Die Russisch-orthodoxe Kirche ist seit Jahren schon eine Putin-Kirche. Sie sollte also nicht länger Mitglied sein in „Ökumenischen Räten“ Europas und dem „Weltrat der Kirchen” in Genf.

DAS MOTTO: Das es ist eine Schande der Christen und der Kirchen, wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche noch länger Mitglied der weltweiten christlichen Ökumene ist.

Ein  Hinweis von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht im März 2022. Überarbeitet am 24.8.2022, wegen des 11. Welt-Treffens des „Ökumenischen Weltrates der Kirchen” (ÖRK)  in Karlsruhe (31.8. bis 8.9.2022.)

Erstens: Zunächst einige Fakten  zur Teilnahme der russisch-orthodoxen Kirche an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates ÖRK in Karlsruhe:

1.
Die Russisch-orthodoxe Kirche wird eine Delegation nach Karlsruhe senden, dem Tagungsort der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Konkrete Namen wurden bis jetzt (Stand: 25.8.2022) nicht genannt. Wie sich die Teilnehmer aus der Ukraine in Karlsruhe zu ihren russischen Glaubensbrüdern verhalten, könnte spannend werden.
Einige Beobachter sprechen davon, dass etwa 20 (zwanzig) Delegierte der Russisch – orthodoxen Kirche in Karlsruhe dabei sein werden. (Quelle. https://www.sonntagsblatt.de/artikel/kirche/osteuropa-expertin-russische-kirche-weltkirchenrat-nicht-isoliert)

2.
Die EKD Ratsvorsitzende Annette Kurschus sagt:
“Wie die Delegation der russisch-orthodoxen Kirche zusammengesetzt ist, können wir nicht beeinflussen. Aber wir hoffen sehr, dass Menschen dabei sind, die der russischen Kriegsführung kritisch gegenüberstehen, die also nicht die Haltung des Moskauer Patriarchen Kyrill vertreten“. Und weiter sagt die EKD Vorsitzende: “Ich erhoffe mir, dass auf kirchlicher Ebene eine Kommunikation möglich wird, die auch politisch etwas austrägt“. (Quelle: https://www.ekmd.de/aktuell/nachrichten/praeses-annette-kurschus-oekumene-gipfel-soll-friedensimpuls-in-ukraine-senden.html, vom 22.8.2022.

Nebenbei: Wenn diese von Frau Kurschus erwarteten kritischen Russen in Karlsruhe tatsächlich Klartext reden, also die Verbrechen Putins und seines ideologischen Hefters Kyrill benennen, können sie als Asylsuchende gleich in Karlsruhe bleiben. Dann hätte Frau Kurschus noch eine weitere Aufgabe, diese kritischen Russen unterzubringen.

3.
Klare und deutliche Worte, unseres Erachtens sehr richtige Worte, äußert Magdalena Zimmermann, von der weltweiten Organisation „Mission 21“ der Reformierten Kirche in Basel und Basel Land: „Die russische Orthodoxie bildet unter Kyrill ein System mit Putin. Der Patriarch unterstützt das autokratische System und erhält dafür Privilegien. Einem solchen System kann man mit Vermittlung nicht beikommen. Man kann es nur klar ablehnen“.
Der Moskauer Patriarch Kyrill ist zur Vollversammlung in Karlsruhe eingeladen. Doch ob er kommt, bleibt fraglich. Magdalena Zimmermann findet es falsch und realitätsfremd, mit Kyrill das Gespräch zu suchen. «Die russische Orthodoxie bildet unter Kyrill ein System mit Putin. Der Patriarch unterstützt das autokratische System und erhält dafür Privilegien. Einem solchen System kann man mit Vermittlung nicht beikommen. Man kann es nur klar ablehnen.» Der Weltkirchenrat habe eine prophetische Aufgabe, betont sie. «Eine Kirche, die sich auf das Evangelium beruft, kann nicht schweigen und auch nicht neutral sein, wenn ein wesentlicher Repräsentant einer grossen Kirche wie Kyrill die Religion instrumentalisiert und missbraucht.» (Quelle: https://reformiert.info/de/recherche/oekumenische-vollversammlung-klare-worte-gegen-den-krieg-in-der-ukraine-21297.html) publiziert am 22.8.2022.

4.
Die russisch-orthodoxe Kirche mit mehr als 160 Millionen Mitgliedern ist seit 1961 Mitglied im ökumenischen Dachverband des Wellrades der Kirchen in Genf, dazu gehören 352 verschiedene Kirchen mit über 580 Millionen Christen.

5.
Jede Mitgliedskirche zahlt in den großen Topf des Budgets des ÖRK in Genf einen Beitrag ein,:
Im Jahr 2020 zahlte die Russisch orthodoxe Kirche 10.229 Schweizer Franken sozusagen als Mitgliedsbeitrag in Genf ein.
Im Jahr 2021 waren es 10.618 Schweizer Franken. (Quelle. https://www.oikoumene.org/resources/documents/wcc-financial-report-2020)
Wenn man bedenkt, dass Patriarsch Kyrill von Moskau nachweislich Multi-Millionär ist, sind diese Einzahlungen seiner Kirche doch sehr bescheiden.
Es kann also nicht sein, dass der ÖRK in Genf unbedingt aus finanziellen Gründen an der Mitgliedschaft der russisch – orthodoxen Kirche hängt. Warum aber dann?

6.
Ist ein ÖRK ohne die russisch-orthodoxe Kirche etwa nicht denkbar, vielleicht, weil russische Metropoliten schon in der Zeit des Sowjetkommunismus gern gesehene Vertreter ihrer Kirche waren. Nur ein Hinweis:
Die 3. Vollversammlung fand vom 19.11.-5.12.1961 in Neu-Delhi / Indien unter dem Thema statt:
“Jesus das Licht der Welt”. Diese Vollversammlung brachte vielfältige Veränderungen. 23 neue Mitgliedskirchen konnten aufgenommen werden. Unter ihnen die Russisch-Orthodoxe Kirche. Die theologisch konservativen Kirchen des Ostblocks vertraten politisch die Interessen der Sowjetregierung. Fortan wurden die politischen Stellungnahmen immer einseitiger zugunsten der Sowjets. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde die von Kritikern der Ökumene schon lange ausgesprochene Vermutung bewiesen, daß viele orthodoxe Mitarbeiter, die im Stab des Ökumenischer Rat der Kirchen in Genf tätig waren, dem KGB angehörten. Quelle: https://handbuch.bibel-glaube.de/Oekumenischer_Rat_der_Kirchen.html. Gelesen am 25.8.2022.

7.
Die Russisch – orthodoxe Kirche aus dem ÖRK ausschließen? Ist das rechtlich möglich? 
Auf die Frage, ob der ÖRK die russisch-orthodoxe Kirche aufgrund der Haltung des Patriarchen als Mitglied ausschließen oder die Mitgliedschaft suspendieren könne, erklärte Peter Prove vom ÖRK
“Nur der ÖRK-Zentralausschuss kann so etwas unter ganz bestimmten Bedingungen beschließen. Wenn die theologischen Positionen einer Mitgliedskirche nicht mit der fundamentalen theologischen Grundlage für die ÖRK-Mitgliedschaft vereinbar sind, dann liegt ein solcher Fall vor“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Zweitens: Das Plädoyer für den Ausschluss der Russisch Orthodoxen Kirche aus den ökumenischen Gremien der demokratischen Welt:

Ich habe auf dieser website seit etlichen Jahren die Entwicklung dieser Putin-Kirche (d.h. der Russisch-Orthodoxen Kirche –  mit dem einstigen KGB Mann, Patriarch Kyrill I.) dokumentiert, siehe am Ende dieses Beitrags die entsprechende Liste!

Die Erkenntnis und die Forderungen:

1.
Die Russisch-orthodoxe Kirche mit ihrem allmächtigen Patriarchen Kyrill I. an der Spitze ist seit Jahrzehnten schon eine „Putin-Kirche“. Auch im Krieg Putins gegen die Ukraine hat die Russisch-orthodoxe Kirche als eine einflußreiche Organisation in Russland (ca. 60 % der Russen gelten als Mitglieder) bisher nur allgemeine Floskeln zum Krieg Putins geäußert. Die Russisch-Orthodoxe Kirche in der Ukraine hat sich von ihrem Moskauer Patriarchen inzwischen getrennt! Einige wenige russisch-orthodoxe Popen im Ausland, etwa in Frankreich und Holland, denken wohl anders als der Patriarch und seine gehorsamen Bischöfe.

2.
Die Forderung ist klar: Eine Kirche, die sich – wie üblich – nur in Worten und feierlicher Liturgie auf das Evangelium Jesu Christi bezieht, aber de facto zur nationalistischen Putin-Kirche entartet ist, gehört nicht mehr in repräsentative christliche ökumenische Gremien (in Genf, auf Landesebene in Europa oder in Landeskirchen/Bistümern).

Diese Kirche kämpft – sehr gut seit Jahrzehnten wissenschaftlich dokumentiert – gegen alle Freiheiten der Bürger, der Frauen, der sexuellen Vielfalt, der Künstler. Und einige ihrer Popen wollen sogar „Väterchen“ Stalin in den Rang eines Heiligen erheben. Das ist kein Witz! Eine solche Organisation sollte von demokratischen und christlich gesinnten Kirchen nicht mehr zu einer christlichen Ökumene gehören, falls diese noch den Anspruch Evangeliums und der Menschenrechte praktisch respektieren will.

3.
Die Forderung also ist: Die Russisch-orthodoxe Kirche sollte – mindestens bis zu der von Russland ausgesprochenen Garantie des unabhängigen Staates Ukraine durch Putin oder dessen alsbaldigem Nachfolger – aus allen ökumenischen, christlichen Gremien entfernt werden.

4.
Ich weiß, Christen schätzen heute nicht den Bruch, die Trennung von einer Kirche aus der Ökumene, denn viel zu lange wurden Ketzer verfolgt von den herrschenden Kirchen. Man könnte – etwas polemisch – meinen, heute herrscht in der evangelisch-bestimmten Ökumene (Genf etc.) das Motto. „Friede-Freude-Eierkuchen“. “Immer nur lächeln, immer nur nett sein“… auch zu Kriegstheologen und Kriegstreibenden Bischöfen. Aber übermäßiges und langes Hoffen auf die Kraft der Vernunft in dieser Putin Kirche Kirche ist naiv. Haben denn die Dialoge in Genf und anderswo mit den Vertretern der Russisch-orthodoxen Kirche nachweislich konstruktive Ergebnisse in Richtung Frieden und Respekt der Menschenrechte gebracht?? Mir ist das nicht bekannt. Fall diese Dialoge stattfanden, sie waren wohl eine Art Dialog-Spielerei.

5.
Es kann also nicht sein, dass die Ökumene der christlichen Kirchen in der demokratischen Welt eine kriegerisch – nationalistische orthodoxe Kirche als Teil der christlichen Welt gelten lässt. Die Sanktionen gegen Putin Russland durch die Wirtschaft, Kulturinstitutionen etc. sind bekannt, sie wirken zum teil, sie isolieren Russland und fördern dadurch hoffentlich den Widerstand der nachdenklichen Russen gegen das Putin Regime. Warum sollte dies bei einer Isolation der Russisch Orthodoxen Kirche anders sein, vielleicht trennen sich dann einige vernünftig gebliebene Fromme von dem einstigen KGB Mitarbeiter Patriarch Kyrill?

6.
Die zentrale Erkenntnis ist: Es muss ein neues Denken beginnen, was Ökumene der vielen verschiedenen Kirchen eigentlich bedeutet, es muss genau gefragt werden, wer dazu gehört und wer eben nicht. Kriterium der Mitgliedschaft einer Kirche kann nicht einfach nur sein, dass diese sich christlich nennt. Kriterium muss sein, dass die Praxis dieser Kirche auch dem Geist und dem Buchstaben der Menschenrechte entsprechen. Nicht nur der Bezug auf das Neue Testament also ist ökumenisch entscheidend, sondern vor allem auch der praktische Respekt der universalen Menschenrechte.

7.
Der Hintergrund: Alle demokratischen Staaten und Gesellschaften bewerten heute den Krieg Putins gegen die Ukraine als eine „Zeitenwende“, als ein Bruch mit bisherigen Üblichkeiten, Mentalitäten und Denkzwängen in den Demokratien.
Die frühere Naivität im Umgang mit Putin wird von den demokratischen Gesellschaften und Staaten überwunden. Sie wissen jetzt: Aus dem Gegner Putin von einst ist jetzt der Feind Putin geworden. Und dieser Feind darf keine Macht mehr behalten.

8.
Ich weiß, bei dem Zustand der Ökumene mit dem Motto „Immer nur lächeln und alles verzeihen“ sind diese Vorschläge natürlich illusorisch. Die Christen und die Kirchen weltweit sind eingeschüchtert und irenisch, d.h. sie wollen Streit und Distanz und Rauswurf um jeden Preis vermeiden, sie werden es doch ihren „Brüdern“ und „Schwestern“ nicht antun, auch einmal eine Strafe auszusprechen. Der Rauswurf der Russisch-orthodoxen Kirche aus den ökumenischen Gremien würde eher dem Frieden dienen, also den Zusammenbruch des Putins Regimes befördern.

9.
ABER: Bei der Mentalität der Kirchen werden diese die einzige gesellschaftliche Gruppe bleiben, die angesichts des Mordens durch Putin keine praktischen Konsequenzen ziehen; sie werden jammern und klagen, aber keine Konsequenzen ziehen, die wirklich den Titel „Zeitenwende“ verdienen. Von Zeitenwende, von einem Umschwung und Umbruch, reden alle Organisationen in den demokratischen Staaten. Nur die Kirchen verschlafen diese Zeitenwende. Sie sind ja, wie sie so gern sagen, mit der Ewigkeit verbunden. Was ist da schon die Zeit?

10. Am Rande noch notiert:
Die Krise der Theologie des Bittgebetes ist evident!
Es kann deutlich werden, welchen Sinn und auch welchen Unsinn bedeuten die Bitt-Gebete und die Bitt-Gottesdienste um Frieden. Verändert der liebe Gott im Himmel die Weltpolitik, je nachdem wie intensiv da Gebete wird? Was für eine blasphemische Vorstellung! Wem soll Gott denn folgen, etwa den betenden Russen oder den betenden Ukrainern?
Gebete um Friede können einzig und allein den einzelnen seelisch stärken, um ihn zur politischen Aktion zugunsten der Menschenrechte zu motivieren. Aber bloße Bitt – Gebete um Frieden werden niemals politischen Frieden bewirken. Zu diesem kritischen Bewusstsein müssen die Kirchen endlich finden.

11.
Und was passiert, wenn Papst Franziskus auch noch einmal (wie schoin einmal in Kuba) Patriarch Kyrill treffen wird? Das ist ja nicht ausgeschlossen, dass die beiden Greise sich in Kasachstan irgendwann im Herbst treffen. Und einander uzmarmen, wie üblich, mit einem Küßchen… Die Päpste lechzen förmlich nach einer „Versöhnung“ mit der Orthodoxie, diese Sehnsucht hatte unter Papst Johannes Paul II. einen Höhepunkt, er sprach von den zwei „Lungen“ „der“ Kirche, die eine Lunge eben katholisch, die andere orthodox. Die protestantischen Kirchen hielt er wohl er für den Blinddarm. Aber Ironie beiseite: Die Versöhnung mit den orthodoxen Kirchen ist gefährlich für Kirchen, die noch den Anspruch haben, dass Menschenrechte genauso wichtig sind wie die Weisheiten der Bibel.

DAS MOTTO: Das es ist eine Schande der Christen und der Kirchen, wenn die “Russisch-Orthodoxe Kirche” noch länger Mitglied der weltweiten christlichen Ökumene ist.

Hinweis auf ältere Studien, “Hinweise” genannt:

Am 11.4.2022: Patriarch Kyrill muss endlich verurteilt werden:

Patriarch Kyrill muss endlich verurteilt werden.

Am 1.4.2022: Jegliche Beziehung mit dem Moskauer Patriarchen abbrechen:

Jegliche Beziehung mit dem Moskauer Patriarchen abbrechen!

Am 10.3.2022: Patriarch Kyrill ist ein Kriegstreiber:

Patriarch Kyrill ist ein Kriegstreiber: Die Fratze der russisch-orthodoxen Hierarchie.

Am 23.2.2022: Putins Aggression: Seine wichtigste Stütze, der Patriarch von Moskau:

Putins Aggression, seine wichtigste Stütze: Der Patriarch von Moskau und die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Am 19. Dez. 2021: Russisch orthodoxe Kirche, 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion – dem Herrscher ergeben:

Die Russisch-orthodoxe Putin-Kirche: 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion dem Herrscher ergeben.

Unter den zahlreichen älteren Beiträgen nenne ich hier noch den

Beitrag vom 3. Okt. 2013:
Wer sind denn die Gotteslästerer? – Zu den Pussy Riots… :

Wer sind die Gotteslästerer? Zu einer Stellungnahme des Moskauer Patriarchats.

Am 19.8.2012: Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin:

“Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin”: Religionskritische Hinweise zum Moskauer Schauprozeß im August 2012

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die vernünftige Religion fördern – den dogmatischen Kirchenglauben überwinden.

Zur Aktualität eines Vorschlags des Philosophen Immanuel Kant.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

(Die Zitate zum Kant-Buch beziehen sich auf die 2. Auflage von „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ , also mit dem Symbol B vor den Seitenzahlen…)

Diese zentrale These Kants wird hier erläutert:
Kant entwickelt in seinem Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) eine Religion der Vernunft, sie soll den „dogmatischen Kirchenglauben“ und „das herrschende Pfaffentum“, wie er sagt, überwinden. Die Vernunftreligion soll zur Religion der Menschheit werden, denn sie ist in der Vernunft allen Menschen zugänglich. So wird also im Denken selbst eine allgemeine Vernunftreligion konstituiert. Sie hat das Ziel, in der Praxis die Menschen und ihre Welt besser, humaner zu machen. Schon jetzt können religiöse Menschen die Freiheit der Vernunftreligion erleben und sich in einer „unsichtbaren Kirche“ vereint wissen. So können kirchenkritische Menschen eine elementare, einfache Spiritualität der Gott-Verbundenheit bewahren. Diese Spiritualität sieht den wahren Gottesdienst nicht in frommen Liturgien und Andachten, sondern ausschließlich in einer humanen Lebenspraxis. Kant weiß genau, dass diese seine Position den Weisungen Jesu von Nazareth entspricht, man denke an Jesu Gleichnisse („Barmherziger Samariter“) oder an Jesu Rede vom Weltgericht, Matthäus 25,31-46), in der Jesus einzig die guten Taten des Menschen als „letztlich“ entscheidend bewertet…
Kant geht soweit, die Vernunftreligion als den „allein selig machenden Religionsglauben“ (B278) zu bezeichnen.

Warum ist der Hinweis auf Kants Buch heute wichtig?
Kant entwickelt in seinem Denken eine auch der heutigen Problematik (d.h. im Sommer 2022) angemessene Form eines einfachen vernünftigen Glaubens. Das geschieht über die nach wie vor aktuelle Kritik des „Pfaffentums“ (B 277): Für Kant eine zentrale Herausforderung! Er schreibt: “Das Pfaffentum ist also eine Verfassung einer Kirche, sofern in ihrer ein Fetischdienst regiert, welcher allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern Statuten und Gebete, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche dieser Kirche ausmachen“ (B 277). Wie auch immer die Verfassung bzw. die Organisation dieser Kirche sein mag, „sie ist und bleibt doch unter allen Formen immer despotisch. In dieser Kirche herrscht ein Klerus, der der Vernunft entbehren zu können glaubt, weil der Klerus sich als einzig autorisierter Bewahrer und Ausleger des Willens des unsichtbaren Gesetzgebers (Gott)“ versteht. (B 277). Dieser Klerus kann „nicht überzeugen, sondern nur über die Laien befehlen“ (B 278). Die aktuelle Kritik an der römisch-katholischen Kirche findet sich darin wieder.

Nach wie vor lehrt die katholische Theologie, dass der menschlichen Vernunft “eine Wirklichkeit, eine göttliche Offenbarung, gegenübersteht, der zu entsprechen die menschliche Freiheit erst zu sich selbst bringt”. So der Theologe und Bischof von Regensburg Rudolf Voderholzer in der katholischen Wochenzeitung “Die Tagespost” am 22.9.2022, Seite 9. Die Aussage Voderholzers ignoriert: Auch die Texte, die als göttliche Offenbarung ausgeben werden, sind menschliche, historisch bedingte Texte, die also selbstverständlich der Deutung der allgemeinen Vernunft unterstellt sind. Nur der innere, herrschende Kreis der Offenbarungs-Anhänger (Klerus) behauptet, diese Offenbarungs-Texte der Bibel seien göttlich, also von absolut herausragender Qualität. Erst der Gehorsam diesen Texten gegenüber und dem deutenden Klerus könne den Menschen zu sich selbst bringen, d.h. als “heils-entscheidend” sind. Gibt es wirklich so viel Herrschaftsanspruch einer bestimmten Gruppe, Klerus? Damit sind wir bei der aktuellen  Problematik, auf die Kant, in dem Punkt wie so oft aktuell und gegenwärtig, sich bezogen hat.

Die aktuelle Situation:

Von Epochenwende und Zeitenwende ist jetzt ständig die Rede – nicht nur anläßlich des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Tiefgreifende Veränderungen sind längst auch in allen Religionen zu beobachten. (Dazu weitere Hinweise in Fußnote 1.)
Dieser Beitrag bezieht sich nur auf Entwicklungen im Christentum.
Was die Kirchen in Europa und Amerika betrifft: Viele tausend Kirchenmitglieder kündigen ihre Mitgliedschaft auf. In der römisch-katholischen Kirche wird mit aller Traditionsbesessenheit durch den herrschenden Klerus, nicht nur im Vatikan, das alte Gerüst der patriarchalen Kirchenverfassung verteidigt… (Dazu weitere Hinweise in Fußnote 2.)

Die „Entkirchlichung“

Religionssoziologen zeigen: In Europa distanzieren sich die Gebildeten, die Künstler, die Wissenschaftler, die Kritischen, die Frauen im allgemeinen, die Homosexuellen, die jungen skeptischen Menschen, die Armen, die zum Prekariat Verurteilten von den Kirchen. Es findet eine grundstürzende, sehr breite Entkirchlichung statt.
Wichtig ist dabei: Diese hat ihre Ursache nicht nur in der Kritik der klerikalen Institutionen, sondern vor allem in der Abweisung der dogmatischen und moralischen Lehren der meisten etablierten großen Kirchen. Das offizielle Glaubensbekenntnis versteht fast niemand mehr, der Sinn des klassischen Bittgebetes erschließt sich nicht mehr; der Inhalt der vielen alten, aber immer noch gesungenen Kirchenlieder führt in ferne, mysteriöse (Traum) Welten …und so weiter.
Die Krise der Kirchen ist also eine Krise der Kirchenlehren.
Und genau an dieser Stelle wird der Vorschlag des Philosophen Immanuel Kant interessant und wichtig!
So neu ist Kants Vorschlag ja nicht, man bedenke, dass Voltaire energisch eine vernünftige Religion anstelle des klerikalen Kirchenglaubens forderte, (Fußnote 3), dass schon im Umfeld der Reformationen des 16. Jahrhunderts anti-trinitarische Positionen vertreten wurden (etwa von den Sozzinianer), dass bis heute eine protestantische Kirche lebt, die die Bindung an traditionelle Dogmen mit gutem Grund auf ein Minimum reduziert hat (Remonstranten, Fußnote 4).

Kants Vorschlag heute wahrzunehmen, ist also die Entdeckung einer Alternative zu herrschenden Kirchenwelten.

1. Religion bedeutet: Ein moralisch guten Lebenswandel wissen und gestalten.

Immanuel Kant hat in seiner Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ eine bis heute bewegende Antwort gegeben auf die damals wie heute belastende Krise des Kirchenglaubens: Sein philosophisch begründeter Vorschlag ist radikal: „Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn“ (B 260 in der Ausgabe des Meiner Verlages, Hamburg, 2003). Und weiter: „Nur eine moralische (also dem Kategorischen Imperativ folgende) Herzensgesinnung kann Gott wohlgefällig machen“ (B 239). Und immer wieder diese These: „Die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch guten Lebenswandel ist alles, was Gott von Menschen fordert (B 145). Und auch: „Diese Religion kann allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend vorgelegt werden“ (B 245). „Sie ist „in aller Menschen Herz geschrieben“ (B 239).

2. Die menschliche Vernunft entdeckt die allgemeine Religion

Kant hat das Buch, eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ im Jahr 1793 veröffentlicht. Der Titel zeigt von vornherein: Hier wird Religion aus der allgemeinen menschlichen Vernunft entwickelt. Das Vorhaben ist ein geradezu revolutionärer Einschnitt innerhalb der Religionsgeschichte bzw. der Christentumsgeschichte, wobei es Beziehungen dieser Vernunftreligion zum Kirchenglauben gibt, dies wird später erläutert.
Man könnte den Titel von Kants Buch übersetzen: „Die Religion, die die Vernunft von sich aus mit ihren eigenen Möglichkeiten entwickelt“.

Dieses Buch macht einmal mehr deutlich: Kant ist alles andere als ein Feind der Religionen und der Gottesfrage, wie oft in populären Missverständnissen behauptet wird. Kant hat sich die mühevolle Freiheit genommen, in einem autoritär regierten Preußen unter Friedrich Wilhelm II., einem vielen spirituellen Absonderlichkeiten zuneigenden Herrscher, dieses besondere Buch zu veröffentlichen: Es weist mit Argumenten über die alte Welt der Kirchen als Institutionen hinaus. Die Aktualität haben schon viele Zeitgenossen Kants wahrgenommen. „Eine neue Auflage schon nach einem Jahr und zahlreiche Raubdrucke belegen das Interesse, das bis zum Tod Kants 1804 anhalten wird“, schreibt die Herausgeberin der genannten Ausgabe, die Philosophin Bettina Stangneth (Seite XI.)
Das Buch ist „ein ungemein vielschichtiges Werk und das auch gemessen an der ohnehin großen Komplexität Kantischer Schriften Überhaupt“, so Bettina Stangneth, (S. LIX.)

Der Kant-Text ist für heutige LeserInnen von der sprachlichen Konstruktion her oft nicht leicht zugänglich. Aber die Mühe der Lektüre wird belohnt durch neue Einsichten und Perspektiven, welche Auswege es gibt angesichts des aktuellen Niedergangs der Kirchen, der Klerusherrschaft und der Bindungen an viele Dogmen und Gesetze…
Hier wird nur ein kurz gefasster systematischer Durchblick durch das Buch geboten, dabei wird das „Dritte Stück“ (B 127 ff). und das „Vierte Stück“ (B 225 ff.) besonders beachtet.

3. Gegen den „Fronglauben“ (d.h. gegen einen Kirchenglauben, der sklavisch von den Laien nur Gehorsam verlangt).

Weil Kant die starke kontrollierende Macht der Kirchen, ihren Einfluss auf die Seelen der Menschen, kennt, kann er nur von einem „allmählichen Übergang“ vom Kirchenglauben zur allgemeinen Vernunftreligion sprechen (B 181).
Die umfassende „Errichtung dieser Vernunftreligion“ sieht Kant sogar noch in „unendlicher Weite von uns entfernt“ (ebd.) Das ist aber für Kant überhaupt kein Hindernis, diese Alternative dieser neuen „Weltreligion“, wie er sagt , im Denken zu fördern. Denn es steht allen Menschen jetzt sofort frei, die Vernunftreligion in sich selbst zu entdecken. Es sind in den Worten Kants vor allem die „natürlich-ehrlichen Menschen“, „welche die Religion nicht (wie die frommen Heuchler) zur Ersetzung, sondern zur Beförderung der Tugendgesinnung, die in einem guten Lebenswandel tätig erscheint, in sich aufnehmen“( B 313).
Diese „natürlich- ehrlichen Menschen“ bilden in ihrem moralischen Leben die unsichtbare Kirche, wie Kant sagt, auf das Thema wird noch einmal zurückzukommen sein.
Leider deutet Kant in seiner Kritik an faktischen Glaubensformen eine Art religiöser Ideologie nur an: Er spricht vom „Eigennutz, als dem Gott dieser Welt“ (B 243) … der Egoismus ist also der herrschende Götze dieser Welt.

Die Vernunftreligion soll die Menschen zu einem moralischen Leben inspirieren, ohne Moral (im Sinne des „Kategorischen Imperativs“) wird kein Frieden auf Dauer möglich sein. Erst wenn alle Menschen moralisch gut leben, also in ihrer Gott wohlgefälligen allgemeinen Vernunft-Religion leben, entsteht auch der „ethische Staat“, als ein Ziel der Weltgeschichte.

4. Der Inhalt des allgemeinen Vernunftglaubens.

Für Kant steht fest: Wer Gott als solcher ist, sozusagen in seinem eigenen, „inneren“ Leben, kann sich der Menschen im Denken nicht erschließen. Die Philosophen können nur sagen, „was Gott für uns als moralisches Wesen sei“, (B 211), also: wie der Mensch in der Beziehung zu Gott eher fragmentarisch Gott wahrnehmen kann. Aller Hochmut der klerikalen Dogmatiker ist damit gebrochen.

Diese drei Lehren gehören für Kant zu seinem allgemeinen Vernunftglauben, es sind Sätze, die sich in der Reflexion des Menschen auf sich selbst als endlichem geistigen Wesen zeigen:

„Erstens: Der allgemeine wahre (vernünftige) Religionsglaube ist der Glaube an Gott als den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde. Das heißt auch: Gott als moralisch heiligen Gesetzgeber wahrnehmen.
Zweitens der Glaube an Gott als den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und als moralischen Versorger der Menschheit.
Und drittens der Glaube an ihn als den gerechten Richter“ (B 211), ein Gedanke, der wichtig ist im Zusammenhang der Unsterblichkeit der Seele der Menschen.

Man könnte diese drei Grundsätze auch übersetzen, etwa in dem einen Satz:
Der Mensch sieht sich in seiner Vernunft von einer transzendenten, göttlich zu nennenden Wirklichkeit getragen; sie ruft zum humanen Handeln in dieser Welt auf, sie lässt dabei den Lebenssinn aufscheinen und die Grenze des endlichen Daseins im Denken überschreiten.

5. Was bleibt von den Traditionen des Kirchenglaubens?

Für Kant ist der Hinweis auf den allen Menschen immer zugänglichen Vernunftglaubens auch ein Akt der Befreiung. Er sieht den Kirchenglauben sehr kritisch, wenn er auch weiß, dass viele Menschen noch gar nicht in der Lage sind, sich aus den volkstümlichen kirchlichen Traditionen und Regeln und Weisungen zu befreien. Für die Verhinderung einer tiefgreifenden Reformation sieht Kant das„Pfaffentum“ (B 311) verantwortlich, am wichtigsten bleibt es, das Pfaffentum zu überwinden Pfaffentum ist die angepasste, „usurpierte“ Herrschaft der Geistlichkeit über die Gemüter, weil die Pfaffen meinen, „dass sie im ausschließlichen Besitz der Gnadenmittel“ sind (ebd.)

Kant lehnt also entschieden die „angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Häupter einer Kirche“ (B 156) ab, weil sie behaupten, von Gott unmittelbar Befehle der Herrschaft empfangen zu haben (B 140). Der Klerus machte sich seine Wahrheiten selbst, sie führen ihn dazu, so genannte Ungläubige und Irrgläubige zu verfolgen (ebd.).
Aber die Vernunft zeigt: Die angeblich göttlichen Gesetze der Kirche sind nichts als Menschenwerk (B 150), sie beziehen sich etwa auf biblische Erzählungen angeblich historischer Geschichten. Diese Bindung an eine äußere Geschichtenerzählungen (angebliche „Fakten“) deutet Kant, modern gesprochen, als Entfremdung des religiösen Bewusstseins.. Der Kirchenglauben führt also , so Kant wörtlich, zu „Blödsinn des Aberglaubens und Wahnsinn der Schwärmerei“ ( B 143.)

Dieses deutliche Urteil heißt aber nicht, dass in dem allgemeinen Vernunftglauben nicht auch bestimmte Traditionen des Kirchenglaubens in neuer Interpretation (!) erhalten bleiben können. Das ist wichtig, weil sonst die Vernunftreligion als völlig abstrakte Erfahrung erscheinen mag. So wird etwa der „Kirchgang“, also die Teilnahme an Gottesdiensten in den Kirchen (B 308), neu gedeutet: Der Kirchgang ist für Kant kein „Gnadenmittel“, so, als könne sich der Mensch etwa durch häufigen Besuch der Messe die Gnade Gottes erwerben. Der Kirchgang dient hingegen lediglich der Erbauung des einzelnen, aber auch der „Darstellung einer Gemeinschaft der Gläubigen“.
Das Thema geistliche Erbauung führt wieder zur Frage, welchen Sinn hat noch das Beten? Kant betont: Mit seinen Gebeten macht der Mensch Gott keine Freunde; der Mensch soll bloß nicht glauben, Gott durchs Beten sympathisch zu stimmen. Beten ist menschlich gesehen nur der ausdrückliche Wunsch, „Gott in allem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein“ (B 302), d.h.: Es geht also um den Erwerb einer menschlichen Gesinnung, sie will mit Gott verbunden leben, und das heißt: Den Weisungen der Vernunft, in der Gott spricht, zu entsprechen.
Jesus Christus wird als Lehrer des Evangeliums verstanden, das in sich auch moralische Weisungen enthält, die in einer allgemeinen Vernunftreligion wichtig sind. Für den Weisheitslehrer Jesus von Nazareth waren nicht Gesetze, Statuten („statutarische Religion“) wichtig, sondern allein die moralische Gesinnung der Frommen. Dafür bietet Kant viele Beispiele (B 240)

6.
Aus dem Kirchenglauben entsteht – langsam – die vernünftige Religion.

Es ist keineswegs so, dass Kant den Kirchenglauben und die Vernunftreligion als völlig getrennte Welten sieht. Der Kirchenglaube geht, die Geschichte betrachtend, der Vernunftreligion voraus. Aber schon im Kirchenglauben leben Fragmente der Vernunft: Sie wird gestaltet, weil jeder Mensch, auch der kirchlich Glaubende, eben doch immer auch ein Vernunftwesen ist, in unterschiedlichen Stufen der Reflexion freilich.
Es kann sich also langsam die Vernunftreligion im Auszug und Abschied vom Kirchenglauben bilden.

7. Worauf kommt es Kant an? Die „wahre unsichtbare Kirche“.

Dieses Projekt einer aus allen historischen Kirchen entstehenden Vernunft – Religion nennt Kant das Entstehen einer unsichtbaren Kirche (B 142), sie ist die „Vereinigung aller rechtschaffenen Menschen unter der moralischen Weltregierung“. Diese unsichtbare Kirche kennt keine leitenden Kirchenbeamten , sondern ein jedes Mitglied dieser unsichtbaren Kirche „empfängt unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber (Gott) seine Befehle (B 227). Alle wohldenkenden Menschen werden dann Diener dieser Vernunftreligion bzw. der unsichtbaren Kirche, „doch ohne dabei Beamte zu sein“, fügt Kant hinzu.
Die Idee einer unsichtbaren Kirche ist alles andere abwegig, wenn man bedenkt, wie viele Menschen, aus moralischer Gesinnung, wie Kant sagen würde, heute aus der Verpflichtung der Menschlichkeit, sich für die Menschenrechte einsetzen. Die Liste der authentisch – humanitären Organisationen, Gesellschaften und Gemeinschaften und NGOs ist lang: Warum sollte man nicht meinen, diese solidarischen Menschen aus vielen unterschiedlichen Kulturen, Sprache und Herkunftsreligionen bilden eine Art menschliche Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg, verpflichtet den grundlegenden Weisungen der Humanität? Bilden sie also eine „unsichtbare Kirche“?
Leider haben die sichtbaren Kirchen es bisher versäumt, mit den Mitgliedern dieser unsichtbaren Kirche in ein theologisch explizites Verhältnis der Begegnung etc. zu kommen.

8. Kants Vorläufer! Vor-Denker!

Wenn Kant die Vernunftreligion als die Religion der einen Menschheit versteht, hat er durchaus Vorläufer. Man könnte an Voltaire denken, aber auch viel weiter bei Mystikern fündig werden, etwa bei Meister Eckart und seiner Lehre vom göttlichen Funken in der Seele der Menschen oder man denke an den großen modernen Mystiker Thomas Merton, er schreibt:“Was dem Christentum zugrunde liegt ist nicht einfach eine Anzahl von Glaubenssätzen von Gott…. Ganz im Gegenteil: Die Christen versäumen es nur allzu oft zu erkennen, dass der unendliche Gott in ihnen wohnt, so dass Er in ihnen ist und sie in Ihm sind“. (in Thomas Merton, „Sich für die Welt entscheiden“, Arbor Verlag, 2009, S 59).

9. Die Aktualität

Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ist eine Aufforderung, über das festgefahrene System der Kirchen hinauszudenken, und eben auch alternativ im Sinne der Vernunftreligion zu handeln. Kants Schrift, heute eher nur bloßes Studienobjekt einiger PhilosophInnen oder „Kantianer“, ist eine Einladung, weiterzudenken:Welche Spiritualität können spirituell interessierte leben in den Krisen der Kirchen.
Die Vorschläge Kants sind natürlich weiterzuentwickeln: Wie können etwa Gesprächskreise, kleine Haus/Salon-„Gemeinden“ entstehen von Menschen, die sich der einfachen Vernunftreligion verpflichtet wissen? Wie können vielfältige religiöse Texte, auch Bibeltexte, vernünftig interpretiert, einbezogen werden in diese einfache Vernunftreligion? Dass die FreundInnen dieser „einfachen Vernunftreligion“ auch politisch sich einbringen (sollen), steht ebenso fest, ihre besondere Solidarität gilt den vom Neoliberalismus und Kapitalismus ausgegrenzten und leidenden Menschen in der Nähe genauso wie in der Ferne. Sie wissen sich verpflichtet, es nicht zuzulassen, dass die Menschen in der Klimakatastrophe in den Abgrund stürzen und Gottes Schöpfung dem Nichts ausliefern…

10. Was fehlt?
Dieser Hinweis bietet keine umfassende Auseinandersetzung mit Kants Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Es fehlt hier die Auseinandersetzung mit Kants Darstellung des Judentums (etwa B 190). Kant stellt zum Beispiel die problematische These auf, das Christentum habe das Judentum „verlassen“, also überwunden. Die Herausgeberin des Buches, Bettina Stangneth, hat sich in anderen Publikationen ausführlich mit der Frage befasst, ob Kant als ein Antisemit zu betrachten sei, ob er sogar für Auschwitz verantwortlich sein könnte, wie manche abwegig behaupten. In einer Rezension zu der Studie „Antisemitismus bei Kant…“, Würzburg 2001 heißt es: „Die Autorin (Bettina Stangneth) legt jedoch überzeugend dar, dass diese Annahme irrig ist, da Kants antisemitische Äußerungen weniger in seinem aufklärerischen Vernunftverständnis als in tiefsitzenden, sozialisatorisch erworbenen Vorurteilen begründet sind. Seine antisemitischen und antijudaistischen Motive seien nicht so sehr im Zentrum seines Aufklärungsdenkens zu verorten, sondern beruhten größtenteils auf Gedankenlosigkeit“ (Quelle: https://literaturkritik.de/id/4505).

11. Das große Projekt
Es ist dringend, über Alternativen zum herrschenden, aber langsam in die Minderheiten-Position abrutschenden Kirchenglauben intensiv nachzudenken. Die schönsten Kirchengebäude, Kathedralen, werden sehr oft von sehr vielen nur noch als Museen wahrgenommen. Was Gebet, human – vernünftig sein könnte, wissen die wenigsten. Der Klerus klammert sich an seine Privilegien, aber er stirbt aus, mindestens in Europa und so weiter.
Wenn man den Mut hätte, einmal Bilanz zu ziehen, was die Kirchen im Laufe ihrer Geschichte alles angerichtet haben, an Gutem und Schlechtem, wird man – ernüchtert angesichts der dunklen, teils grauenhaften Kirchengeschichte- mit allem Nachdruck sich der Frage stellen müssen: „Wie lässt sich die allgemeine Vernunftreligion“ beleben, als neue religiöse Form der Verbundenheit mit Gott und dem Weisheitslehrer Jesus von Nazareth.
Aber: Bei der noch faktischen Macht der sterbenden und immer unglaubwürdiger werdenden Kirchen werden diese hier genannten Fragen sicher noch ein paar Jahre von den kirchlich immer gebundenen Theologen ignoriert, indem man wider besseren Wissens nach wie vor behauptet: Kant sei doch ein Feind des Christentums gewesen. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Kants Vernunftreligion „rettet“ förmlich das Christentum für heute und morgen.

Fußnote 1:
Buddhisten sind längst nicht, wie viele mein(t)en, a priori friedlich und freundlich, siehe das häßliche Gesicht des Buddhismus in Myanmar. In den verschiedenen Traditionen des Islam ist ein schwacher Widerstand gegen das herrschende fundamentalistische, also menschenrechtsfeindliche Tendenzen nicht zu übersehen. Im Judentum korrigieren liberale und reformerische Organisationen das Bild einer allmächtigen jüdischen Orthodoxie in Israel.

Fußnote 2:
Kräfte, die grundlegende Reformen, also eine Reformation des Katholizismus dringend verlangen, werden eingeschüchtert und abgewiesen. Das Gemeindeleben ist in vielen katholischen Gemeinden nahe dem Nullpunkt, weil nach katholischer Dogmatik nur ein zölibatärer Priester die Messe in den Gemeinden feiern, aber dieser zölibatäre Klerus stirbt aus, das wissen die obersten Kleriker, inklusive Papst, aber sie lassen sehenden Auges zu, wie die Gemeinden, also Formen des sozialen Miteinanders, aufgrund dieser Klerus-Fixierung sterben.
Die Liebe des Klerus zu volkstümlicher Frömmigkeit ist bis heute ungebrochen, etwa Wallfahrten, Heiligenverehrung, Kulte um heilige Knochen, Reliquien genannt usw. An die Verbrechen vieler Priester, „sexueller Missbrauch“, soll nur erinnert werden. Die römisch-katholische Kirche ist insgesamt ungläubig geworden.
Die evangelischen Kirchen werden immer mehr vom Geist des Evangelikalen geprägt, der die wortwörtliche Deutung der Bibel bevorzugt und die Sexual-Moral des 19. Jahrhunderts für „typisch christlich“ hält. Man denke auch daran, das bis heute weite Kreise der Evangelikalen in den USA zu den heftigsten Verteidigern von Trump bzw. der reaktionären Republikanischen Partei gehören.
Was die Orthodoxen Kirchen angeht, so ist deren Bindung an die nationalen und nationalistischen Ideologien ihrer „Stammländer“ im Osten Europas nicht zu übersehen, der oberste Kleriker Russlands, Patriarch Kyrill I. von Moskau ist als theologischer Kriegstreiber ein Verteidiger der mörderischen Aktionen des sich orthodox nennenden Staatschefs Putin.
Diese Andeutungen zur aktuellen Situation des Christentums müssen genügen, von Afrikas Kirchen wäre zu sprechen, von der dort herrschenden Macht der bunten Fülle evangelikaler Kirchen und der Pfingstgemeinden.

Fußnote 3: zu Voltaire: LINK

Fußnote 4: Remonstranten, Link zum Glaubensbekenntnis.

Immanuel Kant, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Felix Meiner Verlag Hamburg, 2003, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Bettina Stangneth. 368 Seiten., 22,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Widerspruch zu der These:„Es gibt keinen (christlichen) Glauben ohne einen ihn tragende Institution“.

Diese These wird behauptet in PUBLIK FORUM, Ausgabe 8.Juli 2022, Seite 10. Sie ist im Zusammenhang der Kirchenaustritte in Deutschland formuliert, der Titel des Beitrags „Das große Kirchensterben“.

Diese These finde ich in mehrfacher Hinsicht falsch:

1.
Der Glaube (gemeint ist im Beitrag immer der christliche) wird theologisch in allen Konfessionen als ein Geschenk Gottes an die Menschen, also als Gnade, bezeichnet. Aber auch, und das ist genau so wichtig: Christlicher Glaube wird zugleich möglich durch das Bemühen der Menschen, als Fragen und Suchen nach Gott.

2.
Für die Zurückweisung der These ist der zweite Aspekt entscheidend: Denn Suchen und Fragen nach Gott kann der Mensch immer auch ohne eine kirchliche Institution. Von „tragender Institution“ ist ja in der These die Rede. Was auch immer das Bild von der „tragenden Institution“ meinen mag: Eine Institution (wer denn innerhalb der Institution?) soll unseren Glauben „tragen“…

3.
Ich betone: Wer den Gott der Christen und die Bindung an ihn, den Glauben an ihn sucht, kann die Bibel lesen, vor allem mit Kommentaren der Bibelwissenschaft die Texte richtig und zeitgemäss verstehen. Er oder sie kann Texte der Mystiker lesen (Meister Eckart, Thomas Merton, Dietrich Bonhoeffer usw.) und sich auf neue Denk – und Lebensweg führen lassen.
Wer sich von der Weisheitslehre, der „Lebensphilosophie“ des Neuen Testaments ansprechen lässt, kann, als Experiment sozusagen, eine Glaubenspraxis beginnen, also die Nächstenliebe leben und meditativ beten. Durch das Studium und das Leben nach den praktischen Weisungen des Neuen Testaments kann sich dann die Kraft oder auch die Kraftlosigkeit des christlichen Glaubens erschließen. Und der Mensch kann sich dann auch sagen: Dieser Lebensweisheit, in Vielfalt formuliert im Neuen Testament) will ich gern folgen: Dann beginnt das, was man „christlichen Glauben“ nennt.

4.
Der christliche Glaube hat nicht tausendundeinen Inhalt oder gar hunderte von Paragraphen eines Katechismus. Der christliche Glaube hat nur die eine Erkenntnis: Der Mensch sieht sich in seinem Geist verbunden mit einem unendlichen Geheimnis, das viele spirituelle Menschen mit dem Symbol „Gott“ nennen. Dieses Verbundensein mit einem unendlichen Lebensgeheimnis wird immer wieder fragmentarisch entdeckt in der Nächstenliebe, im Eintreten für Gerechtigkeit und in der meditativen Praxis, auch in der Poesie des Gebetes, aber auch im Hören von Musik, in der Auseinandersetzung mit Kunst usw.

5.
Es wäre in meiner Sicht verheerend, gerade in diesen Zeiten des radikalen kirchlichen Umbruchs, also des Auszugs vieler hunderttausend Christen aus den Kirchen, der These folgend, die Bindung des Glaubens an eine „ihn tragende Institution“ zur notwendigen Bedingung des Glaubens und des Glaubenskönnens zu machen.

6.
Diese These ist auch deswegen falsch, weil die Institution, also die römische Kirche, insgesamt als „tragende Institution“ überhaupt nicht mehr glaubwürdig ist, weil sie nicht mehr den freien Glauben eines reifen Menschen ermöglicht und fördert. Diese Kirche wird auch unter dem unentschiedenen, manchmal etwas reformerischen, manchmal etwas traditionell-volkstümlichen Papst Franziskus eher als unbelehrbarer, nicht reformierbarer klerikaler Verein erlebt. Die vielen Belege dafür müssen hier nicht wiederholt werden.

7.
Darum gilt diese Ermunterung, persönlich formuliert: „Du brauchst als glaubender Christ keine tragende Institution. Wenn dich „einer“ trägt, dann ist es das „göttliche Lebensgeheimnis“. Es kann aber sein, dass du Menschen triffst, mit denen du über deine religiösen Lebenserfahrungen sprechen kannst.“
Dann sind dies die „zwei oder drei versammelt“, von denen Jesus sprach, suchende, zweifelnde, glaubende Menschen, die sich in seinem Namen versammeln, das heißt an ihn denken, die Texte des Neuen Testaments kritisch lesen, Jesus von Nazareth als einen Lehrer der Weisheit schätzen und in seinem Sinne zur meditativen Stille finden, zu einem unzeitgemäßen Leben in dieser verrückten Welt und zur bescheidenen gemeinsamen Feier bei Brot und Wein, natürlich ohne herrschenden Klerus…

9.
Nein, liebe „Ausgetretene“ und Fragende, Zweifelnde…ihr braucht wirklich NICHT diese tragende kirchliche Institution. Die römische Kirche als System trägt euch spirituell nicht, sie ignoriert euch, besonders die Frauen und die Homosexuellen, die Armen zumal, denen man caritativ spendet, aber oft nicht politisch zur Befreiung beisteht. Das schließt nicht aus, dass innerhalb der Kirche doch viele authentische Christen leben, deren Interesse mehr am Wohl der Menschen, der Armen zumal, liegt als am Befolgten von Dogmen und moralischen Weisungen der angeblich „tragenden Institution Kirche“.

10.
Viele sprechen jetzt zurecht von einer grundlegenden, grundstürzenden Zeitenwende. Diese Zeitenwende ist nach den vielen Skandalen, der Reformationsunfähigkeit der Römischen Kirche, der bleibenden Allmacht des Klerus usw. im Katholizismus längst geschehen.
Diese Zeitenwende ist DA, man muss sie nur erkennen und als solche aussagen. Diese Zeitenwende bedeutet inhaltlich: Es gibt christlichen Glauben auch ohne eine „tragende Institution“. Wer zu glauben versucht, findet im Alltag Menschen (vielleicht eine Gemeinschaft), mit denen er Lebens – und Glaubenserfahrungen austauschen kann.
Andererseits sollte es als Antwort auf die Zeitenwende viele offene Gesprächsforen geben, „philosophische Salons“ außerhalb der Kirchenmauern, wo sich unterschiedlich suchende und fragende Menschen zum Gespräch, zur „Begegnung“ treffen. Und diese Gesprächsforen können sich dann zu kleinen „Gemeinden“ entwickeln, zu Kreisen der Freundschaft und des Dialogs und der Hilfsbereitschaft. Diese Gruppen werden sich vernetzen mit sozialkritischen NGOs oder auch spirituellen Gruppen, etwa des Buddhismus, um die Begrenztheiten eines nur christlichen Lebens zu überwinden.

11.
Angesichts der radikalen Zeitenwende sind also radikale Formen des spirituellen Neubeginns wichtig. Die alten kirchlichen katholischen Institutionen erscheinen oft nur noch als finanziell gutausgestattete, aber noch halbwegs zusammengeflickte Skelette einer Institution, die gerade nicht mehr trägt, nicht mehr tragen kann, sondern die die Menschen fallen lässt, weil diese von Männern beherrschte Institution Antworten gibt, die keiner mehr versteht. Diese Kirchen-Institution reicht viel zu oft Steine statt Brot als spirituelle, d.h. menschlich-hilfreiche Nahrung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

Widerspruch zu der These: „Politiker müssen keine besonders guten Menschen sein. Es reicht, wenn sie gute Politik machen”.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dies behauptet Mark Schieritz, in: „Die Zeit“ vom 14. Juli 2022, Seite 10. Die These: „Politiker müssen keine besonders guten Menschen sein. Es reicht, wenn sie gute Politik machen”.

Das Zitat bezieht sich auf den Beitrag mit dem Titel „Viele Politiker rufen zum Sparen auf. Sollten sie selbst mal damit anfangen“….

1.
Der erste Widerspruch gegen diese These lautet:
Kann ein Mensch „besonders gut“ genannt werden, wie vom Autor Schieritz behauptet wird?
Nein, diese Behauptung „besonders gut“ ist viel zu diffus, viel zu wenig präzise, viel zu schwammig, Was wäre denn schon „besonders gut“? Ist vielleicht ein genau so wenig Präzises „sehr gut“, sogar „heilig“ gemeint?

2.
„Gut“ hingegen ist etwas Klares, Eindeutiges, oft auch Überprüfbares. Mit „gut“ als Kriterium für die Qualität eines Menschen sollten wir uns begnügen. Wobei alle moralischen Beurteilungen eines anderen Menschen, von außen gesehen, problematisch bleiben. Das lehren Philosophen.

3.
Philosophen lehren aber auch: Gut als Qualität eines Menschen bezieht sich auf dessen gelebte Moral, also auf sein gelebtes Leben. Gut ist also  ein Mensch, der z.B. den Einsichten des Kategorischen Imperativs folgt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Also: Wer als Politiker das Sparen als Maxime von anderen Menschen fordert, kann vor sich selbst ethisch nur bestehen, wenn er selbst diese Maxime lebt. Also als Politiker nachweislich spart. Und selbst als FDP Politiker z.B. das Tempolimit auf Autobahnen respektiert und dies per Gesetz gestaltet!

Politiker, die keine gute Politik machen, zum Beispiel  eine solche, die tatsächlich spürbare Veränderungen einleitet zu der von Menschen gemachten Klimakatastrophe, können schwerlich als besonders gute Politiker und gute Menschen gelten. Ein guter Mensch würde eine Klimakatastrophe nicht nur ewig in zahllosen Konferenzen besprechen, sondern entsprechend politische Reformen realisieren.

4.
Nur gute Menschen, solche, die z.B. dem Kategorischen Imperativ mit aller geistigen und politischen Energie zu entsprechen versuchen, können gute Politik machen. Nur Gute können Gutes im emphatischen Sinne tun. Das ist der ideale Begriff, der aber reflektiert werden muss.
Natürlich kann auch ein Mafia-Boss einen schönen Kindergarten oder ein Krankenhaus bauen, aber ist dies eine „gute Tat“ oder nur ein politischer – ökonomischer Schachzug?

5.
Noch einmal: Gute Politik, die diesen Namen verdient, die also am Gemeinwohl orientiert ist und nicht nur Superreichen Vorteile bringen will, kann nur von einem Politiker gestaltet werden, der selbst als moralischer Mensch nachweislich sich bemüht, gut zu sein und nicht bloß gut zu scheinen.
Es gilt: Gute Politik können nur gute Menschen machen. Man denke an Gandhi, Lumumba, Salvador Allende, aber selbstverständlich sind gute Politiker niemals „Heilige“.

Auffällig ist: Es gibt offenbar sehr wenige moralisch gute Politiker. Schlechte Politik als erfahrbar unmenschliche Politik sollte den Rückschluss erlauben, dass dann die handelnden Politiker nicht gerade moralisch gut sind, man denke an Trump, oder Putin, jeder kennt viele weitere Namen.

Henry Kissinger, Berater aller us-amerikanischen Präsidenten seit Kennedy, schreibt in seinem neuesten voluminösen Buch “Staatskunst”: Der absolute, durchaus rücksichtslose Wille zur Macht ist vielen Politikern gemeinsam…Wenn sie die eigene Gesellschaft spalten, so nehmen sie dies in Kauf.  Sie erwarteten dabei keinen Konsens und bemühten sich auch nicht darum” (So der Bericht zu dem Kissingerbuch in DIE ZEIT vom 7.7.2022, S. 58. ) Kissinger bezieht sich dabei auf Adenauer, de Gaulle, Nixon, Thatcher und andere.

6.
Darum steht die grundlegende Frage im Raum: Ist Politik nur ein Geschäft? Ein Geschäft, in dem man als “politischer Manager” für ein paar Jahre schnell Geld machen kann, um sich danach etwa „lupenreinen Demokraten“ in Russland sehr freundschaftlich anzuschließen, um noch mehr Geld zu erlnagen?

Oder ist die notwendige Voraussetzung für das Amt eines Politikers nicht auch ein nachweisliches Bemühen um moralische Qualität im Sinne des Kategorischen Imperativs z.B.

Politikersein ist jedenfalls kein „Job“, wie der eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Politik ist aber zum Job geworden.

7.
Dieser Hinweis ist selbstverständlich kein Plädoyer für eine klerikale Politik, etwa im Sinne der Pro – Life – Bewegungen. Kirchengebote oder Gesetze der Thora oder Sprüche des Koran können niemals politische Leitlinien für Politiker sein. Religiöse Sprüche sind viel zu begrenzt, als dass sie universalen Anspruch für eine plurale Welt-Gemeinschaft sein könnten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wir wohnen in Babylon: Rose Ausländers Gedicht Lehmbrot

Zur Aktualität von Rose Ausländers Gedicht „Lehmbrot“

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
„Die Luft kann nicht atmen“: Diese Erkenntnis kann nur Poesie mitteilen. In fünf Worten nennt Rose Ausländer, was das Wesen der großen Städte ist: „Die Luft atmet nicht mehr“, sie ist tot, sie ist in den Metropolen so miserabel, dass sie Mensch und Natur nicht mehr Leben ermöglicht. Finis, Ende. Warum? Rose Ausländer gibt einen Hinweis: Weil die Häuser „zusammengerückt“ sind und übereinander „klettern“.
2.
Wer in Metropolen, den stets wachsenden Städten lebt, kann die Erkenntnis der Poetin Rose Ausländer (geb. 1901 in Czernowitz – gestorben 1988 in Düsseldorf) nur bestätigen. Es sind vor allem von ständiger Gier getriebene Spekulanten, die jede noch freie grüne Fläche inmitten der Städte, ohnehin schon graue Steinwüsten, aufkaufen und auf die freien Flächen ihre teueren „Townhouses“ setzen. Alte Häuser werden abgerissen und die alteingesessenen Bewohner vertrieben, es muss Platz gemacht werden für den Luxus der Super-Reichen und deren sinnlosem Bedürfnis nach Zweit- bzw. Drittwohnungen….So sind, dem Neoliberalismus entsprechend, die Metropolen nichts als Orte aus Stein geworden, manchmal mit hübschen Fassaden und Kulissen (das wollen die Touristen!), aber insgesamt mit wenig Grün zum Spielen und Entspannen, die vertrauten Nachbarschaften wurden ausradiert. Nur ein Hinweis auf die prächtige Kulissenstadt Paris (im Zentrum zumindest als ständige Kulisse): Paris hat weniger Grünflächen als Madrid oder London – gerade mal sechs Quadratmeter pro Kopf. Das am Rande.
Das ist der aktuelle hermeneutische Hintergrund zu Rose Ausländers Gedicht.
Um der Deutlichkeit wegen den soziologischen Begriff der Bevölkerungsdichte zu verwenden: Es wird immer enger in den Städten, immer lauter, immer stickiger, der Verkehr heißt Stillstand, Parkplätze sind für viele schon der Güter Höchstes. Darum muss man kämpfen!
3.
Es sind merkwürdige Zustände, wenn schon die ersten Worte von Poesie ins kritische, selbstverständlich politische Nachdenken führen. Poesie ist eben alles andere als Schöngeisterei oder Hobby für „feine und reine Seelen“. Poesie offenbart störende Wahrheit.
Rose Ausländer wanderte 1921 nach New York aus und lebte dort viele Jahre. 1930 hatte die Stadt New York 6,9 Millionen Einwohner, 2020 sind es „nur“ 8,8 Millionen.
4.
Rose Ausländer sagt klipp und klar: Wir leben in Babylon: „Du musst wissen, wir wohnen in Babylon“. Das Symbol „Babylon“ hat sich als eine prägnante Vorstellung durchgesetzt: Die große Stadt, als Monstrum, sammelt alle negativen Eigenschaften auf sich, sie ist Ort des moralischen Verfalls, der Gewalt, der gesetzlosen Herrschaft, des Zusammenbruchs von Kommunikation, der totalen Vereinzelung. Eben: Babylon. Jerusalem als Symbol der Menschlichkeit steht dem – poetisch leider nur, nicht aber friedens-politisch! – gegenüber.
5.
Rose Ausländer hat, wie gesagt, etliche Jahre in den beengten Verhältnissen der Stadt New York gelebt, und sie kannte viele andere große Städte. 1972 veröffentlichte sie das Gedicht „Lehmbrot“, die ersten Worte dieses Hinweises sind dem Gedicht entnommen.

Lehmbrot (Text: S. 8 in dem Buch “Wir wohnen in Babylon”. Gedichte. Von Rose Ausländer, Fischer Taschenbuch 1992).

Häuser zusammengerückt
klettern übereinander
die Luft kann nicht atmen
Du musst wissen
wir wohnen in Babylon
Worte auseinandergewachsen
Unsere Stirnen übereinander
klettern Falten in Zeichen
wer deutet sie
Steine kauen wir
Wind legt sie uns
in den Mund
Wir bauen
Lehmbrot.

6.
Das Gedicht spricht vom Bauen in den großen Städten, alle heißen Babylon. Gebaut wird nicht ein menschenwürdiges Zuhause, gebaut werden nicht Orte, wo man gesund leben und sich gesund ernähren kann, nicht Heimat. Nein: In Babylon wird „Lehmbrot“ „gebaut“. Eine ungenießbare Pampe aus Sand und Ton. Eigentlich noch etwas besser als die Steine, die „wir kauen“, weil der Wind, der heftige, Zeichen der Klimakatastrophe, uns die „Steine in den Mund legt“. In den Metropolen, immer Namen Babylon, kann eigentlich kaum noch ein Mensch human, menschlich leben, denn dort werden „Steine statt Brot“ verteilt.
7.
In der Stadt, in der es sich nicht leben lässt, kann auch kein Gespräch, kein Dialog, kein sprachliches Miteinander leben. Denn die vielen Wörter sind, so Ausländer, „auseinandergewachsen“, sie haben keinen gemeinsamen verbindenden Sinn mehr. So wie die Häuser übereinander „klettern“ und als Wolkenkratzer dann förmlich mehrere Häuser übereinander stapeln und stellen, so sind auch „unsere Stirnen“, also unsere Köpfe, unser Verstand, übereinander gestapelt. Unsere Köpfe berühren sich in der Hochstapelei etwas, sie haben aber keine Kommunikation mehr miteinander.Zur Kommunikation gehört bekanntlich die gleiche Augenhöhe. Und die „Zeichen“, wie Rose Ausländer sagt, also die Symbole, das sind auch die Kunstwerke, die Literaturen, Religionen usw. haben „Falten“, sie sind entstellt, sind wegen der Falten nicht mehr verständlich als Zeichen, die auf anderes hinweisen, die faltenreichen Zeichen sind nicht mehr lesbar. Dies ist nichts anderes als ein Zusammenbruch des kulturellen Lebens, auch wenn es noch dem Schein nach fortgeführt wird in der Welt der gierigen Unterhaltungsindustrie der Metropolen.
8.
Ein Ende dieses verheerenden Zustandes ist nicht absehbar: „Wir bauen Lehmbrot“. Unsere Städte, in ihrem Bau-Wahn des Immer mehr und Immer höher und Immer teurer, sind bereits nicht mehr lebbar, sie sind ungenießbar. Die neoliberale Metropole verkommt als Babylon zum spekulativen Handelsplatz, wo nur noch die Leute des Luxus mal vorbeischauen. Sie wohnen ganz woanders. Aber auch nur in einem anderen Babylon.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

Fußnote: Einige Infos zur Bevölkerungsdichte:
Die Angaben stammen aus wikipedia-Beiträgen, bezogen auf das Jahr 2020. Die Dichte der Bebauung müsste noch in Bezug gesetzt werden zu den geringen Grünflächen und Parkanlagen…Aber diese Zahlen können einen Eindruck vermitteln von den Lebens- und Wohnbedingungen in den stetig wachsenden Metropolen.

Berlin-Schöneberg:
11.561 Einwohner pro Quadr. km

Berlin-Mitte
9.713 Einw. pro. Quatr. km

Berlin Kreuzberg
14.700 Einw. pro Quatr. km

München Schwabing
15.726 Einwohner Einw. pro Quadr. km

Kalkutta
21. 772 Einw. pro Quart. km.

Bronx, Stadtteil von NY.
13.585 Einw. pro Quatr. km.

Tokio:
15.351 Einw. pro. Quatr. km.

 

 

Verbot und Verzicht. Die „Politik des Unterlassens“ muss beendet werden: Ein Plädoyer des Politologen Prof. Philipp Lepenies.

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 19.6.2022.

1.
Verbot und Verzicht: Zwei Horrorbegriffe für sehr viele Menschen in Deutschland, vor allem in Kreisen der oft rechtsextremen Impfgegner und gleichzeitig aber auch, etwa beim Thema Tempolimit oder dem verpflichteten Tragen von Masken zum Schutz vor Corona, in Kreisen der
Liberalen und Neoliberalen, etwa in der FDP. Ein merkwürdiges Zusammentreffen? Der ideologische Hintergrund für diese leidenschaftliche Abwehr, über den hilfreichen Sinn von Verbot und Verzicht angesichts der Öko – und Klimakatastrophen und dem Hungersterben von Millionen nachzudenken, ist: Der Glaube an die absolute Freiheit des einzelnen Individuums, das ohne Rücksicht auf andere ökonomisch tun und lassen darf, was es als einzelnes Individuum will. Für diese weiten Kreise gibt es nichts Schlimmeres, als in einer Gesellschaft zu leben, die Verbieten und Verzichten nicht nur als Tugenden, sondern als notwendige politische Haltungen einfordert, nicht aus Gründen einer Staatsallmacht, sondern weil es um nichts Geringeres geht als das Überleben der Menschheit. Die Gegner einer ernsthaften Debatte über Verbot und Verzicht und der dann folgenden Gesetzgebung sprechen mit aller medialen Gewalt von „Bevormundungen“ und „Ökodiktatur pur“ (S. 11) oder gar von „absurder Spinnerei“ (etwa „Die Welt“ bzw. die „FAZ“).
2.
In dieser Situation der neoliberal propagierten totalen Abwehr von Verbot und Verzicht ist das Buch des Berliner Politologen Prof. Philipp Lepenies (F.U.) von großem Wert, die Lektüre wird dringend empfohlen. Lepenies dokumentiert das Thema sehr ausführlich auch historisch. Er zeigt die Wirkungsgeschichte der neoliberalen Ideen der „Masters of the Universe“ (S. 22), also von Friedrich August Hayek und Milton Friedmann, sehr deutlich bei Reagan oder bei Madame Thatcher. Hayek und Friedman und deren gut vernetzten Freunde (zu denen auch der Philosoph Popper gehörte) haben sich für die absolute freiheitliche Souveränität des Konsumenten eingesetzt und damit die Werte der „alten Handels-Welt“ mit ihren Werten des Konsumverzichts ins Abseits geschoben.
3.
Die sogenannten Ideale des Neoliberalismus,Propaganda der totalen Freiheit des eigentlich nur für sich lebenden (wohlhabenden) Individuums, haben sich „in den Köpfen festgesetzt“, so Philipp Leonies, (S. 19), „der „Neoliberalismus durchdringt unsere Art zu denken„ (S. 20). Philipp Lepenies geht so weit, „vom individuellen Tyrannen“ zu sprechen, „der jeden Eingriff in seine Konsumentscheidungen vehement ablehnt“ (S. 23). Der Autor erinnert auch an die hierzulande eher noch unbekannte, von Nietzsche inspirierte Schriftstellerin Ayn Rand, die aus St. Petersburg (Russland) in die USA emigrierte. Sie hat in ihren sehr viel gelesenen Schriften „einen antistaatlichen Extrem-Individualismus“ (S. 96) verfochten.
Viele Details sind spannend zu lesen, etwa die Vernetzungen der Neoliberalen in der „Mont Pèlerin Society“, die sich 1947 am Genfer See formierte. Sieben Mitglieder dieses elitären neoliberalen Zirkels wurden ausgerechnet mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, neben Hayek und Friedman auch George Stiegler, James Buchanan usw. (S.136). Lepenies weist darauf hin, dass die Vergabe-Praxis dieses Nobelpreises auch ideologisch gefärbt war…
4.
Ziel der Neoliberalen damals und heute ist: Staatliche Aktivitäten sollen auf ein Mindestmaß reduziert werden, der Staat solle nur Wettbewerb und Märkte uneingeschränkt fördern. (S. 110).
Mit einem gewissen Erstaunen, aber durchaus bei dieser politisch-ökonomischen Option verständlich, ist die Nähe etwa des Neoliberalen Meister Friedman zum Pinochet Regime in Chile (S. 139).
5.
Am wichtigsten schon wegen der aktuellen Dimensionen sind die zusammenfassenden Schlusskapitel des Buches, wenn Lepenies etwa an den großen Soziologen Zygmunt Bauman erinnert (S. 234): „Das Individuum befriedigt seine Konsumwünsche, die von der Produzentenseite bei ihm geweckt werden (S. 234).
6.
Wer bei der aktuellen Debatte einsteigen will, sollte also zuerst das Schlusskapitel lesen: „Politik im Geist des Unterlassens“ (S. 251 – 266). Darin plädiert Lepenies mit allem Nachdruck dafür, dass allein demokratische Verbote und Verzichtleistungen der Bürger (der Armen milder als der Millionäre) die tiefe Öko -, Klima – und Gerechtigkeits-Krise der gegenwärtigen Welt lindern könnten. Voraussetzung dazu wäre: Den Staat nicht, wie bei allen Neoliberalen in ihrer dogmatischen Befangenheit üblich, als Feind des Individuums zu betrachten. Denn für die Demokratie gilt: „Die Bürger SIND der Staat, sie SIND der Souverän“ (S. 255). Nur wenn dieses Feinbild Staat bei Neoliberalen überwunden wird, kann das grundlegend Menschliche wieder entdeckt werden, nämlich: „Die Gemeinschaft und die Zusammengehörigkeit“ (S,256). Solange Hayek und seine Freunde das internationale politische und wirtschaftliche Leben bestimmen, „wird die staatliche Untätigkeit angesichts der Klimakrise legitimiert“. (S. 257). Nur bei Überwindung der neoliberalen ideologischen Übermacht kann wieder ein Sinn für die richtige und berechtigte humane Moral IN der Politik entstehen (S. 258). Aber das wird angesichts der finanziellen Übermacht und medialen Bedeutung dieser Kreise schwer sein, denn diese Ideologen sind, wie Philipp Lepenies schreibt, „mit religionsähnlichem Eifer“ (s. 263) allüberall tätig. Sie glauben nicht an die universalen humanen Werte, schon gar nicht an den biblischen Gott der Gerechtigkeit, sie glauben an den für sie heiligen Markt, der alles zum Besten wendet. Aber dieser Glaube, so Lepenies“, ist „illusorisch“ (S. 264). Also ein Aberglaube. Und ein sehr mächtiger Aberglaube, leider. Nebenbei: Die Kirchen in Deutschland, den eigenen Worten nach Glaubende an den Gott der universalen Gerechtigkeit, können und wollen diesen Aberglauben nicht bekämpfen. Sie sind selbst viel zu sehr neoliberal verstrickt und entsprechend verdorben.

Über die kirchlich, katholisch zumal motivierten irrigen Ermahnungen zum Verzichten (besonders der “kleinen Leuten”) müsste weiter nachgedacht werden, ohne Verzicht-Propaganda (auf Luxus, Konsum, Sex (Zölibat) ist die alte katholische Welt kaum zu verstehen. Verzichten mussten immer die Armen, die Laien, nicht die Päpste, nicht der Klerus (er dufte nur offiziell keinen Sex haben!) , nicht die Fürsten, die Könige…Verzichten passte gut in die Klassengesellschaft damals und heute. Der Verzicht diente dem Erhalt der Klassengesellschaft, er hatte keine progressive Bedeutung wie heute.

Philipp Lepenies, „Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geist des Unterlassens“, Edition Suhrkamp Berlin, 2022, 266 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wenn auch die EU Krieg führt … gegen Flüchtende.

Ein Hinweis auf ein neues, wichtiges Buch von Christian Modehn (2022):  “Grenzenlose Gewalt” .

Ergänzt am 10.7.2022: Lesen Sie zuvor einen Bericht über die Massaker in Melilla (Spanien) am 24. Juni 2022: LINK

100 Millionen Menschen sind jetzt auf der Flucht. Diese Informationen veröffentlichte “Die ZEIT” vom 23. Juni 2022, Seite 52. Von diesen 100 Millionen sind 1,3 Millionen in Deutschland gestrandet, aufgenommen. 1,5 Millionen Flüchtende hat das sehr arme Land Uganda aufgenommen. 1,5 Millionen Pakistan. 1,8 Millionen Flüchtende aus Venezuela nahm Kolumbien auf, 8,2 Millionen Menschen sind in Kolumbien innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht vor Gewalt und Vertreibung.

23,7 Millionen Menschen waren auf der Flucht wegen Klimakrisen und Umweltkatastrophe in ihrer Heimat.

1.
Der Titel dieser Studie “Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende” könnte zunächst verstörend sein: Was denn, die EU führt Krieg gegen Flüchtende, wie das Buch „Grenzenlose Gewalt“  (Verlag Association A, Berlin 2022,) nahelegt? Sind jetzt nicht so viele Staaten der EU menschenfreundlich und hilfsbereit in der Aufnahme und Unterstützung von Flüchtenden aus der Ukraine, sie fliehen vor der tötenden Kriegsgewalt Putins.

2.
Die Flüchtenden aus der Ukraine sind mit dem neuen Buch „Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende” nicht gemeint. Diese sind sozusagen die „anderen“ Flüchtlinge, in der Sicht der meisten Polen und Deutschen möchte man etwas polemisch sagen, sie sind die „besseren Flüchtlinge“: Denn es sind Kinder und Frauen aus der Ukraine, und sie sind nicht schwarz, sie sind also nicht „völlig fremd“; und vor allem: Sie sind nicht muslimischen Glaubens, sondern meist Christen. Diese „besseren“ Flüchtlinge aus der Ukraine“ sind vor allem keine jungen Männer aus Nahost, Syrien, Iran usw., denen man in konservativen Kreisen im üblichen, tief sitzenden Vorurteil eine gewisse Gewaltbereitschaft unterstellt. Und die Flüchtlinge aus der Ukraine fliehen vor dem gemeinsamen europäischen Feind, sie fliehen vor Putin und seinem Regime. Und auch damit trösten sich viele hilfsbereite Westeuropäer: Viele ukrainische Flüchtlinge wollen wieder in ihre ukrainische Heimat zurückkehren. Sie sind also anders als die Menschen, von denen das wichtige und sehr instruktive Buch „Grenzenlose Gewalt“ handelt.

3.
Der Untertitel bringt den Inhalt des Buches von 311 Seiten (davon auf 30 Seiten 746 Fußnoten und wissenschaftliche Nachweise) auf den Punkt: „Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“. Die EU führt, so die gut belegte und gut begründete Studie, ihrerseits selbst Krieg, ohne diesen Krieg formal und feierlich „erklärt“ zu haben. Das Besondere ist: Dieser Krieg kennt nur eine starke, herrschende, sogar allmächtige Seite, diese ist die EU, ist Europa. Und die andere Seite in diesem Krieg sind Menschen, die aus dem unerträglichen Hunger, der Verfolgung, der ökologischen Katastrophe fliehen. Vor allem: Sie haben keine Waffen. Sie sind der anderen Seite (der EU) förmlich ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Es ist also der Krieg gegen Flüchtende aus Afrika, Asien und Nahost. Nebenbei: Auch in Zentralamerika flüchten Tausende in die USA, und die meisten scheitern vor allem an unüberwindlichen Mauern und Stacheldrahtzäunen, errichtet durch die US Regierung. Aber das ist ein anderes Thema.

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In diesem Krieg gibt es seit Jahren schon viele Tote: Tote allerdings nur auf der einen Seite: Viele tausend Flüchtlinge aus Afrika sind im Mittelmeer ertrunken, nicht nur der miserablen Qualität der Boote wegen, sondern auch, weil sie nicht gerettet wurden von Europäern (Stichwort: Frontex). Viele sind in der Sahara verdurstet, weil die EU die bewährten Wege durch die Wüste von Niger umgeleitet hat. Viele sind in LKWs auf der Flucht erstickt, oder sie sind im Wald, etwa an der Grenze Belarus und Polen, erfroren. LINK.
Die finanzielle Förderung von FRONTEX, der europäischen „Agentur für die Grenz- und Küstenwache des Schengen-Raumes“, wurde auf 1,3 Milliarden Euro pro Jahr angehoben und damit die fortschreitende Militarisierung der europäischen Grenzen für die Zukunft festgelegt“ (S. 37). Dazu eine ergänzende Info des SWR: „2019 und 2020 hat die Grundrechtebeauftragte bei dem Frontex Direktor Fabrice Leggeri beantragt, den Frontex- Einsatz in Griechenland zu beenden. Bisher ist er dem nicht nachgekommen. Dabei gibt es Hinweise auf Menschen­rechts­ver­letz­ungen vor der griechischen Küste. Recherchen internationaler Medien (darunter „Report Mainz“ des SWR) legen nahe, dass Frontex-Beamte in mindestens vier Fällen an illegalen Pushbacks beteiligt waren. Ein Video zeigt zum Beispiel, wie sich ein rumänisches Schiff mit der Beteiligung von Frontex vor ein überfülltes Schlauchboot mit Flüchtlingen nahe der Insel Lesbos schiebt. Anschließend fährt das Schiff mit hoher Geschwindigkeit nah am Schlauchboot vorbei und erzeugt so Wellen, die das Boot in Richtung Türkei bewegen sollen“ (Quelle: LINK)
Das Autorenkollektiv von „Grenzenlose Gewalt“ schreibt: „Die Festung Europa lässt nicht nur Menschen im Elend sitzen und sie an ihren Mauern abprallen, die Festung Europa tötet. Die dabei alltäglichen Menschenrechtsverstöße sind mitnichten Versehen oder unglückliche Unfälle, sie sind systemisch und systematisch und sie nehmen Tote billigend in Kauf“ (S. 41).
„Frontex kann nach eigenem Dünken schalten und walten, während sich die EU ihrer Verantwortlichkeit entledigt“ (S. 262).

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Dieser Krieg ist also ein besonderer, dessen Charakter das Buch ausführlich dokumentiert.. In Kürze nur diese Hinweise:
Diesen Krieg führt die EU als Trägerin des Friedensnobelpreises (2012). Die EU wurde dann offiziell von EU Beamten als „größter Friedensstifter der Geschichte“ gepriesen, etwa von Beate Gminder. Einige Jahre später wurde Frau Gminder zur „Erfinderin des Closed Controller Access Center of Samos“, einer „Käfighaltung von flüchtenden Menschen“ auf Samos, ein Urteil nicht nur des AutorInnenKollektivs des Buches „Grenzenlose Gewalt“, sondern auch vieler anderer Beobachter und Journalisten, die sich einen Sinn für Menschenwürde bewahrt haben. EU Chefin Ursula von der Leyen hat dieses inhumane Projekt zur Internierung von Tausenden von Menschen mit einer Viertelmilliarde Euro gefördert (S. 10): Pfarrer Hans Mörtter (Köln) hat dieses Lager besucht: „Die Menschen im Lager sollen die Botschaft nach Hause schicken: Hier ist die Hölle, kommt bloß nicht her, aber das funktioniert nicht, denn zu Hause ist die Hölle noch größer“, sagt Mörtter (S. 10)

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Diese Käfighaltung von Menschen auf Samos, diese ebenso widerlichen Zustände in den Lagern auf Lesbos, dieses dauernde Zulassen von Ertrinken von Flüchtenden im Mittelmeer durch europäische „Sicherheitskräfte“ sind Formen des Krieges der Friedensnobelpreisträgerin EU gegen hilflose Menschen, gegen Flüchtende. Dieser Krieg ist wirklich etwas Besonderes: Er wurde nicht formal erklärt, er wird von der den Krieg inszenierenden Partei, der EU, als „Schutz – Maßnahme“ hingestellt, die offenbar kein Ende kennt. Gerald Knaus, ständiger Gast im Fernsehen, vor allem in Talkshows, gilt als Spezialist für Kriegsfragen und Flüchtlingsfragen. Knaus hatte sich, so die AutorInnen, das bekannte und umstrittene EU-Türkei-Abkommen erdacht (S. 11), das den Türken Erdogan als Türsteher für die EU anheuerte. Später schickte Erdogan Flüchtlinge nach Griechenland, um mit diesen Menschen eine Art Deal zu betreiben…
Bisher hat die EU 6 Milliarden Euro Herrn Erdogan für die Abwehr und Zurückhaltung von Flüchtlingen gezahlt, dabei ist es ziemlich egal, welche kriegerischen Aktivitäten Herr Erdogan gegen Kurden und in Syrien realisiert.

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Aber: Diese totale Abwehr von Flüchtenden, dieses Sich-Einmauern Europas, dieses Stacheldraht-Bauen usw. wird nicht die Menschen hindern, aus den Kriegen ihrer Herkunftsländer, der Verfolgung durch dortige Diktatoren nach Europa zu kommen, in den christlichen Kontinent, der so gern von universal geltenden Menschenrechten schwadroniert.

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In 6 Hauptkapiteln wird akribische Recherche dokumentiert, die jeder und jede lesen sollte, die hier also nicht zusammengefasst werden kann.

– Wie man eine Festung baut.
– Europas Außengrenzen: Systematische Abschottung und Gewalt.
– Kriminalisierung von Flüchtenden.
– Behinderung von Fluchthilfe.
– Asylverfahren in der EU.
– Gute Aussichten? Panorama der Gewalt.

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Instruktiv sind die Erkenntnisse zu der schon üblich gewordenen (durch rechte und rechtsextreme Propaganda verstärkten) Kriminalisierung der Migration (S. 209): Es wird selbstverständlich und pauschal von „Illegaler Migration gesprochen. „Wir leben in einer Zeit, in der es normal ist, dass Menschen inhaftiert werden , nur weil sie migrieren…“ (S. 210). Auch das Thema „Schleusen“ und Schleuser“ wird dokumentiert. Der EU geht es nicht darum, wie Schleuser Flüchtende schleusen, auch nicht darum, wie viel Geld diese Schleuser für ihre Dienste nehmen, es geht der EU nur darum, „DASS sie schleusen“ (S. 214), also dass sie überhaupt auf den Gedanken kommen, Flüchtende nach Europa zu „geleiten“. Schleuser sind deswegen in EU Sicht Kriminelle, weil sie Flüchtenden helfen. Deswegen werden Schleuser als Kriminelle behandelt, viele sind wohl kriminell etwa hinsichtlich extrem hoher „Honorar“ – Forderungen. Aber Flüchtende sagen auch: „Es gibt ja sonst keinen legalen Weg, Europa zu erreichen“ (S. 216, Refugee Protest Movement, Vienna).

10.
Ganz übel ist die öffentlich schon selbstverständliche gewordene Diskreditierung derer, die zivile Seenotrettung leisten. Amnesty International spricht sogar von „einer Diffamierungskampagne“ (S. 221):

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Zum Schluss bietet das Buch einen Epilog, einen kurzer Essay, der italienischen Philosophin Prof. Donatella Di Cesare (Rom). Sie ist Spezialistin für eine „Philosophie der Flüchtlinge“. Sie weist u.a darauf hin, dass Europa einige sehr billige Arbeitskräfte aus den Kreisen der Flüchtenden braucht, also darf die EU nicht alle Flüchtenden im Meer ersaufen lassen und wieder nach Libyen, in die dortigen Lager, KZ ähnlich, zurückschicken. Billige und weithin rechtlose Arbeitskräfte werden etwa auf den Obstplantagen in Spanien gebraucht. Das Obst und Gemüse von dort ist sehr wahrscheinlich von unterbezahlten und miserable untergebrachten Flüchtlingen geerntet worden.
Aber dem von vielen Medien verbreiteten und von vielen geglaubten totalen Negativbild der Flüchtlinge, auch der so genannten bedrohlichen Flüchtlingsströme, wurde und wird „nichts entgegengesetzt“, meint Di Cesare. Den rechtsextremen Parteien gelingt es, ihr ideologisches Gift „tröpfchenweise in den alltäglichen Sprachgebrauch einzuspeisen und den Einwanderer zum Sündenbock für alle Missstände, zum Feind Nummer eins, zu machen“(S. 275). Ist es bereits eine faschistische Haltung, wenn viele Europäer den Wert der sozialen Gerechtigkeit nur noch auf die Innenräume ihrer eigenen Nationen gelten lassen wollen?

12.
Diese akribische wissenschaftliche Dokumentation „Grenzenlose Gewalt“, wird als Vorlage dienen für ein internationales Tribunal, das auch der bekannte ANTI-Mafia-Kämpfer, der Bürgermeister von Palermo Leoluca Orlando, angeregt hatte beim Festival „Lesen ohne Atomstrom“ (Hamburg). Dort sagte er im Jahr 2021: „Die Kriminellen (hinsichtlich des Krieges gegen Flüchtende) sind die Staaten, die heutigen Staatsführer“ (S. 14).

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Die Studien dieses Buches offenbaren die tiefe politische und geistige Krise der EU, die sich auf Demokratie und Menschenrecht so oft beruft und diese auch manchmal realisiert,. Aber die EU und Europa mauert sich in einer nationalistischen und feindlichen Abwehrhaltung gegenüber Flüchtenden aus Afrika und Asien ein. Es ist die Angst vor den Fremden, die das Denken und Handeln der meisten Europäer bestimmt, und die Unfähigkeit der reichen Welt, also auch Europa, dem zunehmenden Elend, dem Verhungern von Millionen arm gemachter Menschen im Süden dieser Welt, konsequent durch eine gerechte Politik und Wirtschaftspolitik Einhalt zu gebieten. Diese reiche Welt hat sich daran gewöhnt, dass sie täglich in den seriösen TV Programmen für einige Minuten Bilder krepierender Menschen etwa in Afrika sieht und danach stundenlang Krimis und Fussball schauen muss. Sie hat sich daran gewöhnt, dass in den meisten afrikanischen und arabischen Staaten Diktatoren die Menschenrechte missachten … und ihre Bewohner in die Flucht treiben. Die Fluchtbewegungen aus dem Süden sind auch von Europa, auch von der EU, gemacht, mitverursacht, zugelassen und manchmal wohl auch – zur „Lieferung“ billiger Arbeitskräfte – sogar gewollt.

Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende. Von dem AutorInnenkollektiv mEUterei. Lesen ohne Atomstrom. Verlag Association A, Berlin, 2022, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.