Die Spiritualität von Rosa Luxemburg

Von Christian Modehn am 14.1.2019, erneut bearbeitet am 27.2.2021

Zur Erinnerung: Rosa Luxemburg wurde am 5.3.1871 in Zamosc, Polen, geboren. Am 15.1 1919 wurde sie in Berlin von Rechtsextremen umgebracht. 1899 war Rosa Luxemburg in die SPD eingetreten; 1917 in die USPD, zur Jahreswende 1918/19 gehörte sie zu den GründerInnen der KPD. Rosa Luxemburg war gegen den Begriff “kommunistisch” im Namen dieser Partei.

1.

Die Frage „Welche Spiritualität war lebendig in Rosa Luxemburgs Praxis und Denken?“ wird meines Erachtens bisher nicht explizit und ausführlich diskutiert. Auch jetzt nicht, anläßlich ihres 150. Geburtstatges 2021. Über ihre Verbundenheit mit einer jüdischen Lebensform und jüdischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie müsste ausführlicher gesprochen werden.
Als wichtige Ergänzung zum folgenden Beitrag siehe auch meinen Hinweis “Rosa Luxemburg – die Philosophin” mit Zitaten, die auch die spirituelle Grundhaltung Rosa Luxemburgs andeuten. LINK.

2.

In dem kritisch informierenden Heft „Luxemburg“ 3/2018 der Rosa-Luxemburg Stiftung werden in verschiedenen Beiträgen einige wenige Hinweise gegeben, die Ansätze bieten könnten für ein „spirituelles Profil“ von Rosa Luxemburg.
Allgemeiner Ausgangspunkt ist die Tatsache, die noch längst nicht alle heute zur Kenntnis genommen haben: Rosa Luxemburg war keine „bolschewistische Abenteuerin“. Sie wollte keinen blutigen Bürgerkrieg in Deutschland, wie die Rechten und auch Leute der SPD, Noske usw., damals lautstark behaupteten und … direkt/indirekt ihre Ermordung zuließen bzw. förderten. Rosa Luxemburg wollte keine Diktatur des Proletariats, etwa nach dem Beispiel Lenins. Sie wollte um der Menschheit willen eine bessere, gerechte Welt-Gesellschaft, den sie Sozialismus nannte. Dieses globale Projekt ist so etwas wie eine Revolution.

3.

Alex Demirovic nennt in seinem Beitrag „Eine neue Zivilisation“ einige Begriffe, die bei der Darstellung des spirituellen Profils von Rosa Luxemburgs hilfreich sein können: Sie ist immer bereit, den Zauber des Lebens (S.21) zu spüren und in ihrer poetischen Sprache auch zu benennen. Und da gelingen ihr wunderbare Sätze!
Sie will die „äußerste Achtsamkeit für das (und den) einzelne(n)“ auch politisch leben, sie will also nicht hinnehmen, dass die einzelnen Menschen für das „große Ganze“ geopfert werden. „Gefühlskälte“ (S. 20) kommt für sie gar nicht in Frage. Sie liebt die Natur, alle Geschöpfe, die Tiere. In der Natur erlebt sie Erhabenderes als auf Parteikongressen. „Sie bewegt sich im Spannungsfeld des Widerspruchs von Ganzem und einzelnen“ (S. 21). Aber sie wehrt den Zugriff der Macht auf den einzelnen Menschen entschieden ab.

4.

Im Leben und politischen Alltag ist Geduld (S. 22) für sie entscheidend. Sie will den „Sinn für die großen Linien“ bewahren.
Wichtig ist ihr Vertrauen in die demokratisch aktiven „Massen“.
Sie schätzt absolut die Freiheit des Menschen. Freiheit ist für sie kein exklusives Privileg einer herrschenden (ökonomisch alles bestimmenden) Klasse in der Gesellschaft, sondern Freiheit gehört wie eine „Wesensbestimmung“ allen Menschen. „Freiheit ist immer auch die Freiheit des anders Denkenden“:  Das sagt sie auch und vor allem zur so genannten Partei – Elite in der Sowjetunion, also gegen Lenin. Es sind die „Macho-Männer“, die mit Gewehren herumstolzieren“, so beschreibt Drucilla Cornell die Haltung dieser Clique, die sich „Avantgarde“ nennt (S. 30). LINK.  Das berühmte Zitat stammt aus dem Buch “Zur russischen Revolution”, verfast 1918. LINK.

5.

„Freiheit als Freiheit des anders Denkenden“ war ja auch in der Geschichte der christlichen Kirchen alles andere als selbstverständlich. Wie Kirchen und Theologen auf Rosa Luxemburg reagierten, zu Lebzeiten, zur Ermordung und in den folgenden Jahren des sich aufbauenden Faschismus wäre ein Thema auch für Kirchenhistoriker…

6.

Es gibt eine zentrale („spirituelle“) Leidenschaft Rosa Luxemburgs: Die Politologin Drucilla Cornell spricht von ihrer Sanftheit, (S. 32.) Man könnte wohl auch sagen „Zärtlichkeit“. Theologen werden sich erinnern, dass der Prophet Jesus von Nazareth ebenfalls immer wieder „sanft“ genannt wurde.
Es ist also bei Rosa Luxemburg, noch einmal, die Liebe zu allen Kreaturen, zu Pflanzen, zu Tieren, zum Kosmos, auch und gerade in den Zeiten ihrer Gefängnis-Aufenthalte: Da war das intensive Erleben des Einssein mit der Natur (der “Schöpfung”?) förmlich lebensrettend für sie. Man lese ihre Briefe aus dem Gefängnis, etwa den Brief an Sophie Liebknecht, aus dem Breslauer Gefängnis im Dezember 1917 (S. 56 ff). Wäre es nicht spannend, einmal diese Gefängnis-Briefe mit den Gefängnisbriefen von Dietrich Bonhoeffer synchron und vergleichend zu lesen?

7.

Drucilla Cornell nennt auch das entscheidende spirituelle Stichwort Luxemburgs: Es geht um die Transformation, „radikale Transformation jedes Einzelnen (S. 29) als Voraussetzung einer „sozialistischen Revolution“, also einer neuen, in Luxemburgs Verständnis besseren, weil gerechten Gesellschaft. Transformation ist ein seelisches, auch therapeutisches Geschehen!
Die Autorin, Professorin u.a. für Gender Studies und Politikwissenschaften, zitiert eine weitere zentrale Kategorie der Spiritualität: Luxemburg schreibt in ihren Überlegungen zur weltweiten Unterdrückung: „Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung…“ (S. 28). Erlösung wurde von einer dogmatisch eng denkenden Kirche als fast immer als jenseitiges oder nur seelisches Geschehen gedeutet. Dabei ist Erlösung als konkrete, auch materielle Erfahrung einer gerechteren Welt notwendiger Bestandteil eines sich selbst kritisch verstehenden Christentums.

8.

Es wäre hier wichtig, die ausdrücklichen und auch unbewusst lebendigen Verbindungen Rosa Luxemburgs zum Judentum ausführlich zu entwickeln. Michael Löwy, Professor für Philosophie in Paris, gibt einen entscheidenden Hinweis: Er spricht von Luxemburgs Warnungen vor der Allmacht des Imperialismus, Nationalismus und Militarismus. „Diese Warnungen waren nicht im Sinne einer wunderbaren Vorhersage der Zukunft (zu verstehen), sondern im Sinne der biblischen Propheten Amos und Jesaja, die die Menschen vor bevorstehenden Katastrophen warnen, die es gemeinsam zu verhindern gilt“ (S. 38). Welche biblischen Propheten kannte die Jüdin Rosa Luxemburg tatsächlich? Ist der blinde Hass der Rechten und Rechtsextremen damals wie heute auf Rosa Luxemburg (und andere Sozialisten) auch und entscheidend antisemitisch bedingt? Das wird fraglos so sein, sollte aber ausführlicher noch dargestellt werden.

9.

Zusammenfassend: Wenn man sich die Philosophie und Lebensform Rosa Luxemburgs vergegenwärtigt, wird ihre spirituelle Grundhaltung, als Gestalt einer humanistisch-sozialistischen – biblischen, prophetischen Spiritualität, deutlich! Es ist eigentlich an der Zeit, dass sich spirituelle Menschen, auch Christen und Theologen, sehr viel stärker mit Rosa Luxemburgs Werk befassen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 14.1.2019.

PS.

Das genannte Heft „Luxemburg 3/2018“, kann kostenlos bestellt werden: Franz Mehring Platz 1, 10243 Berlin.

Nebenbei: Ein weiteres Thema für religionskritische Untersuchungen wäre die äußerst geringe Lernbereitschaft christlicher und theologischer Kreise, etwa im Blick auf ein differenziertes Bild von Rosa Luxemburg.

Einen Versuch, die theologische Bedeutung Rosa Luxemburgs herauszustellen, bietet der evangelische Pfarrer und SPD Mitglied Eberhard Pausch, Frankfurt/M. in seinem Beitrag für das “Hessische Pfarrblatt”, veröffentlicht im JUNI 2019: LINK

Es muss für weitere Studien berücksichtigt werden, dass gerade Kirchenleute, Päpste, Bischöfe usw. der allgemeinen Ideologie folg(t)en: „Der“ Sozialismus und „der“ Kommunismus seien viel schlimmer, viel “teuflischer” als der Faschismus. Schließlich konnte die römische Kirche mit dem faschistischen Regime in Italien und den NAZIS in Deutschland noch Konkordate abschließen, also die Existenz der Kirche „sichern“; was dabei mit “den anderen”, den Juden, den Kommunisten, den Homosexuellen, den Sintis/Roma, geschah, war dabei kein vorrangiges Interesse für die Kirchenführer.
Der blinde Antisozialismus und Antikommunismus war eine bestimmende Ideologie vor allem in den USA; ihr folgten die Päpste, wie auch Johannes Paul II.: Zusammen mit Präsident Reagan im gemeinsamen Kampf gegen „revolutionäre Priester“ und Befreiungstheologen in Lateinamerika.
So unterstützte die katholische Kirchenführung die sich katholisch nennenden Diktatoren in Argentinien oder Chile (Pinochet), vorher schon in Spanien: Diktator Franco oder Trujillo, Dominikanische Republik, und so weiter…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Von der Inquisition zur Mafia und wieder zurück: Über eine Studie von Leonardo Sciascia

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Was ist Inquisition? Sie ist nichts „Mittelalterliches“. Inquisition ist der Anspruch einer Organisation, total über Menschen verfügen zu können. Der Anspruch einer Organisation, die Wahrheit total zu besitzen, um die eigene angemaßte Macht bewahren zu können. Und daraus folgt: Der Anspruch, selbstständige, freie und dem System widersprechende Menschen zu quälen, zu foltern und auslöschen zu dürfen.
Diesen Anspruch praktizierte an prominenter Stelle Jahrhunderte lang die katholische Kirche: Viele andere totalitäre Organisation folgten dem Vorbild: Nazis, Stalinisten, die extremen Nationalisten… und aktuell: die Mafia.
2.
Es ist das Verdienst des sizilianischen Historikers, Journalisten, Autors und Politikers Leonardo Sciascia, eines prominenten Intellektuellen, das Wesen der katholischen Inquisition auf Sizilien im 17. Jahrhundert genau zu beschreiben. Aber nicht, um dabei nur die alte, vergangene Welten historistisch zu rekonstruieren, sondern um zu zeigen: Die Inquisition lebt – auch in Sizilien -, der Wille zu quälen und zu morden um des eigenen Machterhaltens zerstört das Zusammenleben der Menschen. Das Thema Inquisition gehört also nicht nur in die Religionsgeschichte, es gehört ins Zentrum der Debatten über die Menschenrechte. Sciascia, 1921 – 1989, hatte intensiv die Mafia auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten und auch einiger Prozesse erlebt, analysiert und verurteilt.
3.
Endlich liegt also in deutscher Sprache die Studie von Leonardo Sciascia über wesentliche Aspekte der Inquisition in Sizilien im 17. Jahrhundert, also unter spanischer Oberherrschaft vor. Sein Buch sollten alle lesen, die von dürren Lexikon-Artikeln bedient sind und mehr wissen wollen: Sciascia bietet anschaulich Details, zeigt Zusammenhänge, vermittelt insgesamt ein Einblick in die dunklen Zeiten der sich katholisch nennenden Herrscher.
4.
Mit seiner akribischen „detektivischen“ Genauigkeit will Sciascia den Blick auf die Inquisition schärfen. Die „Edition Converso“ hat seine umfangreiche Arbeit (aus dem Jahr 1967) mit dem Titel „Tod des Inquisitors“ in dem Buch „Ein Sizilianer von festen Prinzipien“ herausgegeben. Den „Tod des Inquisitors“ erscheint anlässlich des 100. Geburtstages Sciascias am 8. Januar 2021 in kurzer Zeit schon in 2. Auflage.
Die Studie gilt dem Leben und Leiden des Augustinermönchs Fra Diego La Matina, wie Sciascia in Rocalmuto geboren, im Jahr 1622. Auf dem Scheiterhaufen wurde er 1658 in Palermo als „Ketzer“ verbrannt. Die gemeinsame Herkunft hat das Interesse Sciascias für diesen herausragenden, aber in Deutschland bislang unbekannten Ketzer sicher verstärkt.
5.
Über die Inquisition der katholischen Kirche als Form der Verfolgung und Auslöschung von Irrlehrern ist allerhand schon bekannt. Es war immer die totale Herrschaft des Klerus, die sich auf der Seite göttlicher Weisheit wusste und Andersdenkende, Andersglaubende, verurteilte und auch vernichtete.
Was das Buch von Sciascia wichtig macht: Es bietet bewegende Details, etwa, dass der Akt der Verbrennung wie eine Art religiöses Volksfest begangen wurde. Die Kirchenoberen nannten ihr Morden feierlich „Glaubensakt“. Denn in letzter Minute konnten die „Ketzer“ immer noch zum wahren katholischen Glauben zurückkehren. Andere blieben standhaft, sie verbrannten bei lebendigem Leibe.Und die fromme schaulustige Menge beschimpfte diese „Ketzer“. Zuschauer waren also auch höchst willkommen, als der Augustiner Frau Diego verbrannt wurde. Es gab einen riesigen Aufbau nach Art eines Freiluft-Theaters, mit Getränken und Speisen, wurden zumal die klerikalen Herrschaften die Inquisitoren bestens versorgt. Und vor allem: Den Teilnehmern an diesem Mordsspektakel wurde der Ablass gewährt: Sie würden also in den Himmel kommen, das häretische Brand-Opfer natürlich nicht.
6.
Fra Diego, der Ketzer, gehörte als Diakon dem Reformorden der Augustiner an, den „Augustinern von Sant Adriano“ (S. 59). Er war schon mehrfach wegen Häresie aufgefallen, dreimal wurde er verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, auf die Galeeren verurteilt. Einmal konnte er sogar aus dem Gefängnis der Inquisition fliehen, er wurde wieder verhaftet und nahm dann alle Kraft zusammen, den dort bestimmenden spanischen Inquisitor Don Juan Lopez Cisneros so schwer zu verletzen, dass er an den Folgen alsbald, am 4.4.1657, starb. Sciascia zeigt, mit welcher Verlogenheit dann die Propaganda der offiziellen Kirche diesen inquisitorischen Agenten von Verfolgung und Tötung mit Lobeshymnen überhäufte.
7.
Sciascia konnte trotz aller ausgiebiger Forschungen mangels eindeutiger Dokumente nicht zur Erkenntnis gelangt, was denn inhaltlich gesehen als Häresie Fra Diego vorgeworfen wurde (vgl. S. 97, auch S. 66). Sciascia kann nur aus einzelnen Hinweisen schließen, dass der Augustiner mit aller Leidenschaft für den Respekt des Evangeliums in seiner Kirche und in der weltlichen Herrschaft eintrat. Evangelium hieß für ihn immer: Das Tun der Gerechtigkeit, vor allem für die Armen. Seine letzten Worte kurz vor dem Flammentod werden überliefert: „Also ist Gott ungerecht“. Damit bezog sich Frau Diego auf die willkürliche Bibelinterpretation eines offiziellen Theologen, der mit ihm noch in letzter Minute sprach. Der junge Augustinermönch wird von Sciascia als Verteidiger humaner Werte dargestellt, der – letztendlich – schon damals die gemeinte Sache der Menschenrechte tausendmal wichtiger fand als Kirchenlehren. Fra Diego lebte in der Erinnerung weiter: Wiederum ein Augustiner, Fra Romualdo aus Caltanisetta, befasste sich mit dem „Ketzer“ Fra Diego, und nannte ihn, 50 Jahre nach dessen Hinrichtung, einen Märtyrer. So viel Lob für Fra Diego konnten die Kirchenoberen nicht ertragen, darum wurde der arme Fra Romualdo nun seinerseits am 6.4.1724 von der Inquisition verbrannt.
8.
Man sollte Sciascias Buch lesen und dabei auch seine Ironie, seinen Zorn gegen die Kirche, in den Zeilen und zwischen den Zeilen erkennen. Sciascia kennt auch die Kirche in der Mitte des 20. Jahrhunderts, er weist z.B. darauf hin, dass der Kölner Kardinal Joseph Frings auf dem 2. Vatikanischen Konzil heftig die Inquisition kritisierte (am8. November 1963). Er nannte die Inquisition und ihre personell bestens ausgestattete Behörde im Vatikan „eine Gefahrenquelle für die Gläubigen“ (S.103). Wohl wahr und …wie nett: „Eine Gefahrenquelle“, die man als Gläubiger also besser meidet und ergeben die allgemein vorgegebenen ethischen und dogmatischen offiziellen Lehren befolgt…

Leonardo Sciascia, Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Edition Converso, Bad Herrenalb, 2021, aus dem Italienischen von Monika Lustig. 192 Seiten, 23 €.
Das Buch enthält darüber hinaus ein Grußwort der Übersetzerin Monika Lustig sowie die kleine, aber unglaublich bewegende Studie aus der Zeit der Pinochet – Diktatur in Chile mit dem Titel „Der Mann mit der Sturmmaske“. In diesem Beitrag Sciascias wird auch auf Verbindungen zur verbrecherischen, faschistischen, von Deutschen gegründeten „Colonia Dignidad“ hingewiesen. Erhellend ist auch ein umfangreicherer Essay über Sciascias Leben und Werk von Maike Albath mit dem Titel „Klarheit, Vernunft und Häresie“ sowie ein kurzer Essay von Santo Piazzese über „Die ironie – ein sizilianisches Instrument des Überlebens“.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Der Wahn der „Pro-Life“ Frommen in den USA und ihr Hass auf Präsident Joe Biden.

Katholische Bischöfe der USA gegen Präsident Joe Biden
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
„Gott sieht alles“: Kaum zu glauben, dass ein katholischer Erzbischof so viel theologische Naivität noch im Januar 2021 öffentlich bekennt: Diesen moralischen Spruch, mit erhobenem Zeigefinger gesprochen bei „Standpauken“ in vergangenen Jahrhunderten, erlaubt sich jetzt Erzbischof José Gomez von Los Angeles, USA: „Wir befinden uns alle unter dem wachsamen-strengen Blick Gottes“. Und diese Mahnung bezieht er auf den wenn nicht verhassten, so doch von ihm verachteten katholischen Präsidenten Joe Biden „Gott wird dich, den praktizierenden Katholiken Jo Biden, im Endgericht bestrafen“. Dies ist der Klartext des erzbischöflichen Urteils. Denn Biden begeht die in katholischer Sicht übelste aller nur üblen Sünden: Er verteidigt die gesetzlich geregelte Abtreibung! Erzbischof Gomez ist empört: Die politische Haltung Bidens „fördere die schlechte Moral, sie könnten das Leben und die menschliche Würde bedrohen“. Dies gelte „besonders schwerwiegend in Fragen der Abtreibung, der irrtümlichen Bewertung der Ehe (gemeint ist die sogenannte Homoehe, C.M.) und der Ordnung der Geschlechter“. Wer es immer noch nicht weiß, dem schlägt Erzbischof Gomez noch einmal die oberste katholische Glaubenslehre um die Ohren: „Die Frage der Abtreibung ist für die Bischöfe die erste aller Prioritäten“. (La Croix, 21.1.2021). Wie schön war es doch für diese Herren unter Präsident Trump, der immer wieder sagte: Ich verteidige immer Pro Life!
2.
Erzbischof Gomez, zugleich der Vorsitzende der Bischofskonferenz der USA, befeuert mit seinen Sprüchen nur die Abwehr von Präsident Biden durch konservativ – reaktionäre und, wie wir spätestens seit dem 6.1.2021 wissen, auch rechtsextreme US-Bürger. Sie sind alles andere als eine Minderheit. Die Waffen liegen ja bekanntlich in jedem „guten“ US-Haushalt bereit…
Man möchte vielleicht noch schmunzeln über das Aufwärmen dieses alten infantilen Gottesbildes, wenn die politische Lage nicht ernst wäre: Denn der politische Kampf der katholischen Hierarchen und ihrer Getreuen in den USA geht unter Präsident Biden weiter. Und er bündelt sich in einem einzigen permanent verwendeten Kampfbegriff und der heißt seit Jahrzehnten schon „Pro Life“. Diese beiden Worte sind nur ein Symbol für die kämpferische Ablehnung der umfassenden Selbstbestimmung der Frauen, für den Hass auf die umfassende Gleichberechtigung der Homosexuellen, für die Zurückweisung jeglicher Form der aktiven Sterbehilfe.
3.
„Pro Life“ ist Ersatz für einen spirituellen Gottesbezug, „Pro Life“ wird zum Kampfbegriff für das totale Verbot von Abtreibung, heute üblich im Katholischen Polen und in vielen so genannten katholischen Staaten Lateinamerikas. Diese Leute wehren Flüchtlinge ab, verhindern eine soziale Gesetzgebung, vernachlässigen die Armen, unterdrücken die sinnvolle Geburtenkontrolle, verstärken den Macho-Wahn, d.h. sie sind alles andere als „pro life“ eingestellt
4.
Ich habe auf dieser Website mehrfach darauf hingewiesen, dass Pro Life eine fixe Idee konservativer Katholiken weltweit ist.
Und dass sich hinter dieser fixen Idee der letzte Versuch des Klerus zeigt, noch einmal die Gesetze der Staaten, selbst der Demokratien, zu bestimmen. Der zölibatäre Klerus fordert die Verteidigung des ungeborenen Lebens immer noch so unverschämt, möchte man sagen, angesichts der tausendfachen Verbrechen an Kindern durch Priester, angesichts der üblen, verbrecherischen Behandlung von Kindern in kirchlichen Heimen in Irland und anderswo. Das geborene Leben haben Kleriker oft genug zerstört.
5.
All das ist tausendmal gesagt worden. Warum nun erneut darauf hinweisen? Weil es eine Tatsache ist, dass 2020 ca. 55 Prozent der Katholiken für Trump gestimmt haben, dass die fundamentalistisch – evangelikale Mentalität unter Katholiken sich immer mehr durchsetzt. Dass unter denen, die das Kapitol am 6.1.2021 besetzten, viele Katholiken waren. Sie werden sich durch die Worte von Erzbischof Gomez, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz der USA, bestätigt und ermuntert fühlen. In der Beilage zur Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Titel „Christ und Welt“ vom 21. 1. 2021, Seite 5 berichtet der prominente us-amerikanische Jesuit James Martin: „Während des US-Wahlkampfes haben katholische Würdenträger Joe Biden dämonisiert. Sie sind mitschuldig am Sturm auf das Kapitol.“ Pater James Martin erinnert weiter an ein Statement von Erzbischof Carlo Maria Vigano, er lebt als EX-Nuntius des Papstes in den USA: „Mr. Biden ist eine von der Elite manipulierte Marionette in den Händen von Leuten, die nach Macht dürsten…Die Wahl von Biden werde ein fast satanisches Zeitalter einleiten, das durch Ökumene, Umweltschutz, Pansexualismus und Immigrationismus (sic!) gekennzeichnet sei“. Pater James Martin nennt die Konsequenzen dieses Wahns, vertreten durch höchste Kleriker: „Wenn diese Partei des Todes, (also die Demokraten, C.M.), an die Macht kommt, dann muss man Widerstand leisten, mit allen Mitteln“.
6.
Die USA sind gespalten, und sie bleiben gespalten und die Menschen hassen einander, weil so viele prominente Kleriker viel Unsinn verbreiten. Wir sind gespannt, wie lange der kritische Pater James Martin noch so offen schreiben darf. Der Katholizismus erlebt aller Orten einen Rechtsrutsch, einen Schub ins Irrationale, in eine Glaubenshaltung, die sich von vernünftigen Begründungen verabschiedet. Und manch ein Christ, der noch auf ein vernünftiges Christentum hofft, denkt sehr oft: „O Gott, gebe es doch bloß weniger „Religion“, weniger spinöse Theologie und viel weniger absurde „fundamentalistische Frömmigkeit“.
7.
Wer sich für weitere Details interessiert sollte den Beitrag in der objektiven Zeitschrift „National Catholic Reporter“ lesen vom 21.1.2021 lesen: https://www.ncronline.org/news/politics/dueling-statements-us-bishops-pope-inauguration-day
8.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat geurteilt: Die Nichtgewährung einer realen Möglichkeit auf Schwangerschaftsunterbrechung im Falle eine Bedrohung der Gesundheit der Schwangeren oder einer ernsten Schädigung der „Leibesfrucht“ ist eine Missachtung des persönlichen und familiären Lebens.

PS.:
Es ist gewiss unnötig zu betonen, dass Kritiker der Pro-Life-Ideologie selbstverständlich das menschliche Leben lieben, das Leben in Gerechtigkeit und Würde für alle Geborenen. Kritiker der Pro-Life-Ideologie lieben auch das Leben der ungeborenen Menschen. Sie bestehen nur darauf, dass dieser Lebensschutz des Ungeborenen auch zeitlich genau bestimmt werden muss und in einem Gleichgewicht stehen muss mit der unterschiedlichen Situation der Frauen und deren Selbstbestimmung.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Christentum und Kirche im Kapitalismus.

Weiterführende Überlegungen, anlässlich eines Buches von Rainer Bucher
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Sehr viele verdrängen es, viele wissen es, wenige sagen es laut: Das Christentum ist seit dem Auftreten des Kapitalismus im 18. Jahrhundert („industrielle Revolution“) ein „Christentum im Kapitalismus“. Diese Erkenntnis erläutert jetzt der katholische Theologe Rainer Bucher (Universität Graz) in seinem neuen Buch genau mit diesem Titel: „Christentum im Kapitalismus“.
Ich werde dabei an die offizielle Selbstbezeichnung der evangelischen Kirche in der DDR, Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, erinnert. Der „Kirchenbund“ bezeichnete sich selbst mit Zustimmung von Erich Honecker als „Kirche im Sozialismus“. Dazu gab Bischof Albrecht Schönherr gleich die ausdrückliche Interpretationsanweisung: „Wir sind eine Kirche nicht gegen und auch nicht für, sondern Kirche IM Sozialismus“. Dass dabei die DDR – Herrschaft überhaupt als Sozialismus implizit anerkannt wurde, zeigt, dass diese Selbstbezeichnung de facto mehr war als eine Art geografische Ortsangabe, so, wie man sagen könnte: „Wir sind eine Kirche in Berlin“. Aber das ist ein anderes Thema, genauso wie die Tatsache, dass einige Pfarrer und Kirchenfunktionäre diesen Sozialismus à la DDR offenbar schätzten und deswegen „inoffizielle Mitarbeiter“ („IM“) der Stasi wurden.
2.
Rainer Bucher, Autor des Buches „Christentum im Kapitalismus“, würde seine Interpretation eines Christentums „im Kapitalismus“ niemals analog zur Formel Bischof Schönherrs verstehen, er würde nicht sagen: „Wir wollen ein Christentum nicht gegen, nicht für, sondern bloß im Kapitalismus sein“. Rainer Bucher sieht in „dem“ Kapitalismus vielmehr eine totale, also nicht nur eine ökonomische, sondern auch kulturelle Herrschaft, der die Kirchen unentrinnbar ausgesetzt sind. Der Kapitalismus ist für Bucher „der Souverän“, er „macht sich die anderen untertan, auch die Religion.“ (58). Insofern hat der Kapitalismus längst „gewonnen“, wenn er auch noch nicht ganz „allmächtig“ ist (29). Diese Ambivalenz zwischen einem Kapitalismus als „Sieger“ und noch „nicht ganz allmächtig“ wird vom Autor nicht aufgelöst.
Kann das Christentum sich vielleicht aus dem Kapitalismus befreien und ihn gar mit anderen überwinden? Bloß was kommt dann? Die hartgesottenen neoliberalen Kapitalisten, Millionäre, Milliardäre aller Länder schmunzeln wohl über diese Frage… Sie halten den Kapitalismus und Neoliberalismus für ewig, unersetzbar, zum Kapitalismus gibt es keine Alternative, predigte die neoliberale Zerstörerin des Sozialen, Madame Thatcher.
Trotzdem lohnt es sich beim Thema des Buches zu bleiben. Ohne ein Trotzdem lebt keine Philosophie und eine Theologie schon gar nicht.
3.
Will das Christentum, wollen die Kirchen, in diesem allumfassenden kapitalistischen System wenigstens überleben, müssen sie sich zu ihm kritisch verhalten, das betont der Autor. Er ist wohl schon froh, wenn Christen und Kirchen den Kapitalismus etwas einschränken, etwas bremsen, etwas humaner machen. Dies ist ja die Zielvorgabe der alten SPD. Sozial gesinnte Kreise der so genannten christlichen Parteien in Europa setzten und setzen ausschließlich auf einen inneren Bewusstseinswandel der Bürger: „Sollen die Konsumenten doch anders konsumieren, also etwa Fair-Trade – Bananen kaufen“. Das Wort fair-trade setzt ja automatisch die Erkenntnis frei: Alles andere Obst, Gemüse und Fleisch etc. ist nicht NICHT-fair gehandelt, sondern entstammt unterdrückerischen, also kapitalistischen Strukturen. Nicht-fair Gehandeltes kann zudem „Gammelfleisch“ sein oder das billige Gemüse ist hochgiftig . Wie viele „Rückrufaktionen“ etwa von nicht fair gehandeltem Käse melden die großen Supermärkte wöchentlich. Die Arbeiter auf den „nicht -fairen“ Bananen – Feldern erhalten einen Hungerlohn etc. Den dicken Profit streichen die United-Fruit-Companies etc. ein. Die Supermärkte in Europa sollten also bitte immer den Untertitel führen: „Hier werden vor allem NICHT- fair-gehandelte, also ungerecht gehandelte Waren verkauft“.
4.
Aber die LeserInnen dieser kleinen Buchbesprechung sollen nun bloß nicht meinen, dass in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“ davon die Rede ist. Der Autor hätte ja auch zurecht darauf hinweisen können, dass bei kirchlichen Empfängen und in kirchlichen Akademien usw. fair- trade- Coffee (also anti-kapitalistischer Kaffee) serviert wird. Dieser beruhigt das fromme Gewissen. Fair gehandelter Kaffee beunruhigt aber nur ein ganz kleines Bisschen die nicht fair agierenden Groß-Unternehmen. aggressiven Praktiken des Kapitalismus/Neoliberalismus.
5.
Wenn man schon von Kapitalismus spricht, wäre es auch von der Sache her geboten, den alles entscheidenden Begriff zu besprechen, also vom Klassenkampf zu sprechen, auch vom Klassenkampf im Zusammenhang von Glaube und Kirche. Nur nebenbei: Der katholische Theologe und Philosoph Giulio Girardi hat diesen Zusammenhang von Kirche und Klassenkampf ausführlich reflektiert, er wurde deswegen als Priester aus dem Salesianerorden (SDB) ausgeschlossen und durfte nicht mehr an katholischen Fakultäten lehren. Früher hätte man ihn als Ketzer gern verbrannt, jetzt rettete ihn der liberale Rechtsstaat.
6.
Solche heißen Eisen („Klassenkampf und Kirche“) berührt Rainer Buch in seinem Buch „Christentum im Kapitalismus“ nicht. Er hätte ja dabei an die ganz wenigen katholischen Bischöfe erinnern können, die den Klassenkampf in ihren Ländern und Bistümern genau erkannten und sich bewusst der Klasse der Unterdrückten angeschlossen hatten, von Bischof Pedro Casaldáliga (Brasilien) wäre also zu sprechen gewesen oder von Erzbischof Helder Camara (Brasilien) oder dem heiliggesprochenen Erzbischof Oscar Romero (El Salvador). Auch Bischof Jacques Gaillot (Evreux/Partenia) hat sich mit den unteren Klassen solidarisiert. Gaillot wurde bekanntlich vom Papst als Bischof von Evreux abgesetzt, weil der damalige französische Innenminister Pasqua die Kritik Gaillots an der offiziellen Ausländerpolitik nicht ertragen konnte…
Rainer Bucher fasst also ein gewaltiges Thema an, aber er bietet eine viel zu knapp ausgefallene Studie. Sie hat zudem noch den milde klingenden Untertitel hat: „Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt“. Ist der Kapitalismus im Ernst „Verwaltung“ zu nennen? Verwaltung bewahrt ja wenigstens, Kapitalismus aber zerstört vieles um des Profites willen. Das ist evident.
Bucher übernimmt also mit dem Untertitel diese äußerst dürftige Kapitalismus – Definition des Philosophen Jean – Luc Nancy (S. 20). Später (S. 38) betont Bucher: Nancy fasse den Kapitalismus als „ökonomisches System“ mit der Bevorzugung individueller Eigentumsrechte, zweitens als das Zur-Ware-werden alles Lebendigen sowie als die absolute Geltung des Kapitals, um Gewinne in der Zukunft zu machen.
Die heute von einer überwältigenden Mehrheit der Soziologen und Philosophen gängige Beschreibung eines eher totalitären
Kapitalismus fehlt auch bei Bucher,. Die wesentliche Einsicht der führenden Kapitalismus -Kritiker lautet: Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit, die Anzahl der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten weltweit nimmt ständig zu, Millionen Menschen krepieren förmlich in ihren Slums, die Reichen haben sich an das Elend ihrer vielen Millionen Mitmenschen gewöhnt, sie sind bestenfalls noch zu Spenden bereit usw.. Der Kapitalismus als Neoliberalismus zerstört die Natur und die Umwelt mit seinem Wahn, alles Natürliche in Ware und damit in Geld zugunsten der Konzerne zu verwandeln. Der Kapitalismus mag es sehr, wenn autoritäre Regierungen etwa bei ihrer Naturzerstörung den internationalen Konzernen freie Hand lassen, wie etwa in dem verbrecherischen System zur Zeit in Brasilien. Der Kapitalismus als Ideologie des ständigen ökonomischen Wachstums ist wesentlich kriegerisch: Abwehr und Krieg, Waffenproduktion in Hülle und Fülle und Folter und Verfolgung und „Erzeugung“ von Millionen Flüchtlingen sind das Wesen des Kapitalismus/Neoliberalismus. Dass dann die von den Kapitalisten „erzeugten“ „Flüchtlingsströme“ keine menschenwürdige Aufnahme finden, gehört zum kapitalistischen Ungeist. Mit Unsummen von Geld aus Europa sollen ärmere Nationen (Türkei, Kenia, Uganda, Libyen, Niger usw.) diese vom Kapitalismus erzeugten „Flüchtlingsströme“ von den reichen Ländern bitte schön fernhalten. Und die Kirchen als Kirchen in diesem Kapitalismus bitten um Spenden für diese armen Menschen, sagen aber nicht den Regierenden klar und deutlich: Eure „christliche“ Politik ist nicht mehr menschlich, wir können sie nicht mehr unterstützen. Darüber wird nicht einmal diskutiert. Früher sprach die evangelische Kirche von politischen Situationen, in denen der „status confessionis“ gilt, ein alter Begriff, den man bitte weiter studiert in aktuellem Zusammenhang von „Kirche und Kapitalismus“
7.
Der große Soziologe Hartmut Rosa, wahrlich kein Marxist und „Klassenkämpfer“, beschreibt in seinem Buch „Resonanz“ treffend den Kapitalismus als dem ständigen Wachstum verpflichtet, mit seiner Steigerungslogik, der Sucht nach Profit, Gewinn, Rendite (Seite 725 f. in der Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages 2019). Hartmut Rosa spricht von der „Ersetzung der blindlaufenden kapitalistischen Verwertungsmaschinerie“ (S. 726), von einer totalen Verwertungslogik, und er zitiert in einer Fußnote Karl Marx aus seinem Kommunistischen Manifest. Marx klagt den Kapitalismus an, weil er auch „alles Heilige entweiht“ (S. 680, Fn., 59). Dass sich hier auf Hartmut Rosa hinweise, geschieht sozusagen prophylaktisch, um allen konservativen Geistern zu zeigen: Die tiefgreifende und begründete Ablehnung des Kapitalismus/Neoliberalismus ist in der Welt der Wissenschaft wenn auch nuancenreich, aber universal und selbstverständlich.
8.
Der Ton in Buchers Buch bleibt moderat, der Autor meidet meines Erachtens die wirklichen heißen Fragen bei seinem Thema. Trotzdem lohnt es sich das Buch von Rainer Bucher zu lesen, schon allein deswegen, weil es über den Text hinaus zu weiterem Nachdenken anregt.
Das Buch bietet etwas Material zu den theologisch bislang kaum wahrgenommenen heutigen Marxisten wie Vattimo, Badiou, Zizek.
Das Buch von Rainer Bucher bleibt zudem inspirierend, weil klar gesagt wird: „Auch Religion und Glauben werden in Zeiten des Kapitalismus vom Kapitalismus geprägt, zutiefst und zuinnerst“ (46).
9.
Viele Themen, die das Buch nicht ausführlich behandelt, fallen dem Leser bei der Lektüre selbst ein: Ich nenne nur einige:
9.1.
Allein schon die Einbindung des europäischen Katholizismus in die Kolonialgeschichte wäre ein ganz dringendes Thema wie etwa auch die Frage: Warum glauben eigentlich die (von den Kolonialherren wie Untermenschen behandelten Afrikaner) dem christlichen Glauben, also der Religion der kapitalistisch – imperialistisch geprägten Kolonialherren? Wollen sie die kapitalistisch geprägte Denkform der europäischen Kirche nun ihrerseits übernehmen und eine afrikanisch – kapitalistische Kirche aufbauen? Wer einige Pfingstkirchen in Nigeria oder Brasilien studiert, kommt angesichts deren „Wohlstandsevangelium“ schnell zu dieser Überzeugung.
9.2.
Wenn die kapitalistische Mentalität des Verfügens und Beherrschens auch die kirchliche Spiritualität bestimmt, dann wären ganz dringende Themen zu bearbeiten: Das Festhalten an einer Hierarchie, an der pyramidalen Ordnung, entspricht den hierarchisch strukturierten Großunternehmen. Auch die miserable Rolle, die an führender Stelle Frauen in der katholischen Kirche oder der Orthodoxie spielen, gilt genauso für neoliberale Großunternehmen. Wenn der Kardinal von München jetzt ein Monatsgehalt von 12.526 Euro (B 10) erhält, entspricht diese Honorierung in etwa dem Gefälle der Gehälter in Großunternehmen zwischen Top-Leuten und kleinen Angestellten. Die Kirchen haben sich längst daran gewöhnt, sich wie Großbetriebe zu verhalten. Wenn zum Beispiel klerikales Personal nicht mehr zur Verfügung steht, um alle vorhandenen Pfarreien zu „bedienen“, werden einfach Gemeindehäuser geschlossen und die Kirchengebäude nur noch mit reduziertem Aufwand bedient. Genauso verhalten sich Unternehmen, die allein nach Gesichtspunkten des Profits ihre Filialen aufrechterhalten. Gibt es weniger Kirchenmitglieder, werden Pfarreien geschlossen. Gibt es weniger Kunden, werden Geschäfte dicht gemacht.
9.3.
Es wäre bei dem Thema dieses Buches angebracht, die innere Verdorbenheit der christlichen Glaubenslehre durch den Kapitalismus dreizulegen. Ich kann Aspekte dieses umfassenden und noch weiter auszuarbeitenden Themas hier nur andeuten:
Auch in den Kirchen gibt es die Herrschaft der großen Zahlen: Ein Gottesdienst, eine Predigt, waren dann gut, wenn sehr viele Leute im Gottesdienst waren und die Predigt hörten. Ich erinnere mich an die Klagen der Pfarrer: „Heute waren nur alte Damen im Gottesdienst“. Was ist daran schlimm? Alte Menschen haben – kurz vor Lebensende – ein gutes Recht, spirituelle Impulse zu erhalten. Und modern und jugendlich wollen die Gemeinden der schon äußerlich häßlichen Mega – Churches sein, in den USA, Nigeria, Korea oder Brasilien: Die Gottesdienste, die sie anbieten, sind als totales Show-Programm konzipiert, mit allerhand Singsang und körperlichen Verrenkungen frommer Tanz-Gruppen und den endlosen Monologen der Pastoren, die allen Erlösung versprechen, wenn sie ordentlich für den Pastor spenden. In diesen Mega – Churches wird das „Wohlstandsevangelium“ verkündet: Wer arm ist, der ist selber schuld. Das hätte der Ökonom Hayek, der Heilige der Neoliberalen, nicht besser formulieren können. Diese Mega-Churches sind religiös angehauchte kapitalistische Unterhaltungstempel.
9.4.
Aber damit wird die Frage wichtig: Wie weit ist die innere Glaubenswelt, also das Dogma, das Gebet, die Liturgie, die Kirchenlieder, von der kapitalistischen Mentalität bestimmt? Warum hält die katholische Kirche immer noch am Ablass fest und bietet ihn etwa zu Ostern sogar via Fernsehen, Radio, Internet an? Warum hält die katholische Kirche wie einst, so auch heute, daran fest, dass einfache Laien bei den Priestern Messen „bestellen“ können, gegen ein gutes Honorar freilich? Eine fremde Person betet also anstelle meiner, bloß weil ich diese Person, den Priester, dafür bezahle? Die katholischen Männerorden machen auf diese Weise immer noch ein „dickes Geschäft“. Für die Allmacht des Geldes, etwa im Katholizismus, ein weiteres Beispiel: Warum sind Heiligsprechungen so teuer? Viele tausend Euro, mindestens 50.000 Euro, müssen etwa Ordensgemeinschaften für die Heiligsprechung ihres Gründers der entsprechenden vatikanischen Bürokratie „für Heiligsprechungen“ bezahlen.
9.5.
Kapitalismus ist Egoismus: Das ist ein ganz banaler, aber immer noch treffender Basisaspekt kapitalistischer Mentalität. Der Egoismus der Beter wäre zu untersuchen, in den immer noch populären Bittgebeten: Zuerst und vor allem möge ich gerettet werden, heißt die Standardformel aller Bittgebete.
Auch von der Opfertheologie wäre zu sprechen, die in verschiedenen Konfessionen immer noch eine große Bedeutung hat, bis hin zu den grausigen Liedern am Karfreitag: Jesus Christus opfert sich am Kreuz leidend für die Erlösung der Menschen, weil es sein himmlischer, angeblich liebender Vater, dies so will. Opfert euch auf, rufen die Kapitalisten den Armen zu, gebt euch hin der Arbeit, es gibt keine Alternative für euch, ihr müsst bis zum Umfallen schuften in unseren Fabriken, vielleicht erlauben wir es dann euren armen Kindern, dass es ihnen etwas besser geht. Indem das Christentum den Wahn des Opfers in den religiösen Mittelpunkt stellt, öffnet es die Türen für die Opfer – Ideologie der kapitalistischen Herren-Menschen. Darüber hätte ich auch gern ein paar Zeilen gelesen in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“.
10.
Lässt sich das Christentum wenigstens noch partiell in der PRAXIS vom Kapitalismus befreien? Eine schwierige Frage, auch zu dem Thema bietet das Buch „Christentum im Kapitalismus“ eher wenig. Man hätte doch sprechen können von den kleinen, aber wirksamen Gruppen innerhalb des kapitalistisch beherrschten Christentums, etwa den nicht nur in den USA, sondern weltweit präsenten Gruppen der „Catholic Worker“. Von christlichen anarchistischen (sic!) Gruppen wäre zu sprechen, von den “Religiösen Sozialisten” in der Schweiz, vor allem von den Basisgemeinden weltweit, die selbst die verheerende konservaive Pastoral-Politik des Vatikans nicht vernichten konnte. Es wäre zu denken an die Gemeinden, die wie etwa in Holland, aus dem Verbund mit den Bistümern ausgestiegen sind und unabhängige, selbst finanzierte Gemeinden sind, wie etwa die Dominikus – Gemeinde in Amsterdam (Spuistraat).
11.
Darüber hinaus wäre natürlich der enge theologische Blick zu überwinden, dass man Religion nur da vermutet, wo Religion draufsteht. Kurzum, es wäre zu fragen, ob die wahren Partner eines antikapitalistischen Christentums nicht bei den NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Greenpeace, NABU, AVAAZ) zu suchen sind. Mit denen ließe sich dann die schwere Frage erörtern, wie denn ein Leben de facto zwar noch innerhalb, geistig/politisch/spirituell außerhalb des heute dominanten Kapitalismus aussehen kann.
12.
ZUR SPRACHE:
Nur eine kleine Kritik am Schluss: Bei einer weiteren Neuauflage würde ich herzlich bitten, um des erreichbaren Verständnisses willen, den tatsächlich aus 17 (oder sind es 18?) Druckzeilen bestehenden Satz auf Seite 49) in mindestens drei Sätze aufzulösen.
Und schlechterdings unverständlich, selbst für einen Theologen, ist dieser Satz auf Seite 152: „Ohne die Dynamik des Prozedierens petrifizieren die paradoxen Polaritäten des Christentums entweder an einem ihrer Pole oder diese Balance rastet ein…“ Eingerastet ist auch mein Begreifen als ich von einer „lokalen Entbettung“ (S. 65) las. „Einbetten“ und „Umbettung“ (auf Friedhöfen) geht ja noch. Aber „Entbettung“? Ist Entbettung vielleicht eine neue Strategie des Kapitalismus, uns sogar noch unsere Betten zu nehmen? Den Schlaf raubt der Kapitalismus einigen Leuten ja ohnehin schon.

Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt. Echter Verlag, Würzburg, 2.Aufl. 2020, 224 Seiten, 19,90€.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Friedrich Engels – der Verteidiger des Proletariats. Ein Philosoph, der nur ein verdorbenes Christentum kennenlernte: Friedrich Engels

Ein Hinweis von Christian Modehn

Friedrich Engels, der als “reicher Jüngling” begann, wurde durch die Vernunft, durch philosophische Reflexionen, durch Freundschaft (mit Karl Marx), durch Mitleiden und Empörung angesichts des himmelschreienden Elends (in England) zu einem die Welt-bewegenden Menschen. Aber im 20. Jahrhundert wurde sein Denken missbraucht in den realsozialistischen Regimen.

1.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin kann den 200. Geburtstag von Friedrich Engels am 27. November 2020 nicht übersehen (Engels hat Marx überlebt, er ist am 5. August 1895 in London gestorben).
Zu unserem Focus „Philosophie der Religion“ sollen hier einige Stichworte genannt werden. Dabei wird heute von Engels – Forschern immer deutlicher betont: Die eigene intellektuelle, philosophische Leistung Friedrich Engels darf überhaupt nicht zugunsten von Karl Marx heruntergespielt werden. Nur im Zusammenhang mit Engels kann also von einer „marxistischen Philosophie“ gesprochen werden. Dabei bleiben die wichtigen, auch philosophischen Beiträge Friedrich Engels, zumal nach dem Tod von Karl Marx (1883), hier weithin unberücksichtigt.

2. Das fromme Elternhaus und die pietistischen Pastoren

In Wuppertal -Barmen wuchs Friedrich Engels in einer frommen pietistischen Unternehmer – Familie auf. Sie gehörte der calvinistisch – reformierten Tradition an, die Mutter hatte einen niederländischen Hintergrund. Ohne diese tiefe Bindung des jungen Engels an diese pietistischen Kirchen-Praxis ist dessen spätere Kritik an der christlichen Religion und den Kirchen nicht zu verstehen. Andererseits hat die frühe Kenntnis der Lehren der Urkirche, etwa in den Evangelien, durchaus bleibende Spuren bei Engels hinterlassen, nur so wird das ethische und politische Engagement Engels für das Proletariat verständlich.
Wuppertal – Barmen: Diese Stadt war also ein Zentrum extrem frommer Gemeinden und entsprechender Prediger, wie Friedrich Wilhelm Krummacher, den der junge Engels kannte, er schreibt: „Da heißt es: Der und der liest Romane, aber der Pastor Krummacher hat gesagt: Romanenbücher seien gottlose Bücher. Da werden komplette Ketzergerichte gehalten. Da wird der Wandel eines Jeden, der diese nicht besucht, recensiert. Jemand ist vorgestern im Concert gesehen worden – und sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Und was sind das für Leute, die so reden? Unwissendes Volk, die kaum wissen, ob die Bibel chinesisch oder hebräisch geschrieben. Ich habe eine rasende Wut auf diese Wirtschaft, ich will mit dem Pietismus und dem Buchstabenglauben kämpfen, solange ich kann.“ (Quelle: Deutschlandfunk vom 13.5.2013, Beitrag von Manuel Gogos).
Als Friedrich Engels in Bremen weitere pietistische Pfarrer kennenlernt, schreibt er: „Ich begreife nicht, wie die orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare Widersprüche in der Bibel finden. Worauf gründet sich die alte Orthodoxie? Auf Nichts, als auf – den Schlendrian. Wo fordert die Bibel wörtlichen Glauben an ihre Lehre? Das ist ein Tödten des Göttlichen im Menschen, um es durch den todten Buchstaben zu ersetzen.“(ebd.)

3. Die Kirche in England in der Kritik

Vor der wichtigen Publikation „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) hatte Engels im Jahr 1844 Beiträge für die Zeitung „Vorwärts“ verfasst über „Die Lage Englands“. Darin spricht Engels auch über die Bedeutung bzw. die schwindende Relevanz der englischen Staatskirche, die ja ihre armen und ausgehungerten Untertanen zum Sonntagsgottesdienst gezwungen hatte. Engels erinnert etwa an das Gesetz, „dass jeder, der sonntags ohne gehörige Entschuldigung aus der Kirche bleibt (also nicht am Gottesdienst teilnimmt, CM) mit Geldstrafe und respektive Gefängnis dazu anzuhalten ist… Selbst hier im zivilisierten Lancashire, ein paar Stunden von Manchester, gibt es einige bigotte Friedensrichter, die eine Menge Leute wegen unterlassenen Kirchenbesuchs zu mitunter sechswöchentlichem Gefängnis verurteilten“. Aber Engels sieht genau, dass diese rigiden Religionsgesetze auch im Falle von Gotteslästerung allmählich „veralten“, wie er sagt, während nur die christlichen Gruppen noch an den Gesetzen festhalten, „damit das Damoklesschwert der christlichen Gesetzgebung wenigstens über dem Haupt der Ungläubigen schweben bleibe und vielleicht als Drohung und Abschreckung fortwirke.“ (Quelle. http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_569.htm)

Theologisch ist es klar: Diese verrückten autoritären Verhältnisse in der rigiden Staatskirche erzeugen erst die religiöse Distanz, verursachen also den Atheismus der Arbeiterklasse. Das gilt sicher nicht nur für England, sondern überall, wo Arbeiter in der Profit-Gier-Wirtschaft als „Sachen“ behandelt wurden und werden.
Um den moralischen, politischen und sozialen Verfall in England zu begreifen, der die Armen zur Teilnahme am Gottesdienst zwang, lese man einige Passagen des Buches „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Mir ist nie eine so tief demoralisierte, eine so unheilbar durch den Eigennutz verderbte, innerlich zerfressene und für allen Fortschritt unfähig gemachte Klasse vorgekommen wie die englische Bourgeoisie. […] Für sie existiert nichts in der Welt, was nicht nur um des Geldes willen da wäre, sie selbst nicht ausgenommen, denn sie lebt für nichts, als um Geld zu verdienen, sie kennt keine Seligkeit als die des schnellen Erwerbs, keinen Schmerz außer dem Geldverlieren. […] Und wenn der Arbeiter sich nicht in diese Abstraktion hineinzwängen lassen will, […] wenn er sich einfallen läßt zu glauben, er brauche sich nicht […] als Ware im Markte kaufen und verkaufen zu lassen, so steht dem Bourgeois der Verstand still. Er kann nicht begreifen, daß er mit den Arbeitern noch in einem anderen Verhältnis steht als in dem des Kaufs und Verkaufs, […] er erkennt keine andere Verbindung zwischen Mensch und Mensch an, als die bare Zahlung.“

4. Engels und das Urchristentum

1883 und noch einmal 1894 befasst sich Engels mit der Geschichte des Urchristentums. Die frühe Kirche und die Texte des Neuen Testaments interessieren ihn wieder, aber unter ganz anderen Bedingungen als zu seiner Jugendzeit in Wuppertal – Barmen. Nun sieht Engels, dass es zwischen der Geschichte des Urchristentums und der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts viele Verbindungen gibt. Das Urchristentum ist „im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: Es trat zuerst auf als eine Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen […]. Beide, Urchristen und Arbeiter, werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt.“ In einem eigenen Beitrag befasste sich Engels im Juli 1883 mit dem neutestamentlichen Buch der Offenbarung des Johannes (die sogen. Apokalypse). Dabei fällt auf, wie stark Engels die damals entstehende historisch-kritische Bibelforschung kennt und respektiert. Indem Engels das Urchristentum als eine tendenziell revolutions – bereite Bewegung verstand, wurden Perspektiven eröffnet für ein aktuelles Christentum, das mehr ist als eine Ideologie der Bourgeoisie.

5. „Das Zeitalter des heiligen Geistes“

Bemerkenswert ist auch das frühe Interesse Friedrich Engels an der Geschichtstheologie des mittelalterlichen Theologen und Abtes Joachim von Fiore: Für dessen Spekulationen hatte Engels Sympathien (im Jahr 1842), auch er meinte, es könnte eine dritte, vom heiligen Geist allein geleitete Epoche anbrechen, nach den Epochen des „himmlischen Vaters“ und des „Sohnes“… „Das ist unser Beruf“, schrieb Engels, „dass wir dieses Grals Tempeleisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben förmlich einsetzen in den letzten heiligen Krieg, dem das tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird“ (zit. in Wolfgang Eßbach, „Religionssoziologie I“, Paderborn 2014, S. 619).

6. „Das ökonomische Moment ist nicht das einzig bestimmende…“

Noch etwas, das mir wichtig erscheint: In einem Brief an Joseph Bloch vom 21.9.1890 teilt Engels eine interessante grundlegende Nuance mit im Verstehen dessen, was “man“ bis heute gewöhnlich in der dogmatischen Marx-Engels-Interpretation der sogenannten sozialistischen Staaten verbreitet hat. Joseph Bloch war Redakteur der „Sozialistischen Monatshefte“ in Berlin. Engels wollte in dem Brief zeigen, so der Kulturszoziologe Prof. Wolfgang Eßbach, dass sich nach dem Tod von Karl Marx Verkürzungen der Marxschen Theorie in der deutschen Arbeiterbewegung und somit auch in der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Opponenten festgesetzt hatten. Diese Verkürzungen wollte Engels „korrigieren“ (ebd. S. 722). Zum Engels – Text selbst: http://library.fes.de/sozmon/pdf/1895/1895_19.pdf .
In dem hoch interessanten Brief schreibt Engels u.a.: „Die ökono¬mische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form…“

7. Das unchristliche Christentum

Die Erinnerung an Friedrich Engels anlässlich seines 200. Geburtstages führen zu einem Menschen, der sich christlich nennende Gesellschaften und einen sich christlich nennende Staaten erlebt, wahrnahm und analysierte. Dieses Christentum bewies in der Praxis nicht die geringste Spur von Menschlichkeit gegenüber den Armen und Unterdrückten, der absoluten Mehrheit der Menschen. Engels wurde auch durch philosophische Reflexionen zu einem Atheisten. Aber der Gott, den er zurecht seit der Jugend ablehnte, hatte mit dem Gottesbild Jesu und dem zentralen Gebot der Nächsten-Liebe nichts zu tun. Insofern ist der Atheismus von Engels auch kirchlich bedingt: Kirchlich verursachter Atheismus – das ist ein Thema, das der Religionsphilosophische Salon schon häufig debattiert hat – auch aus aktuellem Anlass.
Dabei wird nicht geleugnet, dass es auch zu Zeiten von Engels vereinzelt Pastoren, Theologen, kirchliche Gemeinschaften gab, die den Armen Beistand und Hilfe leisteten. Aber sie waren – was ja zunächst nicht zu verachten ist – nur fürsorglich – diakonisch tätig. Sie hatten keinen Mut, keine kritische Intelligenz, die Gesellschaft, auch die Ökonomie, zu untersuchen, die diese elenden Verhältnisse erzeugt. Die Kirchen und ihre Kirchenleitungen waren Teil der herrschenden Oberschicht, die jede kritische Gesellschaftsanalyse unterdrückte und Parteien verfolgte, die die Armen und die Arbeiter organisierten.

8.Ausblick
Der Politologe und Autor Prof. Michael Krätke über Friedrich Engels: „Engels erfand den Marxismus und war doch kein richtiger Marxist. Er war ebenso gut ein Revisionist und damit in guter Gesellschaft“.

Siehe auch die interessante website aus Wuppertal: Engels2000-hotline (LINK: https://www.wuppertal.de/microsite/engels2020/index.php)

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Theologisches Denken gelingt nur im Miteinander

„Theologie aus Beziehung“ – ein neues Buch der Theologin Hadwig Müller
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
So war es Jahrhunderte lang: Die (Lehr)Bücher der katholischen Dogmatik, der Moraltheologie oder des Kirchenrechts usw. wurden an Schreibtischen verfasst, in Klöstern oder in Studierstuben von Priesterseminaren oder bischöflichen oder vatikanischen Palästen. Theologie, als Rede von dem Gott der Kirchen, entstand auf diese Weise in Europa. Und Europa war absolut, für alle Welt, maßgebend! Und es waren Männer, die „den“ Glauben „der“ Kirche den anderen „zum persönlichen Glauben“ vorsetzten. Katholische Theologie hatte, global betrachtet, im monologischen Denken einzelner oder gleichgesinnter Kleriker- Gruppen, ihren Ursprung und ihre Mitte. Das änderte sich nach 1970, also nach dem Ende des 2. Vatikanischen Konzils. Da fühlten sich auch Laientheologen berufen, ihre Ethikbücher oder ihre Fundamentaltheologie zu schreiben, meist aber auch als einzelne am Schreibtisch. Oft hatten die Autoren die Fragen ihrer Studenten noch im Hinterkopf.
Ich erinnere mich noch an eine zufällige Begegnung unterwegs in München – Schwabing mit dem mir bekannten ökumenisch aufgeschlossenen, also dialogfreudigen katholischen Laientheologen (und Ex-Dominikaner) Otto Hermann Pesch. Er erklärte mir stolz, er schreibe gerade an seiner katholischen Dogmatik. Als ich fragte, ob diese Dogmatik denn von München oder Bayern und den Menschen dort geprägt sei, sagte er mir eher verlegen: „Na ja, irgendwie schon“.
Die Bindung ans Universelle und die Methode des Monologischen überwiegt bei Theologen bis heute. Da und dort gab es früher wenigstens Vorbesprechungen der Sonntagspredigt von Pfarrern mit den Laien. Aber dafür haben die wenigen verbliebenen Priester keine Zeit mehr. Die Beispiele monologischer Theologie sind uferlos. Den nur mit einer monologischen Theologie glaubte die katholische Kirche viele Jahrhunderte lang ihre „Einheit“ zu retten.
Aber, wie gesagt, allmählich ändern sich die Verhältnisse – seit etwa 1970: Katholische TheologInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien melden sich mit eigenen Studien zu Wort, nicht immer zur Zufriedenheit der vatikanischen Glaubens-Behörde. Die Liste der Bestrafungen und Schreibverbote von TheologInnen aus den genannten Kontinenten ist lang. Einheit kann also Rom nur als Einheitlichkeit verstehen.
2.
Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, kann man verstehen, welche Bedeutung die theologische Arbeit von Hadwig Müller hat, gerade dann, wenn sie ihrem neusten Buch den sehr knappen, wie ein Programm gemeinten Titel gibt „Theologie aus Beziehung“. Also, einmal ausführlicher formuliert heißt das: „Theologie als Versuch, von Gott zu sprechen, aber erlebt, erfahren, gedacht und formuliert aus Begegnungen und Dialogen … und nach Begegnungen und Dialogen und Auseinandersetzungen. Und erst danach geschrieben, aber voller Verunsicherung und Infragestellung des eigenen Lebens. Theologie also geprägt von der Anwesenheit der oft befremdlich Anderen“.
3.
Hadwig Müller meint in ihrem Buch immer die konstruktiven theologischen Beziehungen, die zwar auch konfliktreich sein können, die aber nicht in ein Verhältnis der Herrschaft und Willkür ausarten. Schließlich hatten die viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden und werden, auch „Beziehungen“. Und auch die Beziehungen sind nicht gemeint, wenn Posten an theologischen Fakultäten oder Akademien nur aufgrund von „Beziehungen“ erreicht werden können.
4.
Theologie aus Beziehung also, entstanden im Dialog, im Hinhören und auch im emotionalen “Miteinanderschweigen”: Dies ist das Motto und wie ein Programm eigentlich für alle, die aus dem anstudierten und angelernten, dogmatisch exakten Floskelhaften des Sprechens von dem Göttlichen, von Gott, dem Ewigen, herausfinden wollen. 20 Aufsätze aus zwei Jahrzehnten hat Hadwig Müller unter diesem Titel versammelt. Wer genau in der Bibliographie (S. 327 – 342) hinschaut, wird auf viele weitere, aktuelle Aufsätze, Studien und Bücher verwiesen. Die meisten Beiträge in dem Buch „Theologie aus Beziehung“ sind aus Begegnungen als Lernprozessen in Brasilien entstanden oder in Frankreich. Nach ihrer theologischen Promotion über Lacan zog es Hadwig Müller erst einmal vor, Deutschland zu verlassen, und sich den Fremden, den anderen, auszusetzen, eben in Brasilien, dort lebte sie von 1983 – 1993 vor allem in Basisgemeinden. Sie wird förmlich hineingestoßen in die reale Lebenserfahrung, wie die Armen ihren Gott erleben, als eine Wirklichkeit, die allem Elend zum Trotz Sinn stiftet und Mut macht, die Misere der totalen Ungerechtigkeit zu überwinden. Hadwig Müller sagt von ihren brasilianischen Freunden und Freundinnen, es seien „Menschen, die mich leben lehrten“ (49). Die Gemeinschaft der Unterdrückten – also eine Schule des Lebens: Nicht, um sich in diesem Zustand zu fixieren, sondern um die Gerechtigkeit für alle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Autorin erkennt während ihrer Gespräche mit Ausgegrenzten und Armen in Sao Paulo und in Crateus (Nordostbrasilien) in Gemeinschaft mit dem wegweisenden Bischof Antonio Fragoso: „Armut ist geraubtes Leben – und ich war nicht auf der Seite der Beraubten“ (29). Das führt zu weiteren Fragen, die eigentlich das herrschende System einer reichen Kirche erschüttern: „Die Kirche ruft Gläubige dazu auf, die Lebensbedingungen de Armen zu verbessern. Aber sie schweigt meistens darüber, wie sich ihre Beziehung zu den Armen auf ihre Identität als Kirche Jesu Christi auswirkt“ (51f.). Ein Bischof, der als single in einem Palast lebt (wie so viele “Oberhirten” in Deutschland usw.) und dann von der kirchlichen Solidarität mit Armen schwafelt, ist natürlich aprioi unglaubwürdig. Zu einem solchen Satz kann sich Hadwig Müller allerdings nicht aufraffen… Sie schreibt eleganter, aber nicht minder radikal: „Die Option für die Armen verlangt von den Reichen selbst ein anderes Bewusstsein: sich als Bedürftige zu wissen, die selbst aufs Empfangen angewiesen sind und die um nichts anderes als die Armut der Armen“ (55). Was das nun wieder in einer katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, die ein Kirchensteueraufkommen im Jahr 2018 von 6,25 MILLIARDEN Euro hat, wird leider nicht erwähnt oder gar ausgebreitet. Dabei hatte ich immer geglaubt, dass durch die Befreiungstheologie sozusagen die Aufmerksamkeit auf die Gelder und Reichtümer der Kirche geschärft wird auch hierzulande…
Sehr eindringlich ist ihr Essay „Der Hunger nach Brot – das Begehren des anderen“. Im Hungern wie im Begehren äußert sich die gleiche Sehnsucht und Angewiesenheit, “nicht ohne andere“ leben zu können. Die viel besprochene Option der Kirche für die Armen ist für die Autorin das „Herzstück der Befreiungstheologie“ (58), aber sicher auch der Mittelpunkt jeder Theologie.
5.
Es wäre für ein weiterführendes Gespräch vielleicht interessant, wenn man auch kritisch die Befreiungstheologen befragen könnte, inwieweit sie in vielen ihrer Aussagen die Bibel fundamentalistisch, im Sinne von wortwörtlich, verstehen. Und inwieweit die einzelnen Verhaltensweisen und Lebensregeln Jesu von Nazareth zu unmittelbar als relevant für die (auch politische) Gegenwart eingesetzt werden. Diese Kritik wird nicht vorgebracht, um die Theologien der Befreiung zu diskreditieren, sondern um andere befreiungstheologische Möglichkeiten aufzuzeigen, die weniger im Verdacht des biblischen Fundamentalismus stehen. Alternativ wäre zu denken und mit den Betroffenen zu besprechen: etwa die Erfahrung und die daraus entstehende Weisheit, dass Gott Mensch wird in Jesus von Nazareth, wie er erlebt wird, dass nun alle Menschen göttliche Würde erhalten! Das ist – ultrakurz gefasst – auch ein Gedanke Hegels und der christlichen Mystiker, etwa Meister Eckarts. Von da aus ließe es sich auch sehr gut eintreten für eine politische Neu-Ordnung, die die Menschenrechte als oberstes „göttliches“ Gestaltungsprinzip anerkennt. Da wäre mehr vernünftige Argumentation möglich als im unvermittelten Verweis darauf, dass Jesus ein armer Handwerker war „wie wir“, dass er solidarisch war und die Frauen und die Armen liebte…Aus solchen biographischen Elemente wird dann unmittelbar geschlossen: „Also sollten wir auch solidarisch sein etc…“. Wenn hingegen jeder Mensch von unendlichem göttlichen Wert ist, kann viel besser argumentativ und vernünftig auch eine mögliche „Revolution“ zugunsten und mit den Armen eingeleitet werden.
6.
Nach Deutschland zurückgekehrt, konnte sich Hadwig Müller u.a dem deutsch-französischen Dialog widmen, aber immer unter der kaum beachteten, aber wichtigen Perspektive der Religion und der katholischen Kirche. Die Autorin hat u.a. die hochinteressanten und durchaus – leider – einmaligen Entwicklungen im Erzbistum Poitiers genau kennengelernt. Sie erlebte dort eine Kirche, die, wie bekannt, auch von dem zunehmenden Mangel an Priestern bestimmt ist. Die aber daraus, geleitet von ihrem mutigen Bischof Albert Rouet, neue Konsequenzen zog: Teams von Laien werden in den Dörfern – und Stadt-Gemeinden ohne Priester zu verantwortlichen Animateuren der Gemeinde. Deutsche Pfarreien, das weiß ich, haben sich das Projekt in Poitiers angeschaut, aber meines Wissens nichts davon als Modell für Deutschland „übernommen“. Die Fixierung auf den Klerus ist also in Deutschland nicht zu brechen. Und das Modell von Poitiers macht eben auch viel Arbeit – bei den Hauptamtlichen…
7.
Diese hier besprochenen Themen erscheinen sicher vielen philosophisch Interessierten, etwa in Berlin, der säkularen Stadt, wie Einblicke in eine ferne noch kirchlich bestimmte Welt. Aber deutlich wird: Wenn sich TheologInnen auf das Zuhören, das geduldige Mitsein, den Dialog einlassen, und sich dabei in Frage stellen lassen: Dann gibt es neue, ungeahnte Einsichten. Das gilt ja auch für die Philosophien.
8.
Ein gewisses Hemmnis für säkular, „bloß“ philosophisch Interessierte ist sicher der Untertitel des Buches: „Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. Diese speziellen Zuordnungen gelten wohl dem zweifellos begrenzten Lesepublikum innerhalb der Kirchenorganisation, die mit diesen Begriffen noch etwas anfangen kann. So aber werden mit diesen Begriffen förmlich sprachliche Barrieren aufgerichtet, die verhindern, dass säkulare und „bloß“ philosophisch Interessierte dieses Buch aufschlagen und einiges lesen. Aber das Thema „Theologie aus Beziehung“ ist bleibend inspirierend: Eine ganze Buchserie könnte unter diesem Titel erscheinen aus Beziehungen von Theologen mit Arm-Gemachten hierzulande oder mit Schwulen und Lesben und deren neuen Familien oder mit Flüchtlingen oder mit Opfern rechtsextremer Gewalt. In jedem Fall werden nun vermehrt Menschen fragen: Spricht da ein Bischof aus Beziehung mit anderen Menschen, spricht er aus dem Leben als Begegnung, der Verantwortung, der Irritation durch andere? Und man wird sicher in Zukunft noch mehr theologische Bücher beiseite legen, die nur altbekannte Begriffe dreimal hin- und herwenden und den Eindruck bestärken, vom einsamen Schreibtisch aus eine zeitgemäße Spiritualität oder Theologie entwickeln zu können. Falls diesen meinen Hinweis Theologinnen lesen, bin ich gespannt, wie sie mir plausibel machen, dass nicht allein Hadwig Müller Theologie aus wirklichen Beziehungen, Begegnungen und Lernbereitschaft gestaltet…

Hadwig Ana Maria Müller, „Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. 351 Seiten. Grünewald-Verlag, Ostfildern, 2020, 38 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

(Nebenbei: Das Thema Befreiungstheologie bewegt mich seit vielen Jahren: Ich habe 1973 in der Philos.-Theolog. Hochschule St. Augustin bei Bonn die erste große Tagung über die Befreiungstheologie in Deutschland organisiert. 1975, also zu Beginn der Debatten über die Befreiungstheologie in Deutschland, habe ich einen kleinen Essay als Broschüre veröffentlicht „Der Gott, der befreit“. 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner und Hans Zwiefelhofer das Buch „Befreiende Theologie“ herausgegeben…)

Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen: Ein neues Buch von Eva von Redecker

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Eva von Redecker, die als junge Philosophin durch Publikationen über Judith Butler und Hannah Arendt bekannt ist und die nicht nur an der Humboldt – Universität lehrte, sondern auch in Cambridge (UK) und New York, erörtert in ihrem neuen Buch in vielen Aspekten die Erkenntnis: Der Kapitalismus ist zerstörerisch und tödlich, nicht nur für die Natur, auch für die von ihm beherrschten, leidenden Menschen. Moderner Kapitalismus ist geprägt, so betont die Autorin, von der „Sachherrschaft“, die eine absolute Verfügungsgewalt des Eigentümers über seine eigenen Dinge bedeutet, bis hin zu dem Recht, diese eigenen Dinge (selbst Wasser, Wälder, Tiere, auch Menschen als Abhängige, als Sklaven usw.) nach eigenem Belieben zu vernichten.
Und diese Erkenntnis beweist sie in einer Sprache, die eine gewisse Eleganz hat und andererseits immer auch mit (eigenen) alltäglichen Lebenserfahrungen verbunden ist. Manchmal fühle ich mich an Walter Benjamin erinnert, etwa wenn Eva von Redecker vom „Sturm der Verwertung“ spricht, der „aus der Zukunft zurückbläst (S. 57): Man lese etwa Benjamins Text „Über den Begriff der Geschichte“, IX. Kapitel.
2.
Von Redeckers hat einen zentralen Focus: Der jetzt wieder lebhafte Widerstand gegen die kapitalistische Allmacht muss auch philosophisch ernst genommen werden. Könnte dies argumentativ gelingen, dann könnten sich viel mehr Menschen diesem Widerstand, also der „Revolution für das Leben“, anschließen, aus Einsicht und Denk- Notwendigkeit. Genauer gewürdigt werden etwa Aktionen wie die „Die-Ins“ etwa von „Extinction Rebellion“ (XR), oder die „Friday for future“. Eine große Bedeutung haben für die Autorin die Widerstandsformen indigener Völker, etwa in Nordamerika (269), dabei werden auch spirituelle Dimensionen des Widerstands deutlich. Indigene Völker, so von Redecker, treten in ihrem uraltem Wissen ein für die Weltbewahrung, sie kämpfen gegen den Profit, den Verbrauch und Verkauf der Natur, pflegen die „Gezeiten“, wie sie oft betont (etwa 284). Ein Begriff, der ausführlicher hätte erläutert werden sollen! In den letzten Kapiteln ihres Buch spricht die Autorin von der Utopie eines „umsichtigen Kommunismus“ (284), auch hier hätte der Leser sich gern weitere Erläuterungen und Differenzierungen gewünscht. Jedenfalls will die Philosophin keine esoterischen Erleuchtungen verbreiten, sondern argumentativ für eine neue Interpretation der alten Formel „Omnia sunt communia“ eintreten, was ja nicht heißt „Alles soll allen gehören“, sondern, wie sie betont: „Alles ist allen anvertraut. Alle sind einander anvertraut“ (282).
3.
Viele Erläuterungen im Buch zur Zerstörungswut des Kapitalismus sind bekannt (der Reale Sozialismus war bekanntlich auch in der Hinsicht des Umgangs mit der Natur zerstörerisch, dies wird leider von der Philosophin nicht ausführlich beschrieben). Aber in der Zusammenfassung und Deutlichkeit sollten diese Analysen immer wieder Beachtung finden: Die umfassende Zerstörungswut des Kapitalismus geschieht um des Profits willen und der Vermehrung des Eigentums einiger weniger. Bekanntlich haben Millionäre und Milliardäre an ihren täglich neu gewonnen Millionen kein vorrangiges Interesse, es geht um die Lust des Vermehrens als solcher. Dies wäre eher ein Fall für die Psychotherapie und vor allem für eine neue, gerechte Gesetzgebung, die Grenzen des Privateigentums setzen kann…Und dieser Kapitalismus ist kein neutrales, sozusagen naturwüchsiges Ungeheuer, sondern es sind Menschen, meist Männer, die um des „schnellen, konkurrenzgejagten Profits“ (S. 64) willen die lebendige Natur zerstören … und dabei noch unüberschaubare Berge von Schutt, Bruch, Schlamm, Überreste produzieren.„Die Erde wird als Schutthalde hinterlassen“. „Alles, worum es (der kapitalistischen Wirtschaft) geht, ist der Profit von ein paar Konzernen“ (S.238). Es droht so, Hannah Arendt folgend, der „Weltverlust“: „Alles wird in die (zerstörerische) Logik des Massenkonsums hineingezogen“ (S. 110).
4.
Ich finde den Titel des neuen Buches von Redeckers sehr treffend, weil er den wirklichen elementaren, also den politischen und ökonomischen Kampf um das Leben zeigt, und damit alle blamiert, die mit ihrem fundamentalistisch verdorbenen Tunnel-Blick nur auf das ungeborene Leben starren und förmlich im Schutz des ungeborenen Lebens ihren neuen Gott sehen, dem sie alles opfern, vor allem den eigenen, alle Güter abwägenden Verstand. Dieser neue Gott „Ungeborenes Leben Schützen“ ist die esoterische Inspirationsquelle aller reaktionären Leute in den USA, Polen, in ganz Lateinamerika und anderswo. Sie nehmen den Tod junger Frauen in Kauf, wenn diese ohne kompetente ärztliche Hilfe abtreiben müssen. Diese fundamentalistischen Pro-Life Fanatiker sehen in dieser brutalen Gesetzgebung, von Kirchen und Christen und Bischöfen und Päpsten unterstützt, den obersten Willen Gottes. Von einer Geburtenkontrolle spricht ohnehin niemand mehr. Und alle Pro Life-Leute meinen, die klassische Hetero-Familie sei für die Kinder und die Frauen ein heiler Ort wunderschöner Geborgenheit, was evident Unsinn ist…Aber dieses Thema wird leider in dem neuen Buch von Eva von Redecker nicht entfaltet!
5.
Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin interessieren wir uns besonders für die Religionskritik auch in diesem Zusammenhang. Dazu bietet die Autorin knappe Hinweise. Dadurch dass christliche Institutionen (also Kirchen) „nur noch als Phantombesitz der Leitkultur fungieren, liefert die Esoterik der Bevölkerung diverse Opiate“ (S. 103). Esoterik also als Ersatz konfessioneller Kirchlichkeit…Unter „Phantombesitz“ versteht die Autorin „gegenstandslose Herrschaftsansprüche“ (S. 34), also den Glauben von Institutionen, sie hätten noch Besitz, wo dieser doch längst faktisch entschwunden ist. Für die Kirchen in Deutschland oder in weiten Teilen Europas mag das zutreffen: Die Kirchen haben keine – wie einst – „Verfügungsgewalt“ mehr über ihre Mitglieder, die zwar in Deutschland noch das enorme kirchlichen Eigentum und die Unsummen von Kirchensteuern erzeugen. Aber die meisten Kirchen-Mitglieder verhalten sich überhaupt nicht konform den Gesetzen „ihrer“ Institution gegenüber. Insofern ist die religiöse, die kirchliche Situation in Europa durchaus mit dem Stichwort „Phantom“ zu beschreiben.
6.
Das Buch „Revolution für das Leben“ passt gut in diese Corona-Zeiten. Es zeigt, dass es heute die -dringendste Aufgabe gibt, für die Rettung des Lebens der Menschen und der Natur im ganzen einzutreten. Was nützt eine hoffentlich bald Corona – freie Welt, wenn sehr viele Menschen keine saubere Luft mehr atmen und kein sauberes Wasser mehr trinken können, wenn ArbeiterInnen in den großen neoliberal gesteuerten Firmen nicht als Menschen, sondern wie ausrangierbare, wegwerfbare Dinge behandelt werden und so weiter und so weiter….
7.
Die Überwindung dieses undemokratischen Systems, das diese Unmenschlichkeit erzeugt und fortsetzt, ist, ganz elementar gesprochen, ein ethisches Gebot. Ein kategorischer Imperativ! Dem soll der einzelne mit viel frustrierender Mühe und viel intelligenter Menschlichkeit entsprechen und dabei die Schönheit der Gruppen erleben, die sich nicht unterkriegen lassen und die die universalen Menschenrechte als ihr vernünftiges Glaubensbekenntnis betrachten. Ob sich dafür die meisten nun erschöpften und sowieso ausgehungerten Menschen weltweit noch einsetzen (wollen/können), ist eine Frage. Aber die Hoffnung darf nicht getötet werden.

Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 2020, 316 Seiten, 23 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin