Das Morden in Syrien nimmt zu: Eine Stellungnahme des “Jesuitenflüchtlingsdienstes”

Der Religionsphilosophische Salon ist der Idee und Wirklichkeit der universalen Menschenrechte verpflichtet. Philosophie ist für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon niemals nur Spekulation, niemals nur Metaphysik, niemals nur Theorie.

Deswegen empfehlen wir dringend die Lektüre der bewährten und international sehr respektierten NGO “Jesuiten-Flüchtlingsdienst”, die in Syrien ausharrt … nebenbei, in allen Teilen der Welt hervorragende Arbeit für das Wohl der Flüchltinge leistet.

Die Erklärung des Jesuitenflüchtlingsdienstes vom 5. 2. 2015 hat diesen Wortlaut, wer will, möge bitte – auch helfend – Kontakt aufnehmen:

Pressemitteilung des JRS International und JRS Syrien

Link zum englischen Original: http://en.jrs.net/news_detail?TN=NEWS-20150205090424

Den höchsten Preis für die Gewalt zahlen jene, die sich am wenigsten wehren können

Rom / Damaskus, 5. Februar 2015. Die Eskalation der Gewalt seit einigen Tagen, besonders in Aleppo und Damaskus, hat den Jesuiten-Flüchtlingsdienst aufs Äußerste alarmiert. Angriffe haben auch dicht besiedelte Wohngebiete getroffen. In Damaskus hat die Gewalt ein bisher beispielloses Ausmaß erreicht. Die internationale Staatengemeinschaft muss dringend Maßnahmen ergreifen, um die Zivilbevölkerung zu schützen.

In den vier Jahren dieses andauernden Konflikts sind nach Angaben humanitärer Organisationen mehr als 200.000 Syrer und Syrerinnen getötet worden, rund 10 Millionen wurden vertrieben. Weitere 250.000 Menschen sind von der Versorgung abgeschnitten.

„Einige dieser Raketenangriffe haben mit Absicht auf besonders dicht bewohnte Gebiete gezielt, in denen Einheimische und Vertriebene Tür an Tür leben. Neben den furchtbaren Folgen für Menschenleben und die Infrastruktur schüren solche Angriffe auch sektiererischeTendenzen“, so ein Mitarbeiter des JRS in Damaskus.

Die Angriffe behindern humanitäre Hilfe, weil sie Hilfsorganisationen dazu zwingen, ihre Mitarbeitenden zu evakuieren und ihre Arbeit zumindest vorübergehend einzustellen. Inmitten eines solchen Angriffs versuchen Eltern verzweifelt, zu ihren Kindern zu gelangen und riskieren dabei ihr eigenes Leben. Es sind diejenigen, die sich selbst am wenigsten verteidigen können, die letztlich den höchsten physischen und seelischen Preis für die Gewalt zahlen müssen.

„Der fortdauernde militärische Einsatz wird die humanitäre Krise nur vertiefen. Für die Zukunft der ganzen Region muss die internationale Gemeinschaft – einschließlich der umliegenden regionalen Staaten – alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Gewalt zu stoppen.“

Um humanitäre Hilfe wirkungsvoller zu machen, sollten diejenigen zivilen Gruppen mehr Unterstützung erhalten, die in den am stärksten betroffenen Gebieten arbeiten, wo internationale Organisationen nicht mehr hinkommen. Solche syrischen Netzwerke und Organisationen geben der Bevölkerung Hoffnung und leisten dringend benötigte Hilfe mit oft sehr geringen Mitteln. Lokale Akteure einzubinden ist eine Möglichkeit, langfristige Kompetenzen aufzubauen und Syrern zu helfen, der Logik von Gewalt und Krieg zu widerstehen.

Nachbarstaaten haben die größte Verantwortung für den Schutz derer übernommen, die vor dem Konflikt fliehen. Allein der Libanon hat mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen, was die Infrastruktur des kleinen Staats unter großen Druck setzt. Flüchtlinge sind obdachlos und ohne Arbeit, Kinder können nicht zur Schule gehen. Sie brauchen dringend massive technische und finanzielle Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft.

Link zur englischen Pressemitteilung:

http://en.jrs.net/news_detail?TN=NEWS-20150205090424

For further information please contact:

International: James Stapleton

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Jesuit Refugee Service

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JRS Syrien:

Zerene Haddad

Regional Advocacy & Communications

Jesuit Refugee Service

Middle East and North Africa

zerene.haddad@jrs.net

Tel: +961 1 421 000 (ext 4712)

www.jrsmena.org

Der Jesuit Refugee Service (Jesuiten-Flüchtlingsdienst, JRS) wurde 1980 angesichts der Not vietnamesischer Boat People gegründet und ist heute als internationale Hilfsorganisation in mehr als 50 Ländern tätig. In Deutschland setzt sich der Jesuiten-Flüchtlingsdienst für Abschiebungsgefangene ein, für geduldete Flüchtlinge, Flüchtlinge im Kirchenasyl und für Menschen ohne Aufenthaltsstatus („Papierlose“). Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Seelsorge, Rechtshilfe und politische Fürsprache.

Dr. Dorothee Haßkamp

Öffentlichkeitsarbeit

Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland

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Thomas Merton: Sein Kind, seine Liebhaberin, sein politischer Kampf und andere Hinweise

In einer Kurzfassung biete ich hier einige Fakten zu Thomas Merton, keineswegs in der Absicht, ihn irgendwie “schlecht zu machen”. Im Gegenteil: Er wird durch die Fakten noch mehr als einer von uns, sozusagen, Verzeihung, als “normaler Mann/Mensch” sichtbar, gerade weil er Mystiker war und bleibt. Christian Modehn.

Der unbekannte Mystiker Thomas Merton

Von Christian Modehn

Als Thomas Merton 1941 Mönch wird, ist er Vater eines unehelichen Kindes, gezeugt in Cambridge, England. Mertons Tochter stirbt in London bei Luftangriffen der Nazis (1). Der Name der Mutter ist unbekannt, „sie stamme aus einfachen Verhältnissen“ heißt es (2). Als Mönch will Merton 1948 in seinem Buch „The Seven Storey Mountain“ darüber sprechen. Aber der Orden übt Zensur aus (3): Die „Seriosität“ ihres –schon damals – berühmten Mitglieds soll geschützt werden. Als das Buch vorliegt, bekennt Merton: „Das Buch ist gar nicht mehr meins“, (4) es sei zu schlicht und „fromm“.

Merton nennt später sein Kloster „willkürlich, unverständig, entmutigend, gefühllos, verrufen und absurd“ (5). Der vielseitig interessierte Mönch attackiert den Vietnamkrieg; er lädt die Brüder Berrigan, Friedensaktivisten, ein. Bald wird er Kommunist genannt, eine Art Ruf-Mord in den USA.

Eine wunderbare Erfahrung ist 1966 Erotik und Sexualität: Die so innig Geliebte wird in der offiziellen Literatur bloß „Frau M.“ genannt. Dabei ist längst bekannt, dass die Geliebte Margie Smith heißt, (6) eine junge Krankenschwester. Sie lebt heute in Ohio, ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Frau Smith will sich nicht zu Merton äußern, heißt es. Hat jemand Frau Smith bedrängt, zu schweigen? Zu viel sexuelle Liebe eines berühmten Mönchs schadet der Reputation des Klosters.

Im Merton-Buch „Zeiten der Stille“ (Herder) dürfen in der 3. Auflage (2008) keine Liebesbriefe an Margie Smith mehr veröffentlicht werden (7).

1968 hält Merton bei einem Mönchs-Treffen in Bangkok einen Vortrag über „Die mystischen Implikationen bei Herbert Marcuse“ (8). Der Titel wird heute verschwiegen. Merton hält den Marxisten Marcuse für einen „monastischen Denker“. Denn Mönch sei „jeder, der einen kritischen Blick auf die Strukturen der Welt hat“.

Wenige Stunden nach dem Vortrag wird Merton tot in seinem Zimmer gefunden. Der Flügel eines Ventilators liegt auf seinem Körper. Der Benediktinermönch Jean Leclerc fragt: „Wurde er ermordet, wie man auch Martin Luther King ermordete?“ (9) Das hält auch der Theologe Matthew Fox für möglich (10). Merton ist eine entscheidende Stimme gegen den Vietnamkrieg. Sein Tod wird von einer katholischen Nonne, die früher Ärztin war, festgestellt (11). Offiziell heißt es: „Es war ein Unfall“. Eine Autopsie gibt es nicht. Der Leichnam wird von einem US-Militärflugzeug schnell ins Kloster überführt. Der Orden will keine weiteren Nachforschungen anstellen. Die Vermutung, Merton habe aus Verzweiflung über die beendete Liebe Suizid begangen, wird nicht vertieft. Dabei hat er in seiner letzten Rede kurz vor seinem Tod – mysteriös?- gesagt: „Ich verschwinde, ich bin am Ende“ (12)

 

Die Quellenhinweise:

1: http://www.therealmerton.com/tommie.html

auch:

http://www.explorefaith.org/saints/merton.html

2: Robert Royal: http://www.firstthings.com/article/1997/02/003-the-several-storied-thomas-merton

3: http://www.huffingtonpost.com/mark-shaw/famous-merton-book-must-b_b_424440.htm

4: ebd.

5: Orientierung, Zürich, 1984, S 52. 52 mit Verweis auf J. Forest, Thomas Merton. A pictorial Biography, New York 1980, S. 75.

6: http://lifeasahuman.com/2010/mind-spirit/spirituality-and-religion/thomas-merton-sexuality-and-spiritual-denial/

auch: http://content.bangtech.com/thinking/thomasmerton.htm

7: Bernardin Schellenberger, in: „Kontemplativ leben“. Vier Türme Verlag, 2014, dort Seite 225.

8: http://sheila-t-harty-speaker-editor.com/Thomas%20Mertons%20Last%20Talk%20in%20Bangkok%201968.pdf

9.https://web.archive.org/web/20081212155450/http://monasticdialog.com/a.php?id=873

10: in dem Buch „Christian Mystics“, s 383: https://web.archive.org/web/20081212155450/http://monasticdialog.com/a.php?id=873

11: http://boatagainstthecurrent.blogspot.de/2008/12/this-day-in-religious-history-contested.html

12: Wunibald Müller, in: Herder Korrespondenz 1, 2015: S. 31.

Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Fassung in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, klicken Sie hier.

copyright: Christian Modehn

 

 

Die websites wurden von mir gelesen am 29.1., 30.1., 31. 1. und 1.2.2015.

 

 

Haiti 5 Jahre nach dem Beben: Das Volk: Betrogen, vergessen, verachtet

Betrogen, vergessen, verachtet

Haitianer – 5 Jahre nach dem Erdbeben

Von Christian Modehn

Europa hat jetzt noch mehr eigene Sorgen. Nach dem Mord an den Redakteuren von „Charlie Hebdo“ sowieso. Deutschland, Europa insgesamt, befasst sich mehr und mehr mit  Weiterlesen ⇘

Gut leben in einer Gesellschaft jenseits des Wachstums

Gut leben – in einer Gesellschaft „jenseits des Wachstums“

Hinweise zum Salon-Gespräch am 20. November 2014 im „Afrika Haus Berlin“.

Von Christian Modehn

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ lädt am „Welttag der Philosophie“ regelmäßig zu einer besonderen Veranstaltung ein. Diesmal war die Philosophin Dr. Barbara Muraca (Uni Jena, ab 2015 an der „Oregon State University“) bei uns, um über die Perspektiven ihres neuen Buches „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag, 2014, 9.90 Euro) zu diskutieren.

Wir empfehlen dringend die Lektüre dieser komprimierten Studie, die verschiedene Aspekte ausleuchtet und ermuntert, weiter am Thema „dranzubleiben“.

Muss man (in gebildeten Kreisen) immer noch die vielen, allseits bekannten Fakten aufzählen, dass die Wachstumsgesellschaft ganz offensichtlich an ihr Ende gekommen ist?

Muss man an die heutige globale Klimaveränderung erinnern, die durch den unsäglich hohen und stetig steigenden (China, USA usw.) CO2 Ausstoß mit verursacht ist?

Muss man an die schlimmen Folgen der Massentierproduktion, nicht nur für die betroffenen, gequälten Tiere, erinnern? Diese Massenproduktion vernichtet riesige Flächen guten Bodens, der nun – wie in Brasilien, Argentinien und anderswo – nicht mehr zur Ernährung hungernder Menschen, sondern für die Viehfutter – Herstellung der Fleisch genießenden Leute im Norden zur Verfügung steht?

Muss man an die immer bedrohlicher werdende Situation der Trinkwasserversorgung erinnern?

Muss man daran erinnern, dass etwa 2.000 Fässer mit Atommüll, die in deutschen AKWs untergebracht sind, verrosten und beschädigt sind, deswegen tritt Radioaktivität aus (TAZ 22. Nov. 2014, Seite 2). Die AKWs sind bester Ausdruck für einen Staat, der an die Vorteile der permanenten Wachstumsgesellschaft glaubte.

Muss man daran erinnern, wie allen Menschen eingeredet wird, sie seien nicht in erster Linie autonome, freie Personen, sondern zuerst Konsumenten, Wesen also, die alles dran setzen müssen, das wenige verfügbare Einkommen auszugeben für Produkte, die morgen schon wieder entzwei gehen und zu neuen Einkäufen der Produkte multinationalen Firmen führen.

Diese Reduzierung des Menschen auf den Konsumenten, heute so selbstverständlich allerorten daher geredet, ist wohl das Schlimmste, philosophisch (und ethisch) gesehen, was die Wachstumsgesellschaft uns allen heute und seit langem schon antut. Da werden Menschen wesentlich zerstört. Mir ist nicht bekannt, dass die Kirchen sich mit dieser unheilvollen Definition des Menschen als Konsumenten auch nur entfernt auseinander setzen. Die Herren der Kirche diskutieren in Rom, in teuren Unterkünften nach teuren Trans-Atlantikflügen, viel lieber über die Wieder-Verheiratet-Geschiedenen…

Gibt es einen Ausbruch aus diesem Gefängnis der Rollenfestlegung Mensch=Konsument? Den gibt es, und die Wege dort hin, im Plural, weisen in Richtung „Überwindung der Wachstumsgesellschaft“.

Möge übrigens jede Leserin, jeder Leser, die legitimen und richtigen Litanei der Schädigungen der Wachstumsgesellschaft auf seine Art fortsetzen und ergänzen. Diese Litanei wird lang. Sie wird um so dringlicher, wenn man bedenkt, dass die Staatschefs der führenden Nationen (G20) bei ihrem Treffen in Brisbane, Australien, im November 2014, erneut das Ziel formuliert haben: Die Ökononien der reichen Länder sollen bis 2018 noch einmal um 2,1% wachsen, die anderen, die armen, bitte schön um 0,5%. Dieses Vorhaben wurde von der Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, als „Lichtblick“ bezeichnet. Wachstum ist ein Gott, wenn er wächst, gibt es Lichtblicke (für die internationalen Konzerne. Dass die Natur dann sozusagen schwarz sieht, wird bei so viel angeblichem Licht übersehen).

Wir brechen hier diese Gedankenreihe ab und erinnern an unseren Salon am 20. November 2014, erinnern an das Buch von Barbara Muraca. Sie hat in Leipzig beim 4. Degrowth/Décroissance Kongress im September 2014 einen der wichtigen Vorträge gehalten. Sie ist eine der wenigen, die Philosophie mit Kritik der herrschenden Ökonomie verbinden, sie betritt philosophisches Neuland.

Sie bezieht sich auf viele tausend Gruppen, die weltweit bereits jetzt aus der Wachstumsgesellschaft aussteigen, ein gemeinschaftlicher Prozess, ein langer Weg, aber voller Verheißung, weil er auch neue Gemeinschaftsformen stiftet unter den bislang eher individualistisch nebeneinander lebenden Menschen. Man lese als Konkretisierung etwa meinen Beitrag zur internationalen Transition-Bewegung.

Barbara Muraca hat in unserem Salon betont: Wir sollten uns eher an die lebendigen, mutigen Gruppen halten, die die Wachstumsgesellschaft in kleinen Schritten überwinden, als in der Ecke der Jammernden und Klagenden zu verharren, die alles so furchtbar finden in dieser Wachstumswelt. Klaus Töpfer hat darauf hingewiesen, dass das Jammern oft nur eine Entschuldigung fürs Nichtstun ist.

Ich meine: Es gilt auch hier, den eigenen Weg zu gehen, um dann mit anderen die Kraft zu entwickeln, Alternativen zu leben. Die Kraft wächst im Moment des Vollzugs, sie ist nicht vorher schon als solche da, etwa am Schreibtisch des einzelnen.

Barbara Muraca hat das erste Kapitel ihres Buches dem Thema „Postwachstum und die Kraft der Utopie“ gewidmet. Die Philosophin legt allen Wert darauf, Utopie bitte nicht schlicht (vulgär) als Spinnerei und Phantasterei zu verstehen, sondern als konkrete Utopie, also als Versuch, in der Gegenwart jene Tendenzen aufzuspüren, die über den gegenwärtigen Zustand bereits hinausweisen. In der Gegenwart ist sozusagen immer schon Zukunft angelegt, ist latent dabei, ist verborgen anwesend. Ob in der Freilegung dieser latenten neuen Welten eine bessere Zukunft realisiert wird, hängt von der Entschiedenheit der Akteure ab. Die Gegenkräfte sind natürlich heftig. Die multinationalen Firmen suchen ja auch fieberhaft, die alte Welt zu erhalten. Für diese Leute heißt Zukunft unserer Gegenwart nur eine Variante der Gegenwart, nichts Neues also, nur die Aufforderung, dass wir uns den neuesten Schrei an Klamotten, Geräten, Autos usw. kaufen.

Deutlich wurde: Postwachstum ist weder ein Weg zum Verzicht und Askese noch eine bloße Frage der individuellen Entrümpelung oder der voluntary simplicity. Es geht nicht an, Menschen, die heute schon darben, bedingt durch die Strukturen der Wachstumsgesellschaft, nun auch noch Askese zu verordnen. Es sind die Strukturen, die verändert werden müssen. Das schließt nicht aus, dass dabei sozusagen auch religiöse oder spirituelle Ressourcen wachgerufen werden.

Philosophie wird sich noch stärker mit der Verantwortungsethik (Hans Jonas) befassen. Sind wir gesinnungsethisch verpflichtet, Verantwortungstethik in den Mittelpunkt zu stellen?

Barbara Muraca weist in ihrem Buch darauf hin, dass die Wachstumsgesellschaft so tiefe Spuren (Verletzungen?) in unserem Geist und unserer Seele hinterlassen hat, dass so viele Wachstum wie einen Gott betrachten. Diesen Gott gilt es zu entthronen. Genauso spricht Barbara Muraca treffend von einer Sucht, wenn sie von der Bindung so vieler an die Wachstumsgesellschaft spricht. Die Befreiung ist also immer auch eine psychotherapeutische Aufgabe. Welche Psychotherapeuten befreien uns von dieser Wachstums-Sucht? Ist das überhaupt schon ein Thema?

Für alle, die sich mit dem Ende der Wachstumsgesellschaft auseinandersetzen, gibt es ein besonders dringendes Thema: Wenn die Ökonomie weltweit in einem Zustand extrem niedriger Zinsen verharrt, und das ist heute der Fall, „dann könnte es für Investoren langfristig sehr schwierig werden, alle vorhandenen Ersparnisse aufzunehmen“, so Larry Summers, u.a. Wirtschaftsberater Barack Obamas (zit. nach „Die Zeit“, 13. Nov. 2014, Seite 15). Es könnte also zu einer Stagnation kommen, zu einem selbst gemachten Ende der Wachstumsgesellschaft. Dieses Ende würde dann aber von den Politikern usw. gedeutet werden als die große Katastrophe, weil nur wenige die Wachtsumsgesellschaft als ohnehin zu überwindendes System voraus denken und voraus planen. Und keine Perspektiven haben für eine Welt ohne permanentes Wirtschafts-Wachstum.

Es gibt einfach jetzt schon viel zu viel erspartes Geld, die Banken sind sozusagen voll gestopft mit Geld, das fast niemand für Investitionszwecke (Wachstum) leihen will. Alle sparen, das ist auch und vor allem der Deutschen größte „Tugend“. Der Hintergrund: Viele Regierungen, auch in Deutschland, vor allem seit Kanzler Schröder, haben die staatlichen Sozialsysteme (Rentenversorgung usw.) reduziert und den Bürgern empfohlen, doch bitte schön privat fürs Alter zu sorgen. Das war zu einer Zeit, als es noch Zinsen gab und sich das Sparen noch etwas lohnte. Was tun die Bürger aber auch jetzt auf diese neoliberalen Zumutungen? Sie sparen weiter wie verrückt, so verrückt, dass sie jetzt keine Zinsen mehr auf ihren Sparbüchern erhalten. D.h. Ihr gespartes Geld wird Jahr für Jahr geringer, angesichts der Inflationsraten. Die Sparer verarmen. Wer denkt da grundsätzlich nach über das Ende DIESES Wirtschaftssystems? Es ist der blinde Glaube an dieses Wirtschaftssystem, der da wirksam ist und kritisches Nachdenken verhindert.

Wer profitiert von der Wachstumsgesellschaft: 0,004 Prozent der Weltbevölkerung besitzen jetzt 30 Billionen US Dollar, also etwa 24 Billionen Euro. Sie kontrollieren damit 13 Prozent des gesamten Vermögens der Welt. 211.275 Menschen gelten als “ultrareich”, das heißt sie haben ein Vermögen von mehr als 30 Millionen Dollar, von ihnen haben 2325 Menschen mehr als eine Milliarde Dollar als ihr Privateigentum, das selbstverständlich als Wert geschützt und verteidigt werden muss, sagen die Herrschenden. Die Zahl der Milliardäre steigt ständig! (Quelle: “Tagesspiegel”, 22. Nov. 2014, Seite 34).

Wer die Wachstumsgesellschaft heute überwinden will, muss Antwort geben auf die Frage: Wie können die vorhandenen Milliarden ersparter Euros sinnvoll eingesetzt werden, so dass zum Beispiel die vielen Millionen hungernder Menschen oder die vielen Millionen Analphabeten weltweit zu einem Leben finden, das menschenwürdig heißt. Die 25 größten an der Börse notierten deutschen Industrieunternehmen haben inzwischen ein Geldvermögen von insgesamt 77 Milliarden Euro angehäuft, bei Volkswagen sind es etwa 16 Milliarden Euro, bei Siemens 8,2 Milliarden Euro us. (vgl. Die Zeit, 13. Nov. 2104, Seite 14). „Die großen Konzerne verhalten sich auf einmal wie der kleine Sparer. Sie packen ihr Geld aufs Sparbuch“, so “Die ZEIT”. Und die Konzerne lassen es da schmoren, d.h. auf Dauer werden selbst deren Milliarden von selbst schrumpfen. Warum wird nicht an Alternativen gedacht? In humanitäre Projekte investiert? Gibt es keine Verantwortung der Konzerne für das Wohl der Menschheit? Leben wir tatschlich schon in einer Menschenwelt ohne menschliche Verantwortung? Haben die Religionen also total versagt, die ja doch von ihrer Ethik immer irgendwie ein bißchen das Teilen und das Solidarischsein gepredigt haben. Man könnte meinen, dass im christlichen Bereich, um nur bei diesem zu bleiben, tatsächlich eine ziemlich umfassende Wirkungslosigkeit der religiösen Lehren in der Gestaltung der Ökonomie festzustellen ist. Eine schreckliche Bilanz zur Wirkkraft des Religiösen. Natürlich auch zur Bedeutung der aufklärerischen Vernunft. Vielleicht wurde auch seit Jahren in den Kirchen viel zu viel von Ökumene geredet und viel zu wenig von Ökonomie…Aber immerhin, noch gibt es ja kritische Gruppen!

Wie konnte es soweit kommen, dass der Gedanke des Privateigentums und des Gewinns zur obersten Tugend und Haltung verkommen konnte? Wer ist schuld daran noch heute, dass unvorstellbare Dimensionen des Privateigentums, etwa die Milliarden der Milliardäre, als selbstverständlich und zu schützend hingenommen werden? Diese Herrschaften zahlen zudem oft sehr geringe Steuern. Welche Politiker haben diese Gesetze beschlossen, die derartige Privilegien gesetztlich, „demokratisch“, geschaffen haben? Diese Fragen gehören ins Zentrum einer kritischen Bildungsarbeit und Aufklärung, die den Namen noch verdient.

Der Salonabend hat den TeilnehmerInnen gezeigt, angesichts der weltweiten Bewegung derer, die eine andere Welt für möglich halten: Dieser dumme, leider populäre Spruch, von Madame Thatcher propagiert: „There is no alternative“, abgekürzt TINA) ist falsch, ihm gilt es theoretiosch wie praktisch zu widersprechen. Von der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith), die die gesamte Wirtschaft angeblich lenkt, haben wir uns befreit. Jetzt müssen wir uns definitiv von TINA verabschieden. Vielleicht könnte die Kurzformel TAMA heißen: There are many alternatives. In dem TAMA steckt das Wort amare = Lieben.

Also halten wir uns TAMA! In den Alternativen zeigen sich dann Spuren eines guten Lebens, im Sinne eines besseren Lebens als jenes, das uns die Fixierung auf Wachstum und Konsumentendasein zumutet.

Es könnte inspirierend sein an Joshua Wong (Hongkong) zu erinnern, er ist als Student aktiv in der Protestbewegung jetzt in Hongkong. Von ihm stammt das Wort: „Die Zukunft wird nicht von Erwachsenen entschieden werden“. Das Philosophie-Magazin (Ausgabe Dezember 2014, Seite 14) kommentiert diesen zentralen Satz: Der 18 jährige Student der Politikwissenschaften sieht das größte Problem der Gegenwart „in der Welt politisch träger, unmündig gewordener Erwachsener“.

Ein Problem der Sprachregelung bleibt noch: Im englischen und französischen Sprachraum haben sich degrowth oder décroissance längst eingebürgert in der Umgangssprache. Im Deutschen fehlt noch ein entsprechendes Wort, der eine treffende Begriff. Natürlich kann alles umschreiben, ob das Wort „Post-wachstum“ Chancen hat, weite Verbreitung zu finden, wage ich zu bezweifeln.

Wir empfehlen allen Französisch Lesenden die Monatszeitschrift „La Décroissance“. „Le Journal de la joie de vivre“. (Der Titel sagt es: Jenseits des Wachstum entesteht die Lebensfreude). Eine Zeitschrift, die schon über 100 Ausgaben zählt und eine Auflage hat von ca. 25000 Exemplaren, auch an vielen französischen Kiosken erhältlich ist. Die Adresse: 52, Rue Crillon, BP 36003, F 69411 LYON.

www.ladecroissance.net oder www.casseursdepub.org

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

Der Übergang ist möglich: Die Transition-Bewegung führt in eine Gesellschaft jenseits des Wachstums

„Einfach. Jetzt. Machen“

Die ökologische Basis – Bewegung „Transition“

Ein Buchhinweis von Christian Modehn für den NDR, Blickpunkt Diesseits. Juli 2014

Der hier vorliegende Text entspricht weithin dem Sendebeitrag.

„Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es immer so weiter geht wie jetzt“. Mit diesen Worten hat der Philosoph Walter Benjamin schon vor mehr als 70 Jahren eine sich weithin ausbreitende Untergangsstimmung beschrieben. Eine Fortsetzung von Üblichkeiten und Gewohnheiten in der Ökologie, dem Klimaschutz, dem Sozialstaat, auf den Finanzmärkten usw. erleben heute viele Menschen als eine schleichende Katastrophe. Sie führt zu einem Punkt, wo „alles umkippt“ und „aus dem Ruder läuft“. Aber noch ist es zu früh, sich ins bloße Klagen und Jammern zu flüchten, meint eine internationale Basisbewegung: Sie nennt sich Transition, Übergang, Wechsel. Den Aufbuch in eine bessere und gerechtere Welt hält sie noch für möglich. Jetzt hat der Initiator von Transition, der Engländer Rob Hopkins, zusammen mit seinem deutschen Mitstreiter Gerd Wessling, ein neues Buch vorgelegt. Christian Modehn berichtet über eine Publikation die Mut macht, sie hat den Titel „Einfach. Jetzt. Machen!“

1. O TON, Gerd Wessling: Es gibt die Aufforderung: Tu was, engagiere dich, finde Lösungen für das, was dich vor Ort beschäftigt; finde die Leute um dich herum.

Gerd Wessling aus Bielefeld musste nicht lange warten, bis sich Menschen fanden, die ein besseres, ein nachhaltiges Leben in ihrer Stadt schaffen wollen: Einige gründen Lokale, in denen in gemütlicher Atmosphäre gratis Fahrräder repariert werden; andere kümmern sich um Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr, wieder andere pflegen Gemeinschaftsgärten. Oder sie lassen sich von den Gratis – Läden begeistern, in denen im Austausch der Waren gebrauchte Kleider, Bücher, Spielzeug verschenkt werden. Diese Bielefelder Gruppen wissen sich mit der Transition – Bewegung verbunden: Sie tritt in 40 Ländern weltweit gegen die Verschwendung von Ressourcen ein. In mehr als 1000 Städten vertreten, haben sich die „Transition Leute“ verpflichtet, nicht nur weniger CO2 Gifte zu erzeugen, sondern insgesamt einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Das Buch „Einfach.Jetzt.Machen!“ beschreibt auch die Mentalität der Menschen, die in diesen Projekten aktiv sind, berichtet Gerd Wessling.

2. O TON, Gerd Wessling. Es gibt niemand in der Transitionwelt, der dir sagen wird, wie genau die Lösung auszusehen hat bei dir zu Hause. Also das hat ganz viel Selbstermächtigungsaspekt auch zu tun wieder zu sagen: Ja wir können jetzt alle weiter warten, bis irgendjemand für uns irgendwas entscheidet und uns zwingt oder vorschlägt, das umzusetzen. Oder wir fangen einfach mal an, das selber zu tun.

Die Transition Bewegung hat der britische Umweltaktivist Rob Hopkins gegründet. 1968 geboren, hatte er als Ökologe zahlreiche Lehraufträge an Universitäten inne; seine früheren Bücher fanden weltweit schon viel Beachtung. Nun hat er eine Sammlung von Reportagen vorgelegt, sie berichten, wie in England, Spanien, Argentinien, Japan und Deutschland und anderswo eine Welt im Übergang entsteht, von der Verschwendung zur Nachhaltigkeit, von der Profitgier zum Teilen. Viele tausend Menschen haben in diesen Transition – Projekten wieder Mut zum Leben gefunden, also durchaus eine hilfreiche Spiritualität entdeckt, berichtet Tom Hopkins, der selbst viele Sympathien für den Buddhismus hat.

3. O TON, Rob Hopkins: „Viele Menschen, die bei Transition mitmachen, erleben, wie sie wieder neue Hoffnung finden. Denn sie sehen: Das Wesentliche sind nicht irgendwelche Ideen, sondern man erlebt: Die Welt um uns herum beginnt sich schon zu verändern, weil die Gruppen aktiv sind. Das ist hoffnungsvoll. Man kann etwas verändern, diese Überzeugung hat so viel Kraft!“

Die Lektüre des Buches „Einfach. Jetzt. Machen!“ kann die Leserinnen und Leser tatsächlich begeistern. Denn deutlich wird: Alternativen zur bestehenden Konsumgesellschaft mit ihrer Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung sind mehr als ein schöner Traum. Aber es sind nicht etwa nur leistungsorientierte Arbeitsgruppen, die sich für die Transition, den Wandel, einsetzen, sondern vor allem auch Gemeinschaften, in denen das Leben förmlich „Spaß macht“, berichtet Gerd Wessling:

4. O TON, Gerd Wessling: Letztendlich ist der Hauptfocus von Transition, würde ich sagen aus meiner Praxis, tatsächlich Kontakt unter Menschen, guter Kontakt unter Menschen, wertschätzender Kontakt unter Menschen, und auch Kontakt unter Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden. Das allein, nach unseren Beobachtungen, löst oft schon mal viele Probleme auf, vermeidet so ein Lagerdenken, lässt Lagerdenken gar nicht entstehen und macht Spaß. Also: In jedem Projekt sollte man eigentlich mindestens ein Viertel bis ein Drittel der Zeit auf das Feiern und Würdigen verwenden des Projektes. Diese Energie versuchen eben auch in die Transitionwelt zu bringen.

Zum Buch: „Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“. Von Rob Hopkins. Oekom Verlag München 2014. 189 Seiten. 12,95 €.

 

 

Über die Reformation hinaus: Für eine Ökumene der Zweifler und Skeptiker

Über die Reformation hinausgehen: Für eine Ökumene der Zweifler und Skeptiker

Einige neue Thesen und Vorschläge  zum Reformationstag (31. 10. 2014)

Von Christian Modehn

An Gedenktagen sollte man denken. Auch heute. Und zwar Neues denken, Neues, d.h. auch bisher eher Ungesagtes oder an den Rand Gedrängtes. Dann wird man sich der Grenzen des Vergangenen und der bisherigen Interpretationen des Vergangenen bewusst. Man will weg aus Engführungen und kleinlichen Debatten der Spezialisten.

Das gilt auch für die Erinnerung an den Reformationstag 31.10. 2014:

Für den Philosophen G.W.F. Hegel war die Reformation Luthers „die Hauptrevolution“, so schreibt er in seiner „Philosophie der Geschichte“. Hegel teilte die Welt-Geschichte nicht nur „nach Christus“, sondern zusätzlich noch „nach Luther“ ein. Natürlich spielen bei Hegel ideologische und politische Bindungen seiner Zeit, des frühen 19. Jahrhunderts, hinein. Einen wahren Aspekt hat diese Interpretation der Lutherischen Reformation als grundlegender Umwandlung, als Revolution, aber doch. „Jeder Mensch hat nun an sich selbst (also in sich selbst, also in seinem eigenen Geist CM) das Werk der Versöhnung (zwischen Gott und Mensch CM) zu vollbringen“. Der einzelne, „das Subjekt“, ist also unendlich aufgewertet, ist unendlich wichtig, denn „in ihm ist Gott“. Worte, die an Meister Eckart erinnern, ihn erwähnt Hegel. Der Mensch ist also in gewisser Hinsicht mehr als bloßer Mensch. In seinem Geist ist das Unendliche lebendig zugegen. Alles Transzendieren des menschlichen Geistes geschieht nur kraft dieser „Dynamik“.

Gott ist in allen, so die metaphysische Aussage Hegels bzw. Luthers. Noch einmal: Diese Perspektive gilt für alle Menschen. Heutige Theologie und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auf andere Weise können diese Aussage nicht mehr nur auf den kleinen Kreis der Getauften beziehen. Vielmehr: Alle Menschen sind – in christlicher Deutung, die sich natürlich den anderen nicht aufdrängt – mit dem einen Gott und in dem einen Gott verbunden. Jeder und jede auf unterschiedliche Weise, je nach der Kultur, Sprache, Religion usw…

Gott in allen und im allem: Das ist für religiöse Menschen eine Perspektive zum Reformationstag 2014 und später. Sie befreit von den langweiligen innerkirchlichen und „ökumenischen“ Debatten, sie befreit von dem endlosen Streit um Studien und Konsens-Papiere zugunsten der Kircheneinheit, die Theologenkommissionen seit Jahrzehnten produzieren. Dabei wecken sie den Eindruck, Kircheneinheit, was man auch immer darunter verstehen mag, sei Sache von theologischen Gremien, also Sache des Herrschaftswissens einiger Hierarchen und ihrer Haustheologen.

„Gott in allen und in allem“ gilt, und das wäre das „Neue“ als eine Provokation, auch für Menschen, die sich gottlos oder agnostisch nennen. Diese Wahrnehmung und Interpretation der anderen, der Atheisten und Agnostiker, ist keine Arroganz religiöser Menschen, keine Kampfansage, kein Auftrag zur Bekehrung in die Kirchen hinein. Diese Wahrnehmung der „anderen“ kann lediglich behilflich sein, das Denken der sich irgendwie christlich nennenden Menschen friedlich zu bestimmen. Der einst feindlich betrachtete Atheist wird dann der Gesprächspartner, der Mensch, den es absolut zu respektieren gilt.

Aber über diese bloßen Dispute zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden muss man hinauskommen, nette Diskussionen finden als eine Art freundliche Konfrontation von Unterschieden schon seit Jahren statt. Etwas anderes ist freilich die wissenschaftlich fundierte Debatte unter Philosophen. Aber die gut gemeinten christlich–atheistischen Gespräche als Konfrontation der fixierten Meinungen sind in dieser Form eher überflüssig. Das spürte man deutlich bei den Dialogen „Vorhof der Völker, die der Vatikan mit Atheisten (etwa auch in Berlin) organisierte.

Jetzt kommt es darauf an, im Rahmen einer erweiterten, neuen Reformation, die Gemeinsamkeit von Glaubenden und Nichtglaubenden zu erkennen und praktisch zu leben. Denn Glaubende und Nichtglaubende (Atheisten usw.) haben als gemeinsame (!) geistige Basis, dass sie Suchende, Fragende, Zweifelnde sind. Denn auch religiöse Menschen, auch Christen, „haben“ ja niemals Gott, sind immer auf der Suche, fragend, nach dem göttlichen Gott…Es geht also um den Dialog und die Praxis unterschiedlicher Zweifler und Suchender. Es geht letztlich darum, am jeweiligen Zweifel noch einmal zu zweifeln, um daraus eine gemeinsame geistige, philosophische oder möglicherweise neue religiöse Ebene zu entdecken. Und um gemeinsame politische Aktionen zu starten, um gegen die militanten Nihilisten, diese Mörderbanden, die Zerstörer aller Kultur und Lebendigkeit, anzugehen. Es gilt also, eine Ökumene der Zweifler, der Humanisten, ob religiös oder nicht, zu fördern und vor Ort zu leben und zu beleben.

Daneben drängt sich eine weitere Thematik auf im neuen Gedenken an die Reformation Luthers. Bisher wird eben fast nur mit viel Aufwand an Luther erinnert und leider nicht ausführlich an die mutigen Theologen, die ihm sozusagen den Mut gaben und den Boden bereiteten, etwa Petrus Valdes und die Valdenser oder Jan Hus aus Prag. Auch die Konzeptionen eines humanistischen Christentums durch Erasmus und später durch die Remonstranten (und ihre heutige freisinnige Kirche) stehen absolut im Hintergrund. Unverständlich bleibt auch, warum nach dem Ende der DDR fast kein Theologe und Kirchenmann (keine Kirchenfrau) es mehr wagt, Thomas Müntzer, den großen Zeitgenossen Luthers, diesen Theologen der sozialen Befreiung, überhaupt zu erwähnen. Wo bleiben die -kritischen- “Müntzer Tage” oder “Müntzer Kongresse” bei all den vielen Luther-Feierlichkeiten?

Der Religionsphilosophische Salon wird jedenfalls einen Salon über das humanistische Christentum und über Thomas Müntzer im Jahr 2015 veranstalten.

Coypright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet Perspektiven für ein „gutes Leben“. Eine Buchempfehlung

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet grundlegende Informationen und Perspektiven für ein „gutes Leben“

Hinweise auf ein wichtiges Buch von Christian Modehn

Es geht um die Befreiung von einer krankhaften Abhängigkeit und lebensfeindlichen Bindung: „Wie bei einer Sucht, die tief in unsere kollektive Vorstellungswelt eingedrungen ist und alle Aspekte des Lebens durchdringt, müssen wir von der durchdringenden Wachstumslogik mühsam befreien“.

Mit diesen Worten beschreibt sehr treffend die Philosophin Barbara Muraca (Universität Jena, ab 2015 Oregon State University) in ihrem neuen Buch „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag 2014) die große Herausforderung von heute und für die nächsten Jahre. Der von der kapitalistischen „Ordnung“ heftig verbreitete Glaube an das ständig fortschreitende und immer währende ökonomische Wachstum der Wirtschaft ist ein Wahn. Das “Immer mehr haben wollen“ erreicht nur eine Minderheit der Weltbevölkerung, der große Rest bleibt im Elend, die Natur wird total zerstört. Wer es noch nicht wahrhaben will: Klar ist und evident: Der Glaube an das Wachstum hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Menschen; auch die Seele leidet unter dieser von den Herren dieser Wirtschaft heilig gesprochenen Gier; es leiden die Gesellschaften, es leidet das friedliche Miteinander in der einen Welt der einen Menschheit. Wachstum in Permanenz erzeugt Krieg. Das wussten schon die weisen Lehrer des Zen-Buddhismus.

Debatten über „Wege aus dem Wachstumswahn“ werden etwa bei den verschiedenen internationalen „Degrowth-Konferenzen“ ausgetauscht, die sich der Überwindung der Wachstumsideologie widmen, wie jetzt im September 2014 in Leipzig. Diese Tagung mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen hat Barbara Muraca mit-organisiert.

Das neue Buch von Barbara Muraca bietet eine konzentrierte und klare Übersicht zum Thema. Neue Informationen und neue Literaturhinweise werden den „Aktivisten“ in den verschiedenen wachstumskritischen Bewegungen geboten; vor allem aber sind die Informationen bestens geeignet, sehr viele Menschen für die Überwindung der Wachstumsgesellschaft „wach zu machen“. Insofern gehört das Buch in weiteste Kreise! Es gilt, sich von einem „stillschweigenden Grundkonsens“ unserer Gesellschaften zu befreien, der sich in den Köpfen festsetzen will als unumgängliche „Alternativlosigkeit“.

Barbara Muraca betont, dass die Suche nach einer politischen und ökonomischen Gestaltung ohne Wachstum durchaus mit dem Begriff Utopie zu denken ist. Dabei versteht sie Utopie als „Öffnung von Denk- und Handlungsräumen“, die aus der technokratischen Welt des „immer mehr Habens“ herausführen. „Das Reale ist kein unveränderlicher Block von immer gleichen vorgegebenen Strukturen, sondern offen und in stetigem Wandel“ (S. 16). Utopie ist also alles andere als ein traumhafter, illusorischer Begriff; er enthält die Kraft, das Gespür für das „Real – Mögliche“ zu entwickeln. Und „real möglich“ ist eine Gesellschaft ohne (tödliches) Wachstum. „Utopie bedeutet, dass Wandel durch menschliches Tun hervorgebracht werden kann“ (S. 21).

Für viele Leser in Deutschland wird es hoch interessant sein zu erfahren, dass die ersten Impulse für eine Welt – Gesellschaft ohne Wachstums, im Sinne der Abnahme oder Reduzierung von Wachstum, in Frankreich zu finden sind, in der „Dé-Croissance-Bewegung“, seit 1973 durch André Amar zur Diskussion gestellt. Dazu bietet das Buch hilfreiche Informationen, auch zu dem wegweisenden Philosophen Serge Latouche. Das Thema ist klar: Es geht um eine „gut durchdachte Schrumpfung (Décroissance) in den westlichen Industrieländern“. Inzwischen wird über dieses Konzept mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen debattiert. Die äußerst rechtslastige Nouvelle Droite in Frankreich hat sich – etwa über ihren Meisterdenker Alain de Benoist – formal dieser Begrifflichkeit bemächtigt, sie preist nun die klassischen Werte des Verzichts, der Bescheidenheit, der altvertrauten Familie, der Bodenständigkeit, der nationalen Kultur, der westlichen Welt im Anschluß an eine Kritik der (globalen) Wachstumgesellschaft. So kann eine demokratische Bewegung auch noch missbraucht werden.  Auch die Kritik an der Wachstumsideologie durch den konservativen Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel (etwa sein Buch „Exit“) wird von Barbara Muraca einer Kritik unterzogen. Miegel setzt eindeutig nur auf Wertewandel „statt auf Umverteilung und gesellschaftlicher Transformation“ (S. 61).

Die demokratische und politische Bewegung gegen das Dogma des permanenten ökonomischen Wachstums ist inzwischen in Spanien, Italien und vielen anderen Ländern in vielen Basisinitiativen lebendig. Wichtig ist auch, dass die indianischen Völker etwa Ecuadors das (uralte) Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) in den Mittelpunkt stellen und sogar für eine Verankerung dieses Konzepts in der Verfassung sorgen konnten (s.S. 46ff). Leider hat sich die ökonomische Macht des Nordens (USA, Europa) als stärker erwiesen: Ecuador hat jetzt große Flächen des Regenwaldes für Erdölbohrungen freigegeben. „Buen vivir“ ist in Lateinamerika leider noch mehr Projekt als Realität.

In Deutschland, so Muraca, hat vor allem der Ökonom Nico Paech „dafür georgt, dass der Begriff Postwachstum breit bekannt wurde“ (S. 35). Auch über sein Konzept wird in dem Buch debattiert.

Das Buch zeigt eindringlich: Die Suche nach einer praktischen Überwindung der Wachstumsgesellschaft ist nicht eine aktuelle Aufgabe neben vielen anderen. Die Überwindung des „Götzen Wachstum“ (S. 51) geht ins Grundlegende, „sie fordert eine radikale Veränderung der Machtstrukturen und wird nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zu realisieren sein“ (s. 87). Das andere Leben ist bereits unter uns, wie es die Occupy – Bewegung, die „Indignados“ in Spanien und anderswo zeigen: Es gibt überall die Kooperativen, Tauschbörsen, Reparaturwerkstätten, gemeinsam verwaltete (Stadt-) Gärten usw.. „Solche Experimente sind Laboratorien für gesellschaftliche Veränderungen, durch die viele Menschen motiviert werden, für Demokratie zu kämpfen“ (S. 89).

Zum “Welttag der Philosophie” am 20. November 2014 wird Barbara Muraca über “Gut leben” im Kulturzentrum “Afrika-Haus” in Berlin, Bochumer Str. 25 sprechen. Beginn um 19 Uhr. Eine Veranstaltung zusammen mit dem Wagenbach Verlag. Weitere Hinweise folgen.In jedem Fall schon jetzt: Dazu herzliche Einladung!

Barbara Muraca, „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach Verlag Berlin, August 2014, 94 Seiten. 9.90 Euro.