Reformation neu denken, über Luther hinaus für eine neue Reformation

Reformation neu denken, über Luther hinaus für eine neue Reformation

Ein Hinweis auf drei Beiträge, die gerade im Umfeld des Reformationstages von Interesse sein könnten.

-Prof. Wilhelm Gräb in einem Interview über Reformation und die Flüchtlinge heute: Klicken Sie hier.

-Über einen Reformator, der wieder in Vergessenheit gerät, Thomas Müntzer, klicken Sie hier. Ein Beitrag von Christian Modehn.

-Über die Aktualität und Gegenwart des Ablasses, klicken Sie hier. Ein Beitrag von Christian Modehn

 

 

Franzosen, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen…

Franzosen, die in den „heiligen Krieg“ ziehen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein Wort vorweg:

Es gibt in Frankreich eine angesehene Zeitschrift, die sich unabhängig von konfessionellen Bindungen –das Blatt ist selbstverständlich an den großen Kiosken zu kaufen – der Welt der Religionen widmet: „Le Monde des Religions“ ist der Titel. Da klagen immer noch Leute in Deutschland, die von Frankreich wenig (bzw. gar keine) Ahnung haben, dass dort der totale Laizismus herrscht und religiöse Themen in der Öffentlichkeit nicht vorkommen. Das ist natürlich falsch, diese Meinung wird allein schon widerlegt, dass in Frankreich an jedem Sonntag seit Jahrzehnten von 8.30 bis 12 Uhr alle großen Religionen in eigener Verantwortung ! (also Buddhisten, Juden, Muslime, Orthodoxe, Protestanten und Katholiken) ihr eigenes religiöses Programm gestalten können, auf France 2. Und nebenbei nur ganz schnell: Es gibt in Frankreich immer noch eine lesbare, sogar zitierfähige, dogmatisch nicht allzu enge katholische Tageszeitung, La CROIX mit Namen, Auflage ca. 90.000. Zu solchen Leistungen ist die Milliarden-reiche deutsche katholische Kirche gar nicht in der Lage. Bekanntlich sind die Kirchen aufgrund der Trennung von Kirchen und Staat eher „arm“.

Zurück zu dem Heft „Le Monde des Religions“. Dort wurde am 22. 9. 2015 ein interessanter Beitrag auf der website des Blattes publiziert über die jungen Leute, die aus Frankreich in den angeblich „heiligen Krieg“ in Syrien etwa ziehen. Wir wollen den deutschen LeserInnen einige Erkenntnisse dieses Artikels nicht vorenthalten, weil ja leider (!) Französisch eine Sprache in Deutschland (und fast überall) ist, die nur noch Minderheiten sprechen.

Es gibt in Paris ein Zentrum, das sich mit der Prävention gegen das Abgleiten ins Sektiererische im Islam befasst. Es heißt CPDSI, siehe: http://www.cpdsi.fr/. : Dounia Bouzar leitet, vom Innenminister beauftragt (!), diese „Association“, also dieses auf für französische Verhältnisse üblicherweise vereins-mäßig organisierten Präventionszentrum.

Heute haben die jungen Leute, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen wollen, ein sehr unterschiedliches Profil, betont Dounia Bouzar. Sie stammen aus muslimischen, christlichen und atheistischen Familien, und „meme juifs“, also selbst aus jüdischen Familien, betont die Leiterin.

Die meisten sind zwischen 14 und 25 Jahre alt. „In diesem Alter haben junge Menschen das Gefühl, gesandt zu sein zur Rettung der Welt“.

Diejenigen, die diese jungen Leute anwerben, sind ganz ins französische Leben integriert. Sie gaukeln den jungen Leuten die wahren Werte der Brüderlichkeit und Solidarität vor.

Das Ziel der seelischen Bearbeitung durch die „Werber“ ist: Die jungen Leute sollen jegliche Vertrauen verlieren in die Welt, in der sie groß geworden sind. Das Motto heißt: „Alle sind hier verdorben, alle lügen. Nur eine Art blutiger Endkampf könne die reale Welt heute noch retten“.

Für diesen Kampf werden die jungen Leute vorbereitet: Sie müssen mit ihrer ganzen bisherigen „Welt“ brechen, mit ihren musikalischen Vorlieben etwa, vor allem aber mit der Familie. In dieser äußerst kritischen Situation hilft es nach Dounia Bouzar gar nichts, noch einen „verständnisvollen Imam“ zu bewegen, mit dem Jugendlichen zu sprechen, um den Jugendlichen von seinem Vorhaben abzubringen. Wichtiger ist die Mitarbeit der Familie, Dounia Bouzar nennt das – in Anlehnung an die Erinnerungs“arbeit“, wie sie Marcel Proust beschreibt, „la madelaine de Proust“. Bekanntlich war beim Erleben, Riechen, Genießen einer Madelaine die Erinnerung bei Proust wach geworden, wie denn die früheren, längst vergangenen Jahre waren. Diese Methode soll versuchen, den betroffenen Jugendlichen an die schönen Zeiten in der Familie und unter Freunden zu erinnern. Es sollen Gefühle geweckt, wie die gemeinsame Vergangenheit früher aussah, es waren doch angenehme gemeinsame Stunden. Erst dann kann ein tieferer religiöser Dialog beginnen.

Dounia Bouzar hat 2015 in dem Verlag “Editions de l Atelier“ (Paris) das Buch veröffentlicht: „Comment sortir de l emprise djihadiste ?“. 160 Seiten, 15 Euro.

Zu dem Beitrag in „le Monde des Religions“ siehe: http://www.cpdsi.fr/actu/dounia-bouzar-le-registre-de-la-raison-est-inefficace-pour-parler-a-un-jeune-embrigade-le-monde-des-religions-fr/

Trotz allem: Der Glaube an eine bessere Zukunft – Perspektiven des Überlebens in Haiti … und der Dominikanischen Republik

Trotz allem: Der Glaube an eine bessere Zukunft – Perspektiven des Überlebens in Haiti … und der Dominikanischen Republik

Interview mit Frederic Maeder, Zürich, Autor und Haiti-Spezialist

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben einige Jahre in Haiti gelebt und Sie besuchen das Land bis jetzt regelmäßig. Die Lebensqualität (Bildung, Ernährung, Wohnung, Gesundheit usw.) der meisten Menschen in Haiti ist, so wird übereinstimmend berichtet, katastrophal. Was gibt Ihrer Meinung den Menschen dort die Kraft, überhaupt noch einen Lebenswillen zu bewahren?

Mir kommt dazu spontan das kreolische Sprichwort pito nou lèd, nou la in den Sinn. Dieses besagt, dass das Leben zwar hart ist, aber dass man immerhin überhaupt noch lebt. Mit anderen Worten: Solange man am Leben ist, hat man die Möglichkeit, sein Leben zu verbessern. Der Glaube an eine bessere Zukunft ist sehr stark, und man ist überzeugt, dass einem die eigenen Kinder ein besseres Leben werden garantieren können, wenn diese erst einmal erwachsen sind. Der Glaube an Gott ist äußerst ausgeprägt, und man ist der Auffassung, dass der Mangel an Lebensqualität eine Prüfung darstellt, vor welche der Herr einem stellt, und dass man diese meistern wird, wenn man stark genug an ihn glaubt.

Bemerkenswert ist, wie stark offenbar immer noch die kreative Energie bei Künstlern und Schriftstellern in Haiti ist. Wen erreichen die Künstler in Haiti? Hat Kunst dort eine „soziale Bedeutung“?

Erstaunlicherweise stößt die haitianische Kunst vor allem außerhalb Haitis auf großes Interesse. Zum Beispiel bei ausländischen Entwicklungshelfern, Mitarbeitern von internationalen Organisationen im Allgemeinen oder auch bei Vertretern der haitianischen Diaspora. Bei der Literatur gilt es zu beachten, dass diejenigen Haitianer, die des Lesens mächtig sind, überaus fleißige Leser und dementsprechend stolz auf ihre eigenen Schriftsteller sind. Die alljährlich stattfindende Buchmesse «Livres en folie» etwa erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit in Haiti wie auch in der Diaspora. Zeitgenössische Autoren, wie Lyonel Trouillot, Yannick Lahens oder Kettly Mars, aber beispielsweise auch Jacques Roumain, der Urheber des Werkes »Herr über den Tau«, des wohl bedeutendsten haitianischen Klassikers überhaupt, wurden alle ins Deutsche übersetzt. Die bildende Kunst auf Haiti dient vielen als eine Art Therapie oder Ventil, um der eigenen Existenz Ausdruck zu verleihen und den oft schwierigen Alltag erträglicher zu machen. Quasi: Aus Schmerz und auch aus langer Weile geht gute Kunst hervor.

Welche Rolle spielt der viel besprochene Voodoo-Kult mit dem Ziel, eine humanere Gesellschaft aufzubauen?

Hier gälte es wohl zunächst zu unterscheiden zwischen den Leuten, die den Voodoo offen praktizieren (hauptsächlich die Landbevölkerung), denjenigen, die den Voodoo leugnen, ihn aber neben dem Katholizismus oder Protestantismus insgeheim trotzdem praktizieren (der Grossteil der urbanen Bevölkerung), sowie jenen, die den Voodoo überhaupt nicht praktizieren. Die letzten beiden Gruppen schämen sich in der Regel für den Voodoo, setzen ihn gleich mit einem Mangel an Bildung und Zivilisiertsein, woraus häufig Konflikte mit der ersten Gruppe resultieren. Diese wird dementsprechend als böse und rückständig stigmatisiert. Unter solchen Voraussetzungen ist es natürlich schwierig, eine humanere Gesellschaft aufzubauen.

Im Jahr 1950 gab es 3 Millionen Einwohner in Haiti, 2004 waren es 9 Millionen, jetzt sind es 10, 6 Millionen, auf einer Fläche von 27.000 Quadratkilometern, das ist etwas mehr als das Bundesland Hessen. Welche Bedeutung hat die Geburtenkontrolle, damit wenigstens die jetzt lebende Bevölkerung vor dem Hungertod bewahrt werden kann?

Die Grundhaltung vieler Haitianer ohne Bildung steht in krassem Gegensatz zu einer im westlichen Sinne erfolgreichen Geburtenkontrolle. Sie denken, je mehr Kinder man hat, desto sicherer ist die eigene Zukunft. Eine Einstellung, die auf Grund einer hohen Kindersterblichkeit sowie wegen des Fehlens einer staatlichen Altersvorsorge sogar zu verstehen ist. Pitit se richès malere, Kinder sind der Reichtum der Armen, wäre das passende kreolische Sprichwort dazu. Natürlich wäre eine funktionierende Geburtenkontrolle der Linderung des Hungers im Land förderlich. Persönlich hielte ich es indes für effizienter, vermehrt in die Bildung der breiten Bevölkerung zu investieren, um die zahlreichen Probleme des Landes zu lösen.

Wer die Möglichkeit hat, als gebildeter Haitianer das Land zu verlassen, tut das auch, siehe die großen Communities in Kanada, den USA, Frankreich, der Dominikanischen Republik usw. Ist diese Flucht ins Ausland nicht auch fürs Land eine Katastrophe, weil die so genannte Elite keine Hoffnung mehr hat, Haiti aus dem multiplen Elend herauszuführen?

Hier sollte man vielleicht zuerst differenzieren, von welcher Elite die Rede ist. Das Interesse der finanziellen Elite ist es, das Volk arm und ungebildet zu halten, um es besser auszubeuten und kontrollieren zu können. Die intellektuelle Elite dagegen wäre um authentische Verbesserungen im Land bemüht. Ihr fehlt es jedoch an finanziellen Mitteln, um ihre Ideen zu verwirklichen, und die finanzielle Elite ist ihrerseits bestrebt, unter allen Umständen zu verhindern, dass die intellektuelle Elite zu Geld kommt, um deren Visionen umzusetzen. Gelingt dies einem ihrer Vertreter trotzdem, so läuft er oftmals Gefahr, umgebracht zu werden. Vielfach entscheiden sich Angehörige der intellektuellen Elite daher, schweren Herzens das Land zu verlassen, um im Ausland zu Wohlstand zu kommen, den sie dann nach Jahren in der Diaspora in der Heimat zu investieren hoffen. Das Ganze als Katastrophe fürs Land zu bezeichnen, ist letztlich durchaus legitim.

Die Bürger der benachbarten Dominikanischen Republik haben gleich nach dem schrecklichen Erdbeben Haiti großzügig geholfen. Jetzt gibt es wieder neue Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten. Die Dominikanische Republik will die starke Präsenz der Haitianer im eigenen Land jetzt einschränken, auch durch rabiate Ausweisungen. Gibt es Spuren der Hoffnung, dass die beiden Nationen doch noch zu einem menschlichen Miteinander aufraffen?

Eine sehr schwierige Frage, wenn man bedenkt, dass die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in der Angelegenheit schon vermittelnd helfen muss. Ich hoffe nicht, dass es einer weiteren großen Naturkatastrophe bedarf, so dass die Differenzen, welche die beiden Länder mit wechselnder Intensität schon seit Anbeginn miteinander austragen, wieder ein wenig in den Hintergrund gedrängt werden. Der so genannten »bi-nationalen, gemischten Kommission«, welche theoretisch schon seit den neunziger Jahren existiert und die für die Pflege der bilateralen Beziehungen ins Leben gerufen worden war, die indes viel zu selten tagt, neues Leben einzuhauchen, könnte ein Ansatz sein. Auch dass der alle zwei Wochen stattfindende bi-nationale Markt der haitianisch-dominikanischen Schwesterstädte Ouanaminthe und Dajabón trotz migrationspolitischer Differenzen weiterhin stattfindet, könnte man als Versinnbildlichung der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit sowie als positives Zeichen deuten. Schließlich jedoch glaube ich, dass die Differenzen der beiden Länder, die sich die Insel Hispaniola teilen, hüben wie drüben vor allem ein Problem der ungebildeten Massen ist, die von den eigenen finanziellen Eliten instrumentalisiert werden, indem sie ihnen ein Feindbild im Anderen suggerieren, derweil die oberen paar Hundert auf beiden Seiten der Insel eigentlich stets von der haitianischen Migration profitiert haben.

Frederic Maeder, Zürich, hat das Buch “Hochzeit haitianisch – Goudougoudou ex-ante!” publiziert, er erzählt von einer Reise in erdbebenzerstörte Port-au-Prince. BoD ISBN 978-3-7357-0485-6, 16,90 Euro. Das Buch ist überall im Online-Handel erhältlich.

Copyright: Frederic Maeder, Zürich.

Gibt es heute moralische Politiker? Eine Frage, die Kant stellte

Politiker, die sich einen „Völkerbund“ wollen, sollten moralisch handeln. Ein Hinweis von Immanuel Kant zur aktuellen Diskussion über den Zusammenhalt der EU

Ein Hinweis von Christian Modehn

Nicht nur philosophisch gebildete Menschen wissen: Immanuel Kant hat sich 1794 ausdrücklich mit der Frage befasst: Wie ist Friede, sogar im weitesten Sinne “utopisch” gedacht (im Sinne einer Zielbestimmung) als „ewiger Friede“ möglich?

Sein Text ist wichtig, weil er einmal mehr zeigt: Wie Reflexionen von Kant auch heute von bleibender Inspiration sind. Wer sagt: „Ach der Kant, der ist doch alt und veraltet“, irrt gewaltig und redet aus Unkenntnis! Oft sind die „Alten“ aus der Aufklärungs-Philosophie des 18. Jahrhunderts in Fragen der Ethik z.B. wichtiger und „weg-weisender“ als Philosophen des 20. Jahrhunderts, die etwa wie Martin Heidegger in keiner Weise Fragen der universalen Menschenrechte „angedacht“ haben. Aber das nur am Rande.

Kant ist in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ klar, deutlich und für seine Zeit schon radikal. Er schlägt zur Friedenssicherung eine Art Völkerbund vor. Voraussetzung für ein dauerhaftes Funktionieren eines „Völkerbundes“ ist: Die Staaten und damit die „nationalen“ Politiker müssen ihre eigene nationale Staatsräson dem gemeinsamen ZIEL unterordnen, d.h. sie müssen den praktischen Willen haben, auf ihre eigene Staatsräson zu verzichten zugunsten des großen Friedensprojekts! Nur dann können Streifragen im Disput geklärt werden, nur so kann Krieg unter den Mitgliedern des „Völkerbundes“ verhindert werden.

Wichtig ist: Kant ist mit guten Begründungen überzeugt: Auch Politiker müssen wie alle anderen aufgeklärten Menschen moralisch handeln. Auch für Politiker gilt das Gesetz, aus Pflicht moralisch zu handeln. Ohne die gelebte Moral der Politiker hat ein „Völkerbund“ keinen Sinn, keine verbindende Kraft. Ohne ein moralisches Bewusstsein und ohne die tatsächlich geleistete Pflichterfüllung gegenüber dem moralischen Bewusstsein (nämlich die eigene Nation relativ zu finden gegenüber dem „Völkerbund – und modern – auch zur EU) kann es keinen Zusammenhalt in einem „Völkerbund“ geben. „Ohne dieses moralische Moment der Pflicht (den Frieden zu wollen) verliert Kants Völkerbund seine moralische Kraft“, so Manfred Geier, „Aufklärung – das europäische Projekt“, Reinbek bei Hamburg 2013, Seite 279.

Angesichts der offensichtlichen Krise der EU, sichtbar in der arroganten Ablehnung etlicher Mitgliedsstaaten, Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak usw. ins eigene Land aufzunehmen, stellt sich die Frage: Wie moralisch sind diese EU-Politiker? Diese Frage muss, Immanuel Kant folgend, erlaubt sein, ohne dabei eine „Schlammschlacht“ zu inszenieren oder gar jemanden an den Pranger zu stellen: Aber die Frage ist virulent: Sind Politiker – damals wie heute – bloß Funktionäre, nur Technokraten, nur „Führergestalten“, die letztlich bloß die alten nationalen Interessen vertreten (oder auf Stimmen für die eigene Partei schielen) und also nur so tun „als ob“ sie ein ernsthaftes Interesse an einem „Völkerbund“ hätten. Die Frage im Sinne Kants heißt: Haben die Politiker überhaupt die Fähigkeit, die BürgerInnen ihres jeweiligen Landes über das traditionelle, vorgegebene Niveau, also die nationale Ideologie, hinauszuführen zu einer größeren friedlichen Vereinigung in einem „Völkerbund“. Wer stellt heute diese Fragen? Wer verlangt eine Art häufigen „Fähigkeitscheck“ von Politikern, die in anderen Berufen, wie etwa bei den Ärzten, inzwischen selbstverständlich sind. Aber ob die Moralität eines Politikers dabei festgestellt werden kann, bleibt offen. Kant jedenfalls hat nur die Hoffnung, dass es moralische Politiker geben kann. Heute stehen wir vor der Aufgaben unmoralische Politiker zu entfernen, also abzuwählen, oder im Falle von Diktaturen, die unmoralischen Politiker ins Abseits zu drängen. Aber so lange angeblich moralische Politiker (des Westens) mit den tatsächlich unmoralischen Politikern (in den Diktaturen) beste Geschäfte machen, ist diese Veränderung in den Diktaturen schwierig. Die westlichen, angeblich moralischen Politiker, könnten hingegen durch ihr Verhalten, durch ihr Nein zu den unmoralischen Diktatoren, vieles verändern dort. Vor allem: Sie würden sich selbst verändern, also wirklich moralisch werden… und die Länder verändern, den Menschenrechten zuführen. Warum tun das die angeblich moralischen Politiker des Westens nicht? Kant würde hart sein und sagen: Sie tun das Richtige nicht, weil sie nicht moralisch sind. Aber allen “Moralisten” heute sei eingeschärft: Für Kant hat moralisches Handeln nichts mit Kirchentreue zu tun, nichts mit Staats-Ergebenheit, nicht mit absolutem Respekt vor Dogmen usw. Moralisches Handeln ist einzig ein solches, das vor dem “Kategorischen Imperativ” bestehen kann.

Copyright: Christian Modehn

Wenig Licht – viel Schatten Ein Kommentar des Jesuiten Flüchtlingsdienstes Berlin vom 7. September 2015

Wenig Licht – viel Schatten. Ein Kommentar des Jesuiten Flüchtlingsdienstes Berlin vom 7. September 2015

Ein Hinweis des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin vorweg:

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist einer der international hoch angesehenen, bewährten und umfassend helfenden Institutionen für Flüchtlinge. Und eine Stimme der Flüchtlinge, die sich an Menschen wendet, die in privilegierten Verhältnissen leben, z. B. in Deutschland.  Der Jesuiten Flüchtlingsdienst hat auch in Berlin eine Filiale, das sollten Berliner immer mehr zur Kenntnis nehmen…Wie schon öfter, geben wir gern eine Pressemitteilung weiter, zur Diskussion … und zur Förderung kritischen Nachdenkens. Denn kritisches Nachdenken einüben: Das ist ein Ziel des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon. Für den sich die religiöse Frage natürlich nicht nur dort „abspielt“, wo Religion/Konfession/Kirche draufsteht. Meistens ist „das Religiöse“ und auch das Christliche ganz woanders lebendig, man muss es nur suchen…

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Nach der wegweisenden Entscheidung vom Wochenende, Flüchtlingen aus Ungarn die Weiterreise nach Deutschland zu gestatten, sind die jüngsten Beschlüsse der Regierungskoalition enttäuschend: Sie bleiben die Antwort auf viele drängende Fragen vor Ort schuldig. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst begrüßt, dass mehr Geld für die Unterbringung Asylsuchender bewilligt wurde und sie früher Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten.

Scharf verurteilt er die Rückkehr zum Sachleistungsprinzip und die Erweiterung der sicheren Herkunftsländer. „Vielen konkreten Herausforderungen laufen die Entscheidungen zuwider: Wir brauchen mehr Unterstützung für Ehrenamtliche, die die Arbeit vor Ort leisten, und nicht mehr Bürokratie im Verfahren“, kommentiert Pater Frido Pflüger SJ, Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, in Berlin. Grundsätzlich begrüßt er, dass Länder und Kommunen mehr Hilfe vom Bund für die Unterbringung und Versorgung von Asylsuchenden bekommen sollen, auch wenn noch nicht fest steht, wofür genau das Geld verwendet werden soll.

Positiv ist auch, dass der Bund die Länder und Kommunen beim Aufbau von etwa 150.000 winterfesten Plätzen in menschenwürdigen Erstaufnahmeeinrichtungen unterstützen und das Arbeitsverbot für Asylsuchende und Menschen mit Duldung auf drei Monate reduzieren will. „Man fragt sich aber, warum die Menschen nicht sofort arbeiten dürfen“, meint Pflüger. Scharf verurteilt er die Ausweitung der Liste „sicherer“ Herkunftsländer.

Selbst nach offiziellen Statistiken ist die Zahl der Asylsuchenden aus Albanien, Kosovo und anderen Westbalkan-Staaten in den letzten Monaten bereits stark gesunken. Viele Gründe für die Flucht dieser Menschen, etwa drohende Blutrache, werden von den deutschen Behörden und Gerichten nicht ernst genommen – anders als etwa in Frankreich oder der Schweiz. „Die drei Staaten als ‚sicher‘ zu erklären, ist eine reine Symbolpolitik zu Lasten der betroffenen Menschen“, kritisiert Pflüger. Das Geld für 3.000 zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei wäre anderswo besser angelegt: Die vielen Hilfsorganisationen und Ehrenamtlichen, die die Arbeit für und mit den Flüchtlingen leisten, hätten damit gefördert werden sollen. „Das hätte ein wichtiger Beitrag des Bundes für die Willkommenskultur vor Ort sein können“, merkt Pflüger an.

Dass Asylsuchende in den Erstaufnahmeeinrichtungen nur Sachleistungen statt Bargeld bekommen sollen, hält der Jesuiten-Flüchtlingsdienst für sinnlos und verfassungswidrig. „Mit der Wiedereinführung von Sachleistungen geht die Koalition genau den falschen Weg – auf der Grundlage der absurden und lebensfernen Annahme, irgendwer würde seine Heimat wegen eines Taschengelds verlassen“, so Pflüger. Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 klargestellt: Zur Menschenwürde gehört auch der Kontakt mit der umgebenden Gesellschaft. „Das geht nicht, wenn man nur Essenspakete und ein Bett bekommt“, meint Stefan Keßler, Politik- und Rechtsreferent beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst. Auch sind Sachleistungen wesentlich teurer als Bargeldzahlung.

Die Höchstdauer einer Duldung von sechs auf drei Monate zu reduzieren, hält Keßler für Unsinn: „Die Menschen werden noch häufiger zur Ausländerbehörde gehen müssen, um ihre Duldung zu verlängern. Das vergrößert ihre Belastung, aber auch den Verwaltungsaufwand.“

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Der “Jesuit Refugee Service” (Jesuiten-Flüchtlingsdienst, JRS) wurde 1980

angesichts der Not vietnamesischer Boat People gegründet und ist heute als

internationale Hilfsorganisation in mehr als 50 Ländern tätig. In

Deutschland setzt sich der Jesuiten-Flüchtlingsdienst für

Abschiebungsgefangene ein, für geduldete Flüchtlinge und für Menschen ohne

Aufenthaltsstatus („Papierlose“). Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind

Seelsorge, Rechtshilfe und politische Fürsprache.

 

Wer sich helfend, informierend mit dem Flüchtlingsdienst der Jesuiten beschäftigen will:

Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland, Jesuit Refugee Service (JRS)

Dr. Dorothee Haßkamp, Öffentlichkeitsarbeit

Witzlebenstr. 30a

D-14057 Berlin

Tel.: +49-30-32 60 25 90

Fax: +49-30-32 60 25 92

 

Spendenkonto 6000 401 020

Pax-Bank BLZ 370 601 93

IBAN: DE05370601936000401020

BIC: GENO DED1 PAX

dorothee.hasskamp@jesuiten-fluechtlingsdienst.de

www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de

www.facebook.com/fluechtlinge

Menschlichkeit zuerst: Der katholische Bischof Jacques Gaillot wird 80 Jahre alt

Zu Beginn ein Buchtipp: “Die Freiheit wird euch wahr machen”. Eine Festschrift zum 75. Geburtstag von Bischof Jacques Gaillot. Herausgegeben von Roland Breitenbach, Katharina Haller und Christian Modehn. 2010. Reimund Maier Verlag, Schweinfurt, 223 Seiten mit vielen Beiträgen, die das theologische und politisch-praktische Profil Gaillots deutlich machen. Dies ist die neueste Studie zu Bischof Gaillot in deutscher Sprache.

„Menschlichkeit zuerst“: Jacques Gaillot, katholischer Bischof, wird 80 Jahre

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der Religionsphilosophische Salon muss sich gelegentlich auch mit Bischöfen befassen. Aber nur mit solchen, die außergewöhnlich sind. Bischof Jacques Gaillot (ehemals Evreux, Normandie, jetzt Paris) gehört dazu. Ich habe ihn als Journalist für die ARD in Deutschland bekannt gemacht, zuerst 1985 mit der Ra­dio­sen­dung und dem etwas ironischen Titel: “Ein Bischof auf dem Lande“ (SR), dann immer wieder mit regelmäßigen Berichten in meiner ca. 40 Halbstundensendungen umfassenden Sendereihe „Gott in Frankreich“ für den Saarländischen Rundfunk SR, Red. Norbert Sommer, auch zwei 30 Minutenfilme fürs Erste, 1989 und 2005 (WDR), gehören dazu usw…

Am 11. September 2015 wird Bischof Jacques Gaillot 80 Jahre alt.

An ihn zu erinnern ist geradezu Pflicht, wenn man Interesse hat an der Frage: Gab es und gibt es noch einen katholischen Bischof, der einen katholischen Glauben im Gespräch mit der Moderne und im Respekt vor den heutigen Kulturen gestalten will. Für den Menschen mehr zählen als Dogmen und Kirchentraditionen, der keine Angst hat vor deutlichen und wahrhaftigen Worten; der keine Angst hat, dadurch sich seine klerikale Karriere zu beschädigen. Gaillot ist ein Bischof, der Nein sagt zu kleinrarierter klerikaler Ambition, der Nein sagt zu einer kapitalistischen Welt und deren Religionen, die den Gott Geld als den größten Wert verehrt.

Jacques Gaillot wurde 1995 vom Papst als Bischof von Evreux abgesetzt, aus dem „einfachen“ Grund: Weil er zu progressiv war. Die Liste seiner außergewöhnlichen Aktivitäten ist lang und wurde an anderer Stelle dokumentiert, klicken Sie hier.

Nur so viel: Gaillot wollte im Sinne Jesu von Nazareth eine menschenfreundliche Kirche aufbauen, die über ihre eigenen veralteten Gesetze und Gebote hinweggeht. Er war politisch sehr system-kritisch, empfand z.B. mehr (praktisch gelebte !) Sympathien für Wehrdienstverweigerer als für konservative (oft rassistisch angehauchte) Politiker. Bischof Jacques Gaillot lebt seit Ende der 1990 Jahre im Kloster der Ordensgemeinschaft „Väter vom Heiligen Geist“ (Spiritaner) in Paris; bis vor 5 Jahren noch als weltweit aktiver Bischof von Partenia, mit einer immer noch bestehenden mehrsprachigen Archiv-website. Seit 5 Jahren lebt Jacques Gaillot etwas mehr zurückgezogen, sozusagen als „pensionierter Bischof“ von Partenia, einem Ort in der algerischen Wüste: Diesen Ort hatte Rom für ihn als Bischofssitz ausgesucht. Ein imaginärer Titel. Deutlicher Ausdruck dafür, dass da ein progressiver und in den 1980 Jahren sehr beliebter Bischof in die Wüste geschickt wurde. Bischof Gaillot verstand es wie kein anderer in Europa, den Glauben, auch in der katholischen Variante, mit den Denk- und Lebensformen der europäischen Moderne zu versöhnen, wobei die Moderne ernst genommen wird, als Welt, als Kultur, als Demokratie mancherorts, von der es auch katholisch-christlich zu lernen gilt! Die website des “Wüstenbischofs” Gaillot  und des “Wüstenbistums” Partenia (die website wurde vor 5 Jahren geschlossen) ist noch in mehreren Sprachen, auch auf deutsch, erreichbar, klicken Sie hier.

In Deutschland ist jetzt in den Medien von Jacques Gaillot nichts bzw. fast gar nichts mehr zu hören und zu lesen.

Kardinal Meisner verfügte einst ein Redeverbot für Bischof Gaillot, seit der Zeit wird er von den Bischöfen Deutschlands und auch Frankreichs wie ein Paria behandelt. Auch in der französischen Bischofskonferenz spielte er und spielt er keine Rolle mehr. Die Macht in Rom hat sich durchgesetzt und einen kreativen Bischof, sozusagen einen Hoffnungsträger, ins Abseits gedrängt. Wie sehr sich die Kirchenführung dabei selbst schadet, scheint ihr gar nicht bewusst zu sein. Oder es ist ihr egal! Seit der Absetzung von Bischof Gaillot haben sich tausende progressiver Katholiken eben ihrerseits “abgesetzt”, also von der Kirche verabschiedet. Zur Zeit sollen noch 4 Prozent aller französischen Katholiken (noch ca. 60 Prozent der Bevölkerung) an den Sonntagsmessen teilnehmen. Tendenz: Sehr stark (altersbedingt) sinkend. Bald ist es vorbei mit dem französischen Katholizismus…

Nur in kleinen progressiven katholischen Kreisen ist Gaillot noch willkommen. Seine wahre spirituelle und politische Heimat sind hingegen Menschenrechtsbewegungen in Frankreich.

Wir dokumentieren aus verschiedenen französischen Zeitschriften einige der jüngsten Aktivitäten und Statements Bischof Gaillots aus den letzten 5 Jahren

Bischof Gaillot besucht im August 2015 die von Ausweisung bedrohten Roma in Saint Ouen. „Sie sind Menschen wie wir. Wie kann man eine menschliche Gesellschaft aufbauen, wenn man nicht die Schwächsten respektiert?“

In der Tageszeitung „L Humanité“ (Organ des PCF, auch da kennt Gaillot keine Berührungsängste) äußert er sich im November 2014 kritisch zur Synode der Bischöfe in Rom. Die zölibatären Herren debattierten dort über Familien, Homosexuelle und Geschiedene, die noch einmal heiraten wollen! Gaillot sagte dem Blatt der französischen Kommunisten: “Die katholische Kirche soll Menschen so annehmen und aufnehmen wie sie sind und nicht wie sein sollten. Sie soll nicht von Prinzipien ausgehen. Sie soll wohlwollend die Liebe anerkennen, die unter den Paaren besteht, die außerhalb der alten katholischen Normen leben. Am Rande der Kirche (an der Basis) gibt es bereits ein Klima der Toleranz und des Respektes für jene, die von den kirchlichen Reglementierungen ausgeschlossen sind“. Weiteres lesen Sie hier.

Gegenüber der Tageszeitung „Le Parisien“ sagte er im Januar 2015: „Im Sommer habe ich selbst ein homosexuelles Paar gesegnet und später auch mit einem heterosexuellen Paar eine Trauungszeremonie in einem großen Garten gestaltet, diese Menschen konnten nirgendwo kirchlich heiraten, weil sie geschieden waren. Ich selbst lebe außerhalb der kirchlichen Institution („hors le murs“), darum finde ich es auch sehr gut, auch außerhalb der Kirchengebäude Gottesdienste zu feiern“.

Zur Kirche in Frankreich heute sagte Gaillot:
„Sie ist zu konservativ, da passiert nichts Besonders mehr. Ich habe anlässlich der großen Demonstrationen für die „Ehe für alle“ (also auch für Homosexuelle) demonstriert, die Kirche hat sich absolut dagegen gewendet. Ich meine: Wenn sich die Gesellschaft entwickelt, muss sich auch die Kirche entwickeln. Wenn sie diese Entwicklung nicht mit-vollzieht, wird sie verschwinden. Wenn die Kirche sich nur für sich selbst interessiert, wird sie verschwinden. Die Bischöfe verwenden viel Energie darauf, nur die Strukturen neu zu organisieren. Sie bleiben gegenüber der Moderne misstrauisch. Sie blicken nur in die Vergangenheit und lieben pompöse Zeremonien.

Während ich dem Pontifikat von Papst Benedikt XVI. sehr reserviert gegenüber stehe, bewundere ich doch Papst Franziskus. Aber er ist ein bisschen isoliert. Dennoch war die Leistung von Benedikt XVI. beachtlich, dass er zurückgetreten ist! Ich wünsche mir, dass die Päpste eine fest begrenzte Regierungszeit haben und das Ende eines Pontifikates nicht vom Willen des einzelnen Papstes abhängt. Der Papst ist kein Monarch. Er ist ein Diener. Man muss die Person des Papstes entsakralisieren“. Papst Franziskus hat er einen Brief geschrieben, auf den dieser sogar geantwortet hat2, berichtet Gaillot. Manche Formulierungen/Sprüche  des Papstes erinnern unmittelbar an ältere Äußerungen Gaillots, auch an seine Buchtitel, etwa: “Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts” (sogar bei Herder erschienen)… Aber an eine Rehabilitierung, für eine Entschuldigung Roms für seine brutale Absetzung als Bischof, glaubt Gaillot nicht. Er will sich darum auch nicht selbst bemühen.

Weitere Berichte in der französischen Presse (auf die wir nur hinweisen, um die vielen Aktivitäten Bischof Gaillots wenigstes anzudeuten) beziehen sich auf seine Teilnahme an der großen Demonstration im Januar 2015 nach der Tötung der Redakteure von „Charlie Hebdo“ (weitere Informationen klicken Sie hier) und der Opfer aus der jüdischen Gemeinschaft. Außerdem tritt Gaillot für eine gerechte Gesetzgebung für ein Sterben in Würde berichtet: Er fordert, dass – in Ausnahmefällen- schwerkranke Menschen die rechtliche Möglichkeit haben, um Sterbehilfe zu bitten. Es wird auch berichtet, dass Gaillot in der Kirche St. Sulpice in Paris im September 2013 eine Bestattungsfeier für seinen atheistischen Freund Prof. Albert Jacquard gehalten hat. Mit ihm zusammen hat Gaillot Jahre lang für die Rechte der Obdachlosen und Wohnungslosen gekämpft.

Zur christlichen Spiritualität im engeren Sinne wurde er auch befragt: „Seit meinem 76. Lebensjahr nehme ich etwas Abstand von allem. Ich spüre sehr stark die Anwesenheit Gottes in jedem Menschen. Die Messe feiere ich im Haus der Spiritaner-Patres hier. Aber hier in Paris ruft man mich ständig, man lädt mich ein, man braucht meine Hilfe“. Menschlichkeit, Solidarität, Teilen des alltäglichen (armen) Lebens der absoluten Mehrheit der Bevölkerung: Das ist für Jacques Gaillot am wichtigsten. Das ist christlich. Spirituell. Religiös.

copyright: christian modehn, Berlin

 

 

“Ethik ist wichtiger als Religion”. Zu einer These des Dalai Lama

„Ethik ist wichtiger als Religion“: Hinweise zu einer These des Dalai Lama

Von Christian Modehn

Der Dalai Lama hat in Gespräch mit Franz Alt die These vertreten: „Ethik ist wichtiger als Religion“. Dieser neueste Beitrag des Dalai Lama vom April 2015 wird international verbreitet, der Text steht auch als pdf Datei gratis zum Herunterladen bereit.

In unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 28.8.2015 haben sich –im Gespräch mit 26 TeilnehmerInnen – einige Fragen und Perspektiven ergeben. Aus meiner Sicht der Hinweis:

Es ist außergewöhnlich, dass einer der prominentesten religiösen Führer/Meister, der immer noch als „Seine Heiligkeit“ angesprochen wird, behauptet: „Ethik ist wichtiger als Religion. Ethische Bildung ist wichtiger als religiöse Bildung. Religion ist tendenziell gewalttätig“.

Relativiert der Dalai Lama damit die Religion? Handelt es sich um eine Art Selbst-Herabstufung des Religiösen durch einen religiösen Meister? Diese Überzeugung wäre ja angesichts der vielen Krisen dieser Welt verständlich, wo die Religionen oft keine konstruktive Rolle spielen (Islam) und die Sehnsucht nach einer wirklichen allumfassenden Menschlichkeit enorm ist.

Die Frage bleibt: Ist die Lage der Welt, Krieg, Gewalt, Fundamentalismus, Wahn, Vertreibung usw. so zum Verzweifeln, dass schon gar nicht mehr damit gerechnet werden kann, Religionen könnten dabei behilflich sein? Haben die Religionen kein Potential der Hilfsbereitschaft mehr? Wer sich unbefangen umsieht, wird heute eher des gegenteiligen Eindrucks gewiss: Die Kirchen helfen diakonisch, auch muslimische Organisation sind caritativ tätig. Schwierig bzw. nicht hinzunehmen ist hingegen, wenn aus religiösen Offenbarungsprinzipien weltliche Gesetze abgeleitet werden! Das geschieht noch in vielen islamischen Ländern. Der Dalai Lama plädiert ausdrücklich mehrfach für eine säkulare Ethik, also eine solche, die sich der allgemeinen, der menschlichen Vernunft erschließt, also auch Atheisten und Agnostikern, wie ausdrücklich betont wird. Diese hat Gewissheiten, wenn nicht Evidenzen zu bieten, etwa der Kategorische Imperativ! Aber: Welche konkreten Vorschläge hat de Dalai Lama, um dieser säkularen Ethik als Realität entgegen zu gehen? Er schlägt das Übliche vor: Meditieren, meditieren, meditieren… Aber, eher nebenbei: Der Dalai Lama scheint Ethik und Moral zu verwechseln. Moral ist das gute Leben des einzelnen, Ethik die Reflexion auf die gelebte Moral. Er spricht dauernd nur von Ethik als der Lehre der Moral!

Gibt es auch „böse Ethiken“? Natürlich, aber das wird vom Dalai Lama nicht thematisiert. Die ideologischen Traktate der Nazis oder der Stalinisten gaben sich als so genannte „Ethiken“ aus.

Und nicht alle Religionen sind „unvernünftig“ und tendenziell bzw. faktisch gewalttätig. Mit der Reformation begann das Bemühen, den christlichen Glauben vernünftig zu betrachten, die Bibel vernünftig zu lesen, vielen Hokus Pokus aus dem Christentum zu vertreiben. Dabei haben Philosophen für eine Reinigung des obskuren christlichen Glaubens gesorgt. Es gibt bis heute kleine explizit theologisch-liberale protestantische Kirchen! Und auch die Mystiker, die von dem unsichtbaren Gott, dem göttlichen Geheimnis sprechen. Das sieht der Dalai Lama (in dieser Schrift) nicht.

Er sieht auch nicht, dass Religion selbst sich ALS Ethik versteht, etwa, wenn Jesus von Nazareth im Gleichnis des Barmherzigen Samariters diese gute Tat ALS den wahren Gottesdienst versteht.

Die abstrakte Trennung hier Ethik, da drüben „jenseits“, getrennt die Religion, gilt nicht, sie ist sogar falsch! Ein Beispiel: Heute sind (katholische) Basisgemeinden in ihrem Engagement für die Menschenrechte (auch für die Arm-Gemachten, Elenden) bester Ausdruck dafür: Religion ist selbst Ethik (als Eintreten für Menschenrechte).

Und hat Religion als (reflektiertes) religiöses Gefühl, das sich entwickelt auch in Auseinandersetzung und im Erleben von Kunst, Musik, Literatur, Poesie, nicht nur sehr gutes und manchmal – in seelischen Krisenzeiten etwa – ihr vorrangiges Recht?

So ist diese Broschüre des Dalai Lama mit Franz Alt interessant, inspirierend, durchaus, aber auch inspirierend zur Kritik und der Feststellung von Fehlern. Aber das will der Dalai Lama zweifellos!

Bei aller Kritik jedoch gilt: Die Broschüre des Dalai Lama bleibt wichtig. Sie zeigt den richtigen Weg: In dieser zerrissenen und chaotischer werdenden Welt kommt es zuallererst auf Kräfte an, die das Verbindende der Menschheit fördern willen. Die zuerst an den Menschen als Menschen denken, an sein „Glück“, wie der Dalai Lama sagt, und alle gewagten/neurotischen Konstruktionen und Ideologien, auch religiöse Ideologien, auf die zweite Stelle setzen.

Und diese Kräfte sollten, so bescheiden auch immer, diese säkular – ethische Haltung leben, in kleinen Gruppen oder allein. Die protestieren, wenn Religionen, Ideologien, esoterische Fantastereien wichtiger genommen werden als die allgemeine Vernunft, also die für alle (!) geltenden Menschenrechte, die absolut vorrangig bleiben, auch wenn unbegabte Politiker sie missbrauchen.

Es wird die Frage dringend angesichts dieser Schrift des „Anführers“ der Buddhisten:

Wann wird denn ein Papst – dem Dalai Lama folgend – sagen: Auch für uns Katholiken und für den Vatikan, alle Bistümer und den päpstlichen Hof (Kurie) ist die vernünftige Ethik wichtiger als die katholische Religion und ihre rigiden religiösen/klerikalen Gesetze? Und wir sprechen darüber IN den Gottesdiensten, gestalten „Feiern der Ethik“ am Sonntag anstelle der ewig selben Messen mit ewig denselben Worten etc…

Wann wird denn dies der Ökumenische Weltrat der Kirchen in Genf sagen? Wann die Verantwortlichen der Reformationsfeierlichkeiten 1517 in Wittenberg: Ethik ist wichtiger als eure Religion!

Wann die Putin ergebenen und verblendeten Popen und Patriarchen in Moskau? Gibt es Hoffnungen angesichts einer reaktionären orthodoxen Kirche, die nur als angepasste Staats-Ideologie existiert?

Wann all die vielen Islam-Organisationen: Wann werden sie mit einer Stimme bekennen und in allen Moscheen laut schreiend bei einem Freitagsgebet jeweils in den Landessprachen sagen: Vernünftige (!) Ethik ist wichtiger als Religion und religiöse Traditionen?

Wann werden dies militante Hindus und militante Buddhisten usw. sagen? Und die Anhänger jener Religion, die die eigene Nation bzw. den eigenen Staat und den Kurs der Börse heilig sprechen? Darf man das hoffen? Erwarten dürfen wir es nicht, weil die Macht der religiösen Verblendung auch heute enorm ist, weil Religion das eigene Nachdenken erspart und nicht fördert. Und viele Religion (als Ideologie)  wichtiger finden als pure Menschlichkeit.

ABER: Wir müssen hoffen und daran arbeiten, damit wir nicht völlig verzweifeln: Säkulare Ethik ist wichtiger als unvernünftige Religion, aber nicht jede Religion ist unvernünftig, siehe oben!

Der Dalai Lama hat jedenfalls einen klaren Schritt vollzogen und er hat einen radikalen SCHNITT vollzogen. Merken wir es uns: Ethik ist ab sofort wegen des Überlebens der Menschheit wichtiger als (unvernünftige) Religion.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin