Die Pariser Commune – vor 150 Jahren, lebendig, dann ermordet.

Zwei Beiträge von Christian Modehn über “Die Pariser Commune und die katholische Kirche”

1. Die Pariser Commune 1871 als Experiment der Republik unter reaktionären Bedingungen.
Dieser Beitrag erschien auch in einer – von der Redaktion veränderten Form – in der Zeitschrift PUBLIK – FORUM (12.3.2021).
Dieser Artikel von Christian Modehn hier ist besonders wichtig, weil er auch auf die Beziehungen der Communarden zur katholischen Kirche hinweist. Dieser Zusammenhang wurde bislang eher selten dokumentiert.

2. Ein anderer Beitrag bietet ergänzende Details, um zu weiteren Studien zu ermuntern. CM.

1.
Die Feindschaft der „zwei Frankreich“
Über die Pariser Commune

Von Christian Modehn
Die Pariser Commune konnte nur 72 Tage überleben, von Mitte März bis Ende Mai 1871: Die Communarden hatten eigenmächtig ein demokratisches und soziales Gemeinwesen aufgebaut. Es war ein Aufstand der Handwerker, Arbeiter und Intellektuellen, unerträglich für die reaktionären, monarchistischen Führer der jungen „Dritten Republik“. Ihre „heilige Ordnung“ wollen sie mit einem Bürgerkrieg retten, darin unterstützt vom katholischen Klerus und den „anständigen Bürgern“. Die Communarden waren zwar „linke“ Demokraten und antiklerikal, aber doch auch getaufte Katholiken. Sie wurden von ihren eigenen „Glaubensgenossen“ zu tausenden abgeschlachtet. Ein Trauma, das bis heute wirkt.
Paris – „die“ Metropole Europas voller Glanz und Gloria, der Stolz Kaiser Napoléons des Dritten. Er lässt Baron Haussmann riesige Boulevards mit „Sichtachsen“ errichten, sie sollen bei Aufständen dem Militär den schnellen Zugriff erlauben. Arme, Handwerker und Arbeite sind für das Regime eine Bedrohung.

Im Juli 1870 erklärt Napoleon III., im Wahn des Nationalismus befangen, Preußen den Krieg. Das Gemetzel endet für Frankreich schnell mit einer Niederlage, der Kaiser kapituliert. Die „Dritte Republik“ startet offiziell am 13.2.1871 mit der Wahl zur Nationalversammlung. Die Monarchisten und die Getreuen von Papst Pius IX. erreichen die absolute Mehrheit. Wenige Tage später wird der „Vorfrieden“ mit Bismarck unterzeichnet.
Die Bürger von Paris erleben, dass ihre Stadt immer noch von deutschen Truppen umzingelt ist. Das stärkt ihre Entschlossenheit, aus eigener Kraft eine selbstverwaltete republikanische Stadt aufzubauen. Ein unerträglicher Gedanke für Regierungschef Adolphe Thiers. Nach der Niederlage gegen Preußen will nun er endlich einen Sieg vorweisen, im Kampf gegen die eigenen Landsleute in Paris. Aber die verfügen über eine Nationalgarde mit 300.000 Mann, und sie besitzen noch die Waffen, bestimmt für den Krieg gegen die Deutschen.
Am 17. März 1871 wollen Regierungstruppen Paris entwaffnen. Aber die Soldaten verweigern den Befehl, auf die Bürger zu schießen. Empört über den Bürgerkrieg nehmen die Pariser zwei Generäle fest, sie werden erschossen. Nun kann die Regierung, das „Morden und Töten der Commune“ groß herauszustellen. Bis zum 21.Mai 1871 aber wird „von Seiten der Communarden kaum Blut vergossen“ (Johannes Willms).

Die Regierung mit ihren Truppen flieht am 18. März 1871 nach Versailles. Und sofort beginnen die Pariser Bürger mit dem Aufbau ihrer „direkten Demokratie“. In ihrer demokratisch gewählten Selbstverwaltung sind 92 Abgeordnete unterschiedlicher politischer Optionen vertreten, vor allem Sozialisten verschiedener Orientierung, auch liberale Bürgerliche sowie einige Anarchisten sind dabei. Sie alle wollen eine Republik, die den Namen verdient: Die Stadtverwaltung fördert die Gewerkschaften; das öffentliche, kostenfreie Schulwesen – auch für Mädchen – wird ausgebaut; Künstler schaffen ihre eigenen Vereine, sie unterstützen die Commune. Frauen haben das Recht, als politische Akteure selbständig zu handeln. Sie gehören zu den Mutigsten, wie die Lehrerin Louise Michel in ihren Erinnerungen betont.
Die Commune lebt von der Begeisterung der Bürger in den neu gegründeten Debattierclubs. Man trifft sich in mehr als 20 (von insgesamt 67) katholischen Kirchen: Dort wird eine „Umwidmung“ durchgesetzt: „Gotteshäuser sind auch Menschenhäuser“. Und dafür gibt es unterschiedliche Modelle: Manche dieser „Club-Kirchen“ sind wie üblich tagsüber für Gottesdienste geöffnet, am Abend treffen sich die „Clubs“. Dann wird der Altar beiseite geräumt und nach der Debatte mit Brot, Wein und Tabak mit Hunderten gefeiert. In anderen Kirchen wird der Klerus vertrieben, Messgewänder für ein frivoles Spektakel gebraucht. Der antiklerikale Geist ist seit der Französischen Revolution (1789) unter „einfachen Leuten“ noch immer bestimmend. Die Commune ist überzeugt: Der Katholizismus, „die Religion der allermeisten Franzosen“, darf nicht länger die staatlich privilegierte Konfession bleiben. Die Trennung von Kirche und Staat ist das erste Dekret der Commune: Der Klerus soll nicht länger vom Staat gut bezahlt werden. Und die Ordensleute dürfen nicht länger das Schulwesen bestimmen und den Lehrstoff nach kirchlicher Weisung gestalten. Trotzdem: In den meisten Kirchen geht das übliche Leben weiter.

Es gibt jedoch nur sehr wenige Priester, die auch nur die geringsten Sympathien für die Commune haben: Abbé Jean-Hippolythe Michon betont: „Die Arbeiter haben die Sehnsucht, dass die Leiden des Proletariates gelindert werden. Die Arbeiterklasse will endlich ihre Emanzipation, es geht um das schreckliche Problem des nicht gelösten Ausgleichs von Kapital und Arbeit“. Der Kirchenhistoriker Pierre Pierrard fasst zusammen: „Im Ganzen war die Kirche 1871 contra-revolutionär aus Überzeugung. Die Commune deutete sie als einen Aufstand, der von der Hölle und dem Teufel angestoßen wurde“. Zahllose Pamphlete und Artikel dokumentieren den abgründigen Hass des Klerus auf die Demokraten. Abbé Vidieu schreibt: „Die Leute der Commune sind undurchsichtige Schurken, ehrgeizige Proleten, sie beleidigen Gott, zerstören die Kirche“. Die Priester und ihre Bischöfe sind fixiert auf Weisungen Papst Pius IX.: Er hat 1864 in seiner Erklärung, dem „Syllabus“, Menschenrechte, Republik und Religionsfreiheit heftigst verurteilt. Weil er sich seit 1870 unfehlbar nennt, muss er wohl recht haben…

Am 21. Mai beginnt die katholische monarchistische Regierung, ihren finalen Rachefeldzug. Es ist die „Blutwoche“, ein unvorstellbares Inferno mitten im „christlichen“ Europa. Wahllos erschießen die Regierungstruppen Communarden auf offener Straße. Die völlig enthemmten Soldaten wurden gerade aus Kriegsgefangenen-Lagern Preußens entlassen: Bismarck hatte sie „freigegeben“, damit viele Sozialisten vernichtet werden. In Pariser Kasernen finden Massen-Hinrichtungen statt: „Bald floss von der Kaserne Lobau das Blut in zwei Bächen Richtung Seine, deren Wasser lange rot bliebt“, schreibt Louise Michel.

Und die Communarden? Sie kämpfen verzweifelt auf den Barrikaden. Und: Sie töten den Pariser Erzbischof Georges Darboy. Ihn hatten die Bürger festgenommen, als Geisel sollte er gegen einen ihrer gefangenen politischen Führer, Auguste Blanqui, ausgetauscht werden. Aber der Regierungschef lehnt ab: „Ein toter Erzbischof ist für uns propagandistisch wertvoller als ein lebender“. Erzbischof Darboy wird mit 6 anderen Klerikern erschossen.
Der verzweifelte Kampf der Commune auf den Barrikaden endet auf dem Friedhof Père Lachaise. Bis zum Juni geht diese „Orgie des Klassenhasses“ (Johannes Willms) weiter: Erst der Gestank der Leichenberge sorgt für ein Ende. Es wurden, so schätzen Historikern übereinstimmend, etwa 30.000 Communarden hingerichtet. Und die Communarden? Sie haben 1.300 Soldaten im Kampf erschossen.

Die katholische Kirche hat keinen Versuch gemacht, Frieden zu stiften. Anders die damals bedeutenden Freimaurer: In Paris unterstützen sie die Commune, während in Versailles Logenbrüder“ der Regierung nahestehen. Trotzdem suchen die Logenbrüder das Gespräch mit der Regierung und erreichten einen Waffenstillstand, um Menschen im Ort Neuilly zu evakuieren.
Die Kirche unterstützte auch nach der Auslöschung der Commune die antirepublikanischen und zunehmend auch antisemitischen Kräfte. Die reationäre Regierung setzte sich für den Bau der Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre ein, als „Sühne für die Verbrechen der Commune“. Vom Massenmord an den Pariser Bürgern sprach niemand. Später wird sogar eine Kirche „Unsere liebe Frau der Geiseln“ gebaut.
In der marxistischen Geschichtsphilosophie wird die Commune als eine wichtige Etappe der „Revolution“ gewürdigt. Aber mit dem Bolschewismus hat sie nichts gemeinsam.
Die katholische Kirche hat die Commune nur als Unglück gedeutet. 1905 setzten die Republikaner die Trennung von Kirche und Staat durch. Die Kirche versucht zwar die Arbeiter zu gewinnen, richtet Vereine ein oder fördert das caritative Engagement der Laien, etwa in Suppenküchen. Die tiefe Kluft zu den Linken und Republikanern wird so nicht überwunden. Einige katholische Intellektuelle verteidigten die Republik, und sie wurden von 1930 -1970 öffentlich beachtet, aber sie haben kaum Nachfolger gefunden.
Erst nach 1945 begann die katholische Kirche, sich langsam mit der Republik zu versöhnen. Aber Demokratie, Aufklärung, Selbstbestimmung sind der Kirche immer noch suspekt. Heute nennen sich nur noch 35 % der Franzosen katholisch. Vor 75 Jahren z.B. waren es noch 90 Prozent.

Zum Thema “Pariser Commune und Katholische Kirche”: Pierre Pierrard, L église de France face aux crises révolutionnaires (1789 – 1871), Le Chalet, 1974. ders.,”l Eglise et la Révolution”, ed. Nouvelle Cité, 1988, dort die Seiten 213 – 246.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
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2.
Die Pariser Commune – damals und heute: Hinweise, um weiter zu studieren.Von Christian Modehn

1.
Die Pariser Commune ist kein „Ereignis unter vielen“. Sie ist ein Einschnitt in der politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Geschichte nicht nur Frankreichs. Dieser kurze Aufstand der Republikaner gegen die Herrschaft der Reaktionäre der 3. Republik wird nie vergessen werden: Denn es waren die Herrschenden, Bürger, die sich brav nannten und katholisch waren und die rebellischen, „linken“ republikanischen Mitbürgern in Paris abschlachteten. Dies ist ein Trauma, das bis heute Frankreich ideologisch – politisch spaltet.
Und die katholische Kirche? Sie stand auf Seiten der Schlächter. Die Katholiken fühlten sich ideologisch – theologisch unterstützt von Papst Pius IX., der ganz offiziell von seinem Thron herab Menschenrechte als Verirrung und Sünde titulierte. Und dieser Stellvertreter Jesu Christi wurde auch noch im Jahr 2000 (!) „selig gesprochen“. Eine Tat Papst Johannes Paul II.

2.Zur allgemeinen politischen Situation:
Es gab Versuche, auch in anderen Städten „Communen“ der Selbstverwaltung der Bürger aufzubauen. Etwa in Lyon, vom 22.3 bis 25. 3. 1871, danach auch in Marseille, Narbonne, Saint Etienne und Toulouse. Sogar in Limoges gab es den Versuch, eine Commune zu errichten.
In Paris war die Gründung einer Commune deswegen sehr wichtig, weil die Bürger endlich eine eigene, selbstgewählte Stadtverwaltung haben wollten. Diese wurde ihnen vom zentralistischen Regime verwehrt.

3. Zur politischen Situation nach der blutigen Zerschlagung der Pariser Commune:
Bis 1876 wurden noch Mitglieder der Pariser Commune von der 1871 von der mordenden Regierung verurteilt. Erst 1880 wurde eine Amnestie für die Verurteilten und Verbannten ausgesprochen. Auch die bekannte Aktivistin und Autorin Louise Michel kehrte aus der Verbannung zurück und wurde von Georges Benjamin Clemenceau (zur Zeit der Commune war er Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements) empfangen.
Bei den Wahlen 1876 erlangten dann die Republikaner die Mehrheit in der Assemblée Nationale. Danach gab es Entscheidungen zugunsten der Republik und entsprechend zu Ungunsten der katholischen Kirche.
1880 wurden die ersten Gedenkfeiern an die Pariser Commune gestaltet.
Und am 14. Juli 1880 wurde wieder der – unter der reaktionären Regierung verbotene – Nationalfeiertag gefeiert, in Erinnerung an den Beginn der Revolution 1789.
Mit der Niederschlagung der Commune wurden die Arbeiter in Paris – aufgrund der radikalen Umgestaltungen der Wohnverhältnisse durch Haussmann – in die Vororte von Paris vertrieben (Banlieue). (siehe: Johannes Willms, „Paris, Hauptstadt Europas“, München, 1988, S. 451). Diese Vertreibung der Arbeiter, der einfachen Leute, der „Ausländer“, aus Paris, hat wohl bisher wohl kein Ende gefunden, die Gentrifizierung ist total: Paris gehört den Reichen.

4. Die „Belle Epoque“: Oder wie die (reichen) Bürger die Commune vergessen:
Die Ausführungen von Johannes Willms sind sehr aufschlussreich: Nach der Zerschlagung der Pariser Commune ist Paris nach außen hin wieder die glanzvolle Metropole, die Welt der Café – Concerts und der Music-Halls; das Paris, in dem „nicht immer (!) schamlos gesungen, getanzt und geschauspielert wurde“ (S.452). Paris, als „das Paradies der Libertinage“ (ebd.). An das Gemetzel und die Ströme von Blut auf den Straßen im Mai 1871 dachten die oberen Schichten und die vielen neugierigen Touristen, vor allem aus England, nicht mehr. Drei Weltausstellungen fanden in der so genannten „Belle Epoque“ in Pais statt. Walter Benjamin sprach in dem Zusammenhang von den „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ (Passagen-Werk). Maupassants Roman „Bel ami“ ist das erhellende literarische Zeugnis für dieses Paris. „Es wurde von einer geldgierigen und machthungrigen Gesellschaft beherrscht“ (Johannes Willms, S. 457). Wenige Jahre nach dem Versuch, eine demokratische Commune zu errichten, herrschte also in Paris „das trügerische Versprechen käuflicher Freiheit von den alltäglichen Zwängen der Moderne“ (S 457)

5. Zur Situation der Katholiken bzw. der katholischen Kirche vor der Commune:
Der Katholizismus war seit dem Konkordat von 1801 die anerkannte und „wichtigste Religion der Franzosen“, der tatsächlich weit mehr als 90 Prozent der Einwohner durch Taufe angehörten. Unter Napoléon III. gab es zwar Spannungen mit der französischen Kirche wegen dessen sehr unterschiedlichen Eintretens für den Kirchenstaat. Das berühmte Gesetz „Loi Falloux“ brachte 1850 der Kirche aber viel finanzielle Unterstützung für die katholischen Schulen. Insgesamt war der offizielle, sich nach außen so furchtbar gläubig zeigende Katholizismus unter Napoléon III. sehr bürgerlich, sehr monarchistisch und sehr antirepublikanisch. Die Kirche blühte auf, die Klöster füllten sich mit neuen Mitgliedern, die Marienverehrung war kaum zu bremsen, zumal Maria in Lourdes (im Jahr 1858) angeblich „höchstpersönlich“ dem Mädchen Bernadette Soubirous als Wunder erschienen war.
Auch schon in den Jahren vor der Pariser Commune gab es keinen Raum für ein freies theologisches Denken. Das wird am Schicksal etwa der Theologe Lamennais, Lacordaire oder des Schriftstellers Montalambert deutlich. Ihr Bemühen, Katholizismus und individuelle Freiheit, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit endlichzu verbinden, wurde von Papst Pius IX. verboten. Katholizismus und geistige Tyrannei – dieser Gesamteindruck herrschte im Volk, auch in Paris vor, bei einem republikanischen Volk, das nicht länger an Wunder und päpstliche Unfehlbarkeit (1870) glauben wollte.

6. Der Gebrauch der Pariser Kirchengebäude während der Commune:
Es muss genau beachtet werden, in welcher Vielfalt die in sich politisch auch vielfältige Pariser Commune mit der Nutzung der Kirchengebäude umging. So hatte die Commune den Beschluss gefasst, die berühmte „Sühnekapelle zum ehrenden Gedenken an König Ludwig XVI. und Marie Antoinette“ (im 8. Arrondissement) abzureißen. Diese Kapelle sollte vor Gott Abbitte leisten für die Untaten des Volkes, also die Tötung des Königspaares während der Revolution. Aber die „Sühnekapelle“ rührten die Communarden nicht an. Nur ein Kirchengebäude wurde zerstört: Notre Dame de Bercy. Die Kirche St. Pierre de Montmarte wurde geschlossen und im großen Kirchenschiff wurde ein Schneiderwerkstatt eingerichtet, zur Produktion von Uniformen der Pariser Nationalgarde. Sehr beliebt war die Kirche St. Ambroise im 11. Arrondissement, dort gaben die Debattierclubs sogar eine eigene Zeitung heraus.
Diese Clubs in den Kirchengebäuden spielten für die Commune eine wichtige Rolle: Es ging um die „Befreiung des Wortes“ auch bei denen, die bisher ihre Meinung eher selten frei äußern konnten.

7. Die Entwicklung des katholischen Glaubens nach der Commune:
Der Glaube, nach außen hin jedenfalls, blühte auf. Die royalistischen und reaktionäre Politiker unternahmen als fromme Katholiken Wallfahrten nach Chartres. Die riesige Kirche Sacre Coeur de Montmartre wurde von höchster politischer Seite gefördert: Dort, wo die Rebellion der Pariser Commune begann, sollte eine monströs wirkende Kirche, hoch oben auf Paris herabblickend, Sühne leisten für die Verbrechen der Communarden. Diese Verbrechen waren zwar auch schlimm, aber als Widerstand gegen den Aggressor, zahlenmäßig betrachtet, her unbedeutend gegenüber den viel umfassenderen Verbrechen und Morden der katholischen Regierung.
Als die Republikaner die Mehrheit im Parlament hatten, wurde die Macht und der Einfluss der katholischen Kirche – wie zur berechtigen Strafe, möchte man sagen – immer mehr eingeschränkt, bis hin zum Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat im Jahr 1905. Dieses Gesetz der „laicité“ des Staates bestimmt bis heute die Debatten der Politik. Der Antisemitismus gehörte zu der Zeit förmlich zum Glaubensbekenntnis der Katholiken, in der schrecklichen Dreyfus – Affäre war die katholische Presse (aus dem Verlagshaus der französischen Augustiner „La Bonne Presse“, sic) führend in der unverschämten Polemik. Dann war in den zwanziger Jahren die ebenfalls antisemitische katholisch sich gebende „Action Francaise“ einflussreich; Marschall Pétain wurde als guter Katholik verehrt, später gründete dann Erzbischof Marcel Lefèbvre seine traditionalistische Priesterbruderschaft, tatsächlich eine eigene Kirche am Rande des römischen Katholizismus. Sie ist in Frankreich bis heute sehr bedeutend und hat Neugründungen, die so tun, als wären sie auf der Linie des Papstes, wie das „Institut du Bon Pasteur“, de facto aber sind diese Kreise (auch das Kloster le Barroux bei Avignon) so reaktionär wie schon seit 1920. Aber mit diesen reaktionären Kreisen wollte sich schon Papst Benedikt XVI. unbedingt versöhnen, d.h. diese Leute in der römischen Kirche integrieren, auch von Papst Franziskus werden ähnliche Ambitionen berichtet. Es geht dabei um eins: Die römische Kirche braucht die vielen jungen Priester, die tatsächlich in diesen eher fundamentalistischen Kreisen ihre „göttliche Berufung“ finden, wie man so sagt.

8. Über einen „linken Katholizismus“ in Frankreich
Eine „ferne“ Wirkung des Geistes der Pariser Commune ist bei den Arbeiterpriestern lebendig. Es gab bekanntlich ab ca. 1950 Arbeiterpriester in den Fabriken, die dann Mitglieder der Gewerkschaft CGT (und bewusst nicht der christlichen Gewerkschaft CFTC) wurden, diese CGT war kommunistisch orientiert. Sie wurde 1895 von Aktivisten gegründet, die dem Geist der Commune nahestanden, sie wurden „Liberatier“ genannt (vgl. den Aufsatz von Alain Dalotel, Die Pariser Commune 1891: https://transversal.at/transversal/0805/dalotel/de)

Nach einem anfänglichen Misstrauen der CGT gegenüber den Priestern in der Fabrik entwickelte sich bald ein Vertrauensverhältnis. „Die Arbeiterpriester mussten, um militante Gewerkschaftler zu sein, Partei ergreifen, sie mussten die übliche Neutralität des Priesteramtes verlassen, es bildete sich – etwa bei dem Arbeiterpriester Henri Barreau, eine vitale Synthese von christlichem Bewusstsein und Klassenkampf.“
( zit in: https://books.openedition.org/pur/18915?lang=de, ein Artikel von Nathalie Vier-Depaule).
Ein Arbeiterpriester wird in dem Aufsatz zitiert, er lässt förmlich den Geist der Commune noch einmal ahnen:“ Für uns Priester geht es nicht darum zu evangelisieren im Sinne des Indoktrinierens. Sondern es geht um die aktive Zusammenarbeit mit den Kollegen, die sich um die ihre Befreiung bemühen… Durch unsere Gegenwart in der Fabrik wie in der Gewerkschaft CGT heben wir eine schreckliche Last auf, die des Schweigens, des Unverständnisses und der Feindschaft der Kirche gegenüber den Taten der Arbeiter.“ 1954 hat dann Papst Pius XII. in seiner panischen Angst vor den Kommunisten das Experiment der Arbeiterpriester verboten. Das war eine Katastrophe für den Versuch, einen pluralen Katholizismus zu leben, der auch solidarisch verbunden mit den Arbeitern ist. Alle Versuche, „die“ Arbeiter wieder in eine Nähe zur Kirche zu bringen, sind seitdem gescheitert. Die Kirche ist die Kirche der biederen, wohlhabenden mindestens der „honnetes gens“ bis heute: Wer noch Priester wird, kommt in Frankreich aus diesen Kreisen (aus Versailles oder den wohlhabenden Arrondissements von Paris oder aus Neuilly etc) .

9.
Wirkungen der Pariser Commune in der Theologie des Katholizismus heute:
In der frühen Geschichte der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, also Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, wurde diskutiert: Mit welchen politischen Aktionen können sich die Menschen und die christlichen Gemeinden aus der Dependenz, also der Abhängigkeit vom Imperialismus und den USA, befreien. Die einen gaben die „klassische“ Antwort: Dies kann mit Hilfe der sozialistischen und kommunistischen Parteien geschehen. Andere bezogen sich auf die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte, und sie sahen darin eine Inspiration in der Selbstverwaltung der Pariser Commune. Der Historiker Agustín d Acunto (Buenos Aires, Argentinien) berichtet im Jahr 2012 in der Zeitschrift „Virajes§ über die entsprechenden Forschungen von Miguel Mazzeo zum Thema: (http://vip.ucaldas.edu.co/virajes/downloads/Virajes14(2)_4.pdf)
Dies ist eine der wenigen Studien über eine Wirkungsgeschichte der Pariser Commune in katholischer Theologie und Praxis.
Das bedeutet: Die Pariser Commune hat wegen der maßlosen Hetze der katholischen Konservativen, der Anti-Republikaner, einen ganz üblen Ruf in der Kirche behalten. Manchmal mag der Geist der Commune noch aufgeflackert sein bei einzelnen Theologen, wie dem Dominikanerpater Jean Cardonnel und seinen Predigten bzw. Vorträgen im Pariser Mai 68.

10.
Die Protestanten und die Juden waren zur Zeit der Pariser Commune zahlenmäßig sehr unbedeutend. Und sie waren eher aufseiten der Republikaner, weil sie wussten: “Erst die Französische Revolution hat uns Protestanten und Juden in Frankreich die Möglichkeit geboten, frei unseren Glauben zu leben”. Sie waren also schon aufgrund früherer Verfolgung durch die Monarchie selbstverständlich republikanisch…

11.
Die französische Nationalversammlung hat am 29. November 2016 die Pariser Ciommunarden, die Opfer der staatlichen Repression, offiziell rehabilitiert. Die Initiative dafür ging von den regierenden Sozialisten aus mit der offenen Verurteilung durch die Parteien der Rechten. Der Präsident der Kommission für kulturelle Angelegenheiten, der sozialistische Abgeordnete Patrick Bloche (Paris), nannte diesen feierlichen Akt des Staates eine Pflicht der Geschichte und der Gerechtigkeit!

12.
Der „Verein der Freunde und Freundinnen der Pariser Commune“ (Adresse siehe unten) hat im Jahr 2020 dagegen protestiert, dass der berühmten Basilika „Sacre Coeur de Montmartre“ der Ehrentitel „historisches Monument“ verliehen wird. „Diese Kirche ist wie ein Symbol der damaligen sogenannten „moralischen Ordnung“ (der mordenden Regierung in Versailles) und diese Kirche ist auch ein Symbol par excellence für den Geist der „Anti-Commune“. Diese Auszeichnung ist nicht würdig für die heutige Republik und sie passt auch nicht zu einem jenem Teil der christlichen Welt, der sich heute in den Werten der Pariser Commune wiedererkennt“. (Bekanntlich war die Kirche Sacre Coeur de Montmartre als Sühnekirche für die Verbrechen der Communarden gedacht, von den Verbrechen der Regierung sprach niemand).

13.
Es wurde auch eine weitere Kirche in Paris zur Verehrung derer errichtet, die von den Communarden als Geiseln festgehalten, dann aber erschossen wurden, weil sich Staatschef Thiers weigerte, die Geiseln gegen einen der großen Inspiratoren der Commune, Louis – Auguste Blanqui, auszutauschen:
Über diese katholische Gemeinde „Notre Dame der Geiseln“ in Paris 20. LINK

14.
Es gibt in Paris einen sehr aktiven „Verein der Freunde der Pariser Commune“ mit vielen Informationen und Publikationen: LINK
15.
Zum weiteren Studium empfehle ich den Beitrag: “Aux origines de la commune”, 2018, von Marc Lagana, LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ostern: Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehen!

Ein Essay von Christian Modehn. (2021)

Aus dem Inhalt:

Nr.2: Die eine entscheidende Hypothese

Nr.9: Die schöpferische Tat der Hinterbliebenen

Nr.11: Jesu Grab war nicht leer

Nr.14: Karfreitag: Das Ende eines Propheten

Nr.18: Die Gemeinde “setzt” die Auferstehung Jesu

Nr. 20: Politische Auferstehungsgedichte von Kurt Marti

Nr. 24: Joseph Ratzingers banale Deutung der Auferstehung

1.
Über die Auferstehung Jesu von Nazareth haben die Kirchen eine bunte Welt von Bildern, Symbolen, Metaphern, Mythen und Erzählungen erzeugt sowie, damit eng verbunden, über das „ewige Leben“ der Menschen … im „Himmel“. Bei allem Respekt, auch für die Leistungen der Künstler und Schriftsteller zum Thema in all den Jahrhunderten: Es wurden viel zu viele Glaubensinhalte, auch viel zu viele Dogmen, verbreitet. Sie setzten sich förmlich als „Auferstehungs – Bilder“ durch. Aber zeigen sie das Wesentliche?
Ich denke: Sie verdecken vielmehr den klaren, den einfachen und vernünftigen Gedanken zur Bedeutung der Auferstehung Jesu von Nazareth. Warum soll denn bei diesem Thema das klare, vernünftige Denken ausgeschaltet werden?
Hier also wird zur Auferstehung Jesu von Nazareth ein einfacher Gedanke vorgestellt, der aber gerade, weil er einfach ist, ausführlicher erläutert werden muss. Er ist nachvollziehbar.
2.
Es gilt hier nur eine Hypothese als Voraussetzung: Wenn die Welt mit den Menschen im schöpferischen Handeln einer unendlichen ewigen geistigen „Energie“ (Gott genannt) ihren Grund hat, dann ist diese Welt, sind die Menschen, mit dieser „Energie“ (Gott) bleibend – geistig – verbunden. Das Ganze ist Ergebnis der Evolution. Der biblische Schöpfungsbericht ist ein Mythos und hat philosophisch und theologisch nur Bedeutung, wenn man ihn in kritisches Denken übersetzt (das meint “Entmythologisierung)”.
Wenn man einen schöpferischen, ewigen Gott annimmt, kann seine Welt nicht von ihm getrennt sein. Denn bei einer von Gott völlig getrennten Welt ist ein einziger ewiger Gott als Gott undenkbar. Die Welt und die Menschen haben also Anteil am Ewigen, aber in dieser Verbundenheit sind die Menschen frei und autonom. Dies ist ein Thema, das hier nur angedeutet werden kann.
Noch einmal:
Dieser Zusammenhang von göttlichem Geist als Gott selbst und göttlichem, damit ewigen Geist im Menschen (als dem „anderen“ Gottes), ist die Voraussetzung dafür, dass es die Auferstehung Jesu von Nazareth „gibt“ wie damit auch die Auferstehung von allen anderen Menschen. Ohne die Annahme einer schöpferischen göttlichen „Energie“ ist Auferstehung nicht denkbar. Und sie ist vernünftig – denkbar, gehört zum menschlichen Selbstbewusstseins (des Geistes). Auferstehung ist eben nicht irgendein erratischer Klotz, der im Bewusstsein einiger Menschen schwebt, befremdlich und unverstanden.
Meine Grundthese im Anschluss an das Denken G.W.F. Hegels ist: Der Glaube an Gott kann sich der Vernunft erschließen. Auch die Erfahrung des auferstanden Jesus durch seine Jünger kann und soll sich der Vernunft erschließen, also in Worten ausgesagt werden. Der Geist des Menschen ist von Gott selbst in die Lage versetzt worden, Gott zu denken: Im 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth heißt von der Weisheit Gottes: „Uns aber hat diese Weisheit Gott enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes“ (Kap. 2, 9f.).
3.
Dass es Welt und Menschen gibt als Geschaffene, ist also das eine und einzige Wunder sozusagen. Diese Einsicht kann sich dem naturwissenschaftlichen Wissen gar nicht erschließen, weil es um den Grund des Ganzen der Wirklichkeit geht.
4.
Jeder Mensch hat seine eigene Meinung über Sterben und Tod nicht nur im allgemeinen, sondern auch eine Meinung über das eigene Sterben und den eigenen Tod. Zur Gestaltung eines menschenwürdigen Sterbens gibt es gute Argumente. Beim Thema Tod (und der oft gestellten Frage „Was ist danach?“) sind wir auf Überzeugungen angewiesen. Diese Überzeugungen drängen sich beim Menschen als einem geistvollen Wesen auf. Epikurs bekannte und viel zitierte radikale Abwehr dieser Frage hat kein philosophisches Niveau. Er verdrängt nur den Tod im Leben, empfiehlt förmlich den Kopf in den Sand zu stecken. Nur wenigen wird das gefallen.
Heute sagen die einen: „Mit dem Tod, ist alles zu Ende, Basta“, „Ich falle ins Nichts“. Oder die anderen: „Eine Form des Danach wird es geben“. Jeder wird sich letztlich einer dieser Meinungen anschließen und sie im Laufe seines Lebens vielleicht auch ändern. Man ist als Mensch förmlich von eigenen Fragen gezwungen, zur Bedeutung des Todes, des eigenen Todes, Stellung zu. nehmen! Auch die Abwehr, Ignoranz, gegenüber dieser sich aufdrängenden Frage ist de facto eine Antwort.
5.
Die traditionellen christlichen Lehren über den Tod und das mögliche „Danach“ sind gebunden an die neutestamentlichen Erzählungen von der Auferstehung des Menschen Jesus von Nazareth. Aber die kirchlichen Predigten waren über all die Jahrhunderte meist fixiert auf die Wiederholung, also die Nacherzählung der äußeren Ereignisse. Und viele Predigten, viele spirituelle Aufsätze der Theologen tun das noch heute.
6.
In diesem Essay wird gezeigt: Die zweifellos auch poetisch schönen, anrührenden Erzählungen von der Auferstehung Jesu von Nazareth sind als Ausdruck der Erfahrungen der Hinterbliebenen zu verstehen!
Das heißt: Es ist die Gemeinde der FreundInnen Jesu, die nach einer tiefen Depression über den Verlust des Geliebten zu der Überzeugung kommt: Der am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth wurde in eine bleibende, ewige geistige Präsenz gesetzt. Die Freunde, Freundinnen Jesu haben also diese Überzeugung – kraft des Geistes – förmlich „geschaffen“: Unser „Meister“ und „Lehrer“ und innig geliebte Freund lebt geistig über seinen Tod hinaus! Er ist nach seinem Tod unter uns, aber ganz anders als zuvor: Als bleibende geistige Präsenz.
7.
Diese Erweckung Jesu aus dem Tod geschieht kraft des Geistes, des universalen göttlichen, der in der Welt, in den Menschen, in der Gemeinde wirkt. Deswegen kann die Gemeinde der Hinterbliebenen auch die Überzeugung aussprechen: Diese Erweckung Jesu zu einer bleibenden, ewigen geistigen Präsenz gilt nicht nur für Jesus, sie gilt nicht nur der Gemeinde, sie gilt allen anderen Menschen, weil alle im Geist Gottes leben können.
8.
Die Gemeinde also setzt nicht nur den Glauben an den auferstandenen Jesus. Sie nimmt ihn auch als Auferstandenen wahr. Denn, noch einmal, Jesus hat teil am ewigen Geist Gottes, genauso wie die Gemeinde teil hat am ewigen Geist Gottes. Wegen dieser Korrespondenz kann es dann heißen: Jesus ist vom Tod auferstanden, so wie die anderen Menschen auch vom Tod auferstehen. Das Neue Testament nennt Jesus den „Ersten der Entschlafenen“, der durch seine Auferstehung allen zeigt: Es „gibt“ die Auferstehung – als Eintritt des menschlichen Geistes ins Ewige.
9.
Wer also die Auferstehung Jesu von Nazareth verstehen will, muss auf die Hinterbliebenen schauen, auf Jesu Angehörige, Freundinnen und Freunde. Sie haben sich nach seinem Tod wieder gefasst, aus der Verzweiflung befreit und aufgerafft, neuen Lebenssinn, auch ohne einen leibhaftig anwesenden Jesus, zu entdecken. Sie fragen inmitten der langen Trauer: „Inwiefern bedeutet Jesus von Nazareth über seinen Tod hinaus, uns und anderen Menschen etwas für unser eigenes Leben und Sterben“?
Die Antworten der Freunde Jesu, der Gemeinde, sind dokumentiert: Die erste uns vorliegende Antwort hat der Apostel Paulus in seinem „1. Brief an die Thessalonicher“ gegeben. Verfasst wurde dieser Brief im Jahr 51, also etwa 17 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Im Kapitel 1, Vers 10, schreibt Paulus ganz lapidar und sehr knapp von „Jesus, den Gott von den Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Gericht entreißt“. Lassen wir hier eine ausführliche Erläuterung der alten Vorstellung von einem Gericht beiseite, die angedeutet wird in diesen Worten: Die Auferstehung Jesu befreie von der Angst vor dem definitiven Ende, vor dem Gericht Gottes über das Leben der Menschen… Wichtiger ist: Die Überzeugung von der Auferstehung Jesu von Nazareth war schon ca. 17 Jahre nach seinem Tod selbstverständlich für die Gemeinde, sie wurde vor allem mündlich verbreitet.
Darauf bezieht sich Paulus. Und gleichzeitig betont er schon: Das Auferstehen betrifft nicht nur Jesus allein, es betrifft alle Menschen. Im Kapitel 4, Vers 14 heißt es: „Wenn Jesus gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen“. Ein paar Jahre später werden Paulus und die 4 Evangelisten ausführlicher ihre Überzeugungen von der Auferstehung beschreiben.
10.
Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind bekanntlich keine Reportagen, keine objektiven Berichte über einen historischen Vorgang, den Zeitzeugen beobachteten. Die Auferstehung Jesu ist eine Überzeugung, also als ein innerer, geistiger, seelischer Prozess, der sich langsam bildet. Für das Entstehen einer inneren Überzeugung gibt es kein fixes Datum. In den Texten spiegelt sich diese innere Überzeugung. Und die heißt: Unser lieber Freund Jesus von Nazareth ist unter uns nach seinem Tod am Kreuz geistig präsent. Und weil der Geist eine lebendige Wirklichkeit ist, kann man sagen: Jesus „lebt“.
11.
Die historisch – kritische, die wissenschaftliche Erforschung der Bibel bietet ein dem Menschen würdiges, also ein vernünftiges Verstehen auch der Texte, die von Jesu Tod und Auferstehung sprechen. Diese Forschung wird intensiv mindestens schon seit 100 Jahren an den Universitäten gelehrt. Aber viele Kirchenführer haben diesen Gebrauch der Vernunft im Umgang mit der Bibel verteufelt. So haben sich viele Leute geistig eingemauert in eine fundamentalistische Lektüre und sich allzu bescheiden auf ein bloßes Nachsprechen der Auferstehungstexte im NT begrenzt. Im Nacherzählen der Mythen von Jesu wunderbarer Auferstehung aus dem Grab, von den Engeln, den leibhaftigen Erscheinungen des Auferstandenen usw. ist ein gar nicht mehr zu bremsender, unkontrollierter Wunder – Glaube entstanden. Er hält schlechterdings alles für möglich: Etwa auch „das leere Grab“. Es wird dann als das größte aller Wunder gepriesen. Dabei ist das leere Grab völlig bedeutungslos für den Glauben an den Auferstanden und für den Glauben an die allgemeine Auferstehung: Der katholische Theologe Hans Kessler betont: „Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu. Das leere Grab ist ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet, dass Jesus von Nazareth auch ganz Mensch war, also körperlich sterben musste“.
Zur Erinnerung: In den Gebeten am Grab auf den Friedhöfen wird unter Christen immer schon betont: Auch wenn dieser Mensch nun als Leichnam im Sarg oder in der Urne ruht, so ist er dennoch auferstanden.
12..
Was bedeutet nun Auferstehung Jesu in einer vernünftigen, argumentierenden Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und auch Theologie: Die Auferstehung Jesu von Nazareth ist in gewisser Hinsicht eine Tat, eine Handlung der Gemeinde, seiner Freunde. Sie rufen kraft ihres Geistes, der am göttlichen Geist Anteil hat, den verstorbenen Jesus für uns ins Leben. Unbeholfen und kulturell – zeitbedingt können die Freunde Jesu diese Erfahrungen nur als äußere wiederum „wunderbare“ Ereignisse aussprechen und in ihren Evangelien darstellen: Da läuft der Auferstandene in den Mythen der Evangelisten wieder in der Welt herum, er tritt plötzlich in die Wohnungen der Gemeinde ein, verschwindet aber wieder schnell, lässt aber sogar seine Wunden berühren. Dies alles sind poetische Bilder, aber eben nur Bilder, um die geistige Präsenz des Auferstandenen darzustellen.
13.
Diese starke, lebendig, präsent machende Energie der Freunde Jesu zu betonen, hat nichts mit einer Form von menschlicher Hybris zu tun. Denn das Setzen der Auferstehung durch die Gemeinde ist nur ermöglicht durch den göttlichen Geist, der in der Gemeinde lebt, aufgrund der göttlichen Schöpfung dieser Welt, wie ich oben sagte.
14..
Karfreitag, den Todestag Jesu von Nazareth, kann man nur von Jesu Lebensgeschichte her verstehen. Jesus ist keine mythische Gestalt ohne reales, weltliches, gesellschaftliches Leben. Er ist – trotz der eher geringen historischen, faktischen Überlieferungen – keine Konstruktion frommer Phantasien.
Karfreitag ist das brutale, von anderen, von den religiösen wie politischen Machthabern verfügte Ende dieses Propheten, der sich ganz der Menschlichkeit, der Menschenwürde, verpflichtet wusste. Der die Menschlichkeit als den besten Ausdruck des Vereintseins mit dem Unendlichen, mit Gott, ansah. Und der dies auch laut sagte gegenüber frommen Leuten, die auf die Einhaltung uralter religiöser Gesetze absolut allen Wert legten.
Diese wenigen Worte können nur summarisch die Lebensmitte Jesu, sein „Projekt“, andeuten. Dabei wird von mir nicht geleugnet, dass einzelne Sätze der Evangelisten, die sich als Zitate Jesu ausgeben, durchaus irritieren und weitere Fragen aufwerfen. Hier aber kommt es jetzt nur auf die große Linie an im Leben des Jesus von Nazareth. Als gläubiger Jude hatte Jesus radikal neue, man möchte sagen rebellische Auffassungen von dem, was er Gott und den richtigen Glauben als ethische Lebenspraxis nannte.
Seine Verurteilung und sein Tod am Kreuz sind kein blindes Schicksal, sondern Konsequenz seines in vielerlei Hinsicht rebellischen Lebens.
Jesus wird vom römischen Besatzungsregime verhaftet. Dann wird er von seinen Landsleuten, also etlichen führenden Theologen, verklagt. Und nach römischem Recht von Pontius Pilatus verurteilt. Jesus stirbt am Kreuz. Elend. Furchtbar. Auf den manchmal schon üblich gewordenen Hinweis auf viel schlimmere Erlebnisse beim Sterben und Hinrichtungen will ich mich hier nicht einlassen. Jesu Tod war in damaligen Zeiten sehr grausam. Was nützen Vergleiche?
15.
Wir wissen heute dank der historisch – kritischen Bibel-Wissenschaft: Jesus von Nazareth will mit seinem ungerechten Tod, mit seinem Leiden, seiner Qual, nicht irgendwelche Schuld der Menschen, gar der ganzen Menschheit seit der so genannten „Erbsünde“ bei Gott wieder gut machen. Er will überhaupt nicht, wie ein Bild sagt, mit seinem Blut die Schuld der Welt oder die Erbsünde auslöschen. Er will sich also nicht aufopfern für ein imaginäres, der Phantasie entsprungenes Projekt eines Gottes, den Jesus doch bekanntlich voller Vertrauen Vater, lieber Vater, nannte. Das Bild von Jesus als dem Lamm, das sich opfert, führt in die Irre, auch wenn es sich leider bis heute populär durchgesetzt hat. Es gibt irrige und dumme Lehren, die von den offiziellen Kirchen bis heute nicht korrigiert werden, wider besseren Wissens durch die absolute Mehrheit der Theologen. Und wie viele Karfreitagslieder besingen noch immer dieses „Lämmlein“, das sich opfert. Ist die Kirche im 21. Jahrhundert unfähig, so arm im Geiste oder nicht willens, wenigstens unsinnige, irrige Kirchenlieder beiseite zu legen? Sie verderben das religiöse Bewusstsein.
Diese verstörende „Sühne-Opfertheologie“ hat sich seit dem Mittelalter durchgesetzt. Gott ist grausam, so brutal, dass er seinen Sohn dahinschlachtet. Was für ein Wahn! Er hat mit Karfreitag nichts zu tun.
Die Wahrheit für den Menschen Jesus von Nazareth ist doch: Er weiß bei seinem Prozess, bei seiner Hinrichtung, er weiß am Kreuz hängend nur: „Mein Leben bricht ab, es wird beendet“. Und mit letzter Kraft schreit er in den für ihn leeren Himmel: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Jesus spürte also, wie der Philosoph und Theologe Gonsalv Mainberger treffend sagte, dass nun alles „umsonst“ ist, vergeblich, vorbei. Nur ein letztes Vertrauen in einen Sinngrund bleibt ihm, er nennt ihn nach wie vor Gott, nennt ihn Vater.
Aber Jesus will seine Lehre, seine Menschenfreundlichkeit, nicht verraten, er will sich nicht aus der Affäre ziehen. Er weiß: Was ich tat und was ich lehrte, war und ist richtig, ist human, ist wahr auch im religiösen Sinne. Nicht auf religiösen Kultus kommt es ihm an, sondern auf ein Zeugnis der Menschlichkeit. Und genau daran erinnern sich später seine Hinterbliebenen, seine Freunde und Freundinnen, seine Jünger.
16.
Die offizielle dogmatische Kirchen-Lehre hat sich förmlich versteift auf die Behauptungen einer „Auferstehung des Fleisches“. Mit dieser immer noch – auch in der Kunst – verbreiteten Vorstellung ist gemeint: Das „Fleisch“ ist ein Bild für die individuelle leibhaftige Person, sozusagen für ihre einmalige Identität. Und dieser präzisen Person wird eine Auferstehung verheißen. Mit allen Konsequenzen, die sich die Frömmigkeit dann ausmalte: Der Mensch muss leibhaftig vor Gottes Richterstuhl treten, muss erleben, wie der Gerichtsspruch lautet: Man denke an die schrecklichen Endgerichts – und Höllenbilder… Aber das sind Bilder, mehr nicht. Von dem Bild der leibhaftigen individuellen Auferstehung muss sich eine vernünftige Theologie verabschieden. Denn da weiß die alte Theologie einfach viel zu viel, dass es peinlich wird: Wie viele Milliarden Leibhaftiger werden sich dann im Himmel oder der Hölle tummeln? Den privaten Glauben vieler frommer Leute wird man als „Volksglauben“ respektieren, wenn Katholiken etwa auf Todesanzeigen schreiben: „Unser liebes Gemeindemitglied X.Y. ist gestorben. Wir freuen uns auf ein frohes Wiedersehen mit ihm im Himmel“. Das ist für mich Ausdruck einer hilflosen Spekulation, man könnte auch sagen eines diffusen Wunderglaubens.
17.
Es ist schon genug und anspruchsvoll genug, von der Auferstehung als einer bleibenden (!) geistigen Präsenz zu sprechen. Dabei kann sich – nach dem Tod – das individuell Geistige mit dem allgemeinen Geist, dem ewigen Geist, also Gott, vereinen. Aber auch das ist auch schon wieder eine sehr weit reichende Überlegung, weiter sollte man eigentlich bei einer intellektuellen Redlichkeit nicht gehen.
18.
Die frühen, die ersten Gemeinden, die Jesus förmlich als den Auferstandenen „setzten“, wussten: Seine Auferstehung ist nicht auf ihn allein begrenzt. Vielmehr macht Jesus bewusst, dass alle Menschen „Kinder“ des „göttlichen Vaters“ sind, also im Geist mit dem Göttlichen verbunden sind. Insofern ist etwa schon für den Apostel Paulus klar, dass die Auferstehung eine universale Bedeutung hat, allen Menschen gilt. An der Gestalt Jesu wird diese universale Auferstehung „nur“ für andere deutlich. In seinem Ersten Brief an die Korinther (Kapitel 15, Ver 12ff, bes. 16) schreibt Paulus: „Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist auch Christus nicht auferweckt worden. Und noch einmal: Wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden“. Giuseppe Barbaglio, Theologe an der Universität Mailand, setzt diesen Gedanken fort: „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.
19.
Wie gesagt: Tatsächlich ist jeder Mensch mit dem Geist, verstanden als Geist Gottes ausgestattet und damit sozusagen von vornherein mit dem „Ewigen“ verbunden. Insofern können Menschen, deren überragende Menschlichkeit allgemein geschätzt wird, wie Gandhi oder Martin Luther King oder Bischof Oscar Romero oder Bischof Helder Camara, einen ausgezeichneten Platz haben, wenn es um die Erkenntnis der Auferstehung geht. Sie können durchaus auch erlösend wirken, wenn sich Menschen von ihnen inspirieren lassen zu einem humanen Leben. Jeder wird da weitere eigene Beispiele nennen können. Auferstehung und Auferstandene gibt es immer, weltweit. Aber es gibt auch Menschen, die ihre Seele, auch ihren göttlichen Geist in sich selbst offenbar abtöteten … und zu Lebzeiten wie in einer „Hölle“ lebten. Und anderen das Leben zur Hölle machten. Weiteres wird sich zur „Hölle“ religionsphilosophisch und kritisch-theologisch nicht sagen lassen.
20.
Diese Überlegungen sind alles andere als eine spielerische Spekulation, sie sind keine Form der „l art pour l art“. Sie haben auch politische Bedeutung. Um dies wahrzunehmen, sind auch (zeitgenössische) Dichter hilfreich. Ich denke etwa an Kurt Martis viel zitiertes Auferstehungsgedicht:
„Ihr fragt
wie ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht….“
„Ich weiß
nur
wonach ihr nicht fragt:
die auferstehung derer die leben
ich weiß
nur
wozu Er uns ruft:
zur auferstehung heute und jetzt“. (Kurt Marti, Leichenreden, 1976, S. 25)

In einem anderen Gedicht sagt Kurt Marti:
„Das könnte manchen herren so passen
wenn mit dem tode alles beglichen
die herrschaft der herren
die knechtschaft der knechte
bestätigt wäre für immer
das könnte manchen herren so passen
wenn sie in ewigkeit
herren blieben im teuren privatgrab
und ihre knechte
knechte in billigen reihengräbern
aber es kommt eine auferstehung
die anders ganz anders wird als wir dachten
es kommt ein auferstehung die ist
der aufstand gottes gegen die herren“
21.
Die Auferstehung fördert also eine Lebensphilosophie und damit eine bestimmte Lebenspraxis. Die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel scheibt: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.
22.
Aufgrund der Schöpfung Gottes sind die Menschen von göttlichem Geist erfüllt, sie setzen als Gemeinde also die Auferstehung Jesu von Nazareth. Dadurch wird auch ein neues, anspruchsvolles „Bild“ vom Menschen geschaffen: Dass es Ewiges im Menschen gibt, Göttliches. Meister Eckart, der viel zitierte Philosoph des 14. Jahrhunderts, spricht bildhaft vom „göttlichen Funken in der Seele“ eines jeden Menschen. Wie viele Philosophen haben diesen Satz zurecht wiederholt, interpretiert.
Auf Hegels Philosophie haben ich anderer Stelle hingewiesen.
23.
„Der göttliche, der ewige Funken lebt im Menschen über den Tod hinaus“: Mehr brauchen wir zum Verständnis des Osterfestes eigentlich gar nicht zu wissen. Dies ist eine Erkenntnis, die tröstet, aber nicht vertröstet.
24.
Joseph Ratzinger, also der spätere Benedikt XVI., widerspricht als einer von vielen „Offiziellen“ in seiner viel gelesenen „Einführung in das Christentum“ (1968) einem vernünftigen Verstehen der Auferstehung Jesu Christi: Die Jünger hätten nicht einen von ihnen selbst kommenden, eigenen Gedanken entwickelt, meint Ratzinger, dass Jesus lebe und seine Sache weitergehe. Es ist kein Gedanke, der „aus dem Herzen der Jünger aufstieg“ (S. 256). Nein, so weiß Ratzinger, der Auferstandene trat höchstpersönlich an die Jünger „von außen“ heran. Und er hat sie als von außen kommend „übermächtigt“ und er hat sie dadurch gewiss werden lassen: Der Herr (Jesus) ist wahrhaft auferstanden. Und das heißt für Ratzinger, wie üblich mysteriös – aber orthodox, wörtlich: „Der im Grabe lag, ist nicht mehr dort, sondern er – wirklich er selber – lebt…. Er steht den Jünger handgreiflich (sic!) gegenüber“, so Ratzinger S. 256 f. Auf diese Weise glaubt Ratzinger den Glauben an die Auferstehung zu erklären, im Grunde wiederholt er nur die Worte des Neuen Testaments. Wiederholungen des Textes sind bekanntlich keine Theologie. Aber so wurde und wird Theologie leider immer noch betrieben, von den entsprechenden ahnungslosen Predigten einmal angesehen.
Ratzinger sieht also nicht, dass Gott bereits in der Welt, auch in Jesus von Nazareth als das/der Ewige lebt. Dies allein ist die entscheidende „Ursache“ für die Möglichkeit einer Auferstehung überhaupt. Gott muss also gar nicht von außen noch mal extra in der leibhaftigen Gestalt des Auferstandenen an die Jünger herantreten, um sie von außen als der „handgreiflich Lebendige“ zu belehren. Jesus „hat“ das Ewige in sich, deswegen kann er „auferstehen“.
Es ist also die Scheu, die Angst, die Mutlosigkeit, die rechtgläubig erscheinende Theologen hindern, neue Gedanken und neue Vorschläge zu machen. In dieser sturen Haltung vertreiben sie nur nachdenkliche Menschen aus der Kirche. Die Krise der Kirchen heute ist nicht zuerst eine Krise der Institution. Die Krise der Kirche wird erzeugt durch den Unwillen, alte dogmatische Lehren beiseite zu lassen, und das Wesen der christlichen Religion in neuer Sprache auszusagen.
25.
Es müsste weiter gezeigt werden, wie diese vernünftige Auferstehungstheologie auch spirituell vertieft werden kann. Von den dogmatisch geprägten Gemeinden ist da kaum Hilfe zu erwarten, diese werden ihre Osterlieder, die wenn nicht aus dem 17. Jahrhundert, so doch mehrheitlich aus dem begrenzten theologischen Denken des 19. Jahrhunderts stammen, weiterhin singen: „Das Grab ist leer, der Held erwacht“ oder „Freu dich du Himmelskönig, freu dich Maria“ und so weiter. Das kann man ja machen, wenn man die Lieder wie Chorsätze aus mythischen Opern vergangener Zeiten deutet. Aber es ist etwas anderes, sich über die Gesänge der „Zauberflöte“ zu erfreuen als sich in mythische Osterlieder zu vertiefen. „Verzauberte Stimmungen“ oder Emotionen können kurzfristig (ver)trösten, auf Dauer gibt uns vor allem die Vernunft sicheren Boden, also eine tragende Sinnerfahrung. Die Erkenntnis der Auferstehung Jesu und aller Menschen Auferstehung kann ein solcher sicherer Boden sein, der sich der Vernunft erschließt und …“im Letzten“ auch tröstet.

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Es gelten, wie immer auf dieser Website, die Regeln des copyright.

LITERATURHINWEISE:

Stefan Alkier, Die Realität der Auferstehung. Tübingen 2009.

Concilium, Internationale Zeitschrift für Theologie, Themenheft Auferstehung, Dezember 2006.

Hans Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi, 2011, Topos Taschenbücher. 2011, 526 Seiten.

Hildegund Keul, Auferstehung als Lebenskunst. Was das Christentum auszeichnet. Herder Verlag 2014.

Elisabeth Moltmann-Wendel, Mit allen Sinnen glauben. Stimmen der Zeit, 2005.

Karl Rahner Lesebuch. Herder 2014. 475 Seiten.

Dorothee Sölle, Es muss doch mehr als alles geben.1992, DTV.

Christoph Türcke, Kassensturz. Zur Lage der Theologie, darin der Beitrag Tod, Fischer Taschenbuch 1992.

Moderner Katholizismus wird verboten: Das progressive katholische Zentrum St. Merry in Paris muss schließen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.2.2021.
Für alle, die Französisch lesen können, füge ich unten, am Ende meines Beitrags, einen Kommentar der Wochenzeitung Témoignage Chrétien, Paris, vom 4.3.2021 an.

Inzwischen (13.3.2021) hat die Gemeinde, die vom Erzbischof von Paris verboten wurde, eine eigene website gestaltet, sehr interessant…und schön gestaltet:
www.saintmerry-hors-les-murs.com

1.
Eigentlich ist es kein Ereignis von internationaler Bedeutung, wenn eine katholische Kirchengemeinde aufgibt und ihre Aktivitäten einstellt. Hier aber ist es ein Ereignis! Denn es geht nicht um irgendeine, sondern um eine weltweit bekannte, sagen wir „berühmte“ katholische Gemeinde in Paris: Sie hat den eher klassischen Namen „Pastorales Zentrum“. Und dieses hatte in der schönen, spätgotischen Kirche St. Merry (Organist war einst Camille Saint Saens) sein Zuhause. Die Kirche befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Kultur-Zentrum Beaubourg/Pompidou. Was für eine Chance für einen offenen Dialog Kirche und Kultur…Darum ist der offizielle Titel auch „Centre Pastoral Halles-Beaubourg“.
2.
Und diese Gemeinde hätte gern weiter gelebt in aller bekannten Vitalität, aber sie wurde vom Pariser Erzbischof Michel Aupetit aufgelöst. Am 28.2. 2021 fand wie üblich um 11.15 Uhr der letzte Gottesdienst statt. Gegen die Entscheidungen von Herrschern, die sich Oberhirten kann „das Volk Gottes“ katholischer Art nichts machen.
3.
Ein ungewöhnlicher Vorgang, eine Gemeinde zu verbieten. Denn eigentlich sollten doch Bischöfe froh sein, wenn überhaupt noch Leben in katholischen Gemeinden ist. Und im „Pastoralen Zentrum St. Merry“ war Leben, viel Leben: Denn diese katholische Gemeinde hatte von Kardinal Marty einst, 1974, ganz offiziell das Privileg erhalten: Priester und Laien sind dort gemeinsam verantwortlich für alles, was in der Gemeinde geschieht. Laien, sonst immer nur als beratende Teilnehmer in kirchlichen Gremien vorhanden, konnten also hier mitentscheiden, über die Form der Gottesdienstgestaltungen, der sozialen und kulturellen Aktivitäten. Selbstverständlich waren auch Homosexuelle und Lesben als verantwortliche Mitarbeiter willkommen, was keineswegs üblich war in katholischen Gemeinden. Kunstausstellungen fanden in der Kirche St. Merry statt, Flüchtlinge fanden Unterkunft, Obdachlosen wurden Mahlzeiten angeboten, die „Restaurants du coeur“ wurden hier inszeniert; „Straßenzeitungen“ der Obdachlosen begründet, Konzerte (gratis!) am Samstagabend veranstaltet, an jedem Nachmittag wurde eine geräumige Seitenkapelle zu einer Art Café umgestaltet, offen für alle. Viele Christen aus der weiten Umgebung sahen St. Merry als ihre spirituelle Heimat an.
4.
Und das wird nun beendet.So will es der Erzbischof. Die französische Presse (Liberation, Le Monde, La Croix, Réforme, Témoignage Chrétien usw.) hat über dieses Durchgreifen berichtet. Aber die Gründe dafür werden nicht so recht klar und deutlich: Es soll in letzter Zeit viel Streit gegeben haben zwischen den Priestern, die vom Erzbischof für das „Pastorale Zentrum“ ernannt wurden. Einige engagierte Laien, so ist der Presse zu entnehmen, hätten sich manchmal sehr heftig den Weisungen und Vorschlägen der Priester widersetzt. Der Erzbischof begründet die Schließung dieses hoch ambitionierten katholischen Zentrums mit, so wörtlich, boshaftem Verhalten der Laien, mit deren „Mangel an Liebe“, sogar vom „Willen zur Zerstörung“ spricht er sowie, man ahnt es, „von einem gewissen „Sektarismus“. So nennt ein Bischof heute Laien, die ihre eigene theologische Meinung haben.
5.
Einige tausend Unterschriften wurden zur Fortführung dieses katholischen Gemeindezentrums gesammelt, auch die protestantische Wochenzeitung REFORME in Paris berichtete und zitierte Pastoren, die voller Lob über diese Gemeinde sprechen. Pastor James Woody etwa, der lange Zeit in der explizit liberal-protestantischen Gemeinde „L Oratoire du Louvre“ in der Nachbarschaft arbeitete, er scheibt: „St. Merry war eine Art Avantgarde, eine Art Laboratorium auch in dem weiten Feld der Kultur und der Ideen. Wir liberal-theologische Protestanten teilen mit St. Merry dieselbe Überzeugung, nämlich dass das Christentum wichtiger ist als die Kirchen und dass man als Christ den geistigen Horizont maximal öffnen muss“.
Diese Öffnung will der Erzbischof offenbar nicht. St. Merry hat sich stets als Experiment verstanden, so wollte es auch Kardinal Marty, der Gründer. Und von partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Laien und Priestern spricht doch auch Papst Franziskus ständig. Darauf weisen die empörten Gemeindemitglieder hin. Sie sind päpstlich, aber nicht erzbischöflich. Und die aktiven Gemeindemitglieder geben zu, dass einige wenige Laien allzu selbstbewusst auf ihrer Wahrheit wohl pochten. Aber die übergroße Mehrheit der Laien wollte doch und will doch immer noch das Experiment, „ihre Gemeinde“, fortführen.
6.
Die katholische Kirche in Paris steht nun in der Öffentlichkeit wiedermal ziemlich blamiert da: Ein autoritärer Erzbischof – das passt auch und wieder mal in die allgemeine Vorstellung von Kirche, zumal in Frankreich, die nicht nur von ständigen sexuellen Missbrauchs -„Fällen“ durch Priester erschüttert wird, sondern auch von groben Missständen in den charismatischen Gruppen und neuen geistlichen Gemeinschaften. Noch schlechter kann der Ruf der katholischen Kirche Frankreichs eigentlich im Augenblick gar nicht werden.
7.
Aber die Intelligenten unter den Katholiken wissen genau: Wenn streng konservative Gruppen, wie die Pro Life Kreise oder die Gegner der so genannten „Homo-Ehe“ oder ie Charismatiker mit ihrem missionarischen Singsang oder die mit Rom sympathisierenden Traditionalisten um erzbischöfliche Unterstützung bitten: Dann erhalten diese, auch finanzstarken, Kreise jegliche offizielle bischöfliche Hilfe.
Aber solch ein letztlich doch nur als Ausnahme existierendes, insofern marginales modernes katholische Gemeindezentrum „Halles Beaubourg“ darf nicht weiter bestehen. Das empfinden die wenigen noch verbliebenen linken und progressiven Katholiken als Skandal und auch jene, die sich vom Katholizismus längst verabschiedet haben und vielleicht bei den liberal-theologischen Protestanten Inspirationen erhalten. Jedenfalls hat ein prominenter Jesuit in Paris, Pater Francois Euvé, in der Tageszeitung „La Croix“ angedeutet: dass doch an anderer Stelle „St. Merry“ weitergehen sollte. Ob dies in der Jesuitenkirche St. Ignace im 6. Arrondissement möglich sein könnte, sagt er allerdings nicht. Eine allgemeine Vertröstung also.

PS.1.:
Ich habe diese Ereignisse um St. Merry, Paris, für eine deutsche Öffentlichkeit dokumentiert, Ereignisse, die zum weiten Umfeld der Kritik der Religionen gehören, einem Hauptthema unserer website.
Hinzukommt: Ich habe kurz nach Gründung dieses modernen Gemeindezentrums schon am 8.8.1976 in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Herder Verlag) auf St. Merry aufmerksam gemacht und ich bin in dem Buch „Kirche in der Stadt“ (Kohlhammer Verlag 1981) in meinem Beitrag über Paris auf St. Merry noch einmal zu sprechen gekommen. Der Titel dieses Buchbeitrags war: „Freiräume für die Menschen“ (S. 42 – 57) Mein Aufsatz endet mit den Worten: “Kirche in der Metropole hat nur Zukunft, wenn sie in sich selbst Vielfalt nicht nur toleriert, sondern fördert“…
Das Buch „Kirche in der Stadt“ hatte ich mit dem evangelischen Theologen Michael Göpfert (München) herausgegeben. Es hat, zumal durch den Einsatz von Pfarrer Göpfert, dazu beigetragen: Das damals noch neue und eher ungewöhnliche Thema „Kirche und Stadt“ in den Mittelpunkt gewisser theologischer Debatten stellen zu können.

PS. 2.:
Mit dem Ende des progressiven Gemeindezentrums St. Merry in Paris beschleunigt sich auch das Ende des linken, des progressiven Katholizismus in Frankreich. Darüber haben die Soziologen Denis Pelletier und Jean-Louis Schlegel die großartige Studie veröffentlicht „Á la gauche du Christ. Les chrétiens de gauche en France de 1945 à nos jours“. (Zur Linken Christi… Die linken Christen in Frankreich…) Edition du Seuil Paris, 2012, 614 Seiten. Das Buch hat in Deutschland keinerlei Beachtung gefunden.
Genauso wenig Beachtung in Deutschland fand ein anderes wichtiges Buch in dem Zusammenhang: „Catholicisme, la fin d un monde. (Katholizismus, das Ende einer Welt), Paris 2003, von der berühmten Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger. 335 Seiten. Bayard-Editions.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Wochenzeitschrift TEMOIGNAGE CHRETIEN schreibt am 4.3.2021:

Saint-Merry, c’est fini !

Von Christine Pedotti

La fermeture définitive du Centre pastoral Saint-Merry à Paris, confirmée par les autorités catholiques parisiennes, n’est une bonne nouvelle pour personne. C’est un terrible constat d’échec pour tous les catholiques. Au centre de l’expérience parisienne, il y avait un rêve de « cogestion » entre les prêtres et les baptisés laïcs, hommes et femmes. Et c’est là que s’exprime l’échec.
Le diocèse fait état de « méchants » qui auraient bloqué toute possibilité de dialogue et qui auraient chassé successivement les derniers curés envoyés par l’autorité. De fait, le curé a démissionné en cours d’année, tandis que son prédécesseur, Daniel Duigou, écrivain, prêtre, psychanalyste, qu’on peut difficilement soupçonner d’être un suppôt de la réaction, s’exprime sur son expérience en disant : « Je ne voulais plus être complice d’un lynchage permanent, une véritable maltraitance morale. » Et il ajoute : « Le même processus s’est reproduit avec mon successeur comme il s’était produit avec mon prédécesseur, qui est parti, selon moi, “en morceaux” ! »

Dysfonctionnement donc, indubitablement. Mais est-il le fait de « méchants » ou le fait d’une situation structurellement invivable, tant pour la communauté que pour la hiérarchie catholique ? J’écrivais ici que « le cléricalisme est la loi d’airain du catholicisme ». La « cogestion » prêtres/laïcs, même profondément souhaitée par les deux parties, est impossible dans la structure actuelle du catholicisme, qui concentre entre les mains du clergé toutes les responsabilités : celle d’enseigner, celle de sanctifier et celle de gouverner.

C’est pourquoi un lieu comme celui de Saint-Merry est confié « canoniquement » à un curé/prêtre et non à un laïc, alors que, pourtant, de ce côté, les compétences ne manquent pas. Des expériences comme celle qui s’achève ici dans la désolation sont de facto vouées à l’échec, et peu importe qui sont les « gentils » et qui les « méchants » si le catholicisme ne se réforme pas profondément, ne réforme pas sa structure hiérarchique… ne réforme pas le ministère ordonné. Qui sont les prêtres/les évêques ? Qui les choisit et les forme ? Quelle est leur mission ? Sont-ils des hommes, des femmes, à plein temps, pour toute la vie ?

La communion est brisée, dit le diocèse de Paris, qui ferme le ban. Mais que signifie une « communion » qui toujours donnerait l’autorité aux uns et demanderait l’obéissance aux autres, et jamais l’inverse ?
Lire l’édito sur notre site →

Die Spiritualität von Rosa Luxemburg

Von Christian Modehn am 14.1.2019, erneut bearbeitet am 27.2.2021

Zur Erinnerung: Rosa Luxemburg wurde am 5.3.1871 in Zamosc, Polen, geboren. Am 15.1 1919 wurde sie in Berlin von Rechtsextremen umgebracht. 1899 war Rosa Luxemburg in die SPD eingetreten; 1917 in die USPD, zur Jahreswende 1918/19 gehörte sie zu den GründerInnen der KPD. Rosa Luxemburg war gegen den Begriff “kommunistisch” im Namen dieser Partei.

1.

Die Frage „Welche Spiritualität war lebendig in Rosa Luxemburgs Praxis und Denken?“ wird meines Erachtens bisher nicht explizit und ausführlich diskutiert. Auch jetzt nicht, anläßlich ihres 150. Geburtstatges 2021. Über ihre Verbundenheit mit einer jüdischen Lebensform und jüdischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie müsste ausführlicher gesprochen werden.
Als wichtige Ergänzung zum folgenden Beitrag siehe auch meinen Hinweis “Rosa Luxemburg – die Philosophin” mit Zitaten, die auch die spirituelle Grundhaltung Rosa Luxemburgs andeuten. LINK.

2.

In dem kritisch informierenden Heft „Luxemburg“ 3/2018 der Rosa-Luxemburg Stiftung werden in verschiedenen Beiträgen einige wenige Hinweise gegeben, die Ansätze bieten könnten für ein „spirituelles Profil“ von Rosa Luxemburg.
Allgemeiner Ausgangspunkt ist die Tatsache, die noch längst nicht alle heute zur Kenntnis genommen haben: Rosa Luxemburg war keine „bolschewistische Abenteuerin“. Sie wollte keinen blutigen Bürgerkrieg in Deutschland, wie die Rechten und auch Leute der SPD, Noske usw., damals lautstark behaupteten und … direkt/indirekt ihre Ermordung zuließen bzw. förderten. Rosa Luxemburg wollte keine Diktatur des Proletariats, etwa nach dem Beispiel Lenins. Sie wollte um der Menschheit willen eine bessere, gerechte Welt-Gesellschaft, den sie Sozialismus nannte. Dieses globale Projekt ist so etwas wie eine Revolution.

3.

Alex Demirovic nennt in seinem Beitrag „Eine neue Zivilisation“ einige Begriffe, die bei der Darstellung des spirituellen Profils von Rosa Luxemburgs hilfreich sein können: Sie ist immer bereit, den Zauber des Lebens (S.21) zu spüren und in ihrer poetischen Sprache auch zu benennen. Und da gelingen ihr wunderbare Sätze!
Sie will die „äußerste Achtsamkeit für das (und den) einzelne(n)“ auch politisch leben, sie will also nicht hinnehmen, dass die einzelnen Menschen für das „große Ganze“ geopfert werden. „Gefühlskälte“ (S. 20) kommt für sie gar nicht in Frage. Sie liebt die Natur, alle Geschöpfe, die Tiere. In der Natur erlebt sie Erhabenderes als auf Parteikongressen. „Sie bewegt sich im Spannungsfeld des Widerspruchs von Ganzem und einzelnen“ (S. 21). Aber sie wehrt den Zugriff der Macht auf den einzelnen Menschen entschieden ab.

4.

Im Leben und politischen Alltag ist Geduld (S. 22) für sie entscheidend. Sie will den „Sinn für die großen Linien“ bewahren.
Wichtig ist ihr Vertrauen in die demokratisch aktiven „Massen“.
Sie schätzt absolut die Freiheit des Menschen. Freiheit ist für sie kein exklusives Privileg einer herrschenden (ökonomisch alles bestimmenden) Klasse in der Gesellschaft, sondern Freiheit gehört wie eine „Wesensbestimmung“ allen Menschen. „Freiheit ist immer auch die Freiheit des anders Denkenden“:  Das sagt sie auch und vor allem zur so genannten Partei – Elite in der Sowjetunion, also gegen Lenin. Es sind die „Macho-Männer“, die mit Gewehren herumstolzieren“, so beschreibt Drucilla Cornell die Haltung dieser Clique, die sich „Avantgarde“ nennt (S. 30). LINK.  Das berühmte Zitat stammt aus dem Buch “Zur russischen Revolution”, verfast 1918. LINK.

5.

„Freiheit als Freiheit des anders Denkenden“ war ja auch in der Geschichte der christlichen Kirchen alles andere als selbstverständlich. Wie Kirchen und Theologen auf Rosa Luxemburg reagierten, zu Lebzeiten, zur Ermordung und in den folgenden Jahren des sich aufbauenden Faschismus wäre ein Thema auch für Kirchenhistoriker…

6.

Es gibt eine zentrale („spirituelle“) Leidenschaft Rosa Luxemburgs: Die Politologin Drucilla Cornell spricht von ihrer Sanftheit, (S. 32.) Man könnte wohl auch sagen „Zärtlichkeit“. Theologen werden sich erinnern, dass der Prophet Jesus von Nazareth ebenfalls immer wieder „sanft“ genannt wurde.
Es ist also bei Rosa Luxemburg, noch einmal, die Liebe zu allen Kreaturen, zu Pflanzen, zu Tieren, zum Kosmos, auch und gerade in den Zeiten ihrer Gefängnis-Aufenthalte: Da war das intensive Erleben des Einssein mit der Natur (der “Schöpfung”?) förmlich lebensrettend für sie. Man lese ihre Briefe aus dem Gefängnis, etwa den Brief an Sophie Liebknecht, aus dem Breslauer Gefängnis im Dezember 1917 (S. 56 ff). Wäre es nicht spannend, einmal diese Gefängnis-Briefe mit den Gefängnisbriefen von Dietrich Bonhoeffer synchron und vergleichend zu lesen?

7.

Drucilla Cornell nennt auch das entscheidende spirituelle Stichwort Luxemburgs: Es geht um die Transformation, „radikale Transformation jedes Einzelnen (S. 29) als Voraussetzung einer „sozialistischen Revolution“, also einer neuen, in Luxemburgs Verständnis besseren, weil gerechten Gesellschaft. Transformation ist ein seelisches, auch therapeutisches Geschehen!
Die Autorin, Professorin u.a. für Gender Studies und Politikwissenschaften, zitiert eine weitere zentrale Kategorie der Spiritualität: Luxemburg schreibt in ihren Überlegungen zur weltweiten Unterdrückung: „Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung…“ (S. 28). Erlösung wurde von einer dogmatisch eng denkenden Kirche als fast immer als jenseitiges oder nur seelisches Geschehen gedeutet. Dabei ist Erlösung als konkrete, auch materielle Erfahrung einer gerechteren Welt notwendiger Bestandteil eines sich selbst kritisch verstehenden Christentums.

8.

Es wäre hier wichtig, die ausdrücklichen und auch unbewusst lebendigen Verbindungen Rosa Luxemburgs zum Judentum ausführlich zu entwickeln. Michael Löwy, Professor für Philosophie in Paris, gibt einen entscheidenden Hinweis: Er spricht von Luxemburgs Warnungen vor der Allmacht des Imperialismus, Nationalismus und Militarismus. „Diese Warnungen waren nicht im Sinne einer wunderbaren Vorhersage der Zukunft (zu verstehen), sondern im Sinne der biblischen Propheten Amos und Jesaja, die die Menschen vor bevorstehenden Katastrophen warnen, die es gemeinsam zu verhindern gilt“ (S. 38). Welche biblischen Propheten kannte die Jüdin Rosa Luxemburg tatsächlich? Ist der blinde Hass der Rechten und Rechtsextremen damals wie heute auf Rosa Luxemburg (und andere Sozialisten) auch und entscheidend antisemitisch bedingt? Das wird fraglos so sein, sollte aber ausführlicher noch dargestellt werden.

9.

Zusammenfassend: Wenn man sich die Philosophie und Lebensform Rosa Luxemburgs vergegenwärtigt, wird ihre spirituelle Grundhaltung, als Gestalt einer humanistisch-sozialistischen – biblischen, prophetischen Spiritualität, deutlich! Es ist eigentlich an der Zeit, dass sich spirituelle Menschen, auch Christen und Theologen, sehr viel stärker mit Rosa Luxemburgs Werk befassen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 14.1.2019.

PS.

Das genannte Heft „Luxemburg 3/2018“, kann kostenlos bestellt werden: Franz Mehring Platz 1, 10243 Berlin.

Nebenbei: Ein weiteres Thema für religionskritische Untersuchungen wäre die äußerst geringe Lernbereitschaft christlicher und theologischer Kreise, etwa im Blick auf ein differenziertes Bild von Rosa Luxemburg.

Einen Versuch, die theologische Bedeutung Rosa Luxemburgs herauszustellen, bietet der evangelische Pfarrer und SPD Mitglied Eberhard Pausch, Frankfurt/M. in seinem Beitrag für das “Hessische Pfarrblatt”, veröffentlicht im JUNI 2019: LINK

Es muss für weitere Studien berücksichtigt werden, dass gerade Kirchenleute, Päpste, Bischöfe usw. der allgemeinen Ideologie folg(t)en: „Der“ Sozialismus und „der“ Kommunismus seien viel schlimmer, viel “teuflischer” als der Faschismus. Schließlich konnte die römische Kirche mit dem faschistischen Regime in Italien und den NAZIS in Deutschland noch Konkordate abschließen, also die Existenz der Kirche „sichern“; was dabei mit “den anderen”, den Juden, den Kommunisten, den Homosexuellen, den Sintis/Roma, geschah, war dabei kein vorrangiges Interesse für die Kirchenführer.
Der blinde Antisozialismus und Antikommunismus war eine bestimmende Ideologie vor allem in den USA; ihr folgten die Päpste, wie auch Johannes Paul II.: Zusammen mit Präsident Reagan im gemeinsamen Kampf gegen „revolutionäre Priester“ und Befreiungstheologen in Lateinamerika.
So unterstützte die katholische Kirchenführung die sich katholisch nennenden Diktatoren in Argentinien oder Chile (Pinochet), vorher schon in Spanien: Diktator Franco oder Trujillo, Dominikanische Republik, und so weiter…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Von der Inquisition zur Mafia und wieder zurück: Über eine Studie von Leonardo Sciascia

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Was ist Inquisition? Sie ist nichts „Mittelalterliches“. Inquisition ist der Anspruch einer Organisation, total über Menschen verfügen zu können. Der Anspruch einer Organisation, die Wahrheit total zu besitzen, um die eigene angemaßte Macht bewahren zu können. Und daraus folgt: Der Anspruch, selbstständige, freie und dem System widersprechende Menschen zu quälen, zu foltern und auslöschen zu dürfen.
Diesen Anspruch praktizierte an prominenter Stelle Jahrhunderte lang die katholische Kirche: Viele andere totalitäre Organisation folgten dem Vorbild: Nazis, Stalinisten, die extremen Nationalisten… und aktuell: die Mafia.
2.
Es ist das Verdienst des sizilianischen Historikers, Journalisten, Autors und Politikers Leonardo Sciascia, eines prominenten Intellektuellen, das Wesen der katholischen Inquisition auf Sizilien im 17. Jahrhundert genau zu beschreiben. Aber nicht, um dabei nur die alte, vergangene Welten historistisch zu rekonstruieren, sondern um zu zeigen: Die Inquisition lebt – auch in Sizilien -, der Wille zu quälen und zu morden um des eigenen Machterhaltens zerstört das Zusammenleben der Menschen. Das Thema Inquisition gehört also nicht nur in die Religionsgeschichte, es gehört ins Zentrum der Debatten über die Menschenrechte. Sciascia, 1921 – 1989, hatte intensiv die Mafia auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten und auch einiger Prozesse erlebt, analysiert und verurteilt.
3.
Endlich liegt also in deutscher Sprache die Studie von Leonardo Sciascia über wesentliche Aspekte der Inquisition in Sizilien im 17. Jahrhundert, also unter spanischer Oberherrschaft vor. Sein Buch sollten alle lesen, die von dürren Lexikon-Artikeln bedient sind und mehr wissen wollen: Sciascia bietet anschaulich Details, zeigt Zusammenhänge, vermittelt insgesamt ein Einblick in die dunklen Zeiten der sich katholisch nennenden Herrscher.
4.
Mit seiner akribischen „detektivischen“ Genauigkeit will Sciascia den Blick auf die Inquisition schärfen. Die „Edition Converso“ hat seine umfangreiche Arbeit (aus dem Jahr 1967) mit dem Titel „Tod des Inquisitors“ in dem Buch „Ein Sizilianer von festen Prinzipien“ herausgegeben. Den „Tod des Inquisitors“ erscheint anlässlich des 100. Geburtstages Sciascias am 8. Januar 2021 in kurzer Zeit schon in 2. Auflage.
Die Studie gilt dem Leben und Leiden des Augustinermönchs Fra Diego La Matina, wie Sciascia in Rocalmuto geboren, im Jahr 1622. Auf dem Scheiterhaufen wurde er 1658 in Palermo als „Ketzer“ verbrannt. Die gemeinsame Herkunft hat das Interesse Sciascias für diesen herausragenden, aber in Deutschland bislang unbekannten Ketzer sicher verstärkt.
5.
Über die Inquisition der katholischen Kirche als Form der Verfolgung und Auslöschung von Irrlehrern ist allerhand schon bekannt. Es war immer die totale Herrschaft des Klerus, die sich auf der Seite göttlicher Weisheit wusste und Andersdenkende, Andersglaubende, verurteilte und auch vernichtete.
Was das Buch von Sciascia wichtig macht: Es bietet bewegende Details, etwa, dass der Akt der Verbrennung wie eine Art religiöses Volksfest begangen wurde. Die Kirchenoberen nannten ihr Morden feierlich „Glaubensakt“. Denn in letzter Minute konnten die „Ketzer“ immer noch zum wahren katholischen Glauben zurückkehren. Andere blieben standhaft, sie verbrannten bei lebendigem Leibe.Und die fromme schaulustige Menge beschimpfte diese „Ketzer“. Zuschauer waren also auch höchst willkommen, als der Augustiner Frau Diego verbrannt wurde. Es gab einen riesigen Aufbau nach Art eines Freiluft-Theaters, mit Getränken und Speisen, wurden zumal die klerikalen Herrschaften die Inquisitoren bestens versorgt. Und vor allem: Den Teilnehmern an diesem Mordsspektakel wurde der Ablass gewährt: Sie würden also in den Himmel kommen, das häretische Brand-Opfer natürlich nicht.
6.
Fra Diego, der Ketzer, gehörte als Diakon dem Reformorden der Augustiner an, den „Augustinern von Sant Adriano“ (S. 59). Er war schon mehrfach wegen Häresie aufgefallen, dreimal wurde er verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, auf die Galeeren verurteilt. Einmal konnte er sogar aus dem Gefängnis der Inquisition fliehen, er wurde wieder verhaftet und nahm dann alle Kraft zusammen, den dort bestimmenden spanischen Inquisitor Don Juan Lopez Cisneros so schwer zu verletzen, dass er an den Folgen alsbald, am 4.4.1657, starb. Sciascia zeigt, mit welcher Verlogenheit dann die Propaganda der offiziellen Kirche diesen inquisitorischen Agenten von Verfolgung und Tötung mit Lobeshymnen überhäufte.
7.
Sciascia konnte trotz aller ausgiebiger Forschungen mangels eindeutiger Dokumente nicht zur Erkenntnis gelangt, was denn inhaltlich gesehen als Häresie Fra Diego vorgeworfen wurde (vgl. S. 97, auch S. 66). Sciascia kann nur aus einzelnen Hinweisen schließen, dass der Augustiner mit aller Leidenschaft für den Respekt des Evangeliums in seiner Kirche und in der weltlichen Herrschaft eintrat. Evangelium hieß für ihn immer: Das Tun der Gerechtigkeit, vor allem für die Armen. Seine letzten Worte kurz vor dem Flammentod werden überliefert: „Also ist Gott ungerecht“. Damit bezog sich Frau Diego auf die willkürliche Bibelinterpretation eines offiziellen Theologen, der mit ihm noch in letzter Minute sprach. Der junge Augustinermönch wird von Sciascia als Verteidiger humaner Werte dargestellt, der – letztendlich – schon damals die gemeinte Sache der Menschenrechte tausendmal wichtiger fand als Kirchenlehren. Fra Diego lebte in der Erinnerung weiter: Wiederum ein Augustiner, Fra Romualdo aus Caltanisetta, befasste sich mit dem „Ketzer“ Fra Diego, und nannte ihn, 50 Jahre nach dessen Hinrichtung, einen Märtyrer. So viel Lob für Fra Diego konnten die Kirchenoberen nicht ertragen, darum wurde der arme Fra Romualdo nun seinerseits am 6.4.1724 von der Inquisition verbrannt.
8.
Man sollte Sciascias Buch lesen und dabei auch seine Ironie, seinen Zorn gegen die Kirche, in den Zeilen und zwischen den Zeilen erkennen. Sciascia kennt auch die Kirche in der Mitte des 20. Jahrhunderts, er weist z.B. darauf hin, dass der Kölner Kardinal Joseph Frings auf dem 2. Vatikanischen Konzil heftig die Inquisition kritisierte (am8. November 1963). Er nannte die Inquisition und ihre personell bestens ausgestattete Behörde im Vatikan „eine Gefahrenquelle für die Gläubigen“ (S.103). Wohl wahr und …wie nett: „Eine Gefahrenquelle“, die man als Gläubiger also besser meidet und ergeben die allgemein vorgegebenen ethischen und dogmatischen offiziellen Lehren befolgt…

Leonardo Sciascia, Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Edition Converso, Bad Herrenalb, 2021, aus dem Italienischen von Monika Lustig. 192 Seiten, 23 €.
Das Buch enthält darüber hinaus ein Grußwort der Übersetzerin Monika Lustig sowie die kleine, aber unglaublich bewegende Studie aus der Zeit der Pinochet – Diktatur in Chile mit dem Titel „Der Mann mit der Sturmmaske“. In diesem Beitrag Sciascias wird auch auf Verbindungen zur verbrecherischen, faschistischen, von Deutschen gegründeten „Colonia Dignidad“ hingewiesen. Erhellend ist auch ein umfangreicherer Essay über Sciascias Leben und Werk von Maike Albath mit dem Titel „Klarheit, Vernunft und Häresie“ sowie ein kurzer Essay von Santo Piazzese über „Die ironie – ein sizilianisches Instrument des Überlebens“.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Der Wahn der „Pro-Life“ Frommen in den USA und ihr Hass auf Präsident Joe Biden.

Katholische Bischöfe der USA gegen Präsident Joe Biden
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
„Gott sieht alles“: Kaum zu glauben, dass ein katholischer Erzbischof so viel theologische Naivität noch im Januar 2021 öffentlich bekennt: Diesen moralischen Spruch, mit erhobenem Zeigefinger gesprochen bei „Standpauken“ in vergangenen Jahrhunderten, erlaubt sich jetzt Erzbischof José Gomez von Los Angeles, USA: „Wir befinden uns alle unter dem wachsamen-strengen Blick Gottes“. Und diese Mahnung bezieht er auf den wenn nicht verhassten, so doch von ihm verachteten katholischen Präsidenten Joe Biden „Gott wird dich, den praktizierenden Katholiken Jo Biden, im Endgericht bestrafen“. Dies ist der Klartext des erzbischöflichen Urteils. Denn Biden begeht die in katholischer Sicht übelste aller nur üblen Sünden: Er verteidigt die gesetzlich geregelte Abtreibung! Erzbischof Gomez ist empört: Die politische Haltung Bidens „fördere die schlechte Moral, sie könnten das Leben und die menschliche Würde bedrohen“. Dies gelte „besonders schwerwiegend in Fragen der Abtreibung, der irrtümlichen Bewertung der Ehe (gemeint ist die sogenannte Homoehe, C.M.) und der Ordnung der Geschlechter“. Wer es immer noch nicht weiß, dem schlägt Erzbischof Gomez noch einmal die oberste katholische Glaubenslehre um die Ohren: „Die Frage der Abtreibung ist für die Bischöfe die erste aller Prioritäten“. (La Croix, 21.1.2021). Wie schön war es doch für diese Herren unter Präsident Trump, der immer wieder sagte: Ich verteidige immer Pro Life!
2.
Erzbischof Gomez, zugleich der Vorsitzende der Bischofskonferenz der USA, befeuert mit seinen Sprüchen nur die Abwehr von Präsident Biden durch konservativ – reaktionäre und, wie wir spätestens seit dem 6.1.2021 wissen, auch rechtsextreme US-Bürger. Sie sind alles andere als eine Minderheit. Die Waffen liegen ja bekanntlich in jedem „guten“ US-Haushalt bereit…
Man möchte vielleicht noch schmunzeln über das Aufwärmen dieses alten infantilen Gottesbildes, wenn die politische Lage nicht ernst wäre: Denn der politische Kampf der katholischen Hierarchen und ihrer Getreuen in den USA geht unter Präsident Biden weiter. Und er bündelt sich in einem einzigen permanent verwendeten Kampfbegriff und der heißt seit Jahrzehnten schon „Pro Life“. Diese beiden Worte sind nur ein Symbol für die kämpferische Ablehnung der umfassenden Selbstbestimmung der Frauen, für den Hass auf die umfassende Gleichberechtigung der Homosexuellen, für die Zurückweisung jeglicher Form der aktiven Sterbehilfe.
3.
„Pro Life“ ist Ersatz für einen spirituellen Gottesbezug, „Pro Life“ wird zum Kampfbegriff für das totale Verbot von Abtreibung, heute üblich im Katholischen Polen und in vielen so genannten katholischen Staaten Lateinamerikas. Diese Leute wehren Flüchtlinge ab, verhindern eine soziale Gesetzgebung, vernachlässigen die Armen, unterdrücken die sinnvolle Geburtenkontrolle, verstärken den Macho-Wahn, d.h. sie sind alles andere als „pro life“ eingestellt
4.
Ich habe auf dieser Website mehrfach darauf hingewiesen, dass Pro Life eine fixe Idee konservativer Katholiken weltweit ist.
Und dass sich hinter dieser fixen Idee der letzte Versuch des Klerus zeigt, noch einmal die Gesetze der Staaten, selbst der Demokratien, zu bestimmen. Der zölibatäre Klerus fordert die Verteidigung des ungeborenen Lebens immer noch so unverschämt, möchte man sagen, angesichts der tausendfachen Verbrechen an Kindern durch Priester, angesichts der üblen, verbrecherischen Behandlung von Kindern in kirchlichen Heimen in Irland und anderswo. Das geborene Leben haben Kleriker oft genug zerstört.
5.
All das ist tausendmal gesagt worden. Warum nun erneut darauf hinweisen? Weil es eine Tatsache ist, dass 2020 ca. 55 Prozent der Katholiken für Trump gestimmt haben, dass die fundamentalistisch – evangelikale Mentalität unter Katholiken sich immer mehr durchsetzt. Dass unter denen, die das Kapitol am 6.1.2021 besetzten, viele Katholiken waren. Sie werden sich durch die Worte von Erzbischof Gomez, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz der USA, bestätigt und ermuntert fühlen. In der Beilage zur Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Titel „Christ und Welt“ vom 21. 1. 2021, Seite 5 berichtet der prominente us-amerikanische Jesuit James Martin: „Während des US-Wahlkampfes haben katholische Würdenträger Joe Biden dämonisiert. Sie sind mitschuldig am Sturm auf das Kapitol.“ Pater James Martin erinnert weiter an ein Statement von Erzbischof Carlo Maria Vigano, er lebt als EX-Nuntius des Papstes in den USA: „Mr. Biden ist eine von der Elite manipulierte Marionette in den Händen von Leuten, die nach Macht dürsten…Die Wahl von Biden werde ein fast satanisches Zeitalter einleiten, das durch Ökumene, Umweltschutz, Pansexualismus und Immigrationismus (sic!) gekennzeichnet sei“. Pater James Martin nennt die Konsequenzen dieses Wahns, vertreten durch höchste Kleriker: „Wenn diese Partei des Todes, (also die Demokraten, C.M.), an die Macht kommt, dann muss man Widerstand leisten, mit allen Mitteln“.
6.
Die USA sind gespalten, und sie bleiben gespalten und die Menschen hassen einander, weil so viele prominente Kleriker viel Unsinn verbreiten. Wir sind gespannt, wie lange der kritische Pater James Martin noch so offen schreiben darf. Der Katholizismus erlebt aller Orten einen Rechtsrutsch, einen Schub ins Irrationale, in eine Glaubenshaltung, die sich von vernünftigen Begründungen verabschiedet. Und manch ein Christ, der noch auf ein vernünftiges Christentum hofft, denkt sehr oft: „O Gott, gebe es doch bloß weniger „Religion“, weniger spinöse Theologie und viel weniger absurde „fundamentalistische Frömmigkeit“.
7.
Wer sich für weitere Details interessiert sollte den Beitrag in der objektiven Zeitschrift „National Catholic Reporter“ lesen vom 21.1.2021 lesen: https://www.ncronline.org/news/politics/dueling-statements-us-bishops-pope-inauguration-day
8.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat geurteilt: Die Nichtgewährung einer realen Möglichkeit auf Schwangerschaftsunterbrechung im Falle eine Bedrohung der Gesundheit der Schwangeren oder einer ernsten Schädigung der „Leibesfrucht“ ist eine Missachtung des persönlichen und familiären Lebens.

PS.:
Es ist gewiss unnötig zu betonen, dass Kritiker der Pro-Life-Ideologie selbstverständlich das menschliche Leben lieben, das Leben in Gerechtigkeit und Würde für alle Geborenen. Kritiker der Pro-Life-Ideologie lieben auch das Leben der ungeborenen Menschen. Sie bestehen nur darauf, dass dieser Lebensschutz des Ungeborenen auch zeitlich genau bestimmt werden muss und in einem Gleichgewicht stehen muss mit der unterschiedlichen Situation der Frauen und deren Selbstbestimmung.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Christentum und Kirche im Kapitalismus.

Weiterführende Überlegungen, anlässlich eines Buches von Rainer Bucher
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Sehr viele verdrängen es, viele wissen es, wenige sagen es laut: Das Christentum ist seit dem Auftreten des Kapitalismus im 18. Jahrhundert („industrielle Revolution“) ein „Christentum im Kapitalismus“. Diese Erkenntnis erläutert jetzt der katholische Theologe Rainer Bucher (Universität Graz) in seinem neuen Buch genau mit diesem Titel: „Christentum im Kapitalismus“.
Ich werde dabei an die offizielle Selbstbezeichnung der evangelischen Kirche in der DDR, Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, erinnert. Der „Kirchenbund“ bezeichnete sich selbst mit Zustimmung von Erich Honecker als „Kirche im Sozialismus“. Dazu gab Bischof Albrecht Schönherr gleich die ausdrückliche Interpretationsanweisung: „Wir sind eine Kirche nicht gegen und auch nicht für, sondern Kirche IM Sozialismus“. Dass dabei die DDR – Herrschaft überhaupt als Sozialismus implizit anerkannt wurde, zeigt, dass diese Selbstbezeichnung de facto mehr war als eine Art geografische Ortsangabe, so, wie man sagen könnte: „Wir sind eine Kirche in Berlin“. Aber das ist ein anderes Thema, genauso wie die Tatsache, dass einige Pfarrer und Kirchenfunktionäre diesen Sozialismus à la DDR offenbar schätzten und deswegen „inoffizielle Mitarbeiter“ („IM“) der Stasi wurden.
2.
Rainer Bucher, Autor des Buches „Christentum im Kapitalismus“, würde seine Interpretation eines Christentums „im Kapitalismus“ niemals analog zur Formel Bischof Schönherrs verstehen, er würde nicht sagen: „Wir wollen ein Christentum nicht gegen, nicht für, sondern bloß im Kapitalismus sein“. Rainer Bucher sieht in „dem“ Kapitalismus vielmehr eine totale, also nicht nur eine ökonomische, sondern auch kulturelle Herrschaft, der die Kirchen unentrinnbar ausgesetzt sind. Der Kapitalismus ist für Bucher „der Souverän“, er „macht sich die anderen untertan, auch die Religion.“ (58). Insofern hat der Kapitalismus längst „gewonnen“, wenn er auch noch nicht ganz „allmächtig“ ist (29). Diese Ambivalenz zwischen einem Kapitalismus als „Sieger“ und noch „nicht ganz allmächtig“ wird vom Autor nicht aufgelöst.
Kann das Christentum sich vielleicht aus dem Kapitalismus befreien und ihn gar mit anderen überwinden? Bloß was kommt dann? Die hartgesottenen neoliberalen Kapitalisten, Millionäre, Milliardäre aller Länder schmunzeln wohl über diese Frage… Sie halten den Kapitalismus und Neoliberalismus für ewig, unersetzbar, zum Kapitalismus gibt es keine Alternative, predigte die neoliberale Zerstörerin des Sozialen, Madame Thatcher.
Trotzdem lohnt es sich beim Thema des Buches zu bleiben. Ohne ein Trotzdem lebt keine Philosophie und eine Theologie schon gar nicht.
3.
Will das Christentum, wollen die Kirchen, in diesem allumfassenden kapitalistischen System wenigstens überleben, müssen sie sich zu ihm kritisch verhalten, das betont der Autor. Er ist wohl schon froh, wenn Christen und Kirchen den Kapitalismus etwas einschränken, etwas bremsen, etwas humaner machen. Dies ist ja die Zielvorgabe der alten SPD. Sozial gesinnte Kreise der so genannten christlichen Parteien in Europa setzten und setzen ausschließlich auf einen inneren Bewusstseinswandel der Bürger: „Sollen die Konsumenten doch anders konsumieren, also etwa Fair-Trade – Bananen kaufen“. Das Wort fair-trade setzt ja automatisch die Erkenntnis frei: Alles andere Obst, Gemüse und Fleisch etc. ist nicht NICHT-fair gehandelt, sondern entstammt unterdrückerischen, also kapitalistischen Strukturen. Nicht-fair Gehandeltes kann zudem „Gammelfleisch“ sein oder das billige Gemüse ist hochgiftig . Wie viele „Rückrufaktionen“ etwa von nicht fair gehandeltem Käse melden die großen Supermärkte wöchentlich. Die Arbeiter auf den „nicht -fairen“ Bananen – Feldern erhalten einen Hungerlohn etc. Den dicken Profit streichen die United-Fruit-Companies etc. ein. Die Supermärkte in Europa sollten also bitte immer den Untertitel führen: „Hier werden vor allem NICHT- fair-gehandelte, also ungerecht gehandelte Waren verkauft“.
4.
Aber die LeserInnen dieser kleinen Buchbesprechung sollen nun bloß nicht meinen, dass in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“ davon die Rede ist. Der Autor hätte ja auch zurecht darauf hinweisen können, dass bei kirchlichen Empfängen und in kirchlichen Akademien usw. fair- trade- Coffee (also anti-kapitalistischer Kaffee) serviert wird. Dieser beruhigt das fromme Gewissen. Fair gehandelter Kaffee beunruhigt aber nur ein ganz kleines Bisschen die nicht fair agierenden Groß-Unternehmen. aggressiven Praktiken des Kapitalismus/Neoliberalismus.
5.
Wenn man schon von Kapitalismus spricht, wäre es auch von der Sache her geboten, den alles entscheidenden Begriff zu besprechen, also vom Klassenkampf zu sprechen, auch vom Klassenkampf im Zusammenhang von Glaube und Kirche. Nur nebenbei: Der katholische Theologe und Philosoph Giulio Girardi hat diesen Zusammenhang von Kirche und Klassenkampf ausführlich reflektiert, er wurde deswegen als Priester aus dem Salesianerorden (SDB) ausgeschlossen und durfte nicht mehr an katholischen Fakultäten lehren. Früher hätte man ihn als Ketzer gern verbrannt, jetzt rettete ihn der liberale Rechtsstaat.
6.
Solche heißen Eisen („Klassenkampf und Kirche“) berührt Rainer Buch in seinem Buch „Christentum im Kapitalismus“ nicht. Er hätte ja dabei an die ganz wenigen katholischen Bischöfe erinnern können, die den Klassenkampf in ihren Ländern und Bistümern genau erkannten und sich bewusst der Klasse der Unterdrückten angeschlossen hatten, von Bischof Pedro Casaldáliga (Brasilien) wäre also zu sprechen gewesen oder von Erzbischof Helder Camara (Brasilien) oder dem heiliggesprochenen Erzbischof Oscar Romero (El Salvador). Auch Bischof Jacques Gaillot (Evreux/Partenia) hat sich mit den unteren Klassen solidarisiert. Gaillot wurde bekanntlich vom Papst als Bischof von Evreux abgesetzt, weil der damalige französische Innenminister Pasqua die Kritik Gaillots an der offiziellen Ausländerpolitik nicht ertragen konnte…
Rainer Bucher fasst also ein gewaltiges Thema an, aber er bietet eine viel zu knapp ausgefallene Studie. Sie hat zudem noch den milde klingenden Untertitel hat: „Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt“. Ist der Kapitalismus im Ernst „Verwaltung“ zu nennen? Verwaltung bewahrt ja wenigstens, Kapitalismus aber zerstört vieles um des Profites willen. Das ist evident.
Bucher übernimmt also mit dem Untertitel diese äußerst dürftige Kapitalismus – Definition des Philosophen Jean – Luc Nancy (S. 20). Später (S. 38) betont Bucher: Nancy fasse den Kapitalismus als „ökonomisches System“ mit der Bevorzugung individueller Eigentumsrechte, zweitens als das Zur-Ware-werden alles Lebendigen sowie als die absolute Geltung des Kapitals, um Gewinne in der Zukunft zu machen.
Die heute von einer überwältigenden Mehrheit der Soziologen und Philosophen gängige Beschreibung eines eher totalitären
Kapitalismus fehlt auch bei Bucher,. Die wesentliche Einsicht der führenden Kapitalismus -Kritiker lautet: Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit, die Anzahl der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten weltweit nimmt ständig zu, Millionen Menschen krepieren förmlich in ihren Slums, die Reichen haben sich an das Elend ihrer vielen Millionen Mitmenschen gewöhnt, sie sind bestenfalls noch zu Spenden bereit usw.. Der Kapitalismus als Neoliberalismus zerstört die Natur und die Umwelt mit seinem Wahn, alles Natürliche in Ware und damit in Geld zugunsten der Konzerne zu verwandeln. Der Kapitalismus mag es sehr, wenn autoritäre Regierungen etwa bei ihrer Naturzerstörung den internationalen Konzernen freie Hand lassen, wie etwa in dem verbrecherischen System zur Zeit in Brasilien. Der Kapitalismus als Ideologie des ständigen ökonomischen Wachstums ist wesentlich kriegerisch: Abwehr und Krieg, Waffenproduktion in Hülle und Fülle und Folter und Verfolgung und „Erzeugung“ von Millionen Flüchtlingen sind das Wesen des Kapitalismus/Neoliberalismus. Dass dann die von den Kapitalisten „erzeugten“ „Flüchtlingsströme“ keine menschenwürdige Aufnahme finden, gehört zum kapitalistischen Ungeist. Mit Unsummen von Geld aus Europa sollen ärmere Nationen (Türkei, Kenia, Uganda, Libyen, Niger usw.) diese vom Kapitalismus erzeugten „Flüchtlingsströme“ von den reichen Ländern bitte schön fernhalten. Und die Kirchen als Kirchen in diesem Kapitalismus bitten um Spenden für diese armen Menschen, sagen aber nicht den Regierenden klar und deutlich: Eure „christliche“ Politik ist nicht mehr menschlich, wir können sie nicht mehr unterstützen. Darüber wird nicht einmal diskutiert. Früher sprach die evangelische Kirche von politischen Situationen, in denen der „status confessionis“ gilt, ein alter Begriff, den man bitte weiter studiert in aktuellem Zusammenhang von „Kirche und Kapitalismus“
7.
Der große Soziologe Hartmut Rosa, wahrlich kein Marxist und „Klassenkämpfer“, beschreibt in seinem Buch „Resonanz“ treffend den Kapitalismus als dem ständigen Wachstum verpflichtet, mit seiner Steigerungslogik, der Sucht nach Profit, Gewinn, Rendite (Seite 725 f. in der Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages 2019). Hartmut Rosa spricht von der „Ersetzung der blindlaufenden kapitalistischen Verwertungsmaschinerie“ (S. 726), von einer totalen Verwertungslogik, und er zitiert in einer Fußnote Karl Marx aus seinem Kommunistischen Manifest. Marx klagt den Kapitalismus an, weil er auch „alles Heilige entweiht“ (S. 680, Fn., 59). Dass sich hier auf Hartmut Rosa hinweise, geschieht sozusagen prophylaktisch, um allen konservativen Geistern zu zeigen: Die tiefgreifende und begründete Ablehnung des Kapitalismus/Neoliberalismus ist in der Welt der Wissenschaft wenn auch nuancenreich, aber universal und selbstverständlich.
8.
Der Ton in Buchers Buch bleibt moderat, der Autor meidet meines Erachtens die wirklichen heißen Fragen bei seinem Thema. Trotzdem lohnt es sich das Buch von Rainer Bucher zu lesen, schon allein deswegen, weil es über den Text hinaus zu weiterem Nachdenken anregt.
Das Buch bietet etwas Material zu den theologisch bislang kaum wahrgenommenen heutigen Marxisten wie Vattimo, Badiou, Zizek.
Das Buch von Rainer Bucher bleibt zudem inspirierend, weil klar gesagt wird: „Auch Religion und Glauben werden in Zeiten des Kapitalismus vom Kapitalismus geprägt, zutiefst und zuinnerst“ (46).
9.
Viele Themen, die das Buch nicht ausführlich behandelt, fallen dem Leser bei der Lektüre selbst ein: Ich nenne nur einige:
9.1.
Allein schon die Einbindung des europäischen Katholizismus in die Kolonialgeschichte wäre ein ganz dringendes Thema wie etwa auch die Frage: Warum glauben eigentlich die (von den Kolonialherren wie Untermenschen behandelten Afrikaner) dem christlichen Glauben, also der Religion der kapitalistisch – imperialistisch geprägten Kolonialherren? Wollen sie die kapitalistisch geprägte Denkform der europäischen Kirche nun ihrerseits übernehmen und eine afrikanisch – kapitalistische Kirche aufbauen? Wer einige Pfingstkirchen in Nigeria oder Brasilien studiert, kommt angesichts deren „Wohlstandsevangelium“ schnell zu dieser Überzeugung.
9.2.
Wenn die kapitalistische Mentalität des Verfügens und Beherrschens auch die kirchliche Spiritualität bestimmt, dann wären ganz dringende Themen zu bearbeiten: Das Festhalten an einer Hierarchie, an der pyramidalen Ordnung, entspricht den hierarchisch strukturierten Großunternehmen. Auch die miserable Rolle, die an führender Stelle Frauen in der katholischen Kirche oder der Orthodoxie spielen, gilt genauso für neoliberale Großunternehmen. Wenn der Kardinal von München jetzt ein Monatsgehalt von 12.526 Euro (B 10) erhält, entspricht diese Honorierung in etwa dem Gefälle der Gehälter in Großunternehmen zwischen Top-Leuten und kleinen Angestellten. Die Kirchen haben sich längst daran gewöhnt, sich wie Großbetriebe zu verhalten. Wenn zum Beispiel klerikales Personal nicht mehr zur Verfügung steht, um alle vorhandenen Pfarreien zu „bedienen“, werden einfach Gemeindehäuser geschlossen und die Kirchengebäude nur noch mit reduziertem Aufwand bedient. Genauso verhalten sich Unternehmen, die allein nach Gesichtspunkten des Profits ihre Filialen aufrechterhalten. Gibt es weniger Kirchenmitglieder, werden Pfarreien geschlossen. Gibt es weniger Kunden, werden Geschäfte dicht gemacht.
9.3.
Es wäre bei dem Thema dieses Buches angebracht, die innere Verdorbenheit der christlichen Glaubenslehre durch den Kapitalismus dreizulegen. Ich kann Aspekte dieses umfassenden und noch weiter auszuarbeitenden Themas hier nur andeuten:
Auch in den Kirchen gibt es die Herrschaft der großen Zahlen: Ein Gottesdienst, eine Predigt, waren dann gut, wenn sehr viele Leute im Gottesdienst waren und die Predigt hörten. Ich erinnere mich an die Klagen der Pfarrer: „Heute waren nur alte Damen im Gottesdienst“. Was ist daran schlimm? Alte Menschen haben – kurz vor Lebensende – ein gutes Recht, spirituelle Impulse zu erhalten. Und modern und jugendlich wollen die Gemeinden der schon äußerlich häßlichen Mega – Churches sein, in den USA, Nigeria, Korea oder Brasilien: Die Gottesdienste, die sie anbieten, sind als totales Show-Programm konzipiert, mit allerhand Singsang und körperlichen Verrenkungen frommer Tanz-Gruppen und den endlosen Monologen der Pastoren, die allen Erlösung versprechen, wenn sie ordentlich für den Pastor spenden. In diesen Mega – Churches wird das „Wohlstandsevangelium“ verkündet: Wer arm ist, der ist selber schuld. Das hätte der Ökonom Hayek, der Heilige der Neoliberalen, nicht besser formulieren können. Diese Mega-Churches sind religiös angehauchte kapitalistische Unterhaltungstempel.
9.4.
Aber damit wird die Frage wichtig: Wie weit ist die innere Glaubenswelt, also das Dogma, das Gebet, die Liturgie, die Kirchenlieder, von der kapitalistischen Mentalität bestimmt? Warum hält die katholische Kirche immer noch am Ablass fest und bietet ihn etwa zu Ostern sogar via Fernsehen, Radio, Internet an? Warum hält die katholische Kirche wie einst, so auch heute, daran fest, dass einfache Laien bei den Priestern Messen „bestellen“ können, gegen ein gutes Honorar freilich? Eine fremde Person betet also anstelle meiner, bloß weil ich diese Person, den Priester, dafür bezahle? Die katholischen Männerorden machen auf diese Weise immer noch ein „dickes Geschäft“. Für die Allmacht des Geldes, etwa im Katholizismus, ein weiteres Beispiel: Warum sind Heiligsprechungen so teuer? Viele tausend Euro, mindestens 50.000 Euro, müssen etwa Ordensgemeinschaften für die Heiligsprechung ihres Gründers der entsprechenden vatikanischen Bürokratie „für Heiligsprechungen“ bezahlen.
9.5.
Kapitalismus ist Egoismus: Das ist ein ganz banaler, aber immer noch treffender Basisaspekt kapitalistischer Mentalität. Der Egoismus der Beter wäre zu untersuchen, in den immer noch populären Bittgebeten: Zuerst und vor allem möge ich gerettet werden, heißt die Standardformel aller Bittgebete.
Auch von der Opfertheologie wäre zu sprechen, die in verschiedenen Konfessionen immer noch eine große Bedeutung hat, bis hin zu den grausigen Liedern am Karfreitag: Jesus Christus opfert sich am Kreuz leidend für die Erlösung der Menschen, weil es sein himmlischer, angeblich liebender Vater, dies so will. Opfert euch auf, rufen die Kapitalisten den Armen zu, gebt euch hin der Arbeit, es gibt keine Alternative für euch, ihr müsst bis zum Umfallen schuften in unseren Fabriken, vielleicht erlauben wir es dann euren armen Kindern, dass es ihnen etwas besser geht. Indem das Christentum den Wahn des Opfers in den religiösen Mittelpunkt stellt, öffnet es die Türen für die Opfer – Ideologie der kapitalistischen Herren-Menschen. Darüber hätte ich auch gern ein paar Zeilen gelesen in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“.
10.
Lässt sich das Christentum wenigstens noch partiell in der PRAXIS vom Kapitalismus befreien? Eine schwierige Frage, auch zu dem Thema bietet das Buch „Christentum im Kapitalismus“ eher wenig. Man hätte doch sprechen können von den kleinen, aber wirksamen Gruppen innerhalb des kapitalistisch beherrschten Christentums, etwa den nicht nur in den USA, sondern weltweit präsenten Gruppen der „Catholic Worker“. Von christlichen anarchistischen (sic!) Gruppen wäre zu sprechen, von den “Religiösen Sozialisten” in der Schweiz, vor allem von den Basisgemeinden weltweit, die selbst die verheerende konservaive Pastoral-Politik des Vatikans nicht vernichten konnte. Es wäre zu denken an die Gemeinden, die wie etwa in Holland, aus dem Verbund mit den Bistümern ausgestiegen sind und unabhängige, selbst finanzierte Gemeinden sind, wie etwa die Dominikus – Gemeinde in Amsterdam (Spuistraat).
11.
Darüber hinaus wäre natürlich der enge theologische Blick zu überwinden, dass man Religion nur da vermutet, wo Religion draufsteht. Kurzum, es wäre zu fragen, ob die wahren Partner eines antikapitalistischen Christentums nicht bei den NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Greenpeace, NABU, AVAAZ) zu suchen sind. Mit denen ließe sich dann die schwere Frage erörtern, wie denn ein Leben de facto zwar noch innerhalb, geistig/politisch/spirituell außerhalb des heute dominanten Kapitalismus aussehen kann.
12.
ZUR SPRACHE:
Nur eine kleine Kritik am Schluss: Bei einer weiteren Neuauflage würde ich herzlich bitten, um des erreichbaren Verständnisses willen, den tatsächlich aus 17 (oder sind es 18?) Druckzeilen bestehenden Satz auf Seite 49) in mindestens drei Sätze aufzulösen.
Und schlechterdings unverständlich, selbst für einen Theologen, ist dieser Satz auf Seite 152: „Ohne die Dynamik des Prozedierens petrifizieren die paradoxen Polaritäten des Christentums entweder an einem ihrer Pole oder diese Balance rastet ein…“ Eingerastet ist auch mein Begreifen als ich von einer „lokalen Entbettung“ (S. 65) las. „Einbetten“ und „Umbettung“ (auf Friedhöfen) geht ja noch. Aber „Entbettung“? Ist Entbettung vielleicht eine neue Strategie des Kapitalismus, uns sogar noch unsere Betten zu nehmen? Den Schlaf raubt der Kapitalismus einigen Leuten ja ohnehin schon.

Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt. Echter Verlag, Würzburg, 2.Aufl. 2020, 224 Seiten, 19,90€.

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