„Große Freiheit“: Nur ein Traum für homosexuelle Katholiken. Der § 175 besteht nach wie vor in der römischen Kirche.

Ein Hinweis von Christian Modehn.   Um die wichtigste Erkenntnis kurz, aber wahr vorweg zu sagen: Es sind die maßgeblichen Herren der Kirche(n), die in Europa und Amerika und Afrika bis jetzt immer noch und unverschämt gegen die völlige Gleichberechtigung homosexueller Menschen (abgekürzt bekanntlich: LGBT) agieren und hetzen.  Der demokratische Staat sollte diesen Herren eine Kinokarte schenken, damit sie sich möglichst gemeinsam den Film “Große Freiheit” ansehen und wenigstens mal kurz zu Tränen gerührt werden. Um menschlich und christlich zu werden…Ist aber unwahrscheinlich…

1. Jetzt (am 18.11.2021) kommt der Film „Große Freiheit“ von Sebastian Meise in die Kinos. Der Film erzählt das Leben eines Homosexuellen,  er heißt Hans, der viele Jahre seines Lebens, in der Nazi-Zeit und danach in der BRD, in Gefängnissen zubringen musste. Aus dem „einfachen“ Grund: Er liebte Männer, diese Liebe durfte nicht sein, sie störte die Hetero-Moral und den Männlichkeitswahn….die Liebe galt als „widernatürliche Unzucht“. Liebende Männer wurden zu Verbrechern erklärt. Die BRD – Gesetzgeber und Richter, bekanntlich oft noch Nazis, hatten die Nazi-Gesetze ziemlich unverändert übernommen. Erst 1994 wurde in der BRD dieser verbrecherische Paragraph aufgehoben.

2. Der Film „Große Freiheit“ wurde schon in Cannes ausgezeichnet; er ist ein Meisterwerk, nicht zuletzt durch die großartige Leistung von Hans Rogowski („Hans“) und Georg Friedrich (als „Viktor“, Zellennachbar von Hans).

Der Film wird hoffentlich über das individuelle Schicksal und das Leiden hinaus das Thema Homosexualität in den Mittelpunkt der Diskussionen stellen, hoffentlich. Denn Wichtiges gibt es zu besprechen, zu analysieren, zu kritisieren, anzuklagen. Etwa die Unterdrückung und Ermordung von Homosexuellen weltweit, vor allem in den meisten Staaten Afrikas und Asiens, im arabischen Raum vor allem, in Regimen, die sich islamisch nennen, also angeblich den barmherzigen Gott Allah verehren. Diese, nach außen hin religiösen Regime sind besonders mörderisch gegenüber Homosexuellen. „In 69 Staaten wird gleichgeschlechtliche Sexualität noch strafrechtlich verfolgt, in einigen Ländern sogar mit der Todesstrafe bedroht“, berichtet die Website des Lesben – und Schwulenverbandes LSVD. (https://www.lsvd.de/de/ct/1245-LGBT-Rechte-weltweit-Wo-droht-Todesstrafe-oder-Gefaengnis-fuer-Homosexualitaet). Genauso schlimm ist die Diskriminierung Homosexueller mit Gewaltattacken in so genannten westlichen Staaten, wie Brasilien unter dem de facto-Diktator Bolsonaro (er nennt sich katholisch, aber gleichzeitig auch evangelikal!).

3. Aber man mache sich nichts vor: Auch in Europa, dem freiheitlichen, gibt es noch vielfältige versteckte oder offene Repression gegenüber Homosexuellen. Für den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“  ist besonders interessant: Um von den genauso anzuklagenden evangelikalen, sich evangelisch nennenden Kirchen gar nicht zu sprechen: Der Vatikan und mit ihm die oberste katholische Zentrale der Glaubenslehre und Moralverbreitung kennt bis heute de facto den § 175: Das heißt: Priester und Gemeindemitarbeiter, etwa Pastoralreferenten, die sich als schwul outen, werden entweder gar nicht erst in einem Dienstverhältnis zugelassen. Oder sie werden, etwa als junge Priesteramts-Studenten oder junge Ordensmitglieder, sofort entlassen. Selbst Priester, die sich nach etlichen Jahren der Gemeindearbeit outen, haben es schwer und sind bedroht, aus dem Priesteramt gedrängt zu werden, mit all den finanziellen Problemen, die sich dann ergeben.

4. Der § 175 wirkt in der katholischen Kirche auf subtile, aber skandalöse Weise: Wer sich noch für den geistlichen Beruf entscheidet, verschweigt diplomatischerweise seine Homosexualität, er verleugnet seine eigene Identität, lügt und lebt bis zum Lebensende in ständiger Angst, irgendwann dann doch entdeckt und bestraft zu werden. Die versteckten, also nicht offen homosexuell lebenden Priester und Ordensleute sind dann oft nach außen hin, etwa in Predigten, die größten Feinde von selbstverständlich frei gelebter Homosexualität. Der Soziologe Frédéric Martel hat in seiner großen empirischen Studie „Sodom“ diese Zusammenhänge aufgezeigt, besonders in dem verlogenen Verhalten zahlreicher Priester im Vatikan und in hohen klerikalen Kreisen, man denke an den theologisch reaktionären Kardinal Lopez Trujillo aus Kolumbien. LINK

5. Papst Franziskus, den einige immer noch für insgesamt progressiv halten, fährt auch in dieser Frage einen Zickzack-Kurs, mal sagt er dies, mal jenes zum Thema Homosexualität. Das ist bekannt. Besonders ärgerlich war sein Nein zur Segnung homosexueller Partnerschaften, wohl gemerkt, es ging um eher schlichte, freundliche Segnungen, so, wie die katholische Kirche seit Jahrzehnten Autos segnet und Hunde, Rinder und Handys, selbst ein Walross im Hamburger Zoo hat Bischof Hesse gesegnet.  LINK . Aber nein: Diese eher bloß freundliche Geste einer Segnung darf für Menschen, für Homosexuelle, NICHT sein. Sie sind (als Untermenschen?) weniger wert als Walrösser und Handys, welch ein Skandal für das ohnehin total ramponierte Ansehen der römisch-katholischen Kirche. Bei den Orthodoxen ist es nicht anders… Wie weit diese verkrampften, verlogenen Homo-Prälaten, Kardinäle und der Papst aus der Gegenwart der Vernunft gefallen sind, sieht man daran: Es ging bei den aktuellen Debatten doch gar nicht um das eigentlich heute gebotene Thema der kirchlichen Segnung (katholisch: ein Sakrament) der Ehe, also der Homo-Ehe. Allein diese Homo-Ehe-Debatte wäre interessant gewesen angesichts der Tatsache, dass einige demokratischen Staaten längst per Gesetz die Homo-Ehe eingeführt haben. Bei den gegebenen Verhältnissen also wird die römische Kirche, um nur diese zu nennen, nach wie vor zu den Verteidigern des §175 zählen. Was diese Haltung mit Menschlichkeit, geschweige denn mit der Lehre des Propheten Jesus von Nazareth zu tun, ist klar: gar nichts!

6. Ich habe früher schon zu dem Thema einige Hinweise veröffentlicht, sie zeigen: Fast nichts bewegt sich in der katholischen Kirche.

Am 2. Dezember 2018: LINK :

Am 20.6.2019: LINK

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Unsere Kirche ist ein Ort schwerer Verbrechen“: Die katholischen Bischöfe in Frankreich finden zur Vernunft und zu etwas Mitgefühl.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.11. 2021.

1. Sie haben doch noch „die Kurve geschafft“, die katholischen Bischöfe in Frankreich: Das heißt: Sie haben die traditionelle und Jahrzehnte übliche Verleugnung und Vertuschung der Tatsachen aufgegeben, der Tatsachen, dass es in ihrer französischen Kirche nachweislich und bewiesen seit 1950 etwa 300.000 Opfer von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute gibt bzw. gegeben hat. Vom 2. bis zum 8. November 2021 trafen sich alle französischen Bischöfe im Marienwallfahrtsort Lourdes, am letzten Sitzungstag hat die Bischofskonferenz hoch offiziell sehr Erstaunliches erklärt. Man kann dies – verglichen mit den Bischofskonferenzen anderer Länder – als kleinen Sieg der Vernunft und des Mitgefühls deuten.

2. Die Bischöfe erkennen unumwunden die Freilegung der Verbrechen an, die eine neutrale Studien-Kommission, abgekürzt CIASE, unter Leitung des Juristen Jean-Marc Sauvé, erarbeitet hat. Von den freigelegten Tatsachen erschüttert, konnte die Bischofskonferenz gar nichts andres sagen: „Es gilt ein kirchliches System zu reparieren, das sich pervertierte und das derartige Fakten möglich gemacht hat, die nicht gesehen und nicht gehört sein sollten“, sagte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Eric de Moulins-Beaufort.

3. Eine halbe Million Euro wollen die Bischöfe den Opfern „pädokrimineller Gewalt durch Kleriker“ als Entschädigung zur Verfügung stellen, eine Summe, die bei der viel besprochenen Armut der französischen Kirche erstaunt. Aber die Bischöfe wollen ausdrücklich auf Kollekten, also Spenden der Laien in dieser Sache, verzichten und stattdessen Kirchen-Immobilien verkaufen oder aus irgendwelchen „Reserven“ Geld locker machen.

Außerdem soll es eine unabhängige „nationale Instanz“ geben, unter Leitung eines Juristen, eines Laien, diese Instanz soll im Gespräch mit den Opfern die Entschädigung bestimmen, ausdrücklich spricht die Bischofskonferenz von „Entschädigung“. Der kirchlich übliche Wille zu „kleinen Schritten“ der Hilfe, eher widerwillig geleistet hat, scheint zumindest in Frankreich vorbei zu sein. Zu umfassend sind die pädokriminellen Verbrechen, die gerade in letzter Zeit im kirchlich einst so hoch gelobten Milieu der ganz frommen Katholiken, der Charismatiker und der neuen geistlichen Gemeinschaften, freigelegt wurden.

Ihre Neuorientierung bewerten die französischen Bischöfe, so wörtlich, als Befreiung, sie sehen ihre „institutionellen Verantwortlichkeit und auch die systemische Dimension im Auftreten sexueller Gewalt“… „Unsere Kirche ist ein Ort schwerer Verbrechen“, so die Bischofskonferenz!

4. Die Sensation also ist: Die französische Kirche, die sich seit der Revolution von 1789 sehr weitgehend in einer Anti-Haltung zur Republik (und damit zur Demokratie) befunden hat, folgt nun den Weisungen der neutralen, nicht klerikal besetzen und nicht klerikal gesteuerten Forschungsgruppe CIASE. Kirchliche Erneuung folgt sozusagen republikanischen Erkenntnissen! Diese Tatsache ist sensationell. Schon jetzt melden sich Katholiken, etwa aus Chile, sie loben die französischen Bischöfe wegen ihrer Vernunft und verlangen dies auch von ihren Bischöfen. Ob sich polnische Bischöfe so verhalten wie ihre französischen Kollegen? Wohl kaum.

Die französischen Bischöfe bitten sogar um eine vatikanische Equipe von Visitatoren, sie sollen den Fortgang beim Schutz vor klerikaler Pädokriminalität überprüfen und die geleisteten Entschädigungen für die Opfer.

Am 9. Dezember 2021 wird Papst Franziskus die mutigen, zur Vernunft bekehrten französischen Bischöfe empfangen: Wird er sie weltweit als entscheidendes Vorbild loben oder als „regionale Besonderheit“ abtun? Bei Papst Franziskus ist alles möglich, je nach Laune bzw. Angst vor seinen Feinden im Vatikan, möchte man sagen.

5. Denn eines ist klar: Die tausendfachen pädokriminellen Verbrechen durch Kleriker in Frankreich von 1950 bis 2020 sind systembedingt, sie haben mit dem System der katholischen Kirche zu tun, mit der nach wie vor absoluten Hochschätzung des immer männlichen Klerus, mit dem schlicht und einfach nur verrückt zu nennenden Ausschluss von Frauen vom Priesteramt, der absolutistischen Entscheidungsgewalt eines sehr alten Herren, des Papstes, und natürlich… des Zölibat-Gesetzes, das eben junge Männer in den Priesterberuf zieht, die insgesamt unreife Personen sind, und diese gibt es unter Heterosexuellen wie Homosexuellen.

6. Beklagt wird, dass die Debatten und Entscheidungen der Bischofskonferenz in Lourdes hinter verschlossenen Türen, ohne Öffentlichkeit, stattfanden, dass nur gelegentlich die eingeladenen Laien und einige wenige Opfer den Debatten folgen konnten. Die katholische Kirchenführung als klerikale Hierarchie bevorzugt es halt immer noch, unter sich zu bleiben und unter sich Entscheidungen zu treffen. Demokratie sieht anders aus. Aber die katholische Kirche beharrt ja bis heute voller Stolz darauf, eben alles andere als eine Demokratie zu sein. Wie lange sie in dieser Haltung noch Respekt und Zustimmung erlangen kann unter Menschen, die aufgeklärt und demokratisch denken und handeln, ist die Frage: Die Antwort heißt: Wohl nicht mehr lange.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Neues Denken könnte die Welt noch retten. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2021!

Die Rede von Tsitsi Dangarembga anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 24.10.2021 in Frankfurt/Main.

Die Autorin, Schriftstellerin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe hat am 24.10.2021 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten!

Dazu möchten die Initiatoren und Leiter des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin ihren herzlichen Glückwunsch aussprechen und ihre Hochschätzung betonen: Denn Tsitsi Dangarembga ist nicht nur eine wichtige Autorin wegweisender kritischer Romane, sie hat sich in ihrer Rede in Frankfurt erneut explizit als Kritikerin des globalen kapitalistischen und imperialen Weltsystems gezeigt. Darüber hinaus hat Tsitsi Dangarembga in ihrer Rede eine philosophische Kritik vorgestellt, die an die Wurzeln neuzeitlichen europäischen Denkens geht. Die Autorin zeigt, dass das viel besprochene Wort des Philosophen Descartes – fast wie eine Floskel verbreitet : „Ich denke also bin ich“ tatsächlich, ursprünglich viel komplexer verstanden, bedeutet: „Ich zweifele, also bin ich! Gerade weil ich am Zweifeln selbst noch einmal zweifeln kann, ist der Zweifel als Denkform also die „Grundmelodie“ des reflektierenden Daseins“. Aber: Für die westliche Welt des Imperiums war Zweifeln  niemals eine Tugend des Imperiums.

Die ganze Rede von Tsitsi Dangarembga können Sie hier nachlesen: LINK.

Hier einige Hinweise und zentrale Zitate aus der Rede:

Tsitsi Dangarembga spricht zu Beginn von der vielfachen Gewalt des Imperiums, die sich auch in Simbabwe als physische, psychische und metaphysische (also religiöse) Gewalt zeigte und zeigt:

„Diese Arten der Gewalt sind in die Strukturen der globalen Ordnung, in der wir leben, integriert und wurzeln in den Strukturen des westlichen Imperiums, dessen Anfänge sich vor über einem halben Jahrtausend bildeten. Das heißt, dass der Westen mit all seiner Technologie, seinen Überzeugungen und seiner Praxis auf vielfachen weiterhin praktizierten Formen der Gewalt aufgebaut ist, die er in den Rest der Welt exportiert hat und die jetzt in postkolonialen Staaten so eifrig praktiziert werden wie zuvor in imperialen und kolonialen Staaten.“

Etwas später betont die Autorin:

„Ein System, das auf Profit basiert, darauf, mehr zu erhalten, als man gibt, ist ein System der Ausbeutung. Ein System, das einerseits Konzentration und andererseits ein Defizit erzeugt, ist ein System des Ungleichgewichts. So ein System ist notwendigerweise instabil und deshalb auch nicht nachhaltig. Wie ist es möglich, dass wir in ein instabiles, nicht nachhaltiges System investieren, das uns zwangsläufig in den Untergang führt?“

Eine Veränderung dieser imperialen Gewaltstrukturen wäre möglich, durch die Entscheidung, neu zu denken:

„Hier ist eine Antwort, und ich glaube, dass die Antwort einfacher ist, als wir denken. Die gewaltsame Weltordnung, in der wir heute leben, wurde von gewissen hierarchischen Denkweisen etabliert. Die Lösung ist, ethnisch determinierte und andere hierarchische Denkweisen abzuschaffen, die auf demografischen Merkmalen wie sozialem und biologischem Geschlecht, Religion, Nationalität, Klassenzugehörigkeit und jedweden anderen Merkmalen beruhen, die in der gesamten Geschichte und überall auf der Welt die Bausteine des Imperiums waren und noch immer sind.“

Die Ego-Fixierung der typisch europäischen Maxime „Ich denke also bin ich“ haben schon europäische Philosophen zu überwinden versucht, wie Martin Buber oder Emmanuel Lévinas. Der andere Mensch muss von vornherein einbezogen werden, wenn das Ich zu denken beginnt. Tsitsi Dangarembga betont:

Da jemand, der »Ich denke, also bin ich« denkt, sich selbst als Mensch betrachtet, wird jemand anders, der anders denkt, als nicht wie ich oder nicht als Mensch wahrgenommen. Wie wir wissen, hat die Aberkennung des menschlichen Werts anderer Menschen den Effekt, den menschlichen Wert zu erhöhen, den wir uns selbst zuschreiben; und wir wissen auch, dass dieser Mechanismus der differenziellen Zuschreibung von Menschlichkeit für einen Großteil der Gewalt verantwortlich ist, mit der die Menschen einander heimsuchen.“

Es muss ein Paradigmen-Wechsel des Denkens stattfinden, wenn die Welt sich von Umweltkatastrophen, zunehmender Verarmung, zunehmender Etablierung von Unrechtsstrukturen und Ausbeutung befreien will. Tsitsi Dangarembga geht deswegen soweit, eine neue Aufklärung zu fordern, also eine neue Epoche neuen, aufgeklärten Denkens.

Über das »Ich« hinauszuschauen zum »Wir« könnte zu horizonterweiternden Neuformulierungen des Satzes des Franzosen führen, zum Beispiel zu »Wir denken, also sind wir« oder sogar zu »Wir sind, also denken wir« und mit letzterem den Ort der Hochschätzung vom rationalen »denken« zum empirischen »sein« verschieben….Unsere Entscheidung, was und wie wir denken, ist letztlich eine Entscheidung zwischen Gewalt oder Frieden fördernden Inhalten und Narrativen. Das gilt, ob wir diese Inhalte und Narrative in Gedanken nur für uns selbst formulieren oder ob wir sie anderen um uns herum mitteilen. Beides ist fruchtbar.“

Für die Hinweise und die Zusammenstellung verantwortlich: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

800 Millionen Menschen hungern heute. Das ist Mord!

Anlässlich des „Welttages gegen Hunger“ am 16. Oktober 2021

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.Selten hat ein deutscher Politiker, noch dazu ein CSU-Minister, so deutlich, so wahr und radikal gesprochen, wie jetzt Gerd Müller, der bald ausscheidende und sehr vernünftige Minister für „Entwicklungshilfe“ der Regierung Merkel. „Hunger ist Mord“ heißt seine Erkenntnis. Sie sollte sich wie ein Mantra überall und bei jedem festsetzen. “Eigentlich”, wenn es den Willen für eine gerechte Weltwirtschaft gäbe, bräuchte niemand zu hungern.

Besser wäre es, die sachliche Ebene „Hunger“ zugunsten der persönlichen Ebene „Hungernde“ zu ersetzen. Also zu sagen: „Hungernde werden ermordet“. Dann muss die Frage beantwortet werden: „Von wem werden denn Hungernde ermordet?“

Bei der Suche nach Antworten darauf sind wir wieder bei dem leidigen Stichwort gelandet, das so oft als Entschuldigung dient für konkretes politisches Handeln: Es ist der Begriff „Komplexität“. Natürlich ist es ein komplexes Phänomen, dass zurzeit (Herbst 2021) mehr als 800 Millionen Menschen ,vor allem in Afrika, hungern. Wie auch immer die Gründe aussehen: Eines ist klar: Hungern heißt für diese Elenden eben nicht, ein bisschen Bauchweh zu haben, weil der Magen leer ist oder, wie üblich dort, kein sauberes Wasser zur Verfügung zu haben. Hungern heißt für die 800 Millionen Menschen: Sich Im Zustand des langsamen, aber sicheren Krepierens zu befinden.

Minister Gerd Müller sagte also vor wenigen Tagen: „Hunger ist Mord, da wir dies heute ändern können“. Worte, die jeder mindestens zweimal lesen und sprechen sollte: HUNGER IST MORD, da wir dies heute ändern könnten“. Der Hunger und das Verhungern sind also kein Schicksal, ist nichts Unabwendbares, wenn auch die Klimakatastrophe eine Rolle spielt, aber die ist von Menschen vor allem im reichen Norden dieser Erde gemacht.

Gerd Müller also sagt: „Hunger ist Mord, da wir dies ändern können“. Wer ist wir? Sicher nicht die Hungernden in der Sahelzone, sondern eben wir, auch wir Europäer, auch wir Deutsche.

2. Aber WIR haben absolut andere Sorgen: Nur ein Beispiel: Der 16. Oktober ist bekanntlich der „Welttag gegen Hunger“. Wenn man abends im ZDF das Heute-Journal sieht, wird etwa 6 Minuten über das Treffen der „Jungen Union“ in Münster lang und breit berichtet und etwa 40 Sekunden über die Tatsache, dass 800 Millionen Menschen hungern. Es werden dabei die üblichen Bilder gezeigt und einfallslos wie immer werden die ZuschauerInnen zum Spenden aufgerufen. Also: Ein paar Euro locker machen, spenden und schon haben einige Hungernde eine Schale Reis. Von der Aufforderung, sich politisch zu informieren, warum denn die Anzahl der Hungernden schon wieder zugenommen hat, vor 2 Jahren waren es „nur“ 690 Millionen“, also keine Spur davon in der Nachrichtensendung. Laschet und Söder und die JU sind absolut wichtiger für uns, wir sind begrenzte Nationalisten geworden, vielleicht sogar blind für die „fernen Nächsten“, die Mitmenschen in Hunger und Dreck…Mit Spenden sollen wir also unser Gewissen beruhigen und es hinnehmen, wie gering etwa der Etat des Miniserums für „Entwicklungshilfe“ ist. Dabei ist es fraglos, dass Spenden oft eine letzte Rettung sind für die Elenden. Gerd Müller (CSU!) sagt es selbst: „Schauen Sie, allein für Rüstung werden weltweit jedes Jahr 1700 Milliarden Euro ausgegeben. Für Entwicklung nur 170 Milliarden. Dies ist ein inakzeptables Missverhältnis.“

Aber die meisten finden das normal. Weil sie auch die kapitalistische Gesellschaft normal finden und die neoliberale WirtschaftsUNordnung normal finden. Wo und wann wurde denn bei diesem Bundestagswahlkampf von Entwicklungshilfe gesprochen, welcher der so genannten Spitzenpolitiker sprach davon, setzte sich für mehr Gerechtigkeit in der kommenden Regierung? Mir ist davon nichts begegnet.

Um beim Thema „Hunger ist Mord“ bzw.: „Wenn 800 Millionen Menschen jetzt hungern, sind wir die Mörder“, die richtige Erkenntnis präziser zu fassen: Dieses Thema ein philosophisches, es muss die Frage aufgeworfen werden: Wie „wir“ denn endlich zu einem menschenwürdigen Verständnis von Gerechtigkeit auf dieser einen Welt („Mutter Erde“ ?) kommen können. Wollen „wir“ das überhaupt? Oder brauchen wir die Elenden, um unseren Wohlstand zu halten und auszubauen? Brauchen wir moderne Sklaven? Etwa doch einige Flüchtlinge aus Afrika?

Philosophisch ist eindeutig in dieser grausamen Situation: „Wir“ sind Mörder, ein schwieriger Gedanke, aber wir sind meist Mörder durch Unterlassung von wirksamer Hilfe, weil uns die eigene kleine bürgerliche oder spießbürgerliche Welt, der eigene begrenzte Horizont, der in der Merkel Regierung so heilig war, selbstverständlich geworden ist. Wer wagt das Eingeständnis: „Wir sind totale Egoisten“?

3. Wir müssen uns also angesichts der fast einer Milliarde Hungernder Menschen eingestehen: Unser Reden von Menschenrechten, von Solidarität, von Herrschaft der Vernunft etc. ist oft nur ein Ausstoßen von leeren Wort-Blasen. Denn sonst würden wir doch aufstehen und massenhaft „Fridays for hungry peoples“ organisieren und vor den Verteidigungs-, Finanz-und Wirtschaftsministerien protestieren.  Dass immer mehr so genannte demokratische Regierungen, wie in Polen, Ungarn oder jetzt in Österreich wider den Geist der Demokratie handeln und in der Korruption versinken, ist bezeichnend: Korrupte Politiker kümmern sicher eher um das nächste Staats-Bankett als um die 800 Millionen Hungernde.

Und die Kirchen in Deutschland? Vor einigen Jahren waren sie manchmal noch ein bisschen der öffentlichen sozialen und prophetischen Kritik verpflichtet, sie sind jetzt absolut mit allen ihren Missbrauchsfällen befasst oder mit synodalen Prozessen oder dem Zölibat…Woelki und Co. wurden den Katholiken viel wichtiger als die Menschenrechte! Und den Hilfswerken fällt auch nichts anderes ein, wie schon seit Jahrhunderten, als um Spenden zu betteln, also um die berühmten „Tropfen auf die heißen Steine“. Zur politisch-prophetischen Rebellion für die Hungernden sind die Kirchen in den reichen Ländern gar nicht in der Lage. Sie sind müde und schwach und geldgierig für eigene Zweck.

Es werden vielleicht politisch noch viele kluge Worte zum Hunger gesagt. Aber wir haben uns längst daran gewöhnt, dass es Untermenschen (Hungernde, „Schwarze“) und gut genährte Übermenschen bzw. Herrenmenschen, dies sind die Europäer, Amerikaner, Japaner, Saudis und andere sich islamisch – scheinheilig fromm nennende Gewaltherrscher in ihrem absoluten Saus und Braus … gibt. Die Kategorie Untermenschen contra Herrenmenschen hat ja bekanntlich schon seit Urzeiten gegolten und in der Nazizeit zum Massenmord an den Juden und anderen geführt…

In der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ sagte Müller weiter: „Man kann kaum glauben, zu welchen Verbrechen Menschen in der Lage sind.“ In einem Flüchtlingslager in Myanmar habe er mit Frauen gesprochen, deren Babys von Regierungstruppen in brennende Hütten geworfen wurden. Im Camp von Moria lernte er Frauen kennen, die auf der Flucht vergewaltigt wurden. Im Tschad haben wir ein Krankenhaus in einem Slum besucht: abgemagerte Kleinkinder, deren Mütter sie nicht stillen konnten, weil sie selbst unterernährt waren. Die eigene Regierung hat seit Jahren keine Mittel gegeben. Und drei Kilometer weiter saß der Präsident in seinem Palast aus Gold und Marmor. Er kannte das Krankenhaus nicht und sagte, wenn man krank ist, dann fliegt man in die USA. Vollkommene Ignoranz. Er wollte öffentliche Entwicklungszusammenarbeit von uns. „Ich habe ihm gesagt, das kann er vergessen. Stattdessen unterstützen wir das Krankenhaus direkt. Da war der Präsident stinksauer und hat sich bei der Bundeskanzlerin über mich beschwert“.

4. Wie kommt man philosophisch weiter? Im Denken allein sicher nicht. Es braucht wohl eine Revolution des politischen Handelns. Aber dafür gibt es keine Subjekte. Und keinen Willen, keine „Umkehr“, unter den Reichen.

Philosophen und die wenigen noch dem befreienden Evangelium Jesu von Nazareth verpflichteten Menschen müssen sich eingestehen: „Wir sind gescheitert“: Die Philosophie als Gesellschaftskritik und die christliche Religion, in ihrem humanen, nicht gewalttätigen Kern. Sie sind gescheitert. Die Bilanz des Christentums ist – historisch gesehen – katastrophal. Das weiß jeder.

Nur wer das Scheitern eingesteht, hat die Chance, irgendwo und irgendwie neu zu beginnen. Wenn einem dazu die Kraft nicht genommen wurde…

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Die Kaiser Wilhelm I. und II. und ihre Kirche in Berlin, „KWG“ genannt.

Die Evangelische Kirche in Berlin sollte auf den problematischen Titel ihres prominenten „Gotteshauses“ verzichten.

Ein Hinweis von Christian Modehn. (Ich habe schon 2016 und dann noch einmal 2020 für die Umbennung der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche plädiert. Hier nun der wahrscheinlich letzte Hinweis zu dem Thema). Siehe also auch  LINK 

Die Umbennungen von Straßen etc. in Deutschland wegen des sexuellen Missbrauchs von Priestern ist in vollen Gange. Warum dann nicht auch endlich einem Gotteshaus einen Namen geben ohne Verbindungen zu rassistischen, kolonialistischen und antirepublikaischen Herrschern? LINK

1. Die neue, große Studie von Stephan Malinowski, „Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration“, (Propyläen-Verlag Berlin 2021, 752 Seiten) führt erneut zum Thema „Umbenennung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“ in Berlin. Und diese Forderung wird gleichzeitig heftig unterstützt durch die deutliche Bindung der Kaiser Wilhelm I. und II. an den Kolonialismus. Will sich die Kirche wirklich an kolonialistische Herrscher und antirepublikanische Kaiser auf Dauer binden? Das ist die Frage. Und man bedenke: Wenn die Verbrechen des Kolonialismus, des Antisemitismus und des Antirepublikanismus durch deutsche Könige/Kaiser erkannt sind, dann muss man sich die Mühe machen, auch Kirchen umzubenennen, das gilt auch für Straßen und Plätze, man denke an die 67 „Hindenburg Straßen“ in Deutschland.

2.Diese „Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“, eine Mischung aus Denkmal/Ruine und erstaunlichem Gebäude (eingeweiht 1961, Architekt Egon Eiermann), wird auch kirchlicherseits „schamhaft“ und verlogen oft nur „KWG“ genannt oder, vielleicht angesichts der allgemeinen historischen Vergesslichkeit der Kirchen, nur kurz als „Gedächtniskirche“ bezeichnet. Eine Aufforderung förmlich, das kritische Gedenken zu pflegen. In diesem Hinweis bewahren wir es.

3. Die heftige Debatte über den Kolonialismus der Deutschen, seit König/Kaiser Wilhelm I. , erinnert insgesamt an die rassistisch geprägte Zeit der Herrschaft der Hohenzollern. Diese Debatte wird nicht zur Ruhe kommen, zumal angesichts der Exponate im „Humboldt-Forum“ im wieder aufgebauten Schloss in Berlin, direkt, in theologisch-politischer Eintracht, neben dem monumentalen „Berliner Dom“.

Die postkolonialen Studien werden langfristig die Mentalität der Deutschen zur Wahrheit verändern und in absehbarer Zeit auch zur Umbenennung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche führen.

4. Aber: Noch ist es leider so, dass die zentrale Kirche in West-Berlin, am Ende des Kurfürsten-Damms, „Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“ heißt. Die Evangelische Kirche in Berlin/Brandenburg schämt sich nicht, immer noch an diesem abstoßenden und theologisch allmählich unsinnigen Titel für ein GOTTES-Hauses festzuhalten. Sie ist sich wahrscheinlich ihrer Engstirnigkeit und Verkrampfung bewusst und nennt dieses zentrale Kirchengebäude nur noch mit drei Buchstaben KWG, und dies klingt so ähnlich wie AOK, KFZ oder BVG oder XYZ. Manchmal nennt die Kirche dieses Gotteshaus auch noch „Gedächtniskirche“, offenbar allen gewidmet, die mit dem Gedächtnis oder mit dem Gedenken starke Probleme haben…An die unselige enge Verquickung von preußischem Königtum und evangelischer Kirche kann man auch denken, ohne dass diese Kirche im Titel Kaiser Wilhelm führt.

5. Die Neutralisierung des offiziellen Titels „Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“ zu KWG ist Ausdruck der Angst der Kirchenführung und ihrer Charlottenburger KWG-Gemeinde: Sie haben vielleicht Angst vor der bekannten Prozessfreudigkeit des Hauses Hohenzollern („man stiehlt uns unser Gotteshaus“) und Angst vor dem Protest der Springerpresse und ihrer vielen alten, aber kirchengebundenen LeserInnen in Berlin: „Wie kann die Kirchenführung nur diesen ehrwürdigen und sooo beliebten Namen aufgeben wollen?“ Wahrscheinlich hat die Kirchenführung Angst vor Kirchenaustritten wohlhabender Protestanten…

6. Tatsache ist und das belegt auch die neue Studie von Stephan Malinowski: König / Kaiser Wilhelm I. (1861-1888) war ein nationalistischer Kriegsherr, er war ein Förderer des Kolonialismus (Siehe Kongo-Konferenz 1884-85). Dadurch wurde Deutschland zum drittgrößten Kolonialreich der Welt. „Zur Sicherung der wirtschaftlichen Rentabilität der Kolonien wurde auf ein System der Zwangsarbeit zurückgegriffen. Widerstand wurde brutal unterdrückt, wovon neben dem Völkermord an den Herero und Nama auch die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes (1904-1908) in Deutsch -Ostafrika mit geschätzten 300.000 Opfern zeugt“. (Prof. Sebastian Pittl, Tübingen, in „Stimmen der zeit 2020, Seite 908f.).

7. Bei dem Titel Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche denken viele BesucherInnen, nachweislich durch spontane Umfragen, auch an Kaiser Wilhelm II. Tatsache ist ja, dass der Titel dieses Gotteshaus im Rahmen der bekannten protestantischen Verquickung mit dem Kaiserhaus zunächst Kaiser Wilhelm I. meinte…Aber welcher Tourist, welcher Berliner kennt dieses Detail, zumal Kaiser Wilhelm II. diese Kirche unbedingt bauen und einweihen wollte. Man denkt also immer auch an Kaiser Wilhelm II., dann kommt die erschütternde Erkenntnis:  Dieser Kaiser Wilhelm II. war ein Anti-Republikaner und ein Antisemit., auch das zeigt die Studie von Prof. Stephan Malinowski. Ihm geht es nicht nur um die erwiesene Kollaboration der Hohenzollern mit den Nazis, sondern um deren Antirepublikanismus. Der Ex-Kaiser Wilhelm II. ließ bekanntlich den Sekt in Strömen fließen, als er von der Ermordung des demokratischen, auf Frieden hin orientierten Politikers Matthias Erzberger erfuhr.

8. Es wird Zeit also Zeit, dass sich in Berlin eine breite Bewegung der Bürger bildet, um die Abschaffung des Namens Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche durchzusetzen. Und das wird angesichts der bestehenden Mentalitäten nicht einfach… Aber das wäre ein treffender Abschied von der für üblich gehaltenen Unkultur einer Nähe von Kirche und Staat, von Kirche und Hohenzollern, von Kirche und antirepublikanischem, antisemitischem Denken und Handeln.

Weil der Name „Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“ ohnehin obsolet geworden ist durch die offiziell gern verwendeten Kürzel KWG oder Gedächtniskirche, ist nun die Zeit gekommen, diesem Gebäude einen treffenden, einen tatsächlich für ein kirchliches Gebäude eben spirituellen und religiösen Namen zu geben. Die Debatte über den neuen Namen dieses schönen, neu gebauten Gotteshauses sollte also beginnen. Es wäre ein Zeichen von Selbstkritik, wenn sich die Kirchenleitung für die Umbenennung einsetzt. Aber, meine Skepsis bleibt: Entsprechende frühere Beiträge zu diesem Thema wurden kirchlicherseits ignoriert. Man glaubte, es nicht nötig zu haben, überhaupt darauf zu reagieren. Diese Ignoranz ist vorbei, angesichts der nicht mehr zu stoppenden Debatten über das kolonialistische Erbe Deutschlands und der Kirchen in Deutschland.

9. Ein neuer Name für die Kirche am Breitscheidplatz in Berlin (ehem. KWG) wäre ein Akt der Befreiung, ein Eingeständnis schuldhafter Verquickung der Kirche mit einem Regime, das definitiv vorbei ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Erzbischof Heße bleibt im Amt.

Wo das Mittelalter lebt und man(n) mittelalterlich denkt. Ein Hinweis auch zur Sprachphilosophie

Von Christian Modehn

Heutige Philosophie und damit auch Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie befasst sich mit der Analyse der Sprache, also der gesprochenen und geschriebenen Sprache in verschiedenen kulturellen Milieus.

1. Um den LeserInnen einen Eindruck zu vermitteln, wie und wo das mittelalterliche Denken heute noch lebt, dokumentiere ich eine aktuelle offizielle Mitteilung der Apostolischen Nuntiatur in Berlin. Die Apostolische Nuntiatur ist ein frommer Titel für „Botschaft der Vatikan-Stadt“, auch „heiliger Stuhl“ genannt. Man bedenke, dass mit dem mittelalterlichen Titel „Apostolische Nuntiatur“ angedeutet, wenn nicht unterstellt wird: Die ersten Apostel, etwa der Fischer Petrus, wären froh, wenn es zu ihren Ehren weltweit pompöse Papst-Botschaften (Nuntiaturen) gibt… Aber das ist ein anderes Thema.

2. Zum Text selbst: Inhaltlich geht es darum, dass Papst Franziskus jetzt das Rücktrittsangebot des Hamburger Erzbischofs Stefan Heße NICHT angenommen hat. Heße wurden bekanntlich von der Anwaltskanzlei Gercke Wollschläger elf Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Aufklärung von sexueller Gewalt durch Priester im Erzbistum Köln nachgewiesen. Am 18. März 2021 hatte Heße deswegen den Papst gebeten, seinen Rücktritt als Erzbischof von Hamburg anzunehmen. Ein Bischof tritt bekanntlich einfach zurück und verschwindet dann in einer Privatwohnung, sondern er bittet den „Heiligen Vater“ in Rom, dass er ihm die Freiheit des Rücktritts doch bitte bitte lassenmöge.  Bischöfe sind also wie Kinder, die den Papi bitten, darf ich mal auf die Straße gehen… Auch dies ein anderes Thema.

Und dieser angeblich so progressive und aufgeschlossene Papst sagte abermals NEIN, wie schon im Falle von Kardinal Marx in München. Offenbar gibt es so wenige Kleriker, die diesen Job eines Bischofs heute noch ausüben wollen und (meist nicht) können…

3. Zur Lektüre des Textes der Apostolischen Nuntiatur: Der letzte und wichtigste Teil des Schreibens besteht aus einem ultra-langen Satz, eine Sprache, die typisch ist für Bürokratien und Behörden.

Und der daran anschließende Satz schleudert uns in eine mittelalterliche Welt zurück.

Aber lesen Sie selbst den ersten Lang-Satz:

„In Anbetracht der Tatsache, dass der Erzbischof seine in der Vergangenheit begangenen Fehler in Demut anerkannt und sein Amt zur Verfügung gestellt hat, hat der Heilige Vater, nach Abwägung der über die Visitatoren und durch die einbezogenen Dikasterien der Römischen Kurie zu ihm gelangten Bewertungen, entschieden, den Amtsverzicht S.E. Mons. Heßes nicht anzunehmen, sondern ihn zu bitten, seine Sendung als Erzbischof von Hamburg im Geist der Versöhnung und des Dienstes an Gott und den seiner Hirtensorge anvertrauten Gläubigen fortzuführen.“

So „verschwurbelt“ sprechen und schreiben nur Bürokraten.

Inhaltlich gesehen bedenke man weiter: Wenn ein Bischof also mal demütig ist und auch mal Fehler anerkennt, und noch pro forma sein Amt zur Verfügung stellt, dann hat er als möglicher Täter und Vertuscher alle Chancen, seinen exzellenten und gut bezahlten Job fortzuführen. Die Opfer sind selbstverständlich nicht so wichtig. „Grob gesagt bekommen Erzbischöfe etwa 12.000 Euro Grundgehalt im Monat, Auch hier kommen Dienstwohnungen und –wagen dazu, inklusive Chauffeur. Bischöfe, Weihbischöfe und Domkapitulare werden in der Regel auch aus der Staatskasse entlohnt“. (Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/21935-was-verdient-man-eigentlich-als-priester)

4. Und nach diesem Lang-Satz der Absprung ins mittelalterliche Denken durch den Botschafter des Heiligen Stuhls in Berlin, genannt Nuntius: „Dazu erbittet der Heilige Vater Erzbischof Heße und dem Erzbistum Hamburg, auf die Fürbitte der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria und des Heiligen Ansgar, Gottes reichen Segen.” (Quelle: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2021/Mitteilung-Heiliger-Stuhl.pdf)

5. Und ich möchte religionskritisch und sanft zynisch den Hinweis auf dieses unsägliche Geschehen beenden, und dabei noch einmal mit dem mittelalterlichen Aberglauben spielen, der ja wie gesehen in den Köpfen vatikanischer Beamter und Prälaten herumspukt. Denn all diese himmlischen Fürsprachen etc. sind doch, sorry, Aberglauben oder vornehmer Mittalter…

In diesem Sinne schlage ich vor als fromme mittelalterliche Schlußfloskel zum Brief des Nuntius zum Fall  Heße:  „Und wir bitten den Heiligen Geist, die dritte Person der Trinität im Himmel, dass er mit all seiner Kraft die Gehirne von Prälaten und Päpsten zur Vernunft hin bewege. Und dies alles möge geschehen unter der himmlischen Fürsprache des heiligen Franziskus von Assisi, des Namensgebers unseres heiligen Vaters,  und unter dem Beistand des heiligen Josef, des Pflegevaters Jesu, in dessen Gedenken wir dieses Jahr 2021 fromm gestalten und die Josefs-Ehen fördern… und so weiter und so weiter ad aeternum…! ABER: Möge um Himmels willen der so großartige zölibatäre Klerus immer fortbestehen, auch wenn es in bald (seinetwegen) keine katholischen Gläubigen mehr gibt”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Armin Laschets Lügen und sein Opus Dei.

Ein Hinweis auch zur widerwärtigen Rote-Socken Kampagne der CDU im Jahr 2021.  Siehe unten auch den aktuellen, per email versendeten Kommentar von Heribert Prantl über “Stinkstiefeleien im Wahlkampf” (am 19.9.2021 von H. Prantl veröffentlicht)

Von Christian Modehn

1.Der Kanzlerkandidat der UNION Armin Laschet kämpft mit allen Mitteln, auch mit unanständigen, um seinen Wahlsieg. So auf dem CSU-Parteitag am 11.9.2021. Ich zitiere den  Deutschlandfunk: „Laschet hatte in seiner Rede gesagt, in allen Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte hätten die Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite gestanden. Laschet hatte die Warnung vor einer Regierung aus SPD und Grünen in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt. Steuererhöhungen und mehr Bürokratie würden den Wohlstand gefährden, sagte der CDU-Chef in Nürnberg. Dem SPD-Kanzlerkandidaten und Finanzminister Scholz warf Laschet vor, sich eine Hintertür für eine Koalition mit der Linken offenzuhalten“.

2.Führende Vertreter der SPD äußerten sich zu Laschets Polemik, dies berichtet etwa der Deutschlandfunk am 11.9.2021: „Bundesarbeitsminister Heil erklärte, den Beitrag der Sozialdemokratie zum Aufbau des Landes und der Demokratie zu leugnen, sei nicht nur geschichtsvergessen, sondern unanständig und würdelos. SPD-Generalsekretär Klingbeil äußerte sich ähnlich und meinte, die Union unter Laschet gehöre in die Opposition“.

3.Angesichts dieser „unanständigen und würdelosen Äußerungen“ Laschets könnte man erneut reflektieren über die Bedeutung des „C“ für den Vorsitzenden dieser C Partei und die C – Partei insgesamt.  Vom C ist in diesen Parteien nichts mehr übrig geblieben, heißt die bekannte Erkenntnis.

4.Naheliegend ist es, Herrn Laschet an einige theologisch-ethische Auffassungen zum Thema Lüge zu erinnern, die sogar in OPUS-DEI Kreisen verbreitet werden. Das könnte Herrn Lachet interessieren, wo doch seine Familie bekanntermaßen eine familiäre Bindung an das Opus Dei hat. LINK.

5.Die Lügen und das Opus Dei:

Der Wiener Psychiater Dr. Raphael Bonelli hat auf einer Opus-Dei-Veranstaltung im Münchner Opus-Dei-Zentrum „Weidenau“ über die „Lüge als schreckliches Drama“ im Oktober 2010 referiert. Bonelli ist bekanntermaßen eng verbunden mit sehr konservativen katholischen Institutionen, wie kath.net oder der theologischen Hochschule in Heiligenkreuz usw., Bonelli ist Opus Dei Mitglied (Belege dafür unten, Fußnote 1)

6.Die Opus Dei-Website fasst den Vortrag des Opus Dei -Mitgliedes Bonelli zusammen.

Der Inhalt dürfte dem Opus Dei affinen Herrn Laschet und seinen C Wähler vielleicht noch zu denken geben, vielleicht folgen sie den Opus-Dei-Weisungen?

„In den Sitzungen mit seinen Patienten stelle er (Bonelli) immer wieder fest, dass die Unwahrheit wie ein Gift wirke, das alle menschlichen Beziehungen zerstöre. Die Lügner würden in der Regel höchstens ein wenig Schwindelei zugeben und überdies für sich in Anspruch nehmen, damit ihren Mitmenschen nur Unbehagen ersparen zu wollen. Wörtlich sagte Bonelli: „Der Lügner lügt aber nicht aus Nächstenliebe. Sein Problem ist vielmehr die Feigheit vor kleinen Schwierigkeiten. Es geht ihm um eine momentane Unlustvermeidung. Was morgen kommt, ist ihm egal“, beschrieb der Referent einen Prozess, der in einen Gewöhnungseffekt des allmählichen Wegschauens einmünde. Je tiefer der notorische Lügner in seinen Unwahrheiten versinke, desto weniger sei er sich dessen bewusst. Daher lautet Bonellis dringende Empfehlung: „Ich darf niemals etwas sagen, was nicht stimmt“. Und dann berief sich  Bonelli auf die „kluge“ Opus-DEI-Praxis: „Das heißt aber auch, dass ich nicht immer die volle Wahrheit sagen muss.“ (Quelle: https://opusdei.org/de-de/article/die-luge-ist-ein-schreckliches-drama/)

Fußnote 1 zur Opus Dei-Mitgliedschaft von BonellI:: https://www.falter.at/zeitung/20070912/raphael-bonelli/1836150010;; https://www.biologie-seite.de/Biologie/Raphael_M._Bonelli; https://www.aargauerzeitung.ch/verschiedenes/bischof-huonder-holt-mitglied-von-opus-dei-als-referenten-ld.1617745

Copyright: Christian Modehn. Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der aktuelle Kommentar von Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 19.9.2021

 

 

STINKSTIELEIEN IM WAHLKAMPF:
Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das in der kommenden Woche wichtig ist – und manchmal auch darüber hinaus am 19.9.2021

 

In den letzten wilden Wahlkampftagen kam mir der alte Spruch vom Zeigefinger in den Sinn. Er stammt von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten, der ein unbequemer Demokrat war, ein nachdenklicher Jurist und ein engagierter Christ. Heinemann hat 1968, es war in einer Zeit heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen und er war noch Justizminister im Kabinett von Willy Brandt, an eine anatomisch-moralische Tatsache erinnert: “Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.”

In diesen letzten Wahlkampftagen gilt dies für Armin Laschet und seine Parteifreunde. Der CDU-Kanzlerkandidat versucht, unter Hinweis auf staatsanwaltschaftliche Durchsuchungen im Bundesfinanzministerium seinem Konkurrenten Olaf Scholz einen Skandal anzuhängen – irgendwas mit Geldwäsche. Ja, es gibt einen Skandal, aber dieser Skandal ist kein Scholz-Skandal, sondern ein Justizskandal. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück hat ihre Ermittlungen gegen die Geldwäsche-Zentralstelle des Zolls in Köln so in Szene gesetzt: Sie hat einen von ihr erwirkten richterlichen Durchsuchungsbeschluss so unsauber und verfälscht in die Öffentlichkeit getragen, dass der Eindruck entstehen musste, es würde gegen Scholz ermittelt. Und damit nicht genug: Als Scholzens Staatssekretär Wolfgang Schmidt diesen Eindruck zu korrigieren versuchte, indem er das einschlägige richterliche Dokument auf Twitter präsentierte, wurde er von der Staatsanwaltschaft Osnabrück deswegen mit einem weiteren strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen ihn persönlich traktiert.

Chefermittler und CDU-Funktionär

Sind das nur merkwürdige Zufälle? Oder sind das Aktionen, um dem SPD-Kanzlerkandidaten bewusst zu schaden oder eine solche Schädigung zumindest billigend in Kauf zu nehmen? Der Chef der Osnabrücker Ermittler, also der Betreiber dieser Aktionen heißt Bernard Südbeck. Er ist nicht nur Leitender Oberstaatsanwalt, sondern auch CDU-Mitglied und CDU-Funktionär, nämlich Chef der CDU in Cloppenburg. Ist der ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Egal, welcher Partei Staatsanwälte angehören, sie haben unvoreingenommen zu ermitteln und dabei verhältnismäßig vorzugehen. Daran darf man im vorliegenden Fall zweifeln.

Wie man mit Presseerklärungen Geschichte schreibt

Historisch interessierte Menschen wissen, dass man durch missverständliche, dass man durch Presseerklärungen, die die Tatsachen verfälschen, nicht nur einen Wahlkampf beeinflussen, sondern sogar einen Krieg auslösen kann. Bismarck hat 1870 ein Telegramm des preußischen Königs Wilhelm I., der im Kurort Bad Ems weilte, so schroff als Pressemitteilung umformuliert, verkürzt und dann verbreiten lassen, dass aus einer eher harmlosen diplomatischen Auseinandersetzung mit Frankreich eine giftige Provokation wurde. Napoleon III. sah in dieser Provokation, wie von Bismarck gewollt, den Grund für seine Kriegserklärung an Preußen. So begann mit der “Emser Depesche” der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Eine solche Bedeutung hat nun der deutsche Wahlkampf von 2021 ganz gewiss nicht und die Presseerklärung der Staatsanwaltschaft Osnabrück ist keine Emser Depesche im Miniformat. Aber eine Stinkstiefelei ist die ganze Sache schon. Sie sollte wohl auch die Erinnerung an alte Skandale wachrufen, in denen Scholz nicht besonders gut aussah. Mit bloßem Verfolgungseifer ist das nicht zu erklären. Aber mit solchem Verfolgungseifer ist Staatsanwalt Südbeck schon einmal aufgefallen, als er – wie die SZ es am 15. Mai 2009 -beschrieb (“Jagdszenen aus Oldenburg“), seine Kompetenzen überschritt, um an einer anonymen Strafanzeige mitzuwirken.

Das Recht dient nicht dem Wahlkampf

Nicht nur Heinemanns Satz vom Zeigefinger kam mir in diesen Laschet/Scholz/Baerbock-Tagen in Sinn, sondern auch ein berühmter juristischer Vortrag: Rudolf von Jhering, ein hochgelehrter Starjurist des 19. Jahrhunderts, hat ihn vor fast 150 Jahren gehalten, im Jahr 1872. Der Vortrag trug den Titel: “Der Kampf ums Recht”. Das gedruckte Manuskript wurde eines der erfolgreichsten juristischen Bücher, die in Deutschland je erschienen sind – es gab zwölf Auflagen in zwei Jahren; das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt. In diesem Buch findet sich der markige Satz: “Das Leben des Rechts ist ein Kampf”; der Kampf ums Recht sei “ein Akt der ethischen Selbsterhaltung”. So ein Paragraphen-Militarismus ist heute nicht mehr ganz so angesagt wie damals. Gleichwohl: Sollte der Leiter der Osnabrücker Staatsanwaltschaft das Buch gelesen und goutiert haben, dann hat er es missverstanden. Da steht: “Das Recht ist ein Kampf”. Da steht nicht: “Das Recht ist ein Wahlkampf”, da steht auch nicht “Das Recht dient dem Wahlkampf”. Seit meinem Newsletter vom vergangenen Sonntag sind einige einschlägige Merkwürdigkeiten hinzugekommen, die den Verdacht des Rechtsmissbrauchs nähren.

Schauen wir uns die Sache näher an: Die für Geldwäsche zuständige Behörde heißt FIU (Financial Intelligence Unit), sie sitzt in Köln und steht seit längerer Zeit im Verdacht, Hinweise von Banken oder Notaren auf Geldwäsche nicht an Polizei und Staatsanwaltschaft weitergeleitet zu haben. Die FIU gehörte ursprünglich zum BKA; der Vorgänger von Scholz als Finanzminister, Wolfgang Schäuble, hat die Geldwäsche-Zentralstelle dann dem Zoll zugeschlagen; lege artis war das nicht. Nicht nur Banken und Notare, auch die Compliance-Abteilungen großer Konzerne wunderten sich immer wieder, dass ihre Anzeigen bei der FIU im Sande verliefen. Insofern war und ist es zunächst einmal begrüßenswert, dass die Staatsanwaltschaft Osnabrück seit 2020 in Fällen ermittelt, in denen es konkrete Hinweise gibt, dass die FIU dem Verdacht der Geldwäsche nicht nachgegangen ist.

Verwunderliches, Merkwürdiges, Suspektes

Ein wenig verwunderlich war freilich, dass die Staatsanwaltschaft sich Korrespondenzen zwischen der FIU und dem Finanz- sowie dem Justizministerium von den beiden Ministerien nicht einfach hat vorlegen lassen. Vielleicht haben die Ermittler befürchtet, dass die Ministerien von sich aus nicht alles offenlegen. Angesichts der schon länger dauernden Ermittlungen ist aber bemerkenswert, dass die Staatsanwaltschaft einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss erst so spät, nämlich am 10. August, also in der heißen Wahlkampfphase, erwirkt und dann, in der heißesten Phase, zwei Wochen vor der Bundestagswahl vollstrecken lässt. Diese Vorgehensweise hatte zwar ein Gschmäckle, ließ sich jedoch damit begründen, dass die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde nicht auf Wahlkämpfe Rücksicht nehmen muss – ja möglicherweise dazu beiträgt, dass neue, gewichtige Fakten auf den Tisch kommen, die den Wählern bei ihrer Beurteilung der Kandidaten nicht vorenthalten werden sollten.

Spätestens von da an wird es aber suspekt: Die Staatsanwaltschaft teilt in ihrer Presseerklärung etwas Anderes über den von ihr erwirkten richterlichen Durchsuchungsbeschluss mit, als es dieser Durchsuchungsbeschluss vorsieht und erlaubt: Die Presseerklärung spricht nämlich von Ermittlungen auch in Richtung der Leitung der Ministerien, also potentiell gegen Finanzminister Scholz. Der richterliche Beschluss erlaubt aber lediglich die Suche nach Korrespondenzen zwischen Mitarbeitern der FIU und solchen des Finanzministeriums. Dieser Unterschied war und ist gravierend. Mit diesen von der Staatsanwaltschaft falsch dargestellten Fakten geriet Scholz in die politische Schusslinie.

Und nun kommen wir vom Suspekten zum Anrüchigen: Finanzstaatssekretär Schmidt, ein sehr enger Vertrauter von Scholz, der durch Veröffentlichung von Auszügen beider Dokumente (also Presseerklärung und Durchsuchungsbeschluss) auf diese Ungereimtheit hinweist, wird deswegen von der Staatsanwaltschaft Osnabrück mit einem Ermittlungsverfahren wegen der angeblichen Begehung einer Straftat nach Paragraf 353 d Strafgesetzbuch überzogen. Nach diesem Paragraf 353 d StGB wird mit Geldstrafe oder Haft bis zu einem Jahr bestraft, wer amtliche Dokumente eines Strafverfahrens in wesentlichen Teilen öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Gerichtsverhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Mit dieser Strafnorm soll der Beschuldigte vor Vorverurteilungen bewahrt und die Laienrichter, die im Strafverfahren keine Einsicht in die Strafakten erhalten, sollen in ihrer Unvoreingenommenheit geschützt werden. Auch wenn die Strafnorm, weil pressefeindlich, umstritten ist, hat sie das Bundesverfassungsgericht bisher in seinen Entscheidungen für verfassungsgemäß erklärt. So weit, so gut.

Ein böser Witz

Aber wer ist hier als Erster an die Öffentlichkeit getreten? Es war die Staatsanwaltschaft mit einer Presseerklärung, in der sie den Durchsuchungsbeschluss unrichtig wiedergegeben hat! Mit dieser Unrichtigkeit hat sie die Voreingenommenheit der Öffentlichkeit selbst präpariert – und der Staatssekretär hat mit seiner Veröffentlichung des Durchsuchungsbeschlusses dazu beigetragen, die Unvoreingenommenheit wieder herzustellen. Das ist nicht strafbar, das wird vom Schutzzweck der Strafnorm nicht erfasst. Das Ermittlungsverfahren ist daher rechtsmissbräuchlich. Es bleibt auch rechtsmissbräuchlich, wenn die Staatsanwaltschaft Osnabrück es nun an die Staatsanwaltschaft in Berlin abgegeben hat. Es ist auf dem Mist des Osnabrücker Staatsanwaltschaft gewachsen. Mit solchen Rechtsmissbräuchlichkeiten sollte sich Armin Laschet nicht munitionieren.

Laschet muss auf seinen Zeigefinger achten. Die drei Finger, die auf ihn selbst zeigen, weisen ihn darauf hin, dass sein Parteifreund erstens eine verfälschte Presseerklärung in die Welt gesetzt hat, zweitens denjenigen, der das aufklärt, mit Strafverfolgung überzieht, und drittens dabei jede Verhältnismäßigkeit vermissen lässt. Das Recht mag ein Kampf sein. Ein Wahlkampf ist es nicht.

Ich wünsche Ihnen eine gute letzte Wahlkampfwoche – und die Kraft der Erkenntnis, die man beim Wählen braucht.

Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung