Für den Bruch mit der bestehenden Kirche.

Der katholische Theologe Hubertus Halbfas plädiert für eine “säkulare Frömmigkeit”.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Das neue Buch des katholischen Theologen Hubertus Halbfas ist – im ganzen gesehen – ein dringender Aufruf zu einer grundstürzenden Reformation der Kirchen: „Nur ein Systembruch (mit dem dogmatischen Kirchensystem, CM) kann die Kirchen retten“ (S. 139), „sonst bleibt auch das Rest-Christentum entbehrlich“ (S. 200).
2.
Halbfas hat einen radikalen Reformvorschlag, also einen an die Wurzeln des bisher Selbstverständlichen gehenden Vorschlag: Nur eine säkulare Frömmigkeit, die kritische Glaubende wie kritische Nichtglaubende gemeinsam (!) leben und reflektieren können, ist noch relevant für die Menschen von heute. Er denkt dabei an die gebildeten Europäer, nicht aber an die Armgemachten in Afrika oder Lateinamerika, die Religion immer noch als Opium offenbar brauchen und gebrauchen.
3.
Das neue Buch von Halbfas könnte trotz dieser Begrenzung als eine Art Impuls für die aktuellen „Reformbewegungen“ („Maria 2.0“ etc.) und den so genannten „synodalen Weg“ gelesen werden. Diese immer noch ein bisschen hoffnungsvoll gesinnten noch kirchentreuen Katholiken sollten, salopp gesagt, das Buch debattieren und es ihren Bischöfen, Generalvikaren, Ordensoberen usw. schenken „Bitte lesen, Pflichtlektüre“.
4.
Hubertus Halbfas ist ein viel gelesener Autor mit etwa 16, zum Teil sehr umfangreichen Büchern (allein im Patmos Verlag) und ein deutlich schreibender und klar denkender, vor allem umfassend gebildeter Theologe. Er wird sich gesagt haben: Mit meinen 88 Jahren brauche ich jetzt auf keinen Hierarchen mehr Rücksicht zu nehmen. Dies hat er auch nie getan. Er hat die Gabe der Zuspitzung und der Radikalisierung von Erkenntnissen, eher eine Seltenheit unter katholischen Theologen Deutschlands.
5.
Warum ist das Buch „Säkulares Christentum“ so wichtig? Halbfas nennt in aller Kürze die wichtigsten theologischen und bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gestalt Jesu Christi, zu den Kirchen und ihren Dogmen. Es sind Erkenntnisse, die in der theologischen Forschung überhaupt keinem Zweifel unterliegen, die aber von den (an alte Dogmen gebundenen) Hierarchien und ihren Theologen (sollte man besser sagen: Ideologen) ignoriert werden.
6.
Einige Erkenntnisse, an die Hubertus Halbfas in seinem neuesten Buch erinnert:
– Jesus von Nazareth ist nicht der Gründer der Kirche(n).
– Paulus kannte offenbar nur sehr wenige Lehren des historischen Jesus (etwa seine Gleichnisse). Paulus hat autoritär eine Dogmatik entworfen. Zum Beispiel: Gott als Vater im Himmel opfert seinen Sohn zur Erlösung der Menschheit. Es gibt einen „Unterschied zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium des Paulus“ (S. 200). Die „paulinische Erlösungskonstruktion ist eine fehlgeleitete Entwicklung“ (S. 162). Nicht erwähnt wird von Halbfas die zweifellos vorhandene poetische Begabung des philosophisch gebildeten Apostels Paulus, etwa sein „Hohes Lied der Liebe“ (1. Korintherbrief, Kap. 13), es sagt in seiner Deutlichkeit einen verwandten Inhalt zum Gleichnis Jesu vom „Barmherzigen Samariter“.
– Jesus von Nazareth, der Prophet, wurde seit dem 4. Jahrhundert als die zweite „Person“ einer göttlichen Trinität gedacht und damit auch als wahrer Gott verstanden und verehrt. „Der Christus ist eine Kunstfigur, ihn braucht die Kirche für ihre eigenen Repräsentation, für Herrschaft und Glanz“ (S. 140).
– Der authentische Jesus von Nazareth hat „mit dem Kirchen- Jesus der meisten Gebete, Lieder und Bilder nichts gemeinsam“ (S.191).
– Jesu Lebensprogramm ist das auch weltlich erfahrbare und realisierbare „Reich Gottes“ als ein Leben der universellen Gerechtigkeit. Das Spezifische an Jesus wird in seiner „offenen Mahlgemeinschaft“ sichtbar, das gemeinsame Speisen an einem Tisch mit unterschiedlichen, zum Teil einander verfeindeten Menschen (S. 176 f.). Diese offene Tischgemeinschaft haben die Kirchen zu einem exklusiven Sakrament umgedeutet und religiös verfremdet. Hier setzt Halbfas seinen Impuls: Erlösung im Sinne Jesu ist nicht ein transzendentes Geschehen, Erlösung als politische Befreiung geschieht auf Erden. Was „post mortem“ für die Menschen kommt, werden wir dann sehen, meint Halbfas….
– Die Dogmatik der ersten Jahrhunderte folgte der Macht, die vor allem ein Augustinus ausübte, etwa, als er seine Erbsündenlehre erfand und gegen Widerstände (gegen Bischof Julian von Eclanum u.a.) durchsetzte. An diesem Wahn des furchtbaren Erbsündendogmas halten die allermeisten Kirchen bis heute fest. Und vertreiben mit diesem Dogma nachdenkliche Christen aus den Kirchen.
– Die (katholische) Hierarchie hat sich also der von ihr erfundenen Christus-Gestalt bemächtigt und schließt in ihrer Herrschaft Frauen vom Priesteramt aus; die Hierarchie verfügt über die Gesetze der Moral, des Zugangs zu den Sakramenten etc. Die Hierarchie hat sich ihre eigene, von außen nicht kontrollierbare Welt aufgebaut.
– Es gibt Menschen, natürlich auch außerhalb der Kirchen, die dem Lebensentwurf Jesu entsprechen, die also als die weiteren Jesus-Gestalten angesprochen werden könnten: Halbfas nennt als Beispiele: Gandhi oder Janusz Korczak, Franz Jägerstätter und Maximilian Kolbe (S. 188f.).
7.
Sein Buch versteht der Autor ausdrücklich, vom Titel her, als Impuls für eine „säkulare Frömmigkeit“: Fromm hat für ihn eine ungewohnte, durchaus merkwürdige Bedeutung. Ich würde den Mut haben, diesen Begriff „säkulare Frömmigkeit“ mit „humanistischer jesuanischer Frömmigkeit zu übersetzen. Halbfas versteht Frömmigkeit als “rechtschaffen, sorgfältig, tüchtig, vortrefflich“ (S.11). Zur säkularen Frömmigkeit gehört selbstverständlich auch der Respekt vor den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungen, der Biologie, der Geschichte, der Religionsgeschichte usw. Ich persönlich finde dieses Verständnis von Frömmigkeit noch zu eng, denn zum Menschen gehört auch das Transzendieren, die Erfahrung des unendlichen Geborgenseins in einer göttlichen „Hand“. Halbfas spricht selbst später davon, wenn er etwa ein Gedicht des Romantikers Eichendorf bewegend findet. Warum also diese enge Definition von Frömmigkeit?
8.
Wichtig bleibt der Hinweis von Halbfas: Ein Glaube, der an den Realitäten der heute erkennbaren Wissenschaften „vorbei-glaubt“, ist existentiell nicht hilfreich und deswegen auch sinnlos. „Nicht Flurprozessionen, sondern der chemisch richtige Dünger sichert eine gute Ernte. Nicht Gelübde schützen vor Diphterie und Scharlach, sondern eine Forschung, die den schützenden Impfstoff erfand“ (S. 47).
9.
Diese säkulare Frömmigkeit verbindet Glaubende wie Nichtglaubende. Insofern kann sich Halbfas selbst auch als säkular verstehen. In diesem Sinne benutzt er das Wort Gott nicht mehr als Titel, der reserviert wäre allein für Glaubende: “Ein Atheist kann das mit dem Wort Gott Gedachte als geistigen Entwurf des Weltganzen nehmen…“ (S. 171).
10.
Der Glaubende im Sinne von Halbfas erlebt eine innere, bleibend-geistig-seelische Präsenz. Dabei beruft sich der Autor auch auf den mittelalterlichen Philosophen Meister Eckart. Dessen Hinweis auf den „Göttlichen Funken“ in der Seele eines jeden Menschen findet Halbfas sehr angemessen für ein „aufgeklärtes Christentum“, wie das Buch im Untertitel fordert.
Interessant und weiter sehr bedenkenswert in dem Zusammenhang auch der viel zu knappe Hinweis: “Wir können auch die Stimme unseres Gewissens … als Stimme Gottes ansehen“ (S. 57). Leider werden diese Einsichten wie auch die zu Meister Eckart nicht vertieft. Das bestätigt den eher thesenartigen Charakter des Buches und weist auf einen Mangel an philosophischer Reflexion hin (Kant, Hegel etc.)
11.
Dies empfinde ich als überflüssig, wenn nicht störend: Der Text stellt sich als Dialog dar. ABER: Die Fragen stellt der Autor selbst. Gerade bei dem Thema und dem Titel wäre eine echte Person als Fragende sehr sinnvoll gewesen.
12.
Zur weiteren Debatte regen die Hinweise zum Sinn des Betens, vor allem der Fürbitte an; dazu hat sich Halbfas schon vor Jahrzehnten geäußert. Für ihn sind Bittgebete immer irgendwie egozentrisch und Ausdruck eines magischen Denkens. „Man kann nicht dafür beten, dass Borussia Dortmund gegen Bayern München gewinnt“ (S. 49). Beten für etwas hat bei Halbfas vor allem den Sinn: „Ich muss mich fragen, was ich etwa für einen Kranken tun kann, für den ich bete“ (S. 49).
13.
Problematisch finde ich, dass Halbfas nicht sieht: Das „klassische“ Beten, auch das Bittgebet, kann die Bedeutung einer persönlichen Poesie haben, auf die sich die Betenden dann noch einmal nachdenkend beziehen. Dabei könnten sie entdecken, dass sie durch diese Gebete in ihrem Wünschen und Fragen über alles weltlich Verfügbare hinausreichen, dass sie sich in ihrem Denken von sich selbst befreien und dem anderen denkend und liebevoll gesinnt zuwenden, dessen Stärke und Schwäche sehen. Solch ein Beten für einen anderen in diesem Sinne hat nicht den Charakter eines „magischen Denkens“. Es führt zur inneren Reife und Selbstfindung und „Nächsten-Findung“.
14.
Problematisch finde ich das erste Kapitel des Buches, das stark eintritt für den Glanz der griechischen Götterwelt. Halbfas spricht da von „poetischer Gültigkeit der altgriechischen Welt“ und dem „darin aufleuchtenden Geheimnis“ (S. 19). Kann man ja mal behaupten, aber es sei daran erinnert: Die ersten Philosophen Griechenland, wie Platon, waren froh, die griechischen Göttermythen im Logos hinter sich gelassen zu haben. Die Schönheit der Götter in ihren Statuen wird dann philosophisch vermittelt! Wir wissen heute aus vielerlei Mythen, wie diese Götter unter sich verfeindet waren, wie widersprüchlich ihr Charakter, wie verworren die Erzählungen sind. Diese Götterwelt muss nun wirklich nicht herhalten für ein heutiges Gespür von Heiligem und von Frömmigkeit. Von Kleists „Amphytryon“ usw. will ich lieber gar nicht sprechen. Ebenso wenig, inwiefern sich da Türen zum Polytheismus öffnen. Den muss man ja nicht verteidigen, wenn man den fundamentalistischen Monotheismus ablehnt. Das gilt allgemein und ist nicht auf Halbfas bezogen.
15.
Wie schon gesagt: es fällt auf, dass bei Halbfas doch eine gewisse Liebe zur Romantik durchbricht. So ganz rationalistisch will er dann doch nicht sein. Er will ja nicht nur die antike (also altgriechische) Naturfrömmigkeit, sondern auch das romantische Naturgefühl in den Diskurs über Religion einführen“ (S. 74). Halbfas spricht voller Achtung und Verehrung von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, er sieht darin “mehr Frömmigkeit als in kirchlichen Gebetbüchern“ (77). Es gibt ja nun auch vernünftige Gebete, die sich auf einen personal gedachten Sinngrund („Gott“) von allem beziehen und nicht in einem stimmungsvoll schönen Mondnacht-Erleben verbleiben, ich denke an Bonhoeffers späte Gebete. Aber vielleicht, ironisch gefragt, können die Menschen auch zum Mond ein personales Verhältnis entwickeln, der Mond, der ihnen letzte Geborgenheit vermittelt…Wer weiß… darüber wäre zu diskutiere.
Deutlich ist jedenfalls: Auch die rationalistische Theologie kommt nicht ohne einen Rest von Verzauberung und romantischen Gefühlen aus. Das ist, philosophisch gesehen, nicht „schlimm“, wenn denn gesagt würde: Der menschliche Geist steuert den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und romantischen Gefühlen. Von dieser koordinierenden, steuernden Funktion des Geistes ist leider keine Rede.
16.
Dass von der Evolution gesprochen wird, ist natürlich richtig und selbstverständlich. Ich hätte mir nur mehr präzisere Formulierungen gewünscht: Auf Seite 30 schreibt Halbfas: „Wir sind mit zwingender Konsequenz Geschöpfe der Evolution“ (S. 30). Wir sind Geschöpfe der Evolution, heißt das: Also hat uns die Evolution geschaffen? Aber: Wer oder was hat denn die Evolution erschaffen? Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Auch der Geist ist ein Produkt des evolutionären Geschehens. Er ist bereits in der toten Natur mit angelegt und insgesamt dem Universum inhärent“. Woher aber kommt dieser richtig erkannte „inhärente Geist“, dieses „Produkt des evolutiven Geschehens“?
17.
Vieles andere bleibt merk-würdig im kritisch – fragenden Sinne: Die globale politische Ungerechtigkeit des Neoliberalismus wird nicht umfassend angesprochen, auch nicht das Miteinander der verschiedenen Religionen, Islam, Buddhismus, Judentum, Hinduismus usw.
18.
Wichtig sind die Hinweise etwa zur theologischen Rechtfertigung der Kriege und der kirchlichen Abweisung von Wehrdienstverweigerern (S. 111 f). Seit Kaiser Konstantin stehen die Kirchen auf der Seite der Machthaber. Davon werden sie sich „nie mehr erholen können“ (S. 113), betont Halbfas. „Der jesuanische Ursprung und sein Reich-Gottes-Konzept sind in der kirchlichen Realität verblasst“ (ebd.).
19.
Welcher Gesamteindruck bleibt nach der Lektüre dieses Buches? Selbstverständlich wird jede LeserIN eigene Konsequenzen ziehen. Viele werden wohl die Konsequenz ziehen und die Institution Kirche als (zahlendes) Mitglied verlassen. Das geschieht ja auch. Aber was dann? Fühlen sich doch viele der „Ausgetretenen“ durchaus als spirituelle, vielleicht sogar als jesuanisch interessierte Menschen. Werden sie die Kraft haben, eigene Gemeinden der kritischen religiösen Vernunft zu schaffen? Oder sich den wenigen bestehenden „freisinnigen“ Kirchen anzuschließen?
20.
In jedem Fall wird aber deutlich, dass Halbfas die humane, „humanistische“ Lebenspraxis (im Sinne eines ursprünglichen Jesus von Nazareth) über alles geschätzt und empfiehlt. Explizit religiöse Kulte, Gebräuche, Riten hingegen bleiben unter dem Verdacht, nur die Herrschaft des Klerus zu stützen und Menschen von einem authentischen Leben abzulenken.
Religiöse Kulte, wie Wallfahrten, Prozessionen, Reliquienverehrungen, in den südeuropäischen und osteuropäische Ländern üblich, werden schnell missbraucht zur Verschleierung realer Zustände. Diese Kulte und Prozessionen, fördern, wenn sie denn mehr sind als touristische Folklore, nur die Scheinheiligkeit der Herrschenden. Und trotzdem werden sie vom Klerus weiterhin dem „Volk“ aufgedrängt. In Süd-Italien hat die Mafia ihre bis vor kurzem noch offiziell – kirchlich unterstützten Wallfahrtsorte. Und die katholische Volksfrömmigkeit in vielen Staaten Lateinamerikas hat auch nicht gerade demokratische und weithin gewaltfreie Verhältnisse geschaffen. Katholische Länder sind kaum Vorbilder der Demokratie, das liegt -psychologisch betrachtet – auch daran, dass die Leute wissen: Die „heilige römische Kirche“ ist selbst nicht demokratisch organisiert, sie kennt keine Gleichberechtigung von Frauen. Wenn das bei einer „von Gott gestifteten“ Institution Kirche so ist: Warum soll denn unser Staat demokratisch sein? Warum sollen die Männer aufhören extrem machistisch zu sein und Gewalt gegen Frauen normal zu finden? Diese Zusammenhänge sollten diskutiert werden.
So wie auch der evangelikale Glaube oder der Glaube vieler Pfingstgemeinden etwa in Nigeria den Zustand politischer und ökonomischer Ungerechtigkeit eher verfestigt. Christliche Religion ist also weithin oft Opium des Volkes, was selbstverständlich auch für alle anderen Religionen gilt. Ohne Religionen als Klerus-Herrschaft religiös sein und ohne Kirchenbindung jesuanisch sein – das ist wohl die Herausforderung religiös bzw. spirituell interessierter Menschen heute und morgen.

Hubertus Halbfas, „Säkulare Frömmigkeit. Gespräche über ein aufgeklärtes Christentum“. Patmos Verlag, 2021, 208 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Priester segnen homosexuelle Paare – der Beginn einer Reformation in Deutschland?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.5.2021

1.
Wenn in Deutschland im Umfeld des 10.5.2021 in etwa 110 katholischen Kirchen durch katholische Priester Partnerschaften von Homosexuellen feierlich und öffentlich gesegnet werden – dann ist dies in offizieller katholischer Sicht als Rebellion zu bewerten.
Wenn es ein einziger Priester getan hätte, so wäre er sofort suspendiert wurden wegen Ungehorsam. Aber werden es sich Vatikan und Bischöfe erlauben, mehr als 100 Priester zu bestrafen? Möglich ist alles. In einer Kirche ohne demokratische Verfassung und demokratische Gerichtsbarkeit muss jeder und jede Katholikin immer mit allem Schlimmen rechnen… Zumal der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bätzing, diese Segnungsgottesdienste für homosexuell Liebende ausdrücklich und öffentlich ablehnt, bzw. aus Angst vor Rom ablehnen muss. Er nennt sie „keine hilfreichen Zeichen“. Was für eine verräterische Formel: Nicht hilfreich für wen? Für den Bischof selbst, der sich von Reaktionären anhören muss, nicht hart gegen diese Aufwiegler aus Homo-Kreisen durchzugreifen. Aber hilfreich kann doch ein Segnungsgottesdienst für die Betroffenen wohl sein, oder? Ist das nicht entscheidend? Es ist eine verräterische, eine üble Formulierung von Bischof Bätzing also. Dadurch stellt sich, wie so oft in der römischen Kirche, ein Bischof gegen seine Gemeinden, nur weil er dem Papst und den Vatikan-Beamten absolut gehorchen muss, um nicht in Ungnade und damit in finanzielle Degradierung zu gelangen. Man denke an die Absetzung des mutigen französischen Bischofs Jacques Gaillot durch den Vatikan.
2.
Diese Segnungsgottesdienste hätten die Dimension, wirklich zu der von vielen ersehnten umfassenderen Rebellion gegen den Vatikan und seine getreuen Beamten (Bischöfe) zu werden. Die hilflose Wut vieler Katholiken auf Rom, auch auf den zaudernden und immer widersprüchlichen Papst Franziskus, ist bekanntlich groß, sie „kanalisiert“ sich jetzt nur in diesen Segnungsgottesdiensten. Aber noch ist niemand da, der sich als Leitfigur in diesem „Kampf mit Rom“ abzeichnet, so wie es einst der Augustinermönch Martin Luther war. Immerhin haben die Augustiner in ihrem Kloster in Würzburg den Mut des Widerspruchs gezeigt und ein großes Plakat außen an ihrer Kirche befestigt: „Wir können doch gar nicht anders als segnen“. Das Plakat mit der richtigen Aussage wurde aber von Unbekannten abgerissen und zerstört, die Augustiner haben dies der Polizei gemeldet. Ihr richtiger Spruch erinnert entfernt an ihren Mitbruder Martin Luther, der in Worms 1521 gesagt haben soll: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Heute sagen die Augustiner: „Wir können doch gar nicht anders als segnen“. Hoffentlich bewahren sie sich ihren rebellischen Geist. Aber sie sind ja wohl mit dem sehr mutigen Studentenpfarrer Burkard Hose, Würzburg, freundschaftlich verbunden.
3.
Ein „Highlight“ der Segnungsgottesdienste wäre es natürlich, wenn sich zwei schwule Priester-Freunde als Paar nun auch segnen ließen. Man verrät ja nicht zu viel, dass dann die Zahl der Segnungen noch weiter in die Höhe schnellen würde, zumal, wenn auch klerikale Freundespaare aus dem Vatikan eingereist wären zwecks Segnung. Aber so mutig sind denn die schwulen Pfarrer und Patres dann auch wieder nicht.
4.
Ich habe seit vielen Jahren die merkwürdige, wenn nicht anstößige Liebe der katholischen Kirche zu feierlichen öffentlichen Segnungen dokumentiert, diese Website wurde sehr oft aufgerufen. Darin dokumentierte ich die selbstverständliche traditionelle Segnung von Tieren, die Segnungen von Autos und Motorrädern, die Segnungen von Waffen, von Häusern und Palästen, die Segnungen von Handys, die Segnung, auch dies noch, eines Walrosses im Zoo durch den damaligen Hamburger Bischof Stefan Heße. LINK. Natürlich gibt es seit langem im privaten Rahmen Segnungen von Kranken und Sterbenden oder auch von Müttern und Pilgern. Der reaktionäre Weihbischof von Salzburg Andreas Laun sagte übrigens: Homosexuelle segnen ist eine Segen für die Sünde. So wie man ja auch nicht KZs segnen darf”. LINK
5..
Es ist eigentlich – bei allem Respekt für diese Aktion der Segnungen – problematisch, dass diese Segnungen von homosexuellen Paaren eben auch bloß „Segnungen“ heißen, also begrifflich auf eine Ebene mit Auto-, Wohnungs- oder Walross-Segnungen gesetzt werden. Angemessen für das demokratische Bewusstsein und die Gesetzgebung in 28 demokratischen Staaten wäre allein: Die katholische Kirche feiert mit den homosexuellen Paaren die sakramentale Eheschließung. Bekanntlich ist für die katholische Lehre die Ehe ein Sakrament. Diese sakramentale Ehe wäre kirchlich die angemessene Antwort auf die gleichgeschlechtliche EHE in 28 Staaten der Erde, darunter auch Deutschland seit dem 1.10. 2017!
6.
Die sakramentale Ehe für homosexuelle Paare könnte das verstaubte Eheverständnis der Kirche insgesamt hinwegfegen, also die Vorstellung, nur Mann und Frau können eine Ehe schließen, wobei sich die Kirche auf den Mythos der Schöpfung Gottes beruft, vor allem auf den eigentlich nur banalen Satz: “Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“ (AT – Buch Genesis, 1,27). Das stimmt ohne weiteres: In der Menschheit gibt es – sehr traditionell gesprochen – zwei biologische Geschlechter. Nur folgt aus dieser biologischen Aussage zu biologischen Fakten nicht unbedingt eine katholische Ehelehre und sakramentale Praxis, die nur der Vereinigung eines biologischen Mannes und einer biologischen Frau vorbehalten ist.
Insofern muss ich leider sagen, kommen diese durchaus zu respektierenden Segnungsfeiern schon wieder – kulturell betrachtet – zu spät. Sakramentale Eheschließungen von homosexuellen Paaren wären die richtige und zeitgemäße Antwort. Sie kommt vielleicht in 100 Jahren. Im Falle Galileis ließen sich die Herren der Kirche ja auch 300 Jahre Zeit für eine Anerkennung von Galileis richtigen Erkenntnissen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Haiti: Der unerhörte Schrei nach Gerechtigkeit.

Über Arroganz und Gewalt der „hilfsbereiten“ Demokratien.

Ein Hinweis von Christian Modehn auf das wichtige Buch „Haitianische Renaissance“, geschrieben im April 2021.

1.
Es gibt seit mehr als einem Jahr eine absolute Fixierung auf Corona. Verständlich bei der Pandemie, aber verständlich bedeutet nicht immer auch verzeihlich. Denn die Menschen in Europa, können, falls sie den Titel Mit-Menschen ernst nehmen, niemals die Leiden vieler Millionen anderer Mit – Menschen im Süden dieser Welt ignorieren. Sie sind die Elenden und die vom Neoliberalismus Armgemachten. Wo herrscht der Neoliberalismus? Im Norden, bei uns…

2.
Haiti, das Land, in dem zum ersten Mal Sklaven der Kolonialmacht wirksam trotzten und 1804 den Titel Republik erlangten, wird immer wieder als trauriges Beispiel für die Unmöglichkeit von „Entwicklung“ erwähnt. Den herrschenden Führern dort ist das von Armut, Elend und Hunger bestimmte Leben ihrer „Mitbürger“, gelinde gesagt, egal. Und die westlichen Demokratien unterstützten und fördern diese politischen Führer, die man auch noch „Eliten“ nennt: Sie sind bestenfalls „Eliten der Korruption“. Der Westen predigt zwar „Demokratie und Menschenrechte für Haiti“, finanziert aber die korrupten Machthaber dort („demokratisch“ gewählt, oft bei einer Wahlbeteiligung von 22 Prozent … mit dem üblichen Wahlbetrug). Der jetzige Präsident Jovenel Moise klammert sich aus finanziellen Gründen absolut an die Macht, er ignoriert die Verfassung, regiert brutal, verfolgt die Opposition und so weiter. Die Unterdrückten aber stehen auf, bereiten den Aufstand vor, wird er zum demokratischen Umsturz führen? Viele hoffen es, wenige glauben es.
Jetzt, im April 2021, gibt es also Straßenschlachten. Steine und brennende Reifen blockieren die ohnehin kaum passierbaren Straßen, die Wut zumal der jungen Leute ist maßlos.

3.
In den üblichen Fernsehnachrichten „bei uns“ werden Bilder des Aufstandes in Port au Price, wenn überhaupt, maximal 40 Sekunden gezeigt. Keine Talkshow in Deutschland widmet sich dem Thema Haiti, dabei wäre dies doch mal eine provozierende „Abwechslung“, vielleicht sogar mit einer guten Einschaltquote, die doch am wichtigsten ist für alle Programm-Chefs… Aber: Haiti ist weit weg, behaupten die üblichen Ignoranten. Tatsache für die wenigen Wissenden ist: Europa und die USA sind tief in die innere politische, auch ökonomische Struktur Haitis eingedrungen, so dass diese erste Republik der Schwarzen wieder „unsere“ „europäische Kolonie“ geworden ist und uns insofern doch eigentlich sehr nahesteht.
Aber Deutschland, Europa, kapselt sich nationalistisch oder als EU ab. Es geht in der Öffentlichkeit hier fast nur um Corona, in Deutschland etwa auch noch um Laschet und Söder und Baerbock oder die Rückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan und Syrien. Man könnte zugespitzt sagen: Die Deutschen beschäftigen sich, in den großen Medien sichtbar, fast nur noch mit sich selbst. Und um „ferne Länder“ nur dann, wenn wir mit ihnen jetzt unmittelbar ökonomisch, militärisch und außenpolitisch verbunden sind. Man könnte also von einem nationalistisch verengten Weltbild sprechen.

4.
Für Haiti heute gilt: “80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft”, sagt der haitianische Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Und zahlreiche Schriftsteller stimmen dem zu, wie Evelyne Trouillot: Sie nennt die gegenwärtige Herrschaft verfassungsfeindlich, korrupt und repressiv, so in einem Beitrag für „Le Monde,“ Paris, am 15.3.2021. Dabei ist für die Gewalt der Einschüchterung durch das jeweilige Regime „gar nicht neu“, die Autorin erinnert an die blutige Herrschaft der Diktatoren Duvalier, Vater und Sohn. Die Arbeitslosenquote liegt bei70 Prozent und das Pro-Kopf Einkommen bei 350 US -Dollar. 3 Milliarden Dollar werden jährlich von Haitianern im Ausland (USA, Canada..) ins Land transferiert. Nur so können ihre Verwandten halbwegs noch überleben…Wo die 15 Milliarden Dollar Spenden und öffentlichen Gelder der USA und Europas nach dem Erdbeben 2010 geblieben sind, ist eher nur ahnbar: Die Gelder sind entweder gar nicht erst in Haiti angekommen oder sie flossen zurück zu den Reichen. Der hoch gepriesene geplante neue Freihafen Caracol wurde nie fertig gebaut, angeblich wurden dort 4 Milliarden Dollar verschleudert bzw. sie wanderten in die Taschen korrupter Bauunternehmer…

5.
Es gibt der ganzen Misere zum Trotz eine aktive Zivilgesellschaft vor allem junger HaitianerInnen, die für den Aufbau einer neuen demokratischen Regierung in einer demokratischen Kultur eintreten. Viel Beachtung verdient die hierzulande wohl völlig unbekannte Website junger AutorInnen und JournalistInnen, die regelmäßig auf https://ayibopost.com/ publizieren, in französischer Sprache und auch in der Landessprache Kreolisch. LINK
6.
Die reiche literarische Kraft und Energie haitianischer AutorInnen bietet (in deutscher Sprache) der Verlag „Litradukt Literaturverlag“ in Trier, der seit einigen Jahren zahlreiche Romane, auch Kriminalromane, und Essays aus Haiti hier zugänglich macht, zuletzt etwa den Roman „Sanfte Debakel“ von Yanik Lahens. Eine wunderbare Initiative! Es wird Zeit, dass die Literatur Haitis (wie die der anderen Länder der Karibik und Lateinamerikas) aus dem bescheidenen Nischendasein befreit wird. Das können nur LeserInnen tun, die sich bewusst für ihre große Horizonterweiterung einsetzen und die haitianischen AutorInnen lesen. Und auch fordern, dass Literatursendungen im Fernsehen, etwa das „Literarische Quartett“ oder „Druckfrisch“, nicht nur immer einen der neuesten Roman von Juli Zeh und so weiter vorstellen, sondern auch den von Yanik Lahens, Haiti. Dies ist ein Traum in einer europäischen Kultur, die sich so gern multikulturell nennt, aber extrem eurozentristisch bleibt.

7.
Jetzt bietet eine wichtige Neuerscheinung umfassenden Einblick in die politische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit Haitis heute. Das Buch von Katja Maurer und Andrea Pollmeier, beide mit Haiti und den engagierten HaitianerInnen bestens vertraut, hat den provozierenden Titel „Haitianische Renaissance“. Der Titel ist wohl auch als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen: Es waren die Sklaven, die sich einst, um 1800, von der Kolonialherrschaft befreiten, und grundlegend Neues, eine Republik, anstrebten. Vielleicht gelingt es den Unterdrückten Haitianern heute, unter anderen Bedingungen, wirkliche Befreiung von den neuen Kolonialherren zu vollbringen und eine Demokratie zu gestalten. Dies wäre dann die „Renaissance Haitis“.
Dabei steht fest, dass die heutigen europäischen und amerikanischen Kolonialherren nach außen hin vorwiegend als Helfer, als paternalistische Gönner und Spender, auftreten, die alles besser wissen als das haitianische Volk selbst. Auch um dieses Problem geht es in den verschiedenen Beiträgen des Buches. Über die außerordentliche Spendenbereitschaft anlässlich des Erdbebens 2010 mit mindestens 300.000 Toten und die großspurigen Hilfsprogramme der USA und Frankreich etwa wird kritisch berichtet. Das übliche System der Hilfe verstärkt eher den politischen Status Quo, meinen di Autorinnen, sie sprechen offen über die fatale Wirkung der UN – Präsenz in Haiti, also das Einschleppen der Cholera durch UN Soldaten ins Land und die Vergewaltigungen durch UN – Soldaten. Beide Tatsachen wurden nicht umfassend aufgeklärt bzw. bestraft.

8.
Sehr erhellend wird für viele der Beitrag von Andrea Pollmeier sein über die Schuldenfalle, in die Haiti von Anfang an als freie Republik getrieben wurde. Haiti hatte sich gerade von Frankreich befreit, da musste die Republik Reparationszahlungen dem einstigen Kolonialherren leisten, sozusagen als Preis dafür, dass nicht mehr die kolonialistische Ausbeutung fortbestand (S. 26).
Wichtig auch die Hinweise des Schriftstellers Gary Victor etwa über den Rassismus unter den Bürgern Haitis: Es geht um den Rassismus zwischen der zur Herrschaft gelangten minoritären „Mischlingen“ und der überwältigenden Mehrheit der Schwarzen als den Nachfahren der Sklaven: Sie waren es ja, die einst die Rebellion gegen die Kolonialherren und ihre Kollaborateure (also die Kreolen) begannen.

9.
Leider knapp gehalten sind die Hinweise auf die geistig-psychisch zerstörerische Rolle der evangelikalen Bewegungen, die aus den USA nach Haiti importiert wurden: „Diese Evangelikalen machen aus Menschen Zombies…Es gibt für sie nur ein Ziel: Alles, was mehr oder weniger authentisch ist, sogar die Religion, zu zerstören…“ (S. 57). Falls es eine 2. Auflage gibt, was ich mir wünsche, dann bitte mehr Informationen zum Thema, auch zur Rolle der katholischen Kirche als einer Staatskirche…

10.
Ein politisches Dokument von besonderem Wert ist der Beitrag von Ricardo Seitenfus, dem brasilianischen Sonderbeauftragten für die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS). Er arbeitete von 2009 bis 2011 in Haiti und erlebte unmittelbar, im Kreis von Diplomaten, wie die USA die Absetzung des Präsidenten René Préval zu betreiben versuchten. (137). Préval ist einer der wenigen demokratisch gesinnten und auch wohl handelnden Präsidenten Haitis gewesen. Sein Nachfolger wurde am 14. Mai 2011 Michel Martelly, bekannt u.a. als Sänger in Nachtclubs (https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Martelly). Seine Regierung war von Korruption bestimmt.
Ricardo Seitenfus hat wichtige Bücher über Haiti publiziert, zuletzt im Jahr 2020: „L echec de l aide internationale a Haiti“, ein ganz wichtiges Buch für alle, die Haiti besser verstehen wollen (https://www.amazon.com/-/de/dp/B089TRZNL6/ref=sr_1_1?dchild=1&qid=1619785558&refinements=p_27%3ARicardo+Seitenfus&s=books&sr=1-1&asin=B089TRZNL6&revisionId=&format=4&depth=1)

11.
Die seit Anbeginn belasteten Beziehungen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik werden in „Haitianische Renaissance“ angesprochen. Angénor Brutus, Vorsitzender einer Organisation zur Unterstützung von Haitianern, die aus der Dominikanischen Republik vertrieben wurden, berichtet von den tiefsitzenden Vorurteile der Dominikaner gegenüber Haiti…Von rassistischen Gesetzen dort. Aber es gab auch eine große Hilfsbereitschaft der dominikanischen Bevölkerung zur Linderung der Erdbebenkatastrophe in Haiti 2010.Tatsache ist: Nach 2011 begannen dominikanische Politiker die Haitianer in der Dominikanischen Republik zu diskriminieren, zu verfolgen und außer Landes zu weisen. „Der Rassismus gegen Haitianer ist eher Teil des Machtkampfes unter dominikanischen Politikern. Darin ist er aber eine wirksame Waffe“ (156):

12.
Interessant und für viele LeserInnen sicher neu ist der Hinweis auf das Engagement des „US – American Jewish World Service“ auch in Haiti. Von einem weltweit agierenden progressiven jüdischen Hilfswerk EXPLIZIT für Nicht – Juden ist hierzulande eher wenig bekannt. Um so besser, dass man davon erfährt! Immerhin kommen einige Millionen Dollar Spenden jährlich zusammen…Der haitianische Aktivist Nixon Boumba berichtet über seine politische Zusammenarbeit mit dem amerikanisch – jüdischen Hilfswerk an der Basis (186) und nennt einmal mehr grundlegende Tatsachen: „Die Menschen in Haiti gehen auf die Straße, weil es keine Option für sie ist, so wie jetzt weiterzuleben (188). „Sieben Millionen Menschen in Haiti gehen keiner regelmäßigen Tätigkeit nach… Es gibt keine Bildung…“ (189). Die übliche hilfsbereite Arbeit der NGOs habe in Haiti keine Aussicht, den erforderlichen strukturellen Wandel zu bewirken. Jeglicher Paternalismus müssen überwunden werden.

13.
Schlimmes Beispiel für internationale, aber letztlich höchst unvollkommene „Hilfe“ nach dem Erdbeben ist die neu errichtete, aus dem Boden gestampfte Stadt „Canaan“ bei Port au Prince, einer Ansiedlung für 300.000 Menschen, die in Hütten und Häuschen untergebracht sind. Jegliche Infrastruktur fehlt, das Wasser ist knapp, die Privatschulen teuer, das dortige Gesundheitszentrum praktisch ohne Arzt usw… (Siehe auch: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ueber-leichen-gehen-haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben-li.4583). Canaan wird die „hässliche große Narbe des Erdbebens“ genannt. Nur in den biblischen Mythen von „Canaan“ floss Milch und Honig, im realen haitianischen Canaan herrschen Not und Elend. (vgl. auch: https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/krisen-humanitaere-hilfe/haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben/canaan

14.
Es gibt in ganz Haiti für 11 Millionen Einwohner 3.354 Ärzte (Quelle:https://lenouvelliste.com/article/196624/3-354-medecins-pour-desservir-plus-de-10-millions-dhabitants).
Kuba, das so „furchtbare“ sozialistische Land, hat ebenfalls 11 Millionen Einwohner und verfügt über 95.000 (!) ÄrztInnen; Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern hat 402.000 ÄrztInnen.

15.
Über die Bedeutung der vielfältigen religiösen Traditionen wird in dem Buch „Haitianische Renaissance“ leider viel zu wenig berichtet. Welche Rolle spielte Voodoo als Impuls für den Sklavenaufstand? Auch über die Bedeutung des Voodoo heute hätte man gern viel mehr erfahren. Und man auch hätte gern gewusst, ob wenigstens einige der offenbar in den USA oder in Canada erfolgreichen Haitianer bereit sind, tatsächlich in ihr Land zurückzukehren, nicht um Präsidenten zu werden, sondern um den demokratischen „Aufbau“ zu unterstützen.

16.
Haiti, das Land der Elenden UND der Menschen des Widerstandes, bleibt eine ständige Herausforderung, auch für Europa. Gewöhnen wir uns an die Misere dort? Solidarisieren wir uns mit den Menschen des demokratischen Widerstandes dort? Haben wir die Energie, uns für unsere Mitmenschen, etwa in Haiti, genauso zu interessieren wie für die Themen und Leute, die uns hier ständig auf dem Bildschirm begegnen und uns einreden, sie seien wichtig. Wir brauchen die Weitung unseres Blickes, unseres Interesses, unserer Solidarität. Das muss nicht immer Haiti sein, das kann auch Honduras, Jemen, Sudan, Niger, Philippinen und so weiter sein

17.
Zum Schluss ein längeres Zitat von einer der Herausgeberinnen des Buches „Haitianische Renaissance“: Katja Maurer schreibt in „Medico International“ im Jahr 2020 (Quelle: https://www.medico.de/blog/reparatur-durch-reparationen-17821)
„Über hundert Jahre lang zahlten die Haitianer*innen an Frankreich Entschädigungen für den entgangenen Gewinn aus Sklavenarbeit. Dem französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge etwa 30 Milliarden Euro, exklusive der bezahlten Zinsen. Piketty forderte daher kürzlich, dass die unrechtmäßig verlangten Gelder an Haiti zurückgezahlt werden. Auch von den Hereros aus Namibia gibt es an Deutschland gerichtete Entschädigungsforderungen, die bislang brüsk abgewiesen wurden. Es ist an der Zeit, eine Kampagne für Entschädigungen und Rückgabe etwa der geraubten Kulturgüter ins Leben zu rufen. Den Erklärungen gegen Rassismus müssen Taten folgen, sollen sie nicht nur wohlfeil sein. Europa muss Verantwortung für seine koloniale Geschichte übernehmen. Das hätte tiefgreifende Folgen, nicht zuletzt für unsere imperiale Lebensweise. Aber es wäre eine Reparatur, die auch uns selbst heilt“.
Katja Maurer, Andrea Pollmeier, „Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“. Brandes und Apsel Verlag, 2020, 226 Seiten, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Beten um ein Wunder in der Pandemie: Über die Macht des Glaubens und des Aberglaubens.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.4.2021.

1.
Am 1. Mai 2021 startet ein Marathon: Alle Katholiken sollen im Mai, dem Marien – Monat, so wünscht es Papst Franziskus, täglich den Rosenkrank beten. LINK.
Der „Rosenkranz“ muss vielleicht elementar kurz erklärt werden: Er ist ein traditionsreiches Gebet aus dem Mittelalter, das vor allem aus einer Verbindung von Bibelzitaten und dem „Ave Maria“, also dem „Gegrüßet seist du Maria“, besteht. Diese insgesamt 50 Ave Maria werden 4 mal durch das Vater Unser unterbrochen. Fürs Beten wird eine Gebetskette, der „Rosenkranz“, verwendet. Beim Beten kann durch die vielen monoton wirkenden Wiederholungen eine meditative Stille trotz der Worte entstehen. Wer an gut besuchten Rosenkranz – Andachten in Barockkirchen teilnahm, hörte förmlich das „Seufzen der Kreatur“…

2.
Die „Marathon – Beter“ im Mai 2021 sollen sich dabei in Verbundenheit wissen – auch durch Life-Schaltungen – mit berühmten Marien-Wallfahrtsorten weltweit. Denn dort sind ja schon Wunder geschehen. Und um die geht es in dieser ehrgeizigen Gebets – Veranstaltung. Sie wird ausdrücklich Marathon genannt, also assoziiert mit einer intensiven sportlichen körperlichen Anstrengung. Die alte katholische Maxime „Betet heftig, stark und viel“ wird also aktualisiert. Als Sieger gilt allerdings nicht der menschliche Beter, sondern – hoffentlich – Gott persönlich. Denn er soll sich durch das Beten der Menschen zu einem großen Wunder bewegen lassen. Gott soll der Pandemie bitte schön ein Ende setzen. Auf dieses unbescheidene Ziel setzt das „Marathon -Projekt“ ausdrücklich.

3.
Auf diesen Titel ist der „Päpstliche Rat zur Förderung der neuen Evangelisation“ gekommen. Dieser Behörde gehört seit Dezember 2014 auch der bekannte ehemalige Bischof von Limburg, Franz Peter Tebartz – van Elst, an. Der Begriff „Marathon“ ist ihm wohl in den Sinn gekommen, als er sich daran erinnerte, wie er in einem autoritären Geldverschwendungs – Marathon das Bistum Limburg ins Finanzdesaster stürzte wegen extremer Luxus-Bauvorhaben für die eigene bischöfliche Residenz. Und engagierte Katholiken deswegen wie in einem Marathon – Lauf aus der Kirche fortliefen. Jetzt also „macht er“, im Vatikan arriviert, ganz aufs Beten um Wunder. Und dies nennt er dies „Neuevangelisierung“.

4.
Nun kann jede Glaubensgemeinschaft beten um was sie will. Das ist Ausdruck der Bekenntnisfreiheit. Dieses Grundrecht kann jede religiöse Gemeinschaft beanspruchen, so lange sie dabei nicht das Leben der eigenen Gemeinden wie der anderen, der Menschen in der Gesellschaft, gefährdet. Und das ist bei dem geplanten Marathon wohl nicht der Fall.

5.
Aber es muss theologisch und religionsphilosophisch die Frage gestellt werden: Was soll dieser Marathon, der offenbar davon ausgeht: Da sitzt im Himmel ein allmächtiges göttliches Wesen, das, je nach Laune und unter Druck der Betenden und Bittenden, eben mal auch eine Pandemie beseitigen kann. Fromme nennen diese Erwartung „wunderbares Handeln Gottes“. Dabei ist mir bewusst, wie komplex das Thema Bittgebet ist: Wie viele schöne Gesänge (Gregorianik, Messen, Lieder) wurden als Bitt-Gesänge komponiert und werden noch heute gesungen, zur Erbauung und „Rührung“ der HörerInnen. Wer möchte im Ernst auf diese musikalische Kultur verzichten? Aber, das ist die andere Seite bei dem Thema Bittgebete, es darf nie vergessen werden, wie schnell das Bittgebet in den Aberglauben abgleitet, in das Kleinmachen und Verfügbarmachen der göttlichen, der ewigen Wirklichkeit. Und dieser Missbrauch passiert wohl in dem nun auch technisch perfekt arrangierten Gebetsmarathon mit Lifeschaltungen von Rom nach Lourdes und Fatima und Guadeloupe und so weiter. Mit diesem technischen Aufwand und mit diesem Titel „Marathon“ wird förmlich suggeriert: Massenhaftes Beten bewirkt Wunder. Wir Menschen können Gott beeinflussen! Die frommen Brasilianer wünschen sich vielleicht mehr Impfstoffe, die Polen mehr Betten in den Kliniken, die Deutschen wünschen von Gott vielleicht eine Regierung, die endlich einen harten Lock down beschließt, damit wirklich eine Pandemie- Wende kommt in Deutschland. So viele unterschiedliche Bitten soll Gott im Himmel also erhören, abgesehen von sehr persönlichen individuellen Bitten der Schüler im Lockdown: „Lieber Gott, lass mich meine Mathe-Arbeit bestehen“.
Wehe nur, wenn die Betenden enttäuscht werden. Was passiert dann mit ihrem Glauben?

6.
Das Gebet, vor allem das Bittgebet, ist zweifellos ein spiritueller Mittelpunkt der meisten Religionen. Aber das Gebet und vor allem das Bittgebet muss natürlich auch theologisch und religionsphilosophisch kritisch verstanden werden, bezogen auf das Selbstbewusstsein und Fühlen der Menschen von heute. Ein weites Feld, weil es auch auf tiefsitzende Bindungen an das Göttliche, Allmächtige, verweist, Bindungen, die viele Menschen spüren. Aber bekanntlich gibt es Glauben und Aberglauben. Und dieser ist ein Glauben, der den erwachsenen Menschen religiös auf eine infantile Stufe bindet und Gott zu einem braven Kumpel von nebenan macht. Wer als Kirchenleitung beides vermeiden will, sollte sorgsam mit Bittgebeten umgehen und schon gar nicht einen „Marathon“ organisieren, bei dem man vielleicht beleibte Prälaten und Kardinale hächelnd beim betenden Schnelllauf imaginiert…

7.
Bittgebete sind also schlicht und einfach zwar verständliche, aber genauer betrachtet doch illusorische, manchmal egoistische und sogar krankhafte Formen des Wünschens. Sie haben einen gewissen Sinn, wenn der Bittende dabei seine eigene subjektive Situation klarer sieht und versucht, selbst entsprechend zu handeln, sich neu in der Lebenspraxis zu orientieren. Also nicht Gott um Frieden bittet, sondern selbst alles unternimmt, dass Friede auf Erden wirklich wird. Der Betende muss also sein Beten kritisch betrachten und beobachten, er muss auch aus dem Beten nachdenkend heraustreten. Das lernen Katholiken normalerweise nicht. Wie viele Formen des Aberglaubens werden im Marien – Monat Mai in den alten Marienliedern nur so daher gesungen. Vgl. dazu das Buch „Mythos Maria“, etwa das Lied „Maria, Maienkönig, dich will der Mai begrüßen, o segne holde Mittlerin, uns hier zu deinen Füßen“… Welch eine Poesie! Diese Autoren kannten nur eins: Den Reim-Zwang! LINK

8.
Bittgebet hat also nur einen gewissen Sinn für reife Menschen, wenn er sich meditativ und nachdenkend klar macht: Er ist wie jeder andere Mensch mit dem geheimnisvollen Lebens – Grund verbunden, den man auch göttlich nennen kann. Und diese Verbindung mit dem gründenden Lebenssinn erschließt ihm auch den Sinn des eigenen Lebens. Dies ist die Erfahrung und dann Erkenntnis grundsätzlicher metaphysischer Geborgenheit. Mehr braucht ein Mensch – auch von der göttlichen Wirklichkeit – nicht zu verlangen. Bittgebete sind also poetisch betrachtet vielleicht sinnvoll, wenn sie als ein auch zu therapierender Ausdruck der inneren Befindlichkeiten verstanden werden.

9.
Man bedenke und studiere zudem, wie die Kirchenführung die Wunder in Lourdes und Fatima, Guadeloupe manipuliert hat.

10.
Noch einmal: Bittgebete führen zu der Erkenntnis: Gott sorgt für die Welt und die Menschen, was immer kommen mag. Aber wenn es schlimm kommt, müssen die Menschen selbst Abhilfe schaffen. Mehr ist theologisch nicht zu sagen. Aber Päpste und Prälaten fühlen sich auch heute, im 21. Jahrhundert, berufen viel mehr zu wissen, und die frommen Seelen mit Aberglauben zu verstören. Die Frommen sollen ja, so der offizielle päpstliche Text, „von Gott das Ende der Pandemie fordern und erbitten“. Dass diese Pandemie auch durch menschliches Fehlverhalten im Umgang mit der Natur und den (Wild)-Tieren verursacht wurde, wird von Kardinälen und dem Papst nicht gesagt. Beten hat also für diese Kirchenführer und ihre Behörden (Tebartz – van Elst…) nichts mit politischer und philosophischer Aufklärung zu tun. Und das ist der große theologische Fehler.

11.
Nun fördert also Papst Franziskus erneut populäre, aber letztlich dem Aberglauben verbundene Frömmigkeitsformen. schon früher hatte er zur Verehrung den einbalsamierten Leichnam des populären heiligen Pater Pio im Petersdom aufgebahrt oder in ganz Argentinien die obskure Verehrung von „Maria Knotenlöserin“ (Ursprung dieses Kultes ist Augsburg) verbreitet. Immer deutlicher wird: Dieser Papst ist nach außen hin aufgeschlossen, politisch manchmal mutig, aber theologisch konservativ, wundergläubig, also abergläubisch. Wunder werden vom Papst immer wieder verlangt: Etwa bei Heiligsprechungen müssen Heilungswunder nachgewiesen werden, die nach dem Tod des heilig zu Sprechenden durch dessen himmlische Vermittlung geschehen sind. Überhaupt: Diese Vorstellung, es könnten Heilige, es könnte Maria als Himmelskönigin, durch ihren Einfluss „da oben“, bei Gott, Fürsprecher sein… Das kann man alles glauben, irgendwann ist man aber auch bereit zu glauben, „im Himmel ist Jahrmarkt“, eine Vorstellung, die vielleicht mit der immer noch üblichen katholischen Ablass-Lehre zu verbinden wäre. Wer behauptet, die römische Kirche hätte von Luther gelernt, irrt: Die katholische Ablass -Lehre besteht nach wie vor. Luther dreht sich im Grab um, leider hören das die ewig über Ökumene Debattierenden nicht…

12.
Mit anderen Worten: Der offizielle Katholizismus zeigt auch heute – durch seinen Gebetsmarathon – sein populäres religiöses Profil, das eigentlich vom Ausbleiben kritischer Vernunft bestimmt ist. Dabei ist doch die Vernunft, ist doch der Geist, eine Gabe Gottes! Aber wer einmal Vernunft als erste Tugend im Vatikan zu fordern beginnt, fängt schnell an, die päpstliche Unfehlbarkeit abzuschaffen oder das Zölibatsgesetz…, Vernunft ist gefährlich, das wissen die klerikalen Vatikan – Beamten, darum fördern sie ja auch die Unvernunft, den Aberglauben jetzt mal als „Marathon“.

13.
Das einzige überhaupt diskutable Wunder wird in der philosophischen Frage angesprochen: „Warum ist etwas und nicht vielmehr Nichts?“ Diese Frage ist die einzige philosophisch gesehen legitime Frage nach einem Wunder. Sie bezieht sich auf das „Gegebensein“ von evolutiver Schöpfung in einem Universum… Alle anderen Wunder – Fragen sollte man bitte von uns fernhalten.

14.
Es mag ja angesichts der globalen Hilflosigkeit in der Krise der Pandemie sehr verständlich sein, wenn sich religiöse Menschen allerhand Wunderbares einreden: Und eben auch an einem Gebetsmarathon teilnehmen. Aber: Entscheidend hilfreich wäre es, wenn dies die Kirche leisten könnte: Die Menschen in Gruppen lehren, sich besser um einander zu kümmern, wirksam politisch zu handeln zugunsten der Bereitstellung von Impfstoffen. Katholiken in den reichen Ländern sollten ihre Regierungen kritisieren und bedrängen wegen ihres nationalen Egoismus. Katholiken in Brasilien sollten mit ihren Bischöfen alles tun, dass dieser Präsident Bolsonaro, den sehr viele für einen großen Übeltäter halten, endlich von der politischen Bühne verschwindet. Wie viele sich katholisch nennende Diktatoren und zugleich Pandemie- Leugner gibt es eigentlich, etwa in Afrika? Katholiken sollten überall politische Petitionen unterschreiben, anstatt Petitionen in Richtung in Himmel zu senden. Sie sollten alles tun, um die KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen zu unterstützen und dafür kämpfen, dass sie Anerkennung und einen gerechten Lohn erhalten. Politisches Engagement wäre der geforderte Marathon der Katholiken in Pandemie-Zeiten. Religiös sein heißt für Christen immer zuerst und vor (mit-)menschlich sein, auch politisch zugunsten der Leidenden und Armen. Das ist die eindeutige Weisung des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Voltaire zeigt: Der christliche Glaube sollte sich von vielen Dogmen befreien.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Gibt es einen einfachen, also einen weithin von Dogmen befreiten und von der Vernunft begründeten christlichen Glauben? Der Philosoph Voltaire ist davon überzeugt und er setzt sich in seinen Büchern dafür ein, meist in Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Denken des Philosophen Blaise Pascal.
Es lohnt sich, Voltaires Erkenntnissen zu folgen. Gerade heute, wo die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Europa aufgrund eigenen Versagens verschwindet und spirituell Fragende von den vielen Lehren, Moralprinzipien und Dogmen zurecht nichts mehr wissen wollen…

2.
Ich beziehe ich mich auf das neue Buch des bekannten Philosophiehistorikers und Philosophen Kurt Flasch: „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“ (2020). Es ist in vielfacher Hinsicht anregend und wichtig, es ist sozusagen eine viel ausführlichere Studie als der Essay: „Voltaire gegen Pascal“ aus dem Buch von Flasch „Kampfplätze der Philosophie“ (2008), dort die Seiten 331 – 347.
Um die durchaus aktuellen Gedanken Voltaires vorzustellen, muss an einige grundlegende Erkenntnisse, „Voraussetzungen“, erinnert werden, die Kurt Flasch in seiner neuen umfangreichen Studie vorstellt.

3.
Grundsätzlich gilt für den Philosophiehistoriker Flasch: Voltaire als Atheisten zu verstehen ist falsch (S. 412). Diese populäre, oberflächliche Deutung ist bis heute in kirchlichen Kreisen noch gängig, dieses Vorurteil verhindert eine für die Kirchen gefährliche, aber fruchtbare Auseinandersetzung mit Voltaire. Er war aber auch kein „Deist“, also ein Denker, der an einen fernen, an der Welt desinteressierten „Uhrmacher – Gott“ glaubt .
Voltaire war nicht nur Theist, (also bezogen auf einen transzendenten Gott, der sich um seine geschaffene Welt kümmert), sondern er war Christ, ein Christ allerdings der besonderen, der kritisch reflektierten Art. „Voltaire hat intensive theologiegeschichtliche Studien betrieben“ (S. 364). „Er hat das Wissen von Lorenzo Valla, Erasmus, Servet, Fausto Sozzini, Denis Pétau und Richard Simon zusammengefasst“ (S. 412), also das Wissen der bekannten Humanisten und historisch – kritisch forschenden Theologen und Bibelwissenschaftler im 16. Und 17. Jahrhundert. Diese genannten Wissenschaftler erschütterten das klerikale und machtvoll durchgesetzte System des veralteten üblichen Wissens. Sie wurden also an den Rand der damaligen Wissenskultur gedrängt, wenn sie nicht sogar als „Irrlehrer“ verfolgt wurden.
Aber „dieses Wissen hat Voltaire gegen Pascal zur Geltung gebracht. Er versuchte, den Grundbestand des Theismus zu sichern, indem er ihn von der Metaphysik auf die Moral herüberzog“ (ebd.). Flasch weist darauf hin, dass dieser Ansatz dann von Immanuel Kant eine ausführliche Vertiefung fand, als dieser Religion in der praktischen Vernunft gegründet wusste.
Noch einmal: Voltaire ist ein theistischer Christ der besonderen, der modernen Art. Jedoch: „Die Dogmen der Welterschaffung, der moralischen Weltregierung und der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat er nie aufgegeben, ebenso wenig die christliche Ethik in einer nicht-augustinischen Interpretation“ (402). Voltaire hat sozusagen die Zahl der glaubenden Hypothesen reduziert, er hat dadurch die Menschheit entlastet von allerhand mysteriösem Ballast.
Voltaire weiß, in welchem tiefen geistigen Umbruch er lebt, er will ein vernünftiges Christentum bewahren. „Voltaire hielt das Christentum für gesellschaftlich wünschenswert, sogar für unentbehrlich (290). Und das ist etwas ganz anderes als das leidenschaftliche religiöse Engagement Pascals: Flasch schreibt: „Pascal rettete das Christentum indem er allen blutgetränkten mythologischen Tiefsinn, den er bei Moses, Paulus und Augustin finden konnte, zur Aktualisierung des Christentums aufbot. Vom Irrationalsten (=Erbsünde, C.M.) und Unmöglichen lenkte er dunklen Glanz auf den dogmatischen Altbestand“ (291).

4.
Voltaire will also, wie Pascal hundert Jahre zuvor, den christlichen Glaubens „retten“, so wörtlich Kurt Flasch, und zwar gegen andringende Freigeister und Atheisten, aber auch vor den maßlosen dogmatischen Ansprüchen der Hierarchen und ihrer Theologen. Pascal hatte dies noch auf seine Art etwa in den Notizen, den „Pensées“ versucht. Aber er hatte keinen Respekt vor der historischen Kritik der Bibeltexte oder der philosophischer Religionskritik. Pascal hatte sich absolut an das theologisch wie historisch – kritisch unbegründbare „Mysterium der Erbsünde“ gebunden, die Erbsünde rückte in den Mittelpunkt seines Denkens. „Er machte sie zur zentralen Idee des Christentums“ (S. 414). Die Verdorbenheit der ganzen Menschheit und die Teilhabe nur weniger Erwählter an der Gnade im Sinne des späten Augustinus war für Pascal entscheidend, er wollte das von ihm gedeutete totale Elend der Menschen durch Bezug auf das ideologische Konstrukt Erbsünde des späten Augustinus verstehen. Darin folgte Pascal auch der Bindung an Augustin, die die Reformatoren Luther, Calvin und später auch der katholische Bischof Jansenius bzw. die Jansenisten über alles pflegten und liebten.

5.
Mit vielen Argumenten und Belegen spricht Kurt Flasch auch in seinem neuen Buch von seiner wissenschaftlichen Abwehr der Erbsünden – Ideologie des Augustinus, die sich verheerend auswirkte in der Kirchengeschichte, nicht nur bis zu Pascal, sondern darüber hinaus. „Voltaire ruft Pascal zu, seine Argumentation (bezogen auf die Allmacht des Konstrukts Erbsünde) schaffe Atheisten“ (S. 415). Denn sie mache den Glauben lächerlich, indem behauptet wird: Später Geborene sollen schuldig sein an der Schuld eines Früheren, nämlich des Herrn Adam. Und diese Schuld solle sich durch alle Zeiten aller Völker im „Geschlechtsverkehr“ übertragen. Und überhaupt: Nur wenige Christen werden von diesem Zornes – Gott gerettet. Die meisten sind die „massa damnata“, die verurteilte Masse derer, die zur Hölle bestimmt sind von Gott persönlich.
Was für ein Grauen wird da behauptet, auch durch Pascal. Er mag ja hübsche Sätzchen zitierfähig über das Wesen des Menschen geschrieben haben seinen „Pensées“, aber etwas zynisch gesagt: Wäre er doch bloß nur Mathematiker geblieben…Ohne ihn hätte das Christentum vielleicht einen erfreulichen Anblick erhalten.
Die offizielle dogmatische Lehre von der Erbsünde ist für Voltaire also ein Konstrukt, ein Willkürakt, den Bischof Augustin gegen besser informierte Theologen (wie Bischof Julian von Eclanum) mit Gewalt durchsetzte.
Auch darauf hat Kurt Flasch seit Jahren nun auch in anderen Studien hingewiesen. Wird seine Forschung beachtet? Ich fürchte nein, wenn man nur z.B. bedenkt, dass dem „berühmten“ Eugen Drewermann nichts anderes einfiel, meine Abweisung der Erbsündenlehre in einem Essay für Publik – Forum als „atheistisch“ zu disqualifizieren. LINK
Es ist also immer die alte Leier, die Kirche glaubt, nur Kraft der Erbsünde bestehen zu können, was in diesem System so falsch ja nicht ist: Denn, so die Dogmatik, von der Erbsünde werden Menschen allein durch die Taufe befreit. Die Taufe aber spendet einzig der Klerus. Also ist der Klerus unverzichtbar, der Erbsünden-Erfindung sei Dank, besonders dir, lieber Augustin.

6.
Hier geht es um etwas anderes, genauso Wichtiges:
In seinem genannten neuen Buch befasst sich Flasch mit den hoch gebildeten italienischen Theologen und Reformatoren Sozzini, vor allem mit Fausto Sozzini(1539-1604) und Lelio Sozzini (1525-562). Um diese Reformatoren, die das klassische Trinitätsdogma aus guten Gründen, wissenschaftlich, historisch begründet ablehnten, bildeten sich Gruppen von Gläubigen, die dann Sozzinianer genannt wurden bzw. Polnische Brüder, weil sich die Sozzininis nach Polen flüchten konnten, das damals relativ tolerant war. Dort errichtete diese christliche Gemeinschaft eine viel beachtete Hochschule in Raków. Bekannt ist der polnische Theologe und Philosoph, der Sozzinianer Andreas Wissowatius (Andrzej Wiszowaty) (1608 in Filipów – 1678 in Amsterdam).
Die Sozzinianer bzw. die „Polnischen Brüder“ waren im Studium der christlichen Traditionen schon weiter als Pascal, „sie kannten die Vielfalt der historischen Wirklichkeit aufgrund ihrer Quellenstudien“ (158). Flasch bevorzugt in seinem neuen Buch die Schreibweise „Socinianer“, ich bleibe bei der üblichen.
Es ist wichtig, dass Flasch auf die Wirkungsgeschichte der Sozzinianer auf die Arminianer hinweist. Arminianer ist bekanntlich eine ältere Bezeichnung für die bis heute in den Niederlanden vor allem bestehende humanistische freisinnige christliche Kirche der Remonstranten (vgl. etwa S.352)
Flasch betont eine „Affinitiät“ Voltaires zu den verfolgten Sozzinianern: „Sie sahen Gott … als den Vater aller Menschen, also nicht nur einer Kirche, schon gar nicht mit Jansenius und Pascal als Gott nur der Auserwählten (S 366).

7.
Eine Art Zusammenfassung:
Kurt Flasch zeigt in seinem neuen Buch, wie Voltaire das Christentum und damit die sich „orthodox“ nennenden christlichen Kirchen von vier Dogmen befreite. Sie hätten, so Voltaire, keine Begründung in der Bibel, vor allem im Neuen Testament. Das alles ist keine „theologische Spielerei“! Voltaire betont: Diese Dogmen sind gefährlich, wenn sie gesellschaftlich und politisch gelebt werden.
Diese vier Dogmen sind:
Der Glaube und das Dogma, dass die Bibel wörtlich unmittelbar von Gott selbst stammt, die so genannte Verbalinspiration der Bibel.
Der Glaube und das Dogma, dass Gott eine Trinität ist, bestehend aus drei Personen und dass Jesus von Nazareth ewig-gleich mit Gott-Vater ist.
Der Glaube und das Dogma, das alle Menschen durch die Schuld des einen Manne, Adam, schuldig wurden (Erbsünde) und dass Jesus von Gott (dem liebenden Vater ?) zu einem Sühneopfer am Kreuz zur „Erlösung“ bestimmt wird.
Der Glaube und das Dogma, dass nur einige wenige wegen der Erbsünde von Gott zur Erlösung vorherbestimmt sind.

8.
Kurt Flasch kommentiert lapidar mit Voltaire: „Da ist kein Glaubensartikel dabei, der nicht Bürgerkrieg verursacht hat“ (S. 422). „Die endlosen (dogmatischen) Wortgefechte wurden Kriegsgründe. Nicht das Christentum war abzuwählen, sondern diese vier dogmatischen Unruheherde und die immer noch kampfbereiten Konvulsionäre“ (also Ultrafromme, charismatisch sich begeistert fühlende Christen, die ihren Glauben in Zuckungen und allerhand Geschrei ausdrückten, C.M.) (422).

9.
Kurt Flasch hält sich mit Aktualisierungen seiner Studien zurück. Am Ende seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (2020) deutet er seine Skepsis an: Die Kirchen werden sich wohl kaum für den Weg des einfachen und vernünftigen, von Voltaire beschriebenen Glaubens einlassen. Eigentlich bräuchte die moderne Welt ein anderes Christentum als das herschende. Aber das Christentum, also die großen, sich machtvoll gebenden Kirchen, sind alt geworden, starr, können sich nicht aufraffen zu einer dogmatischen Säuberung ihrer ewig mitgeschleppten Lehren. Die allermeisten Kirchen sind erstarrt, haben Angst vor Neuerungen auch dogmatischer Art, weil dies de Eingeständis eines Irrtums gleich käme. Aber dogmatische Irrtümer gibt es in der Ideologie der römischen Kirche nicht, alles einmal definierte Glaubensgut der Dogmen bleibt, auf Teufel komm raus möchte man sagen.

10.
Was bleibt? Daran denken, dass es noch kleine undogmatische christliche Kirchen gibt. Oder: Den eigenen spirituellen Weg allein oder in kleinen Gruppen gehen. Oder: Voltaire lesen oder eben auch die großartigen Studien von Kurt Flasch. Für ihn wie für uns ist Augustin alles andere als ein Heiliger, in seinen letzten 30 -40 Lebensjahren hat er die Kirchen bleibend vergiftet … mit seinem Erbsünden – Wahn. Manche Erkenntnisse aus seinen literarisch so schönen „Confessiones“ bleiben natürlich bedenkenswert.

Kurt Flasch, „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“, Verlag Vittorio Klostermann, 2020, 436 Seiten, 49 Euro.

Von Voltaire empfehle ich als Einstieg das „Philosophische Wörterbuch“, das bei Reclam jetzt neu erschienen ist.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Luther auf dem Reichstag in Worms: Der Durchbruch zum Pluralismus im Christentum!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2021

1.
Warum ist das Ereignis „Luther auf dem Reichstag in Worms“ am 17. und 18. April 1521 von allgemeinem Interesse? Weil mit diesem Ereignis der religiöse Pluralismus in der Christenheit nicht nur begann, sondern von kirchlicher wie von staatlicher Seite, trotz aller Wirrnisse danach, im letzten nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Und dieser religiöse Pluralismus ist trotz aller Auseinandersetzungen in den folgenden Jahrhunderten tatsächlich eine Wohltat für Europa! Die Vorstellung „Eine einzige Kirche/Religion in einem Staat“ widerspricht jeglicher Vorstellung von Demokratie als einem Staatswesen der Pluralität und Toleranz. Die Idee der Menschenrechte bildete sich also in der Konsequenz der Ereignisse von 1521 als universale Dimension.
Dies anzuerkennen ist die erste und wichtige Erkenntnis, die sich aus der Erinnerung an „Luther auf dem Reichstag von Worms 1521“ ergibt: Weder der (katholische) Kaiser noch die mit ihm verbundene katholische Kirche haben die Allmacht zu bestimmen, was als christlich gelten kann. Ein radikaler Bruch ist geschehen, die Eröffnung eines pluralen Christentums. Was für eine große Tat!

2.
Dieser religiöse Pluralismus, eingeleitet „letztendlich“ durch Luthers Beharren auf dem Wormser Reichstag, hat also innerhalb des Christentums die Stellung der Religionen/Konfessionen im Staat bzw. der Demokratie relativiert. Der religiöse Pluralismus hat dann im 18. Jahrhundert als Folge von Luthers Tat zu der Erkenntnis geführt: Es gibt Menschenrechte und diese stehen ÜBER den verschiedenen konfessionellen Meinungen. Die konfessionellen Lehren sind also für das Wohlergehen und den Frieden der Menschen sekundär. Sie sind eben nur Wahrheiten, die dem einzelnen als einzelnen oder der konfessionellen Gemeinde ein Gefühl von Wahrheit und Geborgenheit geben. Aber konfessionelle Wahrheiten der Religionen, aller Religionen, sind in diesem Sinne immer nur „subjektiv gültige“ Wahrheiten. Von objektiver allgemeiner Gültigkeit kann eine immer begrenzte religiöse Wahrheit niemals sein.

3.
Menschenrechte sind also das, was über allen Religionen steht und von den Staaten/Demokratien gepflegt und geschützt werden muss und glaubhaft politisch gestaltet werden sollte. Das ist leider nicht immer der Fall. Aber eine einzelne Religion kann als einzelne auch nicht für den Frieden in der Welt sorgen. Das kann nur die allgemeine, kritisch reflektierte Vernunft der einen Menschheit, die erkennt: Ohne die gelebten und stets weiter zu entwickelnden Menschenrechten hat die Menschheit keine Chance auf ein menschenwürdiges Überleben.

4.
Hinweise zu den Ereignissen damals:
Martin Luther reist Anfang April 1521 von Wittenberg zum Reichstag nach Worms (Ankunft 16. April) bereits als „Ketzer“ (verurteilt durch den päpstlichen Kirchenbann).
Diese katholische Einschätzung hätte eigentlich schon den Tod, die Hinrichtung, Luthers bedeutet.
Aber es gab Fürsten, die anders dachten, also bereits wirksam Pluralität bezeugten und verlangten: Luther muss vor dem Reichstag seinen Glauben, seine theologischen Einsichten, erläutern. Dafür ist vor allem Luthers Landesherr Kurfürst Friedrich der Weise erfolgreich eingetreten.
Kaiser Karl V. sieht seine Allmacht in Frage gestellt. Er kann den sich durchsetzenden Pluralismus religiöser Auffassungen nicht akzeptieren. Deswegen lässt er also den „Ketzer“ Luther nach Worms zum Reichstag reisen, um ihn für Rom und den Kaiser wieder zu gewinnen. Das Weitere ist bekannt: Luther wiederholt am 17. bzw. am 18. April 1521 vor dem Kaiser seine theologische Grundeinsicht, unter anderem sagt er: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“
Luther betont also, dass er sich von seiner Überzeugung nur abbringen ließe, wenn die Zeugnisse der Bibel gegen ihn sprächen oder „klare und helle Gründe“ genannt würden. Das kann die katholische Seite aber nicht bieten.
Damit ist dann de facto der Bruch zwischen römischer Kirche vollzogen. Die Einheit des westlichen Christentums ist vorbei. Es beginnt die Zeit des christlichen Pluralismus, selbst wenn Karl V. und auch Luther, ihren Äußerungen zufolge, die Einheit der Kirche doch noch anstrebten. Aber bei diesen nun offenkundigen Differenzen auch in Worms konnte Versöhnung nicht mehr eintreten.
Luther kann – wegen eines „Schutzbriefes“ – aus Worms abreisen, er wird durch das Eingreifen Friedrich des Weisen in der Wartburg bei Eisenach versteckt. Dort übersetzt Luther das Neue Testament ins Deutsche.

5.
Viele Herrscher (Könige) in den folgenden Jahrzehnten versuchten noch, mit aller Gewalt nur eine einzige, ihnen gefällige Religion in ihrem Reich zuzulassen, wie in Spanien und Frankreich (dort bis zur Revolution 1789), aber auch in protestantischen Staaten, wie in Schweden gab es die „Staatskirche“. In Preußen ließ erst Friedrich II. (der „Große“) eine gewisse religiöse Pluralität zu. In den Niederlanden hingegen war spätestens seit 1630 konfessionelle Pluralität eine Tatsache, auch innerhalb des Calvinismus wurde dann Vielfalt geduldet (mit den Remonstranten), auch Katholiken hatten im mehrheitlich calvinistischen Holland keine Verfolgung zu befürchten. Remonstranten wie Katholiken konnten ihre eigenen Kirchen bauen, zwar versteckt („Schuilkerken“), aber immerhin, es gab die Freiheit des Glaubens in einem toleranten Pluralismus. Der drückte sich auch aus in der Freiheit niederländischer Verlage, hoch umstrittene, „ketzerische“ Bücher aus dem Ausland zu publizieren und Religionsflüchtlinge etwa aus Frankreich aufzunehmen. Auch wegen der Toleranz als eines Zustandes des innenpolitischen Friedens konnten sich die Niederlande zu einem erfolgreichen Zentrum des Welt – Handels entwickeln.

6.
Der Reichstag zu Worms im April 1521 als dem Start eines pluralen Christentums in Europa kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, selbst wenn im „Dreizigjährigen Krieg“ und später noch die Zustimmung zur christlichen Pluralität bekämpft wurde. Es waren absolute Herrscher, die in ihrem einen reich aus machtpolitischen Gründen nur eine Konfession ertragen konnten und Andersdenkende verfolgten. Das galt etwa in Spanien bis kurz vor Ende des katholischen Franco – Regimes, das gilt bis heute in vielen muslimischen Ländern.

7.
Aber die Pluralität IM Christentum hat sich durchgesetzt. Und kein vernünftiger Mensch will mehr die eine und einzige zentralistische Kirche wie im Mittelalter wiedererstehen sehen, selbst wenn solche Vorstellungen in manchen einflussreichen katholischen Kreisen noch heute herumgeistern, unter dem Stichwort „Die katholische Kirche als römische Kirche ist die alleinseligmachende Kirche“.
Christliche Pluralität ist nicht nur ein bleibendes Faktum, sie ist ein Segen. Und die einzige Frage jetzt in der Erinnerung an den Wormser Reichstag ist: Wie kann die Pluralität vor einem Zerfallen in eine widersprüchliche und sich bekämpfende Vielfalt bewahrt bzw. aus einem Zustand der Konkurrenz und der Missgunst herausgeführt werden. Man denke etwa an das konfessionelle Gegeneinander in lateinamerikanischen Ländern, wo fundamentalistische evangelikale oft rabiat Katholiken abwerben.
Die dringende Aufgabe ist: Wie kann es eine Versöhnung der Verschiedenen geben, die sich als bleibend Verschiedene verpflichten, einander zu schätzen, auf Konkurrenz-Verhalten zu verzichten und sich von Feindseligkeiten zu befreien. Dass damit nicht alle, die sich „christliche Kirche“ nennen, vom Ökumenischen Rat der Kirchen als Kirchen anerkannt werden können, ist auch klar. Es gibt ein bleibend normatives Kriterium für Organisationen, die sich christliche Kirchen nennen. Kirchen, die sich in ihrer eigenen Lehre gegen die universal geltenden Menschenrechte aussprechen, sind keine christlichen Kirchen. Die Menschenrechte sind insofern das wichtige Kriterium der Unterscheidung auch für die Kirchen!

8.
Versöhnte Verschiedenheit – darauf wird sich auch die römische Kirche definitiv einlassen müssen, will sie nicht auf Dauer als fundamentalistische, Wahrheitsbesessene Gemeinschaft dastehen und an Respekt verlieren. Vielleicht kommt sie jetzt, angesichts ihrer Identitätskrise nicht nur wegen des sexuellen Missbrauchs durch Priester, dazu, diese theologischen Vernunft zu realisieren. Es gilt wohl anzuerkennen: Das Beten um die Einheit der Christen seit ca. 100 Jahren ist jedenfalls, für Menschen wahrnehmbar, völlig erfolglos. Und auch für die die theologischen Debatten über die feinsten Feinheiten der konfessionellen Unterschiede hat kaum jemand noch Verständnis, Zeit und Interesse. Alles ist in dem Zusammenhang gesagt! Das hat der große katholische Theologe Karl Rahner schon 1983 zusammen mit Heinrich Fries geschrieben in seiner leider vergessenen, verdrängten Studie „Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit“ (Herder – Verlag). Alles ist gesagt: Schafft jetzt praktisch die Kircheneinheit der versöhnten Pluralität!

9.
Es gilt also jetzt damit zu beginnen, Kirchen – Einheit als versöhnte Verschiedenheit zu leben. Also auch Anerkennung der Ämter, Zulassung aller Interessierten zu jeder Form des Abendmahls oder der Kommunion. Das zu praktizieren, ist, theologisch gesprochen, eine Wirkung des Heiligen Geistes Sollte die römische Kirche in ihrer dogmatischen Erstarrung verharren, so ist abzusehen, dass sie zumindest in Europa zu einer Sekte der Fundamentalisten und Freunde des uralten Klerikalismus wird.

10.
Luther wurde also exkommuniziert: Diese päpstliche Strafe „erlischt“ mit dem Tod des Ketzers, aber in den Köpfen vieler Katholiken ist Luther immer noch der Ketzer. Unvorstellbar, dass sich eine römisch -katholische Kirche „Martin – Luther – Kirche“ nennen könnte. Katholische Kirchen werden eher nach der Unbefleckten Empfängnis, dem heiligen Papst Pius X. oder der „Heiligen Familie“ benannt…
Einige katholische und protestantische Theologen setzen sich mit dem Mut des Sisyphus,, wie der „Altenberger Ökumenische Gesprächskreis“, dafür ein: Der Papst sollte offiziell verkünden: „Luther ist kein Ketzer!“ (Am 3.1.1521 wurde Luther von Papst Leo X. exkommuniziert). Als „Gegenleistung“ wird den Lutheranern empfohlen zu bekennen: „Der Papst ist für kein Antichrist“. Ob es dazu kommt, ist fraglich.

11.
Zum Schluss die Erinnerung an eine zentrale Einsicht des Philosophen G. W.F. Hegel (1770 – 1831).Er hat als einer der ersten in der Moderne im Pluralismus der Kirchen kein Übel, sondern eine bleibende „Errungenschaft“ gesehen, trotz aller Auseinandersetzungen und Kriege, die eine Konsequenz der Reformation waren. Für diese „Schattenseiten“ sind freilich nicht allein die Reformatoren verantwortlich zu machen.
Hegel meint also: Dadurch, dass sich zwei oder drei verschiedene Kirchen, etwa in Preußen, befinden, also Lutheraner, Calvinisten, Katholiken, ist es Aufgabe des Staates, und prinzipiell als Rechtsstaat dazu verpflichtet, für Frieden in der Gesellschaft zu sorgen. Der Staat muss also aus seinem eigenen Selbstverständnis als Rechtsstaat die Prinzipien der Toleranz und des Miteinanders entwickeln. Der Staat ist für Hegel nicht bloß etwas Funktionales, „Äußerliches“ wie er sagt, der Staat ist vielmehr philosophisch gesehen Ausdruck des Lebens des absoluten Geistes. Er ist als Rechtsstaat nämlich die Wirklichkeit des Geistes! In dieser anspruchsvollen Bedeutung des Rechtsstaates kann der Staat die für alle Menschen gültigen Menschenrechten formulieren und sollte diese auch praktizieren. Hegel spricht in dem Zusammenhang vom Rechtsstaat als der „sittlichen Wirklichkeit des Geistes“, so etwa in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820), dort § 270. Hegel schreibt am Ende dieses Paragraphen: „Es ist daher weit gefehlt, dass für den Staat die kirchliche Trennung (also die Pluralität der Kirchen, CM) ein Unglück wäre oder gewesen wäre; es ist so, dass der Staat nur durch sie, die kirchliche Pluralität, hat werden können, was seine Bestimmung ist: Die selbstbewusste Vernünftigkeit und Sittlichkeit.“ Mit anderen Worten: Die verschiedenen Kirchen mit ihren unterschiedlichen Lehren sind als solche untergeordnet gegenüber dem Rechts – Staat. Die Pluralität der Kirchen hat förmlich die Notwendigkeit eines Rechtsstaates mit erzeugt.
Dieser Staat ist verpflichtet, die universalen, für alle, auch für alle unterschiedlichen Konfessionen, gültigen Menschenrechten auszusprechen, einzufordern und zu realisieren. An ihm, den Rechtsstaat und den von ihm vertretenen Menschenrechten, müssen sich die verschiedenen Religionen orientieren, wenn sie in Gesellschaft und Staat aktiv – gestaltend werden wollen.

12.
Diesen Zusammenhang entwickelt sehr eindringlich der bekannte Hegel – Spezialist Walter Jaeschke in seinem Aufsatz „Staat und Religion“ in: Hegels Philosophie“ (Felix Meiner Verlag, 2020, Seite 263 -280). Walter Jaeschke weist ausdrücklich darauf hin, dass Hegel die Überzeugung der Romantiker entschieden ablehnt, es käme primär auf eine Einheit der christlichen Religion und des Staates an, diesen Zustand lehnt Hegel als „mittelalterlich“ ab. Die Religion als Religion ist gänzlich ungeeignet, „die Verfassung des Staates und die in ihm wirkliche Erkenntnisform vorzugeben“, schreibt Jaeschke (S. 269). Und er fährt fort: „Und deshalb spricht Hegel der Religion nicht das Recht zu, in Fragen der Staatsgestaltung mitzusprechen…“ Das Problem der Überordnung des Rechtsstaates gegenüber den Religionen wird dann von Jaeschke ausführlich weiterentwickelt.

13.
Was bleibt also von „Luther auf dem Reichstag in Worms“? Es bleibt die Einsicht: Gott sei Dank, möchte man sagen, hat sich Luther NICHT der katholischen und kaiserlichen Macht und ihren Lehren gebeugt! Er hat in Worms – vielleicht noch ohne sein explizites Wissen – den Weg in den christlichen Pluralismus eröffnet. Diese wird niemals mehr verschwinden, er bedarf aber der kritisch reflektierten (!) Versöhnung der im christlichen Glauben Verschiedenen.

14.
Was also ist die “Fern-Wirkung” von Luthers Beständigkeit auf dem Reichstag in Worms? Das Christentum konnte sich langsam, aber deutlich als Pluralität entwickeln. Kein Christ wurde, ebenfalls als “Fern-Wirkung”, seit dem 19. Jahrhundert wegen seines “abweichenden christlichen Glaubens” von einer zentralen Staatsmacht oder einer katholischen – römischen Kirche verfolgt. Prinzipiell gibt es keine Staatskirche mehr und es darf keine solche geben.
So sind die Kirchen nun auch befreit und in der Lage, bei heftigem Verletzen der Menschenrechte durch den demokratischen Staat und jeden anderen Staat dagegen öffentlich zu protestieren, unterstützt von den humanen Impulsen des Evangeliums.

Wichtig ist auch: Der demokratische Staat schützt und unterstützt die freie theologische Forschung. Etwa: Liberale Theologie und kritische Bibelforschung konnte sich entwickeln. Und Befreiungstheologen konnten sich ab 1971 in Lateinamerika wenigstens bemerkbar machen, wenn auch viele BefreiungstheologInnen aufgrund des Bündnisses von Vatikan und US-Regierung verfolgt wurden und ihr Leben ließen – im Einsatz für die Armen und für die vom Imperialismus Entrechteten. Die tötende Gewalt (man denke an den Heiligen Erzbischof Oscar Romero, El Salvador) ging noch einmal aus vom ideologischen Bündnis der Einheit von Vatikan (Papst Johannes Paul II. bzw. Ratzinger) UND Reagan und Co (CIA).

15.
Aber die absolute Überordnung der Menschenrechte über alles Konfessionelle, Religiöse, Kirchliche, kann nicht mehr zerstört werden. Diese Überordnung bleibt, auch wenn einzelne christliche, muslimische, jüdische, buddhistische, hinduistische usw. Führergestalten noch dagegen polemisieren…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-salon.de

Kirche in der Stadt – Ein spannungsvolles und „spannendes“ Verhältnis.

Ein Interview mit Pfarrer Michael Göpfert, München.
Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin

1.
Vor 40 Jahren, 1981, haben wir eine Aufsatz – und Essay – Sammlung mit dem Titel „Kirche in der Stadt“ im Kohlhammer Verlag herausgegeben. 24 Mitarbeiter aus verschiedenen europäischen Städten waren daran beteiligt. Nun sind 40 Jahre an sich noch kein denkwürdiges Jubiläum. Aber kritischer Rückblick und kritischer Vorblick sind bei dem Thema wichtig. Denn nirgendwo sonst wie in den Großstädten zeigt sich der religiöse Umbruch so deutlich: Etwa der Abschied weiter Kreise von den Kirchen und damit die neue religiöse Pluralität. Inzwischen sind etliche weitere Studien zum Thema „Kirche und Stadt“ erschienen. Blicken wir zunächst zurück: Warum war dir damals das Thema wichtig?

Ich glaube, die Idee zu dem Buch kam von dir, Christian, als Journalist warst du in vielen europäischen Städten unterwegs. Die Idee faszinierte mich, ich liebe Städte, vor allem Großstädte, schon immer. Vor Jahren hatte ich mir antiquarisch die 10 Hefte des Berliner „Großstadtapostels“ der „Zwanziger Jahre“ Carl Sonnenschein gekauft: „Notizen-Weltstadtbetrachtungen.“ In einem rasanten impressionistischen Stil und mit Tempo erzählt er von seinen Eindrücken und Erfahrungen, er taucht in die Stadt ein, weil er die Menschen in Berlin mag, beschreibt aber auch das Licht und die vielen Schattenseiten der Metropole. Und gestaltete förmlich im Alleingang eine neue Präsenz der (katholischen) Kirche in Berlin: Hilfsangebote, eine bedeutende öffentliche Bibliothek, er gestaltete ein Wohnungsbauprogramm, organisierte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, er machte aus der Kirchenzeitung eine lesenswerte Zeitung, vernetzte sozial Engagierte und so weiter. So, dachte ich, könnte Großstadtkirche sein, als verbunden in mit der Kultur der Stadt und verbunden mit den Menschen, nicht nur den so genannten „Kirchgängern“.
Seit ich dann ab 1974 in München war, fiel mir auf, wie sehr das Thema Kirche und Stadt gleichsam in der Luft lag und von Theologen, Soziologen und Architekten diskutiert wurde. Kirchen sind immer eingebunden in bestimmte Orte, also in Wohn -, Lebens – , Arbeitskulturen. Kirchen sind wie Theologien niemals „ortlos“: Eine Citykirche „funktioniert“ anders als eine Dorfkirche, also: Entdecke den Genius loci! Glaube hat neben dem Zeitindex auch einen Ortsindex und daraus folgt eine Freilassung der Differenzen, eine Vielfalt und Buntheit von Kirchen, gerade in den Städten.

2.
Wie waren deine Erfahrungen in den ersten Jahren nach der Publikation des Buches: Zeigte sich Interesse am Thema? Von wem ging das Interesse aus? Waren es dann Debatten, die auch praktische Wirkungen zeigten?

Meine Erfahrungen nach Erscheinen des Buches waren überraschend, weil die Resonanz so gut war. Es gab Einladungen zu Tagungen, Vorträgen, Zeitungsaufsätzen. Am interessantesten für mich war die Einladung im Herbst 1981 zu einem Treffen von evangelischen Stadtdekanen und Stadtsuperintendenten in Berlin, eine Konsultation über Kirche und Großstadt. Ich schrieb darüber einen Zeitungsaufsatz und die Folge war, dass ich von da an bei fast allen Treffen dabei war und die Berichte darüber schrieb… bis 2013. Eine weitere Folge war, dass ich bei diesen Konsultationen den Hamburger evangelischen Theologen Wolfgang Grünberg kennenlernte, der dort an der Universität die Arbeitsstelle Kirche und Stadt aufgebaut hatte. Daraus entstand 1991 die Buchreihe „Kirche in der Stadt“, die ich in den Anfängen mitplante, vor allem auch mit dem Stadtsuperintendenten von Hannover Hans Werner Dannowski. Im Lauf der Zeit entstand eine Art Netzwerk der Stadtkirchen, gebildet zwischen der Konsultation, den Treffen der Citypfarrer/innen und denen der Kirchencafés.

3.
Als Leitlinien für eine Kirche, die in der Großstadt nicht als Fremdkörper erlebt werden soll, formulierten wir damals z.B. „Kreativität“, „Dialog“, „Basisorientierung“. Gibt es heute überhaupt noch ein Bewusstsein dafür, dass Kirche in der Stadt diesen Leitlinien folgen sollte?

Der Glanz der Begriffe Kreativität, Dialog, Basisorientierung ist etwas verblasst, aber faktisch leben die Stadtkirchen von dem damit signalisierten Potential. Wenn ich etwa an den Ideenreichtum von St. Maximilian in München denke oder an die frühere Kunststation St. Peter in Köln, die von dem Charisma des Jesuiten Friedhelm Mennekes lebte, wird mir deutlich, wie entscheidend die Geistesgegenwart, der Mut und die Ideen zunächst auch einzelner vor Ort sind.

4.
Ich habe den Eindruck: Die Kirchen in Deutschland und in ganz Europa setzen seit einigen Jahren schon entschieden auf das Programm „Reduzierung“ kirchlicher Präsenz in den Großstädten: Viele Kirchen – Gemeinden („Pfarreien“) werden zu großen, fast unüberschaubaren Verbänden zusammengeschlossen. Es fehlt an theologisch gut ausgebildeten Mitarbeitern, Pfarrern, Priestern. Ist „Kirche in der Stadt“ also auf dem Rückzug? Diakonie ist dabei abgespalten von den Gemeinden und als autonome Großorganisation etabliert?

Sicher wird es in den nächsten Jahren für beide Kirchen weniger finanzielle und personelle Ressourcen geben. Aber wenn Menschen von einer Aufgabe begeistert sind, arbeiten sie auch ohne Geld und wer sagt denn, dass so viele Aufgaben von bezahlten Hauptamtlichen gemacht werden müssen. Die Basis hat noch gar nicht zeigen können, was sie alles kann. Es wird wohl viel weniger große Kirchen geben, aber warum nicht viel mehr kleine Kirchenläden und Ladenkirchen in den städtischen Quartieren, in denen die Einheit von Liturgie, Diakonie vor Ort und religiöser Weiterbildung gelebt wird? Nicht Reduzierung von Präsenz von Kirche in der Stadt, sondern Verdichtung, aber eben nicht eine, die von Oben vorgeschrieben, geplant und organisiert wird. Zentralisierung ist Machtbündelung, Dezentralisierung heißt Abgeben von Macht und Vertrauen in die Basis vor Ort.

5.
Ich beobachte das in der Presse ständig: Kirche als positiv besetzter Ort der Begegnung ist eigentlich für weiteste Kreise kein Thema mehr. Im Mittelpunkt stehen die unsäglichen Skandale des Missbrauchs durch Priester oder die Zunahme fundamentalistischer Religiosität. Wo sind die theologischen Orte, die kritisches Reflektieren förmlich als „Dauerzustand“ praktizieren?

Die lange Missbrauchsdebatte ist notwendig, aber sie überlagert auch vieles. Die Sehnsucht nach Orten der Begegnung ist wohl für Menschen überlebenswichtig, sie kann nicht sterben und sie wird nach Corona vielleicht noch deutlicher werden. In vielen Städten sind die kirchlichen Stadtakademien gute Adressen für Austausch und Begegnung über Gruppenidentitäten hinweg, aber das reicht natürlich nicht. Warum nicht mehr lernen z.B. von der Tradition literarischer oder philosophischer Salons, von Treffen in Kneipen und in den Wohnzimmern. Jeder, der will, kann auf seine Weise durchaus die Initiative ergreifen und vielleicht zum Kristallisationspunkt von Begegnung werden.

6.
Wer in Spanien, Italien oder Frankreich die dortigen, meist geöffneten Kirchen besucht, fühlt sich angesichts der vieler hindurch eilenden Touristen wie in einem Museum. Werden Kirchengebäude zu Museen und Gottesdienste zu esoterischen Veranstaltungen nur für einige Eingeweihte?

Natürlich kann ich eine Kathedrale wie ein Museum benutzen, aber auch als Gottesdienstort. Ich kann mich in die Krypta verkriechen, um mit mir allein zu sein, ich kann mit dem Kinderwagen im Sommer den Schatten suchen…Die Nürnberger Lorenzkirche zum Beispiel hatte im Mittelalter nie nur religiöse Funktionen, sondern z. B. auch politische. Der Rat der Stadt oder die Stände und Zünfte trafen sich da. Die heutigen „Vesperkirchen“ verwandeln sich im Winter zu Suppenküchen und Wärmestuben für Obdachlose. Synagogen waren früher Räume des Gebets, aber auch Lernorte, Übernachtungsorte, sie boten Möglichkeiten für Mahlzeiten, und das alles unter einem Dach!
Ein für mich nach wie vor faszinierendes Beispiel für spirituelle Gemeinschaften und spirituelle Orte in der Stadt sind für mich die vielen hundert Bethäuser der Juden vor allem in Mittel-und Osteuropa. Sie wurden von 1940 bis 1945 im Wahn der Nazis und ihres verbrecherischen Antisemitismus fast vollständig ausgelöscht und vernichtet. Joseph Roth schreibt einmal über seine Heimatstadt Brody, die Stadt habe zwei Kirchen, eine Synagoge, aber 40 Bethäuser. Es gab Netzwerke der Gemeinschaft und Solidarität, Orte des Lernens der religiösen Überlieferung, der Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses, der Einübung in die Weisheit der Bibel.
In einer schrumpfenden Volkskirche werden wir in Zukunft wahrscheinlich immer weniger Kirchen, aber immer mehr „Lese – Lern – und Versammlungsräume“ brauchen, die von diesem Geist geprägt sind, Stützpunkte der Einübung in den Geist des Christentums inspiriert aus dem Geist des Judentums. Gerade dann, wenn die Kirchen ärmer werden, könnten sie umso reicher werden durch die Vielfalt kleiner Läden und Treffpunkte, sozusagen um die Ecke in den Quartieren und Nachbarschaften. So könnte die Kultur der biblischen Traditionen entdeckt und aktuell neu gedeutet werden. Ich stelle mir solche Orte vor, wie sie Roman Vishniac kurz vor der Vernichtung noch fotografiert hat: Bücherwände, Holztische, Suppenküche, Gesichter des Lernens und der Versenkung… Grüße vom Schtetl in unsere Städte, die uns wie eine Flaschenpost erreichen.

7.
Unser Buch von 1981 hatte einen gewissen Mangel: Erfahrungen, Reflexionen, aus Asien, Afrika und Lateinamerika wurden nicht berücksichtigt. Nun sind inzwischen viele Menschen aus diesen Ländern in Europa gelandet und gestrandet, als Flüchtlinge etwa: Ist das Miteinander mit den „anderen“, etwa den Muslimen, eine zentrale neue Aufgabe für Menschen, denen „Kirche in der Stadt“ noch am Herzen liegt?

Kirche in der Stadt muss sich vor allem bewähren in der Begegnung mit dem Fremden und den Fremden, das ist ein Prüfstein nicht nur für das Christentum, sondern für alle Religionen. Gastfreundschaft mit den Fremden ist ein Schatz der religiösen und kulturellen Überlieferung und deshalb muss der Kampf gegen Abschottung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus, Nationalismus auch von den Kirchen geführt werden. Die vielen Flüchtlingsinitiativen vor allem seit den 90er Jahren sind ein ermutigendes Vorbild. Klöster, gerade auch Nonnenklöster, gewähren Kirchenasyl, diese Klöster sind Lichtblicke in der kirchlichen Landschaft. Der persönliche Kontakt mit Fremden, mit anderen Religionen und Kulturen bedroht nicht unsere Identität, sondern fördert sie, erweitert sie, korrigiert sie, kann sie befreien von Verkrustungen, Verhärtungen, von Fanatismus und Dogmatismus. An dem Punkt sieht man auch, dass die Delegation diakonischen Handelns und Helfens an die großen Wohlfahrtsverbände, Diakonie und Caritas, gravierende Schattenseite hat: Die Fremden, Flüchtlinge, Obdachlosen, Menschen mit Handicap, werden den Augen der Gemeinde, also ihrem Erleben vor Ort, entzogen. Ich schaue unter den Bedingungen also dem Fremden und Flüchtling und Armen buchstäblich nicht mehr in die Augen. Das darf nicht sein!
Die Migrationsbewegungen werden noch anwachsen, der Fremde wird für viele ängstliche, nationalistisch Denkende als bedrohlich propagiert werden. Hier steht den Kirchen, den Religionen, der demokratischen Zivilgesellschaft eine harte Bewährungsprobe noch bevor. In den Kirchen in der Stadt stranden doch oft die „Anderen“, die Fremden zuerst, wird die Kirche noch eine Vorreiterrolle wahrnehmen wollen?

8.

Wenn wir von Kirche in der Groß – Stadt sprechen, darf man nicht vergessen, was eine zentrale Verpflichtung der Kirche ist: Von Gott zu sprechen und im Handeln deutlich zu machen. Wie sollte Kirche heute in den Metropolen Westeuropas, die zunehmend als säkularisiert gelten, von Gott sprechen und im Handeln deutlich machen?

Natürlich darf man nicht vergessen, daß es bei allem Reden über Kirche nicht um Kirche als Selbstzweck geht, sondern daß es in der Religion um Gott geht. Bei allen Struktur-und Reformdebatten wird das manchmal vergessen. Auch beim Reden über Kirche und Stadt geht es eigentlich um Gott. In der Apostelgeschichte heißt es einmal: Ich, Gott, habe ein großes Volk in der Stadt. Das ist eigentlich eine Provokation, das Volk ist nicht das Kirchenvolk, sondern es ist das Gottesvolk. In der Bibel geht es eigentlich immer um die Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk und mit allen Völkern und Menschen. Die biblische Literatur, das sind immer wieder neue und andere Versuche, über Gott zu sprechen, von ihm zu erzählen, in ganz unterschiedlichen Formen, in Erzählungen und Romanen, in Gedichten und Liedern, in Briefen und Predigten. Diese Sprechversuche über Gott sind radikal unterschiedlich, widersprechen sich, korrigieren sich. Man vergleiche nur einmal das hochpoetische Buch „Hohes Lied“ mit dem Josephsroman im ersten Buch Mose, oder das Hiobbuch mit seinen Anklagen gegen Gott mit dem skeptischen Buch Kohelet. Die Kirchen in der Stadt sollten endlich ihre eigenen biblischen Klassiker wiederentdecken, lesen, vorlesen, auslegen, neu inszenieren in allen möglichen Formaten, in Kooperationen mit Musik, bildender Kunst, Theater. Ich glaube, die Bibel fasziniert immer noch viel mehr Menschen als bloß das „Kirchenvolk“. Also, bei ihrem Sprechen über Gott sollten die Kirchen in die Schule der Bibel gehen und lernen, daß es sich um Sprechversuche handelt und nicht um dogmatische Statements, und sie sollten die biblischen Sprechversuche durchbuchstabieren.

Copyright: Pfarrer Michael Göpfert, München und Religionsphilosophischer Salon Berlin