, durch eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, durch die politische Analyse der vielfachen Formen von Unterdrückung, Rassismus, Fundamentalismus. Mit anderen Worten: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie findet eigentlich in allen Lebensbereichen statt, kann sich von allen „Produkten des Geistes“ (Hegel) bewegen lassen. Wer die Gesprächsthemen anschaut, die wir seit 2007 in den meist monatlichen Veranstaltungen („Salon-Abende“) in den Mittelpunkt stellen, wird von der großen Vielfalt überrascht sein. Bisher fanden ca. 100 Salon-Gespräche statt.

9.

Wo hat unser religionsphilosophischer Salon seinen Ort? Als Raum eignet sich nicht nur eine große Wohnung oder der Nebenraum eines Cafés, sondern auch eine Kunst – Galerie. In den vergangenen 7 Jahren fanden wir in der Galerie „Fantom“ in Charlottenburg freundliche Aufnahme. Zuvor in verschiedenen Cafés. Kirchliche Räume, Gemeinderäume etwa, sind für uns keine offenen und öffentlichen Räume. Sie sind meist nicht sehr „inspirierend“, d.h. sie sind „ungemütlich“, also keine Salons, sondern eher Amtsstuben.

10.

In unserem religionsphilosophischen Salon sind selbstverständlich Menschen aller Kulturen, aller Weltanschauungen und Philosophien und Religionen willkommen. Unser Salon ist insofern hoffentlich ein praktisches Exempel, dass es in einer Metropole – wie Berlin – Orte geben kann, die auch immer vorhandenen „Gettos“ überwinden.

11.

Unser religionsphilosophischer Salon sollte auch ein Ort freundschaftlicher Begegnung und menschlicher Nähe. Darum haben wir in jedem Jahr im Sommer Tagesausflüge gestaltet, mit jeweils 10 – 12 TeilnehmerInnen: Etwa nach Erkner (Gerhart Hauptmann Haus), Karlshorst (das deutsch-russische Museum), Jüterbog als Ort der Reformation, das ehem. Kloster Chorin, Frohnau (Buddhistisches Haus), Lübars… Außerdem gestalteten wir kleine Feiern in privatem Rahmen anlässlich von Weihnachten. Auch ein Kreis, der sich mehrfach schon traf, um Gedichte zu lesen und zu meditieren, hat sich aus dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entwickelt. Aber alle diese Initiativen waren (und sind wohl) mühsam, u.a. auch deswegen, weil letztlich die ganze Organisation von den beiden Initiatoren – ehrnemtlich selbstverständlich – geleistet wurde und wird.

12.

Anlässlich der „Welttage der Philosophie“, in jedem Jahr im November von der UNESCO vorgeschlagen, haben wir größere Veranstaltungen mit über 60 TeilnehmerInnen im Berliner AFRIKA Haus gestaltet, etwa mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb, dem Theologen Michael Bongardt. Der Berliner Philosoph Jürgen Große hat in unserem Salon über Emil Cioran gesprochen, der Philosoph Peter Bieri diskutierte im Salon über sein Buch „Wie wollen wir leben?“, die Politologin Barbara Muraca stellte ihr Buch „Gut leben“ vor, Thomas Fatheuer von der Heinrich – Böll- Stiftung vertiefte das Thema; der evangelische Pfarrer Edgar Dusdal (Karlshorst) berichtete über seine Erfahrungen in der DDR; der Theologe der niederländischen Kirche der Remonstranten, Prof. Johan Goud (Den Haag), war zweimal bei uns zur Diskussion, öfter dabei waren Dik Mook und Margriet Dijkmans – van Gunst aus Amsterdam…

Am 25.1.2023 notiert: Eine traurige Nachricht, ein großer Verlust für eine moderne “liberale Theologie”: Prof. Wilhelm Gräb, Prof. em. für praktische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin,  ist am 23. Januar 2023 in Berlin nach langer Krankheit gestorben. Der Religionsphilosophische Salon Berlin verdankt ihm viele wichtige Anregungen und dankt nochmals auf diese Weise für insgesamt 65 Beiträge und Interviews, die Wilhelm Gräb in mehr als zehn Jahren für diese website gab. LINK.

Ich darf sagen, wir haben einen Freund verloren, der als ein Theologe der heutigen Moderne ungewöhnliche, aber richtige Perspektiven zeigte in seiner großen Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit. Für ihn war die religiöse Glaubensform eines jeden Menschen wichtiger als die fixierenden, dogmatischen Lehren der Kirche. Diese theologische Freiheit, alle dogmatische Engstirnigkeit, allen Fundamentalismus auch in der evangelischen Kirche zu überwinden, “beiseite zu tun”, wie Wilhelm gern sagte, ist in ihrem radikalen Mut schon ziemlich einmalig. Ob diese Vorschläge und Ansätze zu einer Reformationen der Kirchen noch ernstgenommen werden, gerade in dieser “Kirchenkrise” ist eine offene Frage… Über seine Verdienste in der Forschung zu Schleiermacher wird später zu berichten sein.

Interessant in dem Zusammenhang das Interview, das uns Wilhelm Gräb 2012 zum Thema TOD und Sterben gab: LINK 

Zur theologischen Besinnung empfehle ich auch unser Interview mit Wilhelm Gräb “Der Gott der Liebe”. LINK:

Über vierzig viel beachtete Interviews mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, Humboldt – Universität) sind auf unserer Website publiziert. LINK.

Die Bilanz, vorläufig, Ende Juni 2022, formuliert: Einige wenige Interessenten außerhalb von Berlin haben die Idee des religionsphilosophischen Salons aufgegriffen. Aber wir können nicht sagen, dass etwa im kirchlichen Bereich, evangelisch wie katholisch, die Idee des freien und undogmatischen und offenen Salon-Gesprächs außerhalb der üblichen kirchlichen Räume (!), also in Café oder Galerien,  aufgegriffen und realisiert wurde. Das ist ein Faktum: Je mehr Christen aus den Kirchen austreten, um so ängstlicher und dogmatischer werden die Kirchen(führer), also auch ihre Pfarrer usw. Der Weg der Kirche in ein kulturelles Getto scheint vorgezeichnet zu sein, zumindest für die katholische Kirche. Tatsächlich haben sich über all die Jahre sehr sehr wenige “Vertreter” der großen Kirchen für unsere Initiative überhaupt interessiert. So konnten wir auch in jeder Hinsicht frei arbeiten!

Hinweis zu unseren Themen:
Eine Übersicht unserer Themen im Salon von Februar 2020 bis 2015 finden Sie hier. Die Themen von 2009 bis 2015 werden demnächst dokumentiert. Genauso wichtig wie die Salonabende sind auch die religionsphilosophischen und religionskritischen Hinweise Christian Modehn, publiziert auf der Website www.religionsphilosophischer-salon.de , bisher sind dort ca.1.300 Beiträge als „Hinweise“ veröffentlicht, mehr als eine Million vierhundertausend „Klicker“ gab es bisher (Stand 27.6.2022).

Der geplante religionsphilosophische Salon am 27.3.2020 über Hegel musste leider wegen der Corona – Pandemie ausfallen. Wir hoffen, dass noch einmal Salon – Gespräche stattfinden können. Sicher auch über Hegel.
Dass die Veranstaltung über Hegel anlässlich seines 250. Todestagesausfallen musste, ist aber besonders zu bedauern. Einige einführende Hinweise zur Philosophie Hegels hatte ich für den 27.3. 2020 vorbereitet, klicken Sie hier. Nach wie vor empfehle ich das große „Hegel-Handbuch“ von Walter Jaeschke, J.B. Metzler Verlag, 3. Auflage, 540 Seiten, nur 24, 90Euro.

Unser letztes Salongespräch fand am Freitag, den 14.Februar 2020 , wie immer um 19 Uhr statt, über das Thema: “Das Kalte Herz”. Mehr als ein Märchen (von Wilhelm Hauff). „Das kalte Herz“ offenbart die “imperiale Lebensweise”. 22 TeilnehmerInnen waren dabei. Leider mussten wir – wie öfter schon – acht Interessierten absagen, weil der Raum eben klein ist und nur eine Gruppe eine Gesprächssituation ermöglicht. Aber das große Interesse, ohne jede öffentliche Werbung, allein im Internet, und ohne jede Finanzierung von außen, ist schon bemerkenswert. Für einige vertiefende Hinweise zur imperialen Lebensweise: Beachten Sie diesen LINK.

PS: Der religionsphilosophische Salon Berlin erhält von keiner Seite finanzielle Zuwendungen oder Unterstützung. Wir sind unabhängig und frei. Alle Arbeit für den Salon, also Organisation und die Impuls-Referate und die Moderation, leisten wir ehrenamtlich. Von den TeilnehmerInnen eines Salon-Abends werden lediglich 5 Euro erbeten … für die Raummiete in der Galerie Fantom.

Wir haben unsere philosophischen, religionsphilosophischen und theologischen Gespräche im Salon als Ausdruck der Spiritualität der freisinnigen protestantischen Remonstranten – Kirche (in Holland) verstanden. Dabei haben wir, ebenfalls der offenen, freisinnigen Theologie der Remonstranten entsprechend, keine Werbung für diese protestantische Kirche “betrieben”. 

Copyright: Christian Modehn und Hartmut Wiebus.

Gibt es „das“ Böse? Oder “nur”die bösen Menschen?

„Das Böse“ entsteht aus der Freiheit der Menschen.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Die These:
„Das Böse“ zeigt sich nur im Tun nicht-guter, oft inhumaner Taten durch den Menschen. Böses – Tun ist Ausdruck einer freien Tat des Menschen. Nur diese Analyse bringt Klarheit in der traditionellen komplexen Frage: Was ist „das“ Böse?
Die Antwort, kurz gefasst vorweg genommen: „Das“ Böse ist nur die Objektivierung nicht guter Taten freier Menschen.
Dazu folgen die Hinweise, die in einem Vortrag im Kreis „philosophisch Interessierter“ zur Diskussion gestellt wurden.
Diese Hinweise sind wichtig, weil wir überflutet werden von Beiträgen, im Film, in der Literatur usw., die einer Faszination für „das Böse“ Ausdruck geben. Dass der Krieg Putins gegen die Ukraine und die demokratische Welt ein Geschehen „des Bösen“ sei, wird allgemein naiv formuliert und oft behauptet. Dabei ist auch der böse Krieg Putins Ausdruck einer freien Entscheidung des russischen Herrschers und der Seinen. Wer nicht sieht, dass es einzig auf der Verständnis „der Bösen“ (der bösen Menschen) ankommt, klammert sich an stets verworrene, irritierende (Wahn)-Ideen und Vorstellungen von „der irgendwie und irgendwo  herumgeisternden, irgendwie alles bestimmenden Idee des Bösen“.

Einige Erläuterungen:

1.
Man spricht im Alltag von „dem Bösen“. Als ob es sich dabei um eine unsichtbare geistige Über-Macht handelt, eine mysteriöse Kraft, die immer wieder von sich aus willkürlich das Geschehen der Welt der Menschen bestimmt: Im Mord und Totschlag, im Betrug, in der maßlosen Gier, in Angriffskriegen, in der Missachtung der Menschenrechte, in diktatorischen Regimen, im fundamentalistisch-religiösen Wahn und so weiter: Menschen werden dann zu Instrumenten „DES Bösen“ und seiner Herrschaft.

2.
Welchen Erkenntnisgewinn bietet diese ewige Klage und das Jammern über die Herrschaft „DES Bösen“? Welche praktischen Konsequenzen werden dann gezogen?
Immer wird im Glauben an „DAS Böse“ eine bestimmte Gruppe, ein Volk, als Inkarnation „DES Bösen“ von den religiösen und politischen Herrschern festgelegt: Als böse Menschen werden sie fixiert und dann als „Träger DES Bösen zur Auslöschung freigegeben, etwa Juden, bestimmte „ungewöhnliche“ Frauen (Hexen), Homosexuelle, Ungläubige, Heiden… Sie werden von einer Gesellschaft, die „DAS Böse“ analytisch und kritisch gar nicht versteht, nicht analysieren kann und will, ausgegrenzt und getötet. In diesem üblichen Morden zur Überwindung „des“ Bösen zeigen sich aber keine greifbaren und dauerhaften Konsequenzen, keine Ansätze zur Überwindung „des Bösen“, „das“ Böse wird eher immer umfassender.

3.
Das Christentum, vor allem die katholische Kirche, hat als Ort der Überwindung „des Bösen“, kirchlich verstanden „der Sünde“, für den einzelnen Menschen den Beichtstuhl erfunden: Da werden wirkliche oder bloß der Beichtverpflichtung wegen erfundene „böse Taten“ dem Priester gestanden, mit ihm ultra-kurz besprochen, dann bereut, etwas Buße wird geleistet („Drei Vater Unser beten“)… und.. das war es dann auch. Eine tiefere Erklärung der Wirklichkeit „des Bösen“ im Menschen blieb aus: Mit „dem Bösen“ muss man also leben, man kann ja immer wieder beichten und die Belastungen durch „das“ Böses-Tun sozusagen himmlisch mit Gott (durch das Priesters Vermittlung!) verhandeln, alles spielt sich auf einer rein geistigen, man könnte sagen „metaphysischen Ebene“ ab.
Im kirchlichen Leben wird theologisch der Kampf des einzelnen Individuums gegen „das Böse“ als geistige, spirituelle Auseinandersetzung eingegrenzt. Hingegen: Im politischen und religiösen, auf Macht besessenen Denken der Hierarchen wird „das Böse“ dann doch mit Gewalt politisch bekämpft, weil die Herrscher zu wissen meinen, wer die bösen Feinde des eigenen Staates oder der eigenen Kirche sind. Die Feinde der Herrschaft werden zu Inkarnationen „des Bösen“ erklärt.

4.
Die Hilflosigkeit der offiziellen (katholischen und orthodoxen) Kirche im Verständnis „des“ Bösen zeigt sich im Glauben dieser Kirche an den Teufel.
Der Kampf gegen den Teufel wurde wichtiges Ereignis in der christlichen Moral: Man soll dem Teufel widerstehen, dem Verführer, dem Lügner, heißt es. Alle klassische kirchliche Moraldoktrin lebt von diesen geistigen Kampf gegen den Teufel, dabei ist er nichts als eine imaginäre Gestalt.

Zum Profil des Teufels: Es gilt als der Herr der Lüge, der Herr der (sexuellen) Verführung, die Macht, die zu den Todsünden verleitet. Aber es wird übersehen: Auch die Todsünden, etwa die Gier bzw. die Habsucht, haben immer auch konkrete menschliche Gesichter: Zum Beispiel: Völlig vom Egoismus beherrschte Milliardäre und Multimillionäre, denen der Zustand der Welt und das Allgemeinwohl völlig egal ist. Oder: Autokraten, Diktatoren, Folterknechte, Kriegstreiber, auch ideologisch-theologische Kriegstreiber, wie der Patriarch Kyrill von Moskau, der als Putin Freund und KGB Mann unbedingt Mitglied im Weltrat der Kirchen (Genf) bleiben soll.
Erst wenn diese Leute als konkrete Übeltäter, Verbrecher, benannt werden, kann eine politische Auseinandersetzung beginnen und eine Überwindung der bösen Taten und Haltungen.
Diese Überwindung „des Bösen“ läuft darauf hinaus, durch demokratische Gesetze zum Beispiel das maßlose Eigentum dieser von Gier beherrschten Herren zu begrenzen. Dieser politische Umgang mit „DEN Bösen“ (also bösen Menschen) ist etwas anderes als die Praxis der klassischen Theologie, die den Teufel nur herbeizitiert. Dies ist auch etwas anderes als das viel besprochene „Mysterium der Bosheit und des Bösen“, um die teuflische Gier oder Habsucht zu benennen. Dieser Appell an das Mysterium zu glauben, ist nur eine Art Denkverbot, eine Erstarrung vor dem Nicht Guten, das man Böses nennt. Der Hinweis auf das Mysterium des Bösen soll irgendwie durch religiöse Praktiken den Teufel einschränken, durch geistliche Buß – Übungen und Gebete etwa.
Wer das Böses – Tun zum Mysterium erklärt, gleitet ab ins Diffuse, Neblig-Trübe, in dem keine Klarheit des Denkens mehr möglich ist.

5.
Die entscheidende Frage ist: Gibt es denn eine sichtbare Realität, die diesen abstrakten „metaphysischen“, rein geistigen Oberbegriff ,„das Böse“ , anschaulich, greifbar und dadurch tatsächlich überwindbar macht? Das ist nicht der Fall. Es gibt nicht „das Böse“ als eine eigenständige metaphysische Wirklichkeit.
Die einzig weiterführende Frage also heißt: Sind die genannten Phänomene „DES Bösen“ nicht immer nur als sichtbare Taten konkreter Menschen zu verstehen, als Taten der Freiheit? Diese Taten werden real durch eine innere Reflexion m Menschen, im Nachdenken, in der Auseinandersetzung mit einer unabweisbaren Stimme im Gewissen, die auffordert, den Normen des Guten zu entsprechen. Alle Taten des Menschen, auch die Taten, die der Humanität widersprechen, objektivieren sich in der Gesellschaft, im Staat, in den Religionen. Sie verfestigen sich also wie alle anderen geistigen Taten der Menschen strukturell. Eine böse Welt als Resultat freier Entscheidungen wird so erlebbar, siehe den Krieg Putins gegen die Ukraine und die demokratische Welt. Bewusst geförderte Hungerkatastrophen, soziale Ausgrenzung, Sklaverei, Menschenhandel usw. sind Ausdruck von freien Entscheidungen der Menschen gegen das Humane, gegen das Gute.
Man sollte also nur von den Bösen, also von den bösen Menschen, sprechen. Dabei aber nicht in ein “Schwarz-Weiß-Denkschema” geraten, als wären nur die extrem Bösen wirklich böse. Alle Menschen haben die Fähigkeit und Freiheit böse zu sein, böse zu handeln. Nur einige Schwerstverbrecher, oft Diktatoren, sind aber Inbegriff  “der bösen Menschen”:

6.
Mit dieser Konkretisierung der bösen Taten der Menschen wird nicht eine Hexenjagd auf böse Menschen eröffnet. Hexenjagden gab und gibt es, wie oben gezeigt, wenn man „das Böse“ in einer nur ideellen, metaphysischen Weise auffasst und dann je nach Herrscherlaune einzelne Gruppen für negative Erscheinungen (Krieg, Hungersnöte…) verantwortlich machte.
Dabei gibt es Abstufungen des Böses-Tuns: Wer ein Pfund Äpfel stiehlt und dadurch den Händler etwas schädigt, ist auf andere Weise böse als ein Hitler oder Stalin … oder jetzt aktuelle Kriegstreiber.
Wer das Böse versteht als Tat der Bösen eröffnet keine Hexenjagd, weil in diesem Verständnis, die Täter des Bösen nach demokratischen Gesetzen bestraft und entsprechend resozialisiert werden.
Wer also die Frage nach „dem” Bösen zur Frage nach den bösen Menschen umgestaltet, respektiert die demokratischen und hoffentlich gerechten Gesetze der Demokratie zur Überwindung „des“ Bösen.
Wer auf diese Weise „das“ Böse versteht, weiß aber auch: Jeder Mensch handelt in seiner Freiheit auf die eine oder andere Art, mit Abstufungen also, gegen die Normen der Humanität.

7.
Schwieriger wird es, wenn demokratische Staaten, den Menschenrechten verpflichtet, sich mit Diktatoren und Kriegstreibern in der näheren oder weiteren Nachbarschaft auseinandersetzen müssen. Da hilft die Erkenntnis: Kriegstreiber müssen mit Mitteln der Demokratie bekämpft, das heißt in ihrem Tun des Bösen (im Krieg) eingeschränkt und auch schlimmstenfalls mit Waffen der Verteidigung im Angriffskrieg entmachtet werden. Dabei ist es für die Demokratien in der näheren und weiteren Nachbarschaft dieser Diktaturen entscheidend, schon bei den ersten Anzeichen der verbrecherischen Taten dieser Leute zu handeln und diese zu isolieren, zu bestrafen usw. Widerstand hat nur Sinn, wenn er rechtzeitig und früh geschieht.
Nebenbei: Leider haben gute Widerstandskämpfer manchmal Pech: Der Nazi-Gegner Johann Georg Elser war viel reflektierter und mutiger als die späteren adeligen Widerstandskämpfer von 1944: Elser hatte am 8. November 1939 einen umfassenden Sprengstoffanschlag auf Hitler im Bürgerbräukeller in München vorbereitet, der Anschlag scheiterte leider, weil Hitler und die Seinen 13 Minuten vor der Explosion der Bombe das Gebäude verließen.

8.
Muss man noch – förmlich als Illustration des philosophischen Hintergrundes – an elementare Erkenntnisse erinnern?
Zentral ist die Erfahrung der Normen des Humanen in jedem Menschen!
Im Erleben des Menschen gibt es die Einsicht: Ich habe Böses getan. Oder auch: Ich nehme wahr: Der andere hat Böses getan, ganze Gruppen, ein Volk, haben Böses getan. Es gibt also unabweisbar im Bewusstsein der Menschen (sofern sie nicht unter physischen Störungen ihrer Gehirnfunktion leiden) das Bewusstsein von den elementaren Normen der Humanität. Es gibt das faktisch sich im Gewissen zeigende Wissen: Es gibt moralische Grenzen des eigenen Handelns, es gibt ungeschriebene Gebote und Gesetze zu dem, was ich nicht tun darf, und was kein Mensch tun sollte.
Solche Einsichten des absolut Verwerflichen sind tatsächlich universal und nicht nur auf einen europäischen Kulturkreis begrenzt: Kein Mensch würde es normal und richtig und gut finden, wenn Kinder die eigene Mutter töten … aus bloßer Lust am Töten. Kein Mensch, nirgendwo, würde es normal finden, wenn Menschen sich an einem Tisch satt essen und schlemmen und direkt in Sichtweite Hungernde sitzen und im Laufe der Mahlzeit vor den Augen der Schlemmenden unter Schmerzen sterben. Diese Situation ist in gewisser Weise real, auch wenn einige hundert Kilometer zwischen Berlin und dem Südsudan oder dem Süden von Madagasca liegen. Weitere Beispiele, dass es „evident Verwerfliches“ gibt, kann jeder und jede leicht finden.

9.
Die Korrektur im Verständnis „des“ Bösen führt also zu einer Analyse der bösen Menschen. Sie befreit von verworrenen Denken, das leicht ins Phantasieren abgleitet. Die Klimakatastrophe ist Ergebnis von freien Entscheidungen bestimmter, dem Namen nach bekannter Unternehmen, nur an Karriere denkender Politiker und sehr vieler „einfacher Bürger” vor allem in der reichen Welt. Es sind die Chefs gieriger internationaler Firmen, die auf der Suche nach Gold etwa die Nebenflüsse des Amazonas verseuchen und das Wasser für die armselig dort lebenden Bewohner ungenießbar machen. Da zeigt sich nicht „das Böse“, sondern da handeln bestimmte böse Menschen, die die Weltgemeinschaft und die Staaten zur Rechenschaft ziehen müsste. Aber der Amazonas ist weit entfernt, was interessieren uns die „Indianer“ in den Urwäldern in Peru. Sehr oft sind es noch die dort lebenden katholischen Gruppen, katholischen Priester und Ordensleute, die am Amazonas den aussichtslosen Kampf gegen die bösen multinationalen Industriellen des Nordens (Europa, Kanada, USA, China usw.) führen und dabei ihr Leben riskieren.

10.

Der Kampf gegen das Böse als ein Kampf gegen die extrem Bösen bedeutet: Die ethische Bildung aller Menschen zu fördern, die Erkenntnis und das Erleben des Gewissens zu bilden. Kant sagt: Es geht im Kampf gegen „das“ Böse um den praktischen Respekt des Kategorischen Imperativs. Wer es etwas schlichter will: Es geht um den Respekt der „goldenen Regel“, die von allen großen Religionen gelehrt, aber von ihnen selbst selten respektiert wird.
Kategorischer Imperativ und „goldene Regel“ erschließen sich nur im Nachdenken eines jeden Menschen, in der Entwicklung der eigenen kritischen Urteilskraft, die zur Basis humanen Lebens gehört.
Philosophie muss an solche elementaren Erkenntnisse erinnern, die alles andere als „Sonntagsreden“ sind.

11.
Hören wir also auf, vom „dem Bösen“ als einer mysteriösen Realität zu sprechen. Wenden wir uns der Analyse und Kritik DER Bösen zu. Das könnte diese zerstörte Welt etwas menschlicher machen. Man könnte sie besser verstehen, und die politische Aktivität wäre nicht erstickt vor der Angst vor “DEM” Bösen.  Es geht um den Kampf gegen extrem böse Menschen. Maßstab bleiben die universell geltenden Menschenrechte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Das Zweite Vatikanische Konzil ÜBERWINDEN. In Richtung: Reformation der Katholischen Kirche!

Warum das Konzil heute kaum noch inspiriert.     Veröffentlicht schon einmal zu einem “Konzilsgedenken”, vor 10 Jahren, am 5.Okt.2012.

Von Christian Modehn.

Schon wieder wird jetzt (Oktober 2022) an das Zweite Vatikanische Konzil erinnert, man klammert sich förmlich in “progressiven Kreisen” angestbesessen an jeden runden Gedenktag, um noch einmal die Leistungen dieses Konzils zu preisen. (Das Zweite Vatikanische “Reformkonzil” wurde am 11. Oktober 1962 eröffnet, es endete am 8. Dezember 1965).

Dabei sind die Grenzen dieser absolut klerikalen Veranstaltung von 1962-1965 evident.

Nun also der 60. Geburtstag dieses Konzils.

Das ist meine These: Entweder wird die römische Kirche demokratisch – synodal, den Menschentrechten verpflichtet, oder, sie wird zur großen Sekte.

Das gilt genauso für die Entrümpelung überholter Dogmen, wie der so genannten “Erbsünde”, diesem dogmatischen Skandal der Christenheit. Oder es gilt auch für die Abschaffung des Papsttums, wie es vom 1. Vatikanum theologisch sehr dreist  von Papst Pius IX. formuliert wurde..

Nur unter den Bedingungen der Reformation und Entrümpelung haben aus religionsphilosophischer Sicht diese ganzen Konzils – Erinnerungen überhaupt noch einen gewissen einen Sinn. Das Thema interessiert ja ohnehin kaum noch die Leute.

Ich veröffentliche hier noch einmal den Text, der von mir genau vor 10 Jahren veröffentlicht wurde, und die LeserINNen werden sehen: Der Text ist nach wie vor gültig. So vieles wurde dann in den letzten Jahren doch nicht reformiert. Fast gar nichts. Trotz Papst Franziskus. Wollte er wirklich eine Reformation dieser Kirche? Oder war er, ist er,  ein Jongleur, der es allen (am Hofe, im Vatikan, in Kreisen der Reaktionäre), recht machen wollte? Wahrscheinlich ist das so.

………………………………………………..

Am 11. Oktober vor 50 Jahren begann in Rom/Vatikanstadt das 2. Vatikanische Konzil, es hatte vier “Sitzungsperioden” und endete am 8. 12. 1965. Dieses Konzil mit der Teilnahme fast aller katholischen Bischöfe damals ist auch für philosophisch interessierte LeserInnen etwas interessant, weil es einen beachtlichen Wandel des römischen Katholizismus anzeigt, vor allem den Übergang aus einer absoluten Moderne–feindlichen Haltung zu einer offeneren Annahme der modernen, aufgeklärten Welt. Mit Jubeltönen sollte man sich allerdings sehr zurückhalten, wie der folgende Beitrag von Christian Modehn zeigt, der in kürzerer Fassung in der Zeitschrift PUBLIK FORUM am 5. 10. 2012 veröffentlicht wurde.

1.

Die verriegelten Fenster wurden aufgestoßen, der stickige, morbide Geruch der Inquisition wurde vertrieben, der Staub der Jahrhunderte etwas hinweggefegt. Bilder, die heute „progressive, reformerische Katholiken“ faszinieren, wenn sie an das 2. Vatikanische Konzil denken. Die Attacken reaktionärer Kreise, vor allem der traditionalistischen „Piusbrüder“, stärken den Willen, das Konzil unbedingt als „Sprung vorwärts“ (Johannes XXIII.), als „Einschnitt und Wende“ zu bewerten. Reformkatholiken klammern sich an das Konzil, verehren es wie eine Art Heiligtum. Tatsächlich: Das Konzil hat den mittelalterlich geprägten Katholizismus unterbrochen. Die bislang verteufelte Religionsfreiheit wurde anerkannt, von Dialog war die Rede, von Öffnung der Kirche zur Welt.

2.

Aber „progressive Kreise“ sind naiv, wenn sie dieses Konzil zum wichtigsten Bezugspunkt ihrer Erneuerungsvorschläge machen. Denn die theologischen Grenzen dieses Konzils liegen deutlich vor Augen; dabei soll dieses Ereignis nicht unbedingt „klein geredet“ werden. Schon gar nicht geht es darum, ins Fahrwasser reaktionärer und dummer pauschaler Konzilskritik zu geraten. Das Konzil hatte damals tatsächlich seine Bedeutung in der Ablösung aus der offiziell – amtlichen, feudal geprägten Mentalität. Aber kann dieses Konzil noch die theologischen, religiösen, philosophischen, kulturellen und globalen Probleme und Fragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts beantworten? Wir sind der Meinung: Sicher nicht.

Das 2. Vatikanische Konzil beantwortete für die brave katholische Welt einige Fragen des 17. und 18. und 19. Jahrhunderts, die – nebenbei gesagt – protestantische Theologen läängst beantwortet hatten. Diese Konzils – Antworten waren also nur noch für bestimmte katholische Kreise “sensationell”, weil endlich die mittelalterliche Welt des römischen Systems ein wenig „angekratzt“ wurde.

3.

Was sind einige wichtige Begrenztheiten des Konzils?

Es war eine reine Männerveranstaltung, meist greiser Herren, die noch in den Zeiten des „eingemauerten Katholizismus“ (so der Mentalitätshistoriker Jean Delumeau) denken gelernt hatten. Laien, schon damals 95 Prozent der Katholiken, hatten bei dieser drei Jahre währenden Veranstaltung absolut nichts zu sagen und auch gar nichts zu entscheiden. Einige wenige Laien, etwa zwei Frauen, waren als “ZuhörerInnen” zugelassen. „Für“ die Laien wurde vom Klerus entschieden, nicht mit ihnen, es war also eine extrem patriarchale Runde, die sich da traf. Es war alles andere als ein von demokratischem Geist bestimmtes Ereignis. Insofern war es schon damals Vergangenheit! Von „Frauen“ ist nur an 5 Stellen der offiziell verabschiedeten Konzilsdokumente die Rede. Ihnen wird die „häusliche Sorge der Mutter“ zugewiesen. Gleichzeitig wird unvermittelt die „gesellschaftliche Hebung“ ihres Statuts gefordert.

– Die offiziellen Konzils –  Dokumente sind fast immer in einer Sprache verfasst, die „klerikal – pathetisch“  genannt werden kann. So wird die Kirche etwa „Braut des fleischgewordenen Wortes“ genannt. (Dokument: Offenbarung § 23). Wer kommt da – als ein Nichtmystiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts – nicht ins Schmunzeln? Wie viel Unsinn (Mißbrauch usw.) hat diese “Braut” inzwischen begangen? Ist  diese “mystische Überhöhung” der Kirche nicht ein radikaler Fehler? Diese “mystisch” – nebulöse Selbstdefinition der Kirche (durch den Klerus definiert!) verstellt den Blick auf reale Zustände in der römischen Kirche, etwa Korruption oder auch “Priestermangel”, bedingt durch den Mangel an zölibatären Männern, die dieser “Braut” ihre ganze (!) Hingabe geben sollen.

– Diese offiziellen, also maßgeblichen Konzils – Texte sind für sehr viele Leser von heute schon sprachlich Ausdruck einer „fremden Welt“. Sie berühren, das ist langst empirisch nachgewiesen, nur noch Insider, vielleicht nur noch Kirchenangestellte, die den Jargon einüben mussten. In jedem Fall bewegen diese Formeln  wohl wenige Menschen, die jünger als 60 Jahre sind. Man schaue in die Runden der heute debattierenden „Konzilsfreunde“ und mache einmal dort einen Altersdurchschnitt. Die viel beschworene Liebe zum Konzil ist, mit Verlaub gesagt, vielleicht eine Art katholischer Seniorenveranstaltung, besonders in Europa.  Diese Liebe zum Konzil ist sehr verständlich, weil man in einer immer reaktionärer werdenden römischen Kirche noch retten will, was zu retten ist… in dem berühmten reformerischen “Dauer – Lauf” gegen die hohen (vatikanischen) Festungsmauern. Aber diese (masochistisch?) eingefärbte “Liebe zum Konzil” könnte erkennen: Sie lebt aus der dialektischen Verklammerung mit den Feinden des Konzils, den reaktionären Piusbrüdern und anderen (!), viel einflussreicheren Kreisen im Katholizismus. Die “reformerischen Kreise” sehen aber nicht, dass auch dieses Konzil ein neuer Ausdruck einer Klerus – Herrschaft war. Ist das so wirklich so attraktiv für das “Volk Gottes”?

– Die Mehrheit der Konzilsväter war wohl „reformgesinnt“, aber es handelte sich um eine bunte, „mehrdeutige“ (so der Historiker Giuseppe  Alberigo) Reformergruppe. So verteidigten etwa die US – Bischöfe damals noch die Todesstrafe… Der Pluralismus macht die offiziellen Konzilsdokumente widersprüchlich und deswegen offen für alle möglichen Interpretationen. Es gibt nicht „das“ Reformkonzil. Der Konzilsberater P. Giulio Girardi SDB spricht deswegen von „zwei Vatikanums“ zur gleichen Zeit. „Ich erinnere mich an gemeinsame Sitzungen mit Bischof Karol Wojtyla bei der Redaktion des Dokuments =Kirche in der Welt von heute=: Da zeigte er eine kämpferische Haltung gegen die offene Position der Mehrheit“. Im ganzen gilt: „Die Konzilstexte sind Kompromisse; die Beurteilung der vom Konzil gewollten Erneuerung kann gar nicht einheitlich sein“ (so der Historiker Daniele Menozzi). Auch der Papst hat heute seine eigene Lesart, und die sei absolut gültig, sagt er. Der Papst allein bestimmt die einzig legitime Interpretation des Konzils – und kann sich dabei auf die Konzilstexte selbst berufen. Schließlich sind diese Dokumente ja geschaffen von der Hierarchie selbst. Das nennt man “Zirkel” – Argumentation…und Ideologie.

– „Niemals wurde der Widerstand reaktionärer Anti –Konzils – Bischöfe gebrochen“, betont G. Alberigo. Papst  Paul VI. ließ sich für ihre Zwecke instrumentalisieren. Von brüderlicher Kollegialität wollte er nichts wissen. Paul VI. war alles andere als eine “progressive Figur”… Kann man da allen Ernstes von einem „Konzil der Freiheit“ (Karl Rahner) sprechen? Wie viel Ideologie verbirgt sich in der modernen Konzils – Theologie? Eine unbeantwortete Frage… Giovanni Franzoni nahm als Benediktiner – Abt von St. Paul (Rom) an den beiden letzten Sitzungsperioden als „Konzilsvater“ teil. Er schreibt: „Papst Paul VI. hat alles getan, dass der Konzilsgeist zuerst gezähmt und später eingefroren wurde. Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger setzten dieses Werk fort“.  Kollegialität wird in den Konzilstexten nur im Zusammenhang der „vorrangigen Gewalt des Papstes“ besprochen. Paul VI. als der „Herr der Kirche“ verfügte: Eine die absolute Macht des Papsttums stärkende Ausführung sollte der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ noch ergänzend folgen. Später hat er gegen den ausdrücklichen Willen der Konzilsväter „Maria als Mutter der Kirche“ proklamiert: „Achtung, ihr Bischöfe“, so deutet G. Franzoni die Eigenmächtigkeit des Papstes, „ihr könnt diskutieren, was ihr wollt. Ich entscheide“. „Die Konzilsväter hatten nicht den Mut zu fordern, dass gründlich diese Frage in der Konzilsaula besprochen wird“. (D. Menozzi).

– Das Konzil war europäisch geprägt, trotz der Anwesenheit etlicher afrikanischer oder asiatischer Bischöfe. „Die Beteiligung der gesamten lateinamerikanischen Kirche am Konzil war, von Ausnahmen abgesehen, bescheiden“, so der Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez.

Es war eine Veranstaltung, die unkritisch an den europäisch geprägten Fortschritt glaubte: Das Dokument „Über die Kirche in der Welt von heute“ lobt etwa die „Herrschaft (!) der Menschheit über die Schöpfung“! Der Krieg wird zwar als großes Übel dargestellt. Aber: “Wer als Soldat im Dienst des Vaterlandes (sic!) steht, betrachte sich als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker“.

– Es war eine Veranstaltung, die das wohlhabende Europa repräsentierte und weithin in dessen Kategorien dachte: „Die Reflexion über die Kirche der Armen übte keinen gewichtigen Einfluss auf die Konzilstexte aus“, so der Konzilstheologe und Dominikaner Edward Schillebeeckx. Die Forderung von Kardinal Lercaro, Bologna, ein offizielles Bekenntnis zur Kirche der Armen zu formulieren, fand kein Gehör. Nach dem Konzil wurde Lercaro in die “Wüste geschickt”. Nur sehr halbherzig wurde an einigen Stellen der Konzilstexte von der armen Kirche gesprochen. Der Reichtum der europäisch/amerikanisch/vatikanischen Kirche mit ihren (Vatikanischen) Banken und den entsprechenden, heute öffentlichen Schiebereien, war überhaupt kein Thema des Konzils. Alles verlief gehorsam – würdevoll, wie es der Papst wünscht. Alles war irgendwie noch “Barock”, eine Aufführung des “Hofes” (Curia, Hof, ist ja der offizielle Titel des Papst – Staates).

– Es war ein Konzil, das den Dialog hochtrabend forderte, aber eigentlich nicht anstrebte. Z.B: Die Überzeugungen der Atheisten werden „verderbliche Lehren“ genannt, sie werden „mit aller Festigkeit verurteilt“. Daraus folgt, ziemlich dreist: “Für die Glaubenden verlangt die Kirche Handlungsfreiheit (in Gesellschaft und im Staat), damit sie in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können. Die Atheisten aber lädt die Kirche schlicht ein, das Evangelium unbefangen zu würdigen“…Die Gruppen für den „Dialog mit den Ungläubigen“ wurden schon in den achtziger Jahren aufgelöst…Theologen in Indien, Japan, Sri Lanka, Peru usw., die den vom Konzila geforderten Dialog tatsächlich lebten, wurden ihrer Ämter entfernt…Sie erkannten dann die “große Illusion”.

– Es war ein Konzil, das die „Autonomie der Welt“ nur oberflächlich akzeptierte: Es sagt Ja zur Eigengesetzlichkeit der Welt. ABER damit sei gemeint, dass der Mensch die Autonomie „nicht ohne Bezug auf den Schöpfer“ gebrauchen darf. Wer aber lehrt den rechten Bezug zum Schöpfer? Das oberste Lehramt!

Freiheit der theologischen Wissenschaft ist ausgeschlossen. Über historisch – kritisch arbeitende Exegeten heißt es: „Sie stehen unter Aufsicht des kirchlichen Lehramtes“.

– Es werden widersprüchliche Symbole für das Selbstverständnis der Kirche beschworen: Das „Volk Gottes unterwegs“ und der „mystische Leib Christi“. Das „Volk“ kennt die Gleichheit der Mitglieder. Der Leib Christi wird beherrscht vom alles bestimmende Haupt, dem Klerus.

– Es wird eine Ökumene konzipiert, die vorausgesetzt, dass Gott selbst die katholische Kirche gestiftet hat. Die “anderen Kirchen”, vor allem die protestantischen,  sind bloß “christliche Gemeinschaften”. Was Benedikt XVI. heite sagt, ist in den Konzilstexten grundgelegt.

– „Mission“ bedeutet für das Konzil Bekehrung zur Katholischen Kirche. Von interreligiösem Dialog ist nur ganz am Rande die Rede.

– Das Konzil begnügte sich, die Texte der Messe in die jeweilige Landessprache zu übersetzen. Das führte zu lebensfern klingenden Formeln und Floskeln in den Gottesdiensten. Der gemeinte Inhalt hätte ganz neue sprachliche Gestalt finden müssen. Unter der weltfremden Sprache leiden Katholiken noch heute…Zudem wurde die Messfeier derartig als absolutes Zentrum katholischer Frömmigkeit überhöht, weil eben nur der zölibatäre Klerus, die Männer, die Messe feiern darf. So wird über die Spiritualität der sogenannten “absolut wichtigen Messfeier” nur  die absolute Bedeutung  des zölibatären Klerus verteidigt und festgeschrieben…

Das 2. Vatikanische Konzil gilt es also zu „überholen“, vor allem, weil es – wie die Konzilien zuvor – viel zu viel von Gott,  Christus, Maria, der Trinität, der Kirche, den Sakramenten und so weiter und so weiter weiß. Das Konzil gibt sich nahezu allwissend der Gottesfrage und den genannten anderen Fragen gegenüber. In einer die heutige Skepsis und vor allem die mystische Erfahrung aufgreifenden Theologie ist sehr viel mehr intellektuelle Bescheidenheit angebracht. Diese Alleswisserei damaliger Bischöfe wird nicht erst heute eher als störend denn als Inspiration empfunden. Könnte man den Kern der christlichen, auf Jesus von Nazareth bezogenen Erfahrung, nicht auch auf 10 Seiten sprachlich nachvollziehbar ohne klerikales Pathos (s.o.) mitteilen?

Kirchenreformer sollten ihren Enthusiasmus für dieses Konzil sehr bremsen und seine grundgelegten Begrenztheiten anerkennen. Sie werden dieses Konzil wohl überwinden müssen, wenn sie für einen ökumenischen Katholizismus der Zukunft eintreten, also für eine tatsächlich andere, “evangelische” und dialogische Kirche mit sehr wenig Hierarchie, aber viel mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung, vor allem von Frauen. Die offiziellen Konzilstexte sind theologisch ein Stück Vergangenheit. Es gibt dringendere Themen der religiösen Menschheit und der nicht – religiösen Menschheit von heute…

copyright:Christian Modehn/Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Ludwig Wittgenstein – in einem neuen Handbuch umfassend dargestellt.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.9.2022

Das aktuelle Motto, ein Zitat Wittgensteins: “Soweit Sie und ich das wissen können, wird die Religion der Zukunft ohne Priester und Geistliche auskommen. Eines der Dinge, die Sie und ich lernen müssen, ist, dass wir ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer Kirche leben müssen.“ (Siehe Nr. 4 in diesem Hinweis)

1.
Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) ist einer der denkwürdigsten und einflußreichsten Philosophen. Dabei fällt er sozusagen aus dem Rahmen der üblichen „Philosophie-Professoren an Universitäten“. Nicht nur, weil er nur ein Buch zu „Lebzeiten“ veröffentlichte. Vor allem: Für ihn war persönliches Leben und philosophisches Denken in einer spannungsreichen Verbindung. Wittgenstein schwankte existentiell zwischen einer üblichen Laufbahn an einer Universität und einem schlichten Alltagsleben, auch als Grundschullehrer.
Wittgenstein hinterließ einen großen Umfang an Studien und Notizen, die seine ständige philosophische Selbstkorrektur und Entwicklung dokumentieren. Er war äußerst vielseitig begabt, manche nennen ihn ein Genie, kompetent in der Mathematik und Logik, aber auch im Maschinenbau und als Architekt, er schätzte Literatur, Musik und Kunst und auch zur Religion hatte er einen eigenen, besonderen Zugang entwickelt.
2.
Philosophisch gebildete Kreise können nun ein anspruchsvolles „Wittgenstein -Handbuch“ für ihr Studium, auch als Einstieg, nutzen, ein Handbuch, das umfassend den ganzen Wittgenstein und sein vielfältiges Werk darstellen und erklären will. Das Buch hat 482 Seiten, umfasst 94 Kapitel, neben einer ausführlichen Biographie vor allem Hinweis zu seinem umfassenden Werk, auch zum Briefwechsel. Herausgegeben ist dieses Buch von den Wittgenstein-Spezialisten Stefan Majetschak (Kunsthochschule Kassel) und Anja Weinberg (Uni Wien). Das Buch wird in der Fülle der äußerst vielen speziellen Wittgenstein Studien, auch angesichts der verschiedenen Wittgensteingesellschaften in Norwegen, England, Österreich usw., sicher die Bedeutung einer wichtigen Erstinformation wie auch eines grundlegenden Nachschlagewerk haben.

3.
Ein solches umfassendes Wittgenstein-Lexikon kann selbstverständlich nicht in wenigen Worten „besprochen“ werden.
Den Schwerpunkten unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin entsprechend, interessierte uns besonders das Kapitel „Religion“, ein Thema, das für Wittgenstein auch lebensmäßig alles andere als marginal ist. Der Philosoph Ludwig Nagl hat den entsprechenden Beitrag im Handbuch verfasst. „Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders: Ich sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt“, so Wittgenstein in einem Gespräch mit Maurice Drury. Ob Wittgenstein „wirklich“ kein religiöser Mensch war, wird heftig diskutiert, zu deutlich ist in seinen Notizen persönliche Betroffenheit von religiösen Aussagen, zumal des Neuen Testaments (Ludwig Wittgenstein wurde katholisch getauft). Wichtig ist seine Erkenntnis, dass die Sinnfrage nicht wissenschaftlich beantwortet werden kann, sondern ins Religiöse, in den Glauben, weist. „Wie soll ich leben“, bleibt die zentrale Frage Wittgensteins. Schon in jungen Jahren las er Tolstoi, Dostojewski, vor allem Augustinus schätzte er sehr und Kierkegaard. Gerade die Auseinandersetzung mit Augustin und Kierkegaard führte Wittgenstein zu theologischen Aussagen, die stark an die dialektische Theologie etwa eines Karl Barth erinnern, darauf weist Ludwig Nagl leider nicht hin. Von einer „vernünftigen Theologie“, im Katholizismus mit der Pflege der Gottesbeweise üblich, hielt Wittgenstein gar nichts! Wegen des Dogmas des 1. Vatikanischen Konzils, dass die Existenz Gottes „durch die natürliche Vernunft bewiesen werden kann“, war es ihm „unmöglich, Katholik zu sein“ (S. 365 im Handbuch).

4.
Je mehr sich Wittgenstein von den Erkenntnissen seines frühen Werkes, des „Traktates“, löste, um so deutlicher wurde sein Interesse für Religion und die Frage „Was ist Glauben“. Für ihn war in der persönlichen Bindung an Christus nicht der Glaube, sondern die Liebe entscheidend. Aber für die religiöse Haltung gilt wohl insgesamt: Sie „ist nicht verständlich, es ist aber auch nicht unverständlich“ (S. 365 im Handbuch), ein typischer Wittgenstein Satz, möchte man meinen, der sich um „extreme“ Differenzierung bemüht.
Dass die christliche Religion zur Institution, also zur Kirche wurde, findet Wittgenstein sehr problematisch: „Zu seinem Freund Drury sagte er: „Soweit Sie und ich das wissen können, wird die Religion der Zukunft ohne Priester und Geistliche auskommen. Eines der Dinge, die Sie und ich lernen müssen, ist, dass wir ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer Kirche leben müssen“ (S. 365 im Handbuch).

5.
Auch das Stichwort Glauben und Wissen in der Rubrik „Begriffe und Themen“im Handbuch ist für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon von großem Interesse. Deutlich zeigt Nuno Venturinha ,dass Wittgenstein an dem Thema schon sehr früh arbeitet, später aber den „überkommenen (also vom Menschen nicht abzuschaffenden, C.M.) Hintergrund” des menschlichen Geistes verteidigt: Übersetzt heißt dies: Es gibt geistige Strukturen, die niemals durch Lernen und Unterricht erworben werden, sondern die vorgefunden und da sind, wie etwa die Form des Glaubens. Glauben ist für Wittgenstein in seinen Hinweisen „Über Gewissheit“ grundlos im Menschen „vorhanden“. Wir Menschen haben also etwas Vorgegebenes, „das weder wahr noch falsch sei“, wie Wittgenstein in „Über Gewissheit“ schreibt (S. 205). Da hätte mich interessiert, ob eine Verbindung zu Kant gegeben ist, etwa hinsichtlich dessen Erkenntnis des „Faktums der Vernunft“.

6.
In dem Zusammenhang ist es erstaunlich, was der katholische Religionsphilosoph, der Jesuit Prof. Friedo Ricken, München, etwa zu den „Vermischten Bemerkungen“ Wittgensteins zur Religion betont: „Sie gehören für mich zum Tiefsten, was ich in der neueren philosophischen Literatur zu diesem Thema gefunden habe, aus ihnen sprechen ein tiefer Ernst und eine überzeugende Ehrlichkeit”.(Friedo Ricken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Stuttgarrt, 2003, S. 29).

7.
Man wird in dem „Handbuch“ die Erörterung der Stichworte Politik, Gesellschaft oder Staat vergeblich suchen, darf man daraus schließen, dass diese Themen Wittgenstein philosophisch nicht interessierten?

8.
Soweit ich sehe, wird in dem „Handbuch“ nicht explizit von einer homosexuellen Neigung Wittgensteins gesprochen, die vielfältigen Freundschaften mit jungen Männern werden ausgeführlich angesprochen. Entsprechende Behauptungen zur Homosexualität Wittgensteins vonseiten des Biographen William Barley (von 1973) gelten wohl jetzt als übertrieben. Hingegen hat der Wittgenstein Forscher Ray Monk später noch einmal diskret davon gesprochen, im Personenregister des Handbuches wird Monk nicht erwähnt. Und es ist sicher gar kein Zufall, dass eine große Wittgenstein Ausstellung unter dem Titel „Verortungen eines Genies“ (Ausstellung 18. März bis 13. Juni 2011) ausgerechnet im „Schwulen Museum“ , damals noch in Berlin-Kreuzberg, stattfand. Der Junius-Verlag hatte ein reich mit Fotos ausgestattetes, hervorragendes Begleitbuch publiziert. Justus Noll hat in dem Buch einen Artikel über „Schüler, Freunde und Liebhaber“ verfasst.

9.
Wittgenstein bleibt ein zweifellos einseitiger, aber außergewöhnlich inspirierender Philosoph, auch, weil er sein Denken mit seinem eigenen Leben und Leiden aufs engste verbunden hat. Peter Sloterdijk hat schon recht, wenn er in seiner kleinen Skizze über Wittgenstein (in „Philosophische Temperamente“, München 2009) schreibt: „Es tritt das Profil eines Denkers an den Tag, der unzweifelhaft zu den Sponsoren der künftigen Intelligenz gehören wird. Noch in ihren logischen Härten und menschlichen Einseitigkeiten hält Wittgensteins Intensität Geschenke von unabsehbarer Tragweite an die Nachwelt bereit“ (S. 128 f.)

10. Zugänge zu Wittgensteins Werk:
„Im deutschsprachigen Raum veranstaltet die Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft (http://www.alws.at) seit 1976 internationale Wittgenstein-Symposien in Kirchberg am Wechsel in Niederösterreich, einem Ort nahe Trattenbach, in dem W. einen Teil seiner Zeit als Volksschullehrer verlebte. Die Vorträge dieser Symposien werden in zwei Buchreihen, den Contributions of the Austrian Wittgenstein Society sowie den Publications of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society – New Series veröffentlicht (letztere Reihe enthält auch weitere Publikationen; https://www.degruyter.com/serial/PALWS-B/html).
In Fortsetzung der in den 1990er Jahren von der Deutschen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft begründeten digitalen, seinerzeit im Diskettenformat verbreiteten Zeitschrift Wittgenstein Studies gibt deren Nachfolgeorganisation, die Internationale Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e. V. (ILWG) (http://www.ilwg.eu) seit 2010 die Reihe Wittgenstein-Studien. Internationales Jahrbuch für Wittgenstein-Forschung sowie die Buchreihen Über Wittgenstein (deutsch) und On Wittgenstein (englisch) heraus“. (Zitat aus dem „Handbuch“)

11.
Im März 2016 hat Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Hinweis zum Thema „Wittgenstein – ein religiöser Philosoph“ publiziert.

LINK

2011 hat Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Hinweis publiziert zum Thema: „Das Mystische und das Unaussprechliche“ (Zu Wittgenstein).

LINK

Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.)
Wittgenstein-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
J. B. Metzler Verlag, 2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Es ist ein Wahn, dass der Papst und die Kirchenführung noch am Zölibat festhalten“.

Ein Hinweis auf einen wichtigen Film von ARTE

Von Christian Modehn

1. Man denke bloß nicht, das Thema Pflichtzölibat für den katholischen Klerus sei heute ein Randthema. Das Thema Zölibat gehört ins Zentrum, wenn man die katholische Kirche verstehen will. Etwa 400.000 katholische Priester gibt es heute weltweit. Solange es die römisch-katholische Kirche in West-Europa noch gibt, wird man sich als philosophisch Interessierter mit dieser Institution befassen müssen, schon um der Pflicht zur Religionskritik zu entsprechen.

2. Eine ausführliche Dokumentation von ARTE beweist: Es sind die wenigsten Priester, die dem Zölibatsgesetz Folge leisten. Bischöfe und Päpste wissen das, aber sie unternehmen nichts, um den Gegensatz zwischen offiziellem Kirchengesetz und lebensmäßiger Realität unter den Priestern aufzuheben: Das heißt, das Zölibatsgesetz aufzuheben. In dem ARTE Film nennen diesen Zustand gebildete, d.h. kritische Theologen die „katholische Schizophrenie“.

3. Papst Franziskus wird in die Geschichte eingehen, als ein Papst, der – nach der so genannten „Amazonas-Synode“ in Rom (im Oktober 2019) – das Zölibatsgesetz hätte aufheben können. Aber er tat es nicht. Weil er Angst hat vor der Macht der reaktionären Vatikan-Kardinäle. Oder weil er viel zu sehr selbst noch traditioneller Kleriker ist?

4. Das Thema Pflichtzölibat für Priester führt tatsächlich in die Abgründe der Verlogenheit, in die Abgründe der offiziell-klerikalen Ignoranz zu (weiblicher) Erotik und Sexualität und der maßlosen Sturheit alter Herrscher im Vatikan und in den Bistumsleitungen: Das ist der Tenor aller Interviewpartner aus zahlreichen Ländern, den der ARTE FILM „Zölibat – der katholische Leidensweg“ vorstellt. Sehr oft haben einige vernünftige katholische Bischöfe gefordert, das Zölibatsgesetz abzuschaffen? Aber sie jammerten nur, und taten nichts. Was würde denn passieren, wenn Bischof X in seinem Bistum verheiratete Männer und Frauen einfach so zu PriesterInnen weiht? Das kann er doch tun. Würde Rom einen aufmüpfigen Bischof gleich wieder exkommunizieren? Wäre eine mögliche Spaltung der Kirche so schlimm, die doch de facto längst gespalten ist?

5. Die Leidenswege von Priestern werden in der ARTE Dokumentation in vielen ausgezeichneten O-Tönen dargestellt, von Priestern, die die Liebe zu einer Frau oder einem Mann entdecken und auch leben, und die dann entweder permanent ein Doppelleben führen, was von den Kirchenoberen geduldet wird. Denn die Bischöfe brauchen jeden verfügbaren Priester, um das System zu erhalten. Wenn die Priester aber den Klerusstand verlassen, wenn sie ihre Liebe also endlich offen leben…kommen sie oft materiell oft ins Schleudern. Denn welchen „weltlichen“ Beruf können denn Männer ausüben, die nur katholische Theologie (recht und schlecht) studiert haben? Auch der Leidensweg der Kinder des katholischen Klerus wird in der ARTE Dokumentation dargestellt.

6. Das Festhalten am Pflichtzölibat führt dazu, dass immer weniger Männer sich ein solches verlogenes Leben im Verzicht auf sexuelle Liebe antun wollen. Diese Entwicklung ist an sich positiv zu bewerten. Der Nachteil ist: Katholische Gemeinden ohne Priester sind bis jetzt kaum vorstellbar. Denn allein die zölibatären Priester haben das Privileg, die Eucharistie zu feiern. Indem die Dogmatik des Vatikans lehrt, die Eucharistie sei das Wichtigste im katholischen Leben, macht sich der Klerus selbst zum Wichtigsten und Unersetzbaren! So zerfällt aufgrund des Priestermangels nicht nur das spirituelle Leben einer Gemeinde, es zerfällt oft auch das soziale Miteinander der Gemeindemitglieder, wenn Gemeinden aufgegeben werden.

7. So kann man durchaus treffend von einem moralischen Niedergang der offiziellen katholischen Kirchenführung auf verschiedenen „Ebenen“ sprechen, verursacht durch das theologisch längst als Unsinn erwiesene Zölibatsgesetz. In einem Interview für ARTE bezeichnet ein Jesuit aus Belgien das päpstliche Festhalten am Zölibat, diese permanente klerikale Verlogenheit, als Todsünde. Der Jesuit wusste schon, was er sagen durfte…
Allen, die den moralischen Niedergang der katholischen Kirche verstehen wollen, sei diese umfassende, objektive Dokumentation von Eric Colome und Rémi Benichou empfohlen: Der Film (100 Minuten) wurde auf ARTE am 13.9.2022 zum ersten Mal gesendet, er liegt noch bis 11.11. 2022 in der ARTE-Mediathek vor.vor: https://www.arte.tv/de/videos/097605-000-A/zoelibat-der-katholische-leidensweg/. LINK

8. Leider zeigt der Film nicht die wahren historischen Wurzeln des Zölibatsgesetzes. Ausschlaggebend dabei ist nicht nur die Verachtung von Frauen und von weiblicher Sexualität durch den Klerus. Genauso wichtig: Dieses Zölibatsgesetz wurde einst aus ökonomischen Gründen von Päpsten eingeführt, aus Geldgier könnte man sagen.
Das Zölibatsgesetz wurde in der westlichen, der römischen Kirche in den Bestimmungen des 2. Laterankonzils von 1139 offiziell verfügt, faktisch aber selten respektiert. Den Päpsten kam es nur darauf an, Priesterkinder nicht als Erben der Priester gelten zu lassen. „Die Kirchengüter sollten über das Zölibatsgesetz bewahrt und vermehrt werden. Das Hab und Gut alleinstehender Kleriker fiel nach deren Tod der Kirche zu.“ Quelle<: https://www.planet-wissen.de/kultur/religion/das_christentum/pwiederzoelibat100.html

Der Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf schreibt in seinem empfehlenswerten Buch „Zölibat“ (München 2019) in dem Kapitel „Ökonomische Wurzeln“: „Die entscheidende Frage lautet: Wie kann man legitime Priesterkinder und damit die Existenz erbberechtigter Nachkommen am wirkungsvollsten verhindern? Indem man der Zeugung solcher Kinder die Voraussetzung entzieht … und Ehe und Priesteramt für unvereinbar erklärt“ (S. 58). Also das heißt: Indem man das Zölibatsgesetz erfindet … und behauptet, Gott und Jesus Christus wollen das. Dadurch konnte sich die päpstliche Macht gegenüber der weltlichen Macht materiell stark entwickeln. Von dem vielen Geld und Eigentum profitierten nur Päpste, Bischöfe, Äbte und Prälaten, nicht aber die „einfachen“ Pfarrer auf dem Lande.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Das Massaker in Mellila (Spanien) am 24.Juni 2022

Lesen Sie bitte diesen Bericht von Alexander Kern (UNI Frankfurt/M.), veröffentlicht auf der website “Geschichte der Gegenwart” ,über das Massaker in Melilla am 24.6.2022, um den Umgang des “demokratischen” (“christlichen” ???…..) Europa mit Flüchtlingen aus Afrika zu verstehen. LINK

Sowie den Hinweis des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin vom 13.6.2022 auf die sehr “merkwürdige”, d.h. skandalöse Flüchtlingspolitik der EU, eine Buchbesprechung: LINK: