Von der Erschaffung der Welt durch Gott: Aktuelle Deutungen des Mythos.

Gott grenzt das Übel und das Ungeheuer nur ein, er begrenzt es. Das ist seine Schöpfungtat.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Über die Erzählungen, also die Mythen der Bibel im Buch „Genesis“ wird noch heute gestritten. Etwa über die Frage: Wie ist die Weisung Gottes an die Menschen zu verstehen, sich die „Erde untertan“ zu machen? (vgl.Gen 1,28, Menschen dürfen Tiere töten Gen 9,1-4). Wird da eine totale Herrschaft der Menschen über Natur und Tiere von Gott gutgeheißen? So wurde der Text oft verstanden: Der Mensch ist der „Unterwerfer der Erde“ (Gen.1, 28). Jetzt bemühen sich Theologen und Kirchenleitungen, diese Herrschaft des Menschen über die Natur korrekt zu verstehen und damit die Herrschaft des Menschen erheblich einzuschränken. Die Öko-und Klimakatastrophen haben die Theologen also auch etwas aufgeweckt.

2.
Es gilt insgesamt, dass endlich viele theologisch Ungebildete mehr über die biblischen Schöpfungsmythen lernen, theologische Naivität darf nicht länger das Denken verstören. Es gilt also zu lernen, beim Thema „Schöpfung der Welt und der Menschen durch Gott“. Davon erzählt der Mythos im Buch Genesis gleich zweimal. Das Thema war lange ein Kampfplatz zwischen naiver Theologenherrschaft und Natur-Wissenschaft. Heute wird selbst in populären Aufsätzen zum Thema Schöpfung von katholischen Theologen betont: In den biblischen Mythen der Genesis ist überhaupt nicht die Rede von einem absoluten Anfang der Welt, also einer Art Schöpfung aus dem Nichts, klassisch „creatio ex nihilo“. Jegliches „wortwörtliches Verstehen“ der Bibel, auch der Mythen im Buch Genesis, ist schlicht und einfach Unsinn. Wer als evangelikaler Fundamentalist solche Bibel – Deutungen verbreitet, trägt nur zur Verwirrung und Verblödung der Menschen bei. Leider sind diese Leute auch (rechtsextrem) politisch aktiv.
Zur kritischen Information zu einigen Aspekten siehe die Aufsatzsammlung „Christlicher Schöpfungsglaube heute“ (Grünewald-Verlag 2020).

3.
Die neun Beiträge in dem Buch wollen auch eine zeitgemäße Schöpfungsspiritualität fördern.
Mir erscheint es aber wichtig, hier eine zentrale Erkenntnis in den Mittelpunkt zu stellen:
Der Begriff Schöpfung der Welt durch Gott will keine kausalen Zusammenhänge aussprechen. Also: Gott ist nicht der „Macher“ der Welt. Er ist „nur“ der Ordner des vorgefundenen Chaos. „Der erste Vers der Genesis bezeichnet NICHT den Anfang der Schöpfungstätigkeit Gottes“, schreibt der katholische Theologieprofessor Georg Steins (S. 19). „Mit dem Erschaffen ist also NICHT die Idee eines absoluten Anfangs verbunden, sondern der AUFBAU GEORDNETER VERHÄLTNISSE“ (ebd., Hervorhebungen von CM).
Georg Steins betont weiter: Gott findet also (um in dieser mythologischen Redeweise zu verblieben CM) ein tohu wabohu vor, eine Welt der Finsternis und Unordnung lebensfeindlicher Mächte. Und was tut Gott in dieser Interpretation des Mythos? Gott zieht (nur) Grenzen, er hegt diese schädlichen Gefahrenquellen (nur) ein. Diese Eingrenzung des Übel sei die entscheidende Schöpfungsaktivität Gottes, sagt Steins: „Das Chaotische wird zu einem Teil der Schöpfung und verliert an bedrohlicher Macht“ (S. 21). Oder noch einmal: „Das Chaotische, tohu wabuhu, muss nicht vernichtet, sondern eingefügt und eingehegt werden“ (S. 22) „Nicht von der Idee der Herstellung aus wird Schöpfung konzipiert, sondern in der Perspektive des Anordnen und Ordnens“ (S. 23). Für diese Erkenntnis bietet Georg Steins seine eigene, neue Übersetzung von Genesis 1,1-4 an, mit entsprechenden Zeilenverschiebungen:
„Anfangs
als Gott den Himmel und die Erde schuf –
… die Erde war unwirtlich und unheimlich,
… Finsternis über der Chaosflut
… Gotteswind hin und her fahrend über der Wasserfläche
Sprach Gott…“

4.
Die Autoren des Buches Genesis haben also offenbar kein Interesse zu erklären, woher die ungeordnete Welten-Masse denn selbst stammt. Diese findet Gott (immer noch als der Allmächtige gedacht?) vielmehr vor. Georg Steins beantwortet nicht die Frage: Wer hat dann diese ungeordnete chaotische Masse „geschaffen“, gab es sie schon „vor dem Auftreten Gottes“, möchte man wissen. Oder ist dieses Fragen schon vermessen? Der katholische Theologe Steins gibt darauf keine Antwort. Die Autoren dieses Textes der Genesis lebten im babylonischen Exil und mussten in ihrer Niederlage einen starken Gott konzipieren, einen das Chaos ordnenden Gott erschaffen! Gott zur Stunde Null im Weltganzen interessierte nicht.
Ebenso vermeidet er eine Auseinandersetzung mit der Erbsünde, dieser Ideologie des alt gewordenen heiligen Augustinus, die in der kirchlich noch immer gelehrten Form in den Mythen der Genesis keine Begründung findet.

5.
Das im Mythos angesprochene Bild der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen erwähnt Georg Steins. „Sie ist funktional verstanden, nicht essentiell. Nicht etwas IM Menschen macht ihn gottgleich, sondern seine Rolle in der Schöpfung, konkret die umfassende Sorge für die Ordnung“ (S. 24).
Da hätte meines Erachtens eine Auseinandersetzung mit Hegel gut getan, für den klar ist: Nur weil Gottes Geist IM Menschen, in dem endlichen Geschöpf, lebt, kann überhaupt eine Versöhnung von Gott und Welt gedacht werden. Die Welt ist zwar das „Andere“ zu Gott, aber ein Anderes, das mit Gott eng verbunden, „identisch“ ist, sagt Hegel. Wäre das anders, könnte Gott nicht als Gott gedacht werden, denn dann hätte er als unvollkommener Gott noch eine gottlose Welt stets neben sich… „Es ist unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem ihm Fremden, (also der Endlichkeit des Menschen, CM) identisch gesetzt hat“, sagt Hegel in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Suhrkamp Ausgabe Band 17, S. 292.

6.
Auch ein Beitrag über die Enzyklika von Papst Franziskus „Laudatio si“ (2015) von Ottmar Edenhofer und Christian Flachsland ist in dem genannten Sammelband enthalten. Dieser Aufsatz endet mit dem Kapitel „Herausforderung an die Kirchen“, dazu gehört auch die „Überprüfung kirchlichen Wirtschaftens“ (S. 48). Dabei beklagen die beiden Autoren die geringen Befugnisse der Umweltbeauftragten in den Kirchenleitungen.
Die Autoren hätten auch eine ausführliche Forderung formulieren sollen: Wie kann der Vatikan ab sofort mit der Vielfliegerei der Bischöfe und Kardinäle umgehen, und sie wenn möglich abschaffen, wenn ständig irgendwelche Konferenzen mit dem Papst und der vatikanischen Bürokratie stattfinden und sich Bischöfe z.B. aus Chile oder dem Pazifik in Rom einfinden müssen. Die Frage drängt angesichts einer in nicht so fernen Zeit bevorstehenden Bestattung des EX-Papstes Benedikt XVI. und einer neuen Konklave: Wieviel CO2 Emissionen geschehen dann durch diese Herren Kardinäle in ihrer Hin und Her Fliegerei. Erst wenn solche Fragen ernsthaft diskutiert werden in theologischen Büchern über die „Bewahrung der Schöpfung“, können diese Texte wirkliche kritische Aufmerksamkeit finden.

Stefan Voges (Hg.), “Christlicher Schöpfungsglaube. Spirituelle Oase oder vergessene Verantwortung?“ Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern, 2020, 153 Seiten, 32 Euro.

Die einzelnen Beiträge:
Georg Steins
Wovon sprechen die biblischen Erzählungen „am Anfang“?

Ottmar Edenhofer/Christian Flachsland
Laudato si’. Die Sorge um die globalen Gemeinschaftsgüter

Andreas Benk
Schöpfung als Befreiung
Plädoyer für eine visionäre Schöpfungstheologie

Klaus Müller
„Schöpfung“ – philosophisch gegen den Strich gebürstet

Gotthard Fuchs
„Die ganze Welt, Herr Jesu Christ … in deiner Urständ fröhlich ist“
Thesen zur christlichen Schöpfungsspiritualität

Bärbel Wartenberg-Potter
Plädoyer für eine grüne Reformation

Daniel Munteanu
Schöpfungsspiritualität als kosmische Liturgie

Franz Neidl
Die universale Schöpfungsgemeinschaft
Eine Botschaft in zwei Varianten, mit Blick auf das Verbindende

Stefan Voges
Tiere, unsere Mitbewohner im gemeinsamen Haus
Eine Konkretisierung von Laudato si’ in der Spur einer theologischen
Zoologie

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Heiliges Privat-Eigentum. Weil einige viel zu viel Privateigentum haben, müssen heute 3 Milliarden Menschen hungern.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.10.2022. ZUR “BÜRGERBEWEGUNG FINANZWENDE”: Siehe die Informationen am Ende dieses Beitrags (Nr.11)

Das Leitwort: “330 Milliarden US-Dollar könnten helfen, um Hunger und Armut zu beenden, laut einer von der deutschen Regierung unterstützten Studie. Dies betont Thomas Rath,  vom “Fond für landwirtschaftliche Entwicklung”, IFAD, im Tagesspiegel, 18. Oktober 2022. Und ich füge hinzu: Diese 330 Milliarden könnten die vielen Milliardäre zusammen mit solidarischen Millionären heute weltweit mit Leichtigkeit aufbringen. Und ethisch korrekt gesagt: Wenn diese Herren Milliardäre ein soziales Gewissen hätten… Und eine entsprechende politische Debatte geführt würde. Aber die demokratischen Politiker sind dazu zu feige…

1.
Die Fixierung aufs Privat-Eigentum ist eine der leidenschaftlichsten Energien der meisten Menschen, sie ist mit grenzenloser Gier und Habsucht verbunden. Und die äußern sich aggressiv, kriegerisch, tötend. Auch Nationalismus ist Gier, wird zum Wahn, siehe Putin, siehe Xi. Wer viel Eigentum hat, etwa die Millionäre und Milliardäre, denkt bestenfalls daran, mit den üblichen Spenden das elende Leben von hungernden Millionen Menschen zu verbessern. Dabei könnte, pauschal gesagt, die gesetzliche Halbierung des Privateigentums von Milliardären den Hunger in der Welt besiegen, abgesehen von vielen anderen Wohltaten für die Menschheit. Aber nein, diese gesetzliche Halbierung will fast niemand, spricht fast niemand an, so krepieren Millionen Hungernder weiterhin und die Milliardäre zählen ihr Geld. Geld als Geldvermehrung ist ihr Lebenssinn. Die Welt dieser Leute ist auch erbärmlich, diese Leute sind ausgehungert an Geist und humaner Vernunft.

2.
Wer philosophisch – kritisch denkt, von christlichem Geist des Teilens soll gar keine Rede mehr sein, weil selbst die reichen Kirchen auch meist zu bescheidenen Spenden bereit sind, wer also philosophisch-kritisch denkt, beachte diese Erkenntnis: Sie wird von der seriösen und gar nicht marxistisch angehauchten „Enzyklopädie Philosophie“ mitgeteilt: „Es gibt keine pauschale Rechtfertigung für die eigentumsrechtlichen Strukturen der gegenwärtigen Marktgesellschaften… Es gibt jedenfalls wohl erworbene und schlecht erworbene Eigentumsrechte. Und auch die wohl erworbenen Eigentumsrechte müssen dem politischen Zugriff offen stehen, wenn sie der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung schädlich sind, wie es sich in der Geschichte der Übergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft gezeigt hat“, „Enzyklopädie Philosophie”, Band I, S. 454, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, der Beitrag „Eigentum“ ist verfasst von Helmut Rittstieg.
Der Psychoanalytiker und Philosoph hat daran erinnert, welche seelischen Schäden die Fixierung aufs Eigentum bewirkt, man denke an sein Werk „Haben oder Sein“, in dem er klar die Alternative formulierte: Erstarrtes Ego-Leben in der Fixierung aufs Haben (Eigentum) ODER lebendiges Miteinander im Sein, in der umfassenden Bejahung des geistigen Lebens und des Teilens. Wer allen Wert aufs Eigentum, aufs Haben legt, meint: Ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet meine Identität. Ich kontrolliere dann alles, was ich habe, auch Menschen. Der aufs Eigentum fixierte Mensch definiert sich durch seine Bindung an die Objekte, ans Eigentum. Er verliert sich selbst als Subjekt.

3.
Trotz dieser üblichen Verbindung von Gewalt und der maßlosen Liebe zum Privat-Eigentum bleibt für die reiche Welt, inklusive der Frommen und der religiösen Führer aller Religionen, Eigentum wichtigster Lebenssinn. Die Privateigentümer legen wert auf ein undifferenziertes Verständnis des Eigentums, es wird so getan, als wäre das maßlose Privateigentum der Milliardäre genauso ein unstrittiger Wert wie das selbstverständliche Eigentum der Bürger: Diese nutzen ihr bescheidendes Privateigentum als persönliches Gebrauchseigentum nur für die individuelle Lebensgestaltung. Ethisch steht fest: Nur dieser überschaubare, praktische Gebrauch meines Eigentums zur privaten Lebensgestaltung ist ethisch sinnvoll. Eigentum ist nicht automatisch und in jedem Umfang und immer etwas Gutes, eine geradezu banale Aussage, die längst nicht selbstverständlich ist. Das Eigentum muss, das lehrte schon Aristoteles, in den Dienst des Lebens aller Menschen gestellt werden. Privateigentum in extremem Auswuchs darf nicht das Menschenrecht aushebeln, dem folgend alle Menschen Anspruch auf menschenwürdiges Leben haben, und nicht nur einige. Darauf haben jetzt u.a die Philosophin Martha Nussbaum und der Ökonom Amartya Sen immer wieder hingewiesen.

4.
Falls man noch christlich interessiert ist im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth, könnte als Motto zu diesem philosophischen Hinweis ein Zitat des außergewöhnlichen sozialkritischen Bischofs und Theologen Johannes Chrysostomos (349-407) stehen: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”. Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (2020), dort unter Nr. 119 mit dem Titel: “Über die Geschwisterlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (349-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt… Bekanntlich haben sich die Kirchenleitungen nicht an die Weisungen von Johannes Chrysostomos gehalten… Die Päpste haben die Etablierung des Adels geduldet, sie haben die oberen Klassen des Klerus selbst dem Adel reserviert, sie haben die Gier der Priester zum üblichen Alltag gemacht und Armutsbewegungen wie die Franziskaner erst dann geduldet, als diese sich den Päpsten unterwarfen. Und heute? Die Gehälter der Bischöfe und Erzbischöfe, der Landesbischöfe und Generalsuperintendenten in Deutschland sind auch Beweis, dass es diesen hohen Herren und auch protestantischen kirchenleitenden Damen doch sehr auf ein sehr reichlich bemessenes Eigentum ankommt. Kürzlich hat Kardinal Marx aus seinem „Privateigentum“ 500.000 Euro in eine soziale Stiftung umgewandelt, aus Ersparnissen seines Gehaltes von 13.654,43  Euro monatlich kann solch eine Summe kaum entstehen… Leider hat Kardinal Marx in seiner Großzügigkeit unter seinen „Mit-Oberhirten“ keine Nachfolger gefunden. (Quelle: https://juedischerundschau.de/article.2020-05.corona-elftausend-euro-mannbedford-strohm-fordert-verzicht-von-anderen.html)
5.
Die Gesellschaft und die Staaten sind jetzt, in diesen Zeiten vielfältiger Krisen gespalten, katastrophal gespalten, nicht Kooperation, sondern Feindschaft ist die Ideologie der um Eigentum an Land, Bodenschätzen, Einflusssphären kämpfenden Staaten. In den demokratischen Gesellschaften kämpfen die vielen prekär lebenden, eigentumslosen Menschen mit den eher wenigen, die auch in Krisenzeiten ökonomisch privilegiert dastehen. Weltweit wird die ungerechte Verteilung des Eigentums immer bedrohlicher: Arme gegen Reiche, Millionen Bettelarmer gegen einige tausend Milliardäre. Millionen Menschen mit einem Dollar pro Tag stehen schwach und ausgehungert gegen Leute mit einer Million Dollar pro Tag als „Taschengeld“. „Die armen Länder sollten Anrecht auf einen Teil der Steuern multinationaler Konzerne und der Milliardäre dieser Erde haben. „Denn der Wohlstand der reichsten Akteure ist völlig dem globalen Wirtschaftssystem und der internationalen Arbeitsteilung geschuldet“ (Thomas Piketty, „Ungleichheit“, C.H.Beck Verlag 2022, S. 232). Die „reichen Länder verdienen an den armen Ländern aufgrund des von der Welt der Reichen bestimmten kapitalistischen Wirtschaftssystems.

6. Erinnerung an einige Fakten:
Die internationale Hilfsorganisation OXFAM schreibt am 12.1.2022:
Die Reichsten verdoppeln ihr Vermögen – während über 160 Millionen zusätzlich in Armut leben. Die einen verdienen, die anderen sterben: Wie die Covid-19-Pandemie Ungleichheit befeuert. Während der Covid-19-Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Gesamtvermögen verdoppeln, auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar.
Ungleichheit ist zudem eine Frage von Leben und Tod: Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, etwa weil sie keine adäquate medizinische Versorgung bekommen. Oxfam fordert von den Regierungen weltweit, Konzerne und Superreiche zur Finanzierung sozialer Grunddienste stärker zu besteuern, für globale Impfgerechtigkeit zu sorgen und die Wirtschaft am Gemeinwohl auszurichten“. (Quelle: OXFAM, 12.1.2022)

7.
Zur dramatischen Nahrungsmittelkrise: „Wir entfernen uns immer weiter von der Beendigung des Hungers“. Zum Welternährungstag am 16. Oktober 2022 zeichnet sich ab, „dass die globalen Ernährungssysteme versagen. Die Lage verschlechtert sich drastisch“. (Tagesspiegel 16.10.2022)
Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande, in DEUTSCHLAND, derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.
Die Öffentlichkeit weiß mehr über Armut und Arme als über die Reichsten, sie sind diskret. Es gibt Armutsforschung, aber fast keine Reichtums Forschung. Das kann sich ändern, wenn sich mehr Leute informieren: Über die Top 20 deutschen Milliardäre: LINK https://www.merkur.de/wirtschaft/reichste-deutsche-vermoegen-geld-deutschland-milliardaere-gehalt-thiele-aldi-lidl-sap-plattner-bmw-albrecht-zr-90101849.html
Die reichsten Milliardäre weltweit: LINK: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181482/umfrage/liste-der-top-25-milliardaere-weltweit/

8.
Wie kann Gerechtigkeit gesetzlich geschaffen werden in einer Welt zunehmender Ungleichheit in der Verteilung des Privateigentums? An die gesetzliche Halbierung des Milliardärs-Eigentums ist kaum zu denken. ABER:
Die Frage wird eher selten gestellt. Wer sind konkret namentlich diejenigen, die über eine offenbar allmächtige Lobby auch weltweit verfügen und über bestimmte, sich in Europa liberal nennende Parteien durchsetzen, um ihren luxuriösen Luxus-Standart gesetzlich festschreiben lassen: Also Parteien, die als Vertretungen eher von Minderheiten so mächtig sind, dass sie etwa in Deutschland gerechte Vermögenssteuer verhindern und gerechte Erbschaftssteuer, gerechte Verfolgung von Milliardären, die sich als Oligarchen aus autokratischen Regimen in Demokratien niederlassen usw.

9.
Der Religionsphilosophische Salon befasst sich mit dem Thema „Eigentum“, weil Privat-Eigentum, in welcher Form auch immer, in weiten Kreisen als heilig gilt, also als unantastbar, als verehrungswürdig, als Phänomen, vor dem man förmlich niederkniet, dem man als Geld und als Wachstum des eigenen Vermögens alles opfert … an eigener Lebens-Zeit und geistiger Energie: Dieses Privateigentum ist also göttlich. Eigentum also ein dringendes religionsphilosophisches Thema. Ein Thema der Religionskritik: Zu den vielen Göttern der kapitalistischen Gegenwart gehört als einer der Ober-Götter das Privateigentum.Vor ihm knien alle nieder. Insofern ist unsere „säkulare“ Gesellschaft frei vom Glauben an den Gott der Bibel, aber es gibt genug Ersatz-Götter.

10.
Im August 2021 hatte ich einen etwas ausführlicheren Hinweis zu Pierre-Joseph Proudhon veröffentlicht unter dem Titel, auf sein Werk bezogen: Eigentum ist Diebstahl“. Dieser Beitrag hat viel Aufmerksamkeit gefunden: LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/13911_eigentum-ist-diebstahl-proudhon-1809-1865_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher

11.

Ist die Debatte über Eigentum überhaupt die richtige Diskussion? Müsste man sie nicht umlenken auf die Debatte über Reichtum und über das Vermögen?, so fragt der Ökonom und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ. Er ist Mitbegründer einer wichtigen Initiative: “Finanzwende”: https://www.finanzwende.de/ueber-uns/wer-wir-sind/

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Telefon 030 208 370 810
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Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Abschied vom klassischen Herrscher – Gott in der Höhe. Und dabei den schwachen Gott entdecken.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von John D. Caputo.
Von Christian Modehn.

Das Buch von John D. Caputo „Die Torheit Gottes“ ist sicher eines der besonders anregenden (und „zugänglichen“) Bücher über Religion und Glauben in diesem Herbst 2022. Endlich ein theologisches Buch (von einem Philosophen !), das etwa die ewigen Debatten über Strukturreformen der katholischen Kirche beiseite setzt, weil es zeigt: Auf etwas ganz anderes kommt es an: Auf die Korrektur des Gottesbildes, also auf die Korrektur der üblichen herrschenden Dogmatik der klerikalen Herrscher.
Es geht in diesen jetzt existentiell hoch belastenden Zeiten also um viel Wichtigeres, es geht um die Frage: An welchen Gott (des Christentums) kann ich und will ich vielleicht noch glauben? Welcher Gott erdrückt mich nicht mit seiner absoluten Last der Gesetze, welcher Gott ist förmlich sanft und machtlos, welcher ruft in ein Leben der Freiheit? Dies ist der Ausgangspunkt des Buches „Die Torheit Gottes“ von John D. Caputo.

1.
Darüber besteht für Caputo – und nicht nur ihn – völlige Gewissheit: Wer heute mit klarer Vernunft an Gott glauben will, sollte sich von den klassischen Gottesbildern befreien. Das tun Gott sei Dank allmählich viele. Denn eine dauerhafte Bewusstseinsspaltung zwischen einem naiven Kinder – Glauben und einem kritischen Bewusstsein wollen nur die vielen Evangelikalen, Pfingstler, konservativen Katholiken und Putin-gläubigen Orthodoxen hinnehmen. Vor allem das Bild von Gott als oberstem Sein selbst, als Gott in der Höhe, an der obersten Spitze aller denkbaren Hierarchien, allmächtig und von Engeln umgeben und so weiter, kann ein Mensch mit klarer Vernunft nicht akzeptieren. Dort startet Caputo mit seinen Reflexionen, die in 10 Kapiteln immer wieder die eine Grund-These umrunden: Nur ein schwacher Gott eröffnet heute lebendiges, freies Leben.

2.
Dabei ist der „schwache Gott“ für jene Leute, die immer noch an einen göttlichen Tyrannen im Himmel glauben, die größte Provokation. Caputos Buch ist insofern der Aufruf zur Reform, mehr noch: Zur Reformation des christlichen Denkens und Handelns. Alles kommt darauf an, die materiell gar nicht greifbare Stimme des schwachen Gottes im Gewissen (im Geist) zu vernehmen. Dort und nur dort ereignet sich der Unbedingte, der Gott, der leise die Menschen zum ethisch guten Leben und politischen Handeln aufruft. Diese Stimme des schwachen Gottes ist unbedingt, kann aber vom Menschen ignoriert und überhört werden, was ja faktisch ständig geschieht bei so vielen Verbrechern in der Politik in dieser verrückten Welt.
Das ist der Mittelpunkt des Plädoyers Caputos für den schwachen Gott. Wer dieses Zentrum erreichen will, lese zu Beginn die letzten Zeilen unter dem Titel „Genug gesagt“ in dem Buch, S. 149 bis 152.

3.
Hier aber noch einige weitere Hinweise und Bemerkungen zu dem Buch mit dem provozierenden Titel „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“.
Der US-Amerikaner John D. Caputo wurde 1940 geboren, er ist katholisch gebildet, er war einige Jahre Mitglied des Ordens der „La Salle-Schul-Brüder“ (Quelle: Revista Hispanoamericana T.O.R., Num. 2, 2021, P. 69 ff)
Eine lange Liste Englisch sprachiger Bücher dokumentiert die philosophische Leidenschaft Caputos, die Bibliographie nennt 13 Titel (S. 153).

4.
Caputos Buch„Die Torheit Gottes“ hat den Untertitel „Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Und auf S. 100 werden wir informiert: „Die Torheit Gottes besteht darin, dass Gott nicht existiert“. Das ist ein typischer Caputo-Satz. Der Philosoph mit einer starken Kompetenz für theologische Probleme neigt auch zu sperrigen Formulierungen, manchmal sind sie etwas flapsig, leicht ironisch, so auch hier: Der gerade zitierte Satz könnte (von mir) also übersetzt werden, leicht provozierend wie bei Caputo selbst: „Der klassisch verehrte Gott ist so dumm (so töricht, Torheit!), dass dieser klassische Gott gar nicht existiert“. Auf S. 67 stellt Caputo die eher rhetorische Fragen: „Was ist Gott anderes als die Möglichkeit des Unmöglichen, das Wort für das Ereignis des (Un)Bedingten?…“ Das „Ereignis“ ist das überraschende Geschehen der Öffnung des Daseins aus den Verklemmtheiten und Versperrungen im Denken: Im Ereignis spricht uns etwas Unbedingtes zu, „die Aussicht auf etwas, das im Kommen ist und das den Horizont der Gegenwart erschüttert“ (S. 119).

Im „Ereignis“ also zeigt sich das Unbedingte, ein Wort, das Caputo sehr schätzt in seiner Hochachtung für den Theologen Paul Tillich! Und dieses Unbedingte als das lebendig Göttliche existiert nicht, sondern, und das ist mehr als ein Sprachspiel: Dieser Gott in-sistiert, d.h. er drängt sich auf inmitten des Lebens. Er ruft – im Gewissen, so interpretiere ich – den Menschen auf, lebendiger als bisher zu leben, Verantwortung zu übernehmen, zu lieben… Aber es ist keine objektiv greifbare Wesenheit, die da ruft, betont Caputo etwas verschlüsselt, sondern eine „nicht-existierende Unbedingtheit“ (S.151). Es ist ein niemals zu greifender Gott, der in seinem sanften In-sistieren im Geist der Menschen „auftritt“ und insgesamt schwach ist und nicht herrschend und mächtig. Der schwache Gott ist DAS Thema Caputos, ein Thema, das ihn mit dem italienischen Philosophen Gianni Vatttimo verbindet (vgl. etwa Gianni Vattimo, „Glauben-Philosophieren“, Reclam 1997).

5.
Dieser Gott, der nicht „greifbar“, nicht definierbar ist, der nicht existiert, führt die glaubenden Christen zur Einsicht: Sie, die den nicht-existierenden („objektiv vorhandenen“) Gott ablehnen, sind eigentlich auch Atheisten, weil sie den klassisch – dogmatisch vermittelten Gott zurückweisen. Und die klassischen, „aufklärerischen“ Atheisten, die gerade diesen angeblich objektiv existierenden Gott ablehnen, müssen sich nun auch neu orientieren, wenn denn der „wahre Gott“ der jeweils neu mitten im Leben insistierende schwache Gott ist!
Man möchte fast den Gedanken in Formulierungen der etwas flapsiger Art fortführen, ein Stil, den auch Caputo in dem Buch schätzt und dann sagen: Vielleicht werden angesichts des schwachen Gottes auch die Atheisten schwach und… beginnen an den schwachen Gott zu glauben?

6.
Caputo ist einer der wenigen katholischen Philosophen und Theologen, die sich explizit zustimmend und lernend auf den Philosophen Jacques Derrida beziehen. Auch in diesem Buch! Caputo hatte zuvor intensiv Heidegger studiert, Thomas von Aquin ebenso und Augustinus und Kierkegaard… Derrida ist (neben Tillich) sozusagen die wichtigste Quelle der Inspiration für Caputo. Über Derrida hat Caputo mehrere Tagungen an der Villanova-Universität (Philadelphia, USA, geleitet vom Augustiner-Orden) organisiert.

7.
Caputo liebt die philosophische Spekulation, das Hin und Her der Begriffe, er begibt sich auf seine Art in die Abgründe der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, die ewig die Frage diskutiert: Welcher Gott ist denn nun wirklich göttlich und kann als solcher von den kritischen Menschen akzeptiert werden. Auch den Menschen in Indien, in Tokio, am Amazonas? Diese Frage stellt Caputo nicht. Er ist als westlicher, klassisch gebildeter Philosoph mit seiner Liebe zur Postmoderne und zur „Dekonstruktion“ (die wichtigste philosophische Aktivität von Jacques Derrida) immer noch auf der alten europäischen Fährte der Suche nach einem göttlichen Gott, dem ganz Anderen, der alle Begriffe sprengt.
So will Caputo im Denken freien Raum schaffen, er muss alte Gottesbilder entfernen, nur so kann er auch neu über den Zentralbegriff der biblischen Botschaft nachdenken, das Reich Gottes. Bei dem Thema kommen dann zum ersten Mal etwas politisch bestimmte Aspekte zur Sprache.

8.
Letztlich ist für Caputo das Reich Gottes eine Welt der Menschen, die sich ganz der Nächstenliebe verschrieben haben. Nur darauf kommt es an! Wahrscheinlich hat Caputo dieses Buch vor allem geschrieben, um zu dieser Einsicht die Glaubenden, auch die Kirchen, aufzufordern: Menschlichkeit ist das Wichtigste, sie zu fördern ist die einzige und wahre Antwort auf den „schwachen“ Ruf des Unbedingten im Menschen. Denn wenn der Ruf des schwachen Gottes im Gewissen eines jeden Menschen sich ereignet, ist ja – wie gesagt – die universelle humane Dimension des Gewissens gemeint. Denn es wäre ja verfehlt, den Ruf des Gewissens als ein explizit religiöses Ereignis zu verstehen, der Ruf des Unbedingten im Gewissen ist etwas Humanes. Wer Caputo so versteht, muss ihm förmlich eine notwendige Säkularsierung des göttlichen Rufes zugestehen. Mit anderen Worten: Es geht in dem langen Text nur um die eigentlich schlichte Einsicht: Die Menschen sollen – um Gottes willen – endlich ihrem Gewissen praktisch folgen. Kant sprach vom Kategorischen Imperativ, viele religiöse Traditionen sprechen von der „Goldenen Regel“.

9.
Es wäre weiterführend und hilfreich gewesen, wenn Caputo noch Stellung genommen hätte, zu der Frage: Wenn die Menschen diesem Ruf des Unbedingten überhaupt nicht folgen, sich also in Kriegen abschlachten und wenn die reiche kapitalistische Welt das Verhungern von Millionen Menschen einfach so hinnimmt mit wortreichen Statements, was bedeutet dann der schwache Gott? Ist er also schwach mit den (moralisch, geistig, politisch) schwachen Menschen? Von der Klimakatastrophe, von Menschen gemacht, hätte Caputo auch ein paar Worte sagen können, als Beispiel, wie der schwache Gott im Menschen wirkt oder eben nicht gehört wird.
Man möchte meinen: Vielleicht ist der schwache Gott mit seinem stillen Ruf, wie Caputo lang und breit immer wieder umschreibt, doch hoffnungslos zu schwach… und lässt es zu, dass sich die Menschen ihr eigenes und der Welten Ende bewirken. So könnte man förmlich von einer Art neuen negativen Theodizee sprechen, also von einer ungewöhnlichen Rechtfertigung Gottes angesichts des Elends der Welt!
Wer dann aber noch an dem Mythos der Schöpfung der Welt und der Menschen durch einen Gott festhält, muss angesichts des schwachen Gottes sagen: Der schwache Gott hat schwache Menschen erschaffen, die in der Lage sind, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Könnte man das ganze Geschehen eine göttliche Katastrophe nennen? Ein tröstlicher Gott ist der schwache Gott, der Gott als Torheit, jedenfalls nicht. Beruhigendes Opium ist dieser schwache Gott nun absolut gar nicht. Der Mensch steht nun angesichts des schwachen Gottes nackt und schutzlos da. Wird diese Einsicht viele Menschen, auf göttlichen Trost fixiert sind, bewegen, d.h. zur Zustimmung zu Caputos Corsxchlägen führen?

10.
Der frühere allmächtig genannte Gott, so laut und innig in so vielen theologisch dummen Kirchenliedern besungen („Großer Gott wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke“, oder: „Ein feste Burg ist unser Gott…“ usw. usw.) war ja auch schon schwach. Er hat sich gegenüber den damals schon schwach glaubenden Menschen auch nicht „stark“ durchgesetzt. Alle Lieder und Bekenntnisse waren Trallala, nette naive Poesie zur Abwechslung in den ewigen Kriegszeiten. Der Große Gott im Himmel hat das Elend der Welt auch nicht überwunden. Diese Lieder vom allmächtigen Gott waren also Ideologie der Herrscher, Beruhigung, Opium…

11.
Nebenbei: „Großer Gott wir loben dich“ wurde auf Befehl der Kaiserin Maria Theresia 1774 ins „katholische Gesangbuch“ aufgenommen. Maria Theresia war eine innenpolitisch reaktionäre, intolerante Herrscherin, sie führte drei Kriege und pries dann den großen Gott für ihre Siege… Auch Angela Merkel schätzte übrigens sehr den Song „Großer Gott wir loben dich“, siehe Zapfenstreich…Heute wissen wir, dass so vieles Löbliches bei Angela Merkel auch nicht übrig bleibt, angesichts ihrer jetzt offenkundigen Naivität und Nachlässigkeit im Umgang mit dem schon seit 2006 bekannten Diktator und Kriegstreiber Putin.

13.
Noch einmal gefragt: Kurz gesagt: Welchen Sinn hat der Glaube an einen schwachen oder auch an einen starken Gott eigentlich, wenn die Menschen diese Welt (eine Schöpfung Gottes?) In vielfacher Hinsicht systematisch zerstören und vernichten. Und die Kirchenführer sind hilflos, dem Faschismus, dem Rechtsextremismus usw. Parole zu bieten und ihre frommen Schäfchen zur politischen Vernunft, also zum praktischen Respekt der universal geltenden Menschenrechte, zu bringen.

14.
Die Übersetzer des Buches „The Folly of God“ (2016) bieten im Buch zusammen mit dem Theologen Prof. Michael Schüßler, Tübingen, noch „Resonanzen“, Reflexionen persönlicher Art, zu Caputos Einsichten (S. 157 – 166)

John D. Caputo, „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“. Übersetzt von Helena Rimmele und Herbert Rochlitz, Grünewald-Verlag, 2022. 167 Seiten, 19€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Auch Gott untersteht dem Recht und der universellen Gerechtigkeit!

Für Abraham ist Gott nicht das „Wichtigste“!
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Das Motto:
Wenn die Erkenntnis der Bibel, mitgeteilt in einigen Geschichten über Abraham, von den Religionen und Kirchen beachtet würde: Dann wäre die wahre Religion die ethische Haltung, die Gerechtigkeit für alle fordert und lebt. Dann wäre ein Ende der offenbar allmächtigen Klerus-Herrschaft (Klerus gibt es bekanntlich in allen Religionen) absehbar…

1.
Erich Fromm, Psychologe und Philosoph, hat in seiner Studie „Psychoanalyse und Religion“ (1950) eine grundlegende Erkenntnis zum Verhältnis des Menschen zu Gott (in der Überlieferung des Alten Testamentes) formuliert.
Diese Erkenntnis hat leider im Laufe der Geschichte des jüdischen Volkes und der Kirchen nur wenig Beachtung gefunden.
Und das sollte sich ändern. Nun hat sich auch der Philosoph und Kenner der hebräischen Bibel (Altes Testament) Omi Boehm in seinem neuen Buch „Radikaler Universalismus“ (2022) dieser Erkenntnis von Erich Fromm angeschlossen.Sie wird in gewisser Weise unterstützt im neuen Buch des US-amerikanischen Philosophen John D. Caputo „Die Torheit Gottes“.

2.
Worum geht es? In den Erzählungen des Alten Testaments verpflichtet sich Gott selbst, niemals alles Leben auf Erden zu vernichten (Gen. 9,11). Gott schließt einen Bund mit den Menschen, und diese sollen sich ihrerseits verpflichten, niemals einen anderen Menschen zu töten. Gott bindet sich also in einen Vertrag, an „ein Prinzip, das er, Gott, nicht verletzen darf, nämlich das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben….Der Mensch kann auch Gott zur Rechenschaft ziehen, wenn er sich der Verletzung des Prinzips schuldig macht“ (betont Erich Fromm, Gesamtausgabe Band VI, S. 253).
Als Gott die Städte Sodom und Gomorrha wegen der Sünde der Menschen dort vernichten wollte, wird er von Abraham daran erinnert: Er, Gott, wollte sich selbst unter das Gesetz der Gerechtigkeit stellen. Und Gott lässt sich durch Abraham an seinen Grundsatz erinnern. (Vgl. Die Erzählung Genesis, 18, Vers 25).

1966 ist Erich Fromm erneut auf dieses Thema zurückgekommen, in seinem Beitrag „Ihr werdet sein wie Gott“ (1966): „Mit der Kühnheit eines Helden fordert Abraham (im Fall von Sodom und Gomorrha) Gott auf, sich an die Grundsätze der Gerechtigkeit zu halten. Abraham verhält sich also nicht wie ein demütiger Bittsteller, sondern wie ein stolzer Mann, der das Recht hat, von Gott zu verlangen, dass dieser sich an das Prinzip der Gerechtigkeit hält“ (S. 99).

3.
Abraham ist der Vater der (monotheistisch) Glaubenden, er lehrt: Über Gott steht die Gerechtigkeit, stehen die Gesetze, zu denen er sich selbst verpflichtet hat. „Weil Gott durch die Normen von Gerechtigkeit und Liebe gebunden ist, ist der Mensch nicht länger sein Sklave. Beide Mensch und Gott, sind an festgelegte Prinzipien und Normen gebunden“, so Erich Fromm (ebd.).

4.
Auch in der späteren Erzählung über Abraham und seinen Sohn Isaac zeigt sich, dass Abraham sich dem Befehl Gottes widersetzt, seinen Sohn Isaac abzuschlachten. (Vgl. Genesis, Kap. 22, bes. Verse 9 ff.) Es sind die gründlichen Studien des Philosophen Omri Boehm, die uns von dem Klischee befreien, Abraham sei der total Gehorsame, der sich nur von einem Engel (Vers 11) davon abhalten lässt, seinen Sohn Isaac zu töten. Denn mit dem „Engel des Herrn“ wird noch unterstellt, dass Gott selbst noch die Initiative ergreift, um Abrahams Gehorsam nicht bis zur tödlichen Konsequenz zu treiben. Boehm weist nun nach, dass die beiden Verse 11 und 12, also die Verse, die vom Eingreifen des göttlichen Engels sprechen, später eingefügt wurden. Nimmt man diese beiden Verse aus der Erzählung sinnvollerweise heraus, dann ist es Abraham selbst, der zur Erkenntnis kommt: Ungehorsam gegen Gottes Tötungsbefehl ist das Wahre. Abraham entdeckt selbst den Widder, den er anstelle Isaacs tötet.

5.
Immanuel Kant hat in seiner Publikation „Streit der Fakultäten“ (1798) als einer der ersten Philosophen deutlich gefordert, dass Abraham seinen Sohn niemals hätte töten dürfen, Nur Ungehorsam gegen Gott wäre also richtig und ethisch wahrhaftig gewesen. Kant schreibt: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: Dass ich meinen guten Sohn nicht töten soll, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden“.

6.
Der Philosoph Omri Boehm hat sich ausführlich, auch von dem jüdischen Philosophen Maimonides inspiriert, mit dem ethisch richtigen Ungehorsam Abrahams befasst. „Abrahams Punkt ist, dass eine universalistische Moral nur über der Gottheit stehen kann“ (in „Radikaler Universalismus“, S. 54). Aufgrund der universellen Gerechtigkeit (die ausnahmslos ALLEN Menschen immer gilt) ist es wahr, „Gottes Autorität zu widersprechen“ (ebd.)

7.
Die revolutionäre, sozusagen Gott-kritische Erkenntnis heißt also:
„Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschließend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen“ (von Omri Boehm kursiv gesetzt, S. 21) Abraham ist der Vater aller Völker, eine Bedeutung, die ihn über Moses erhebt, betont Boehm. “Es gibt nur einen wahren Gott, doch die Autorität der universellen Gerechtigkeit steht über ihm“ (Omri Boehm, S. 22).

8.
Dies ist eine provozierende, wenn nicht unangenehme Erkenntnis für die Religionen und Kirchen. Denn ihre Theologen und Kirchenleiter und Religionsführer bedienen sich ständig mit göttlicher Autorität der Weisungen, die angeblich von Gott selbst stammen. Die Religionsführer brauchen förmlich Gott und seine begrenzten Gebote, um ihre eigene Herrschaft zu zementieren. Tausend Beispiele wären zu nennen, etwa: Israel ist nur der Staat der Juden; Frauen dürfen niemals katholische Priesterinnen werden; Frauen sind den Männern im Islam untertan usw… Es wäre wichtig, eine große Studie in Gang zu bringen, die die – geringe – Bedeutung Abrahams im Laufe der Geschichte der drei monotheistischen Religionen aufzeigt, Gehorsam gegen Gott erschien immer die den Religionsführern bequemere Lösung als das Eintreten für einen universellen religiösen Humanismus.

9.
Die entscheidende und dringend geforderte Reformation der drei monotheistischen Religionen kann nur gelingen, wenn die Religionsführer und die von ihnen geführten Gläubigen wahrnehmen und in der Praxis anerkennen: Über Gott und seinen von den Religionsführern interpretierten Gesetzen steht die universale Gerechtigkeit für alle Menschen überall und immer. Abrahams Erkenntnis könnte also heute die drei monotheistischen Religionen in ihrer Beton-Mentalität aufsprengen und endlich aus den Religionen humane Institutionen werden lassen. Aber das setzt vor aus. Dass die Religionsführer der drei monotheistischen Religionen lernfähig werden und sich endlich um die Erkenntnisse Abrahams kümmern. Aber die Konsequenzen wäre Machtverlust des gesamten „Klerus“ der drei Religionen. Und diesen Machtverlust wollen diese Herren (es sind fast immer Männer) überhaupt nicht hinnehmen. Also bleibt Abrahams entscheidender, humaner Ungehorsam gegen Gott auf Dauer doch marginal … und fast vergessen.…

10.
… So, wie die entscheidende Rede Jesu „Vom Weltgericht“ (Matthäus-Evangelium, 25. Kap., Verse 31 bis 46) als Umsturz alles nur „Religiös-Frommen“ und als Durchbruch einer humanen ethischen Haltung ALS Religion von den Religionen, Kirchen, nicht respektiert wird. Die Aussage Jesu gipfelt bekanntlich in einer Lehre umfassender Humanität: „Was ihr Menschen für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Vers 40). Das heißt: Der wahre Gottesdienst im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth ist Nächstenliebe. Alles andere ist zweitrangig, das Zweitrangige, also das Religiöse, die Gottesdienste, Liturgien, Kirchengesetze etc. werden aber vom Klerus als erstrangig gefordert und durchgesetzt. Und die Gläubigen glauben in ihrer autoritären Bindung dem Klerus auch noch und folgen nicht den Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth..

11.
Nur einige gebildete religiöse Menschen werden die Kraft haben, sich aus dieser Herrschaft der Religionsführer zu befreien und sich einer humanen Vernunft-Religion anschließen, die schon Immanuel Kant beschrieben und gefordert hat in seiner sehr lesenswerten Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. LINK

12.
Auch die Studien des US-amerikanischen Philosophen John D. Caputo folgen einer Erkenntnis, die der Erzählung über Abrahams Einsicht entspricht: In seinem Buch „Die Torheit Gottes“ (Grünewald-Verlag, Ostfildern 2022) befreit Prof. Caputo das religiöse Denken vom Glauben an den allmächtigen Gott in der Höhe oder auch in der Tiefe. In seinen durchaus provozierend gemeinten Überlegungen zeigt Caputo: Gott existiert nicht (als ein vorzeigbares „Objekt“), Gott existiert nicht, aber er INSISTIERT: Das heißt das göttliche Leben insistiert im Menschen als Ruf, als Aufforderung, human zu leben. Das Bild „Reich Gottes“ sagt diese Möglichkeit aus, einen universal geltenden Humanismus zu leben. (Vgl. bes. das Kapitel „Dein Reich komme“ in „Die Torheit Gottes, S. 137 ff.) Auch Caputo erinnert eindringlich an die revolutionäre Kraft der Rede Jesu vom Endgericht (S. 143).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

Gegen den Wahn, sich in „Identitäten“ abzukapseln. Für einen radikalen Universalismus.

Über ein wichtiges neues Buch des Philosophen Omri Boehm. In manchen Aussagen geradezu sensationell. Haben das die Theologen endlich bemerkt?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Am 30.9.2022 veröffentlicht.

1.
Nun haben sich schon wieder Nationalisten als stärkste Parteien durchsetzen können: die Rechtsextremen und die Post-Faschisten in Italien bei den Wahlen am 25.9.2022. Ihnen gemeinsam ist die Fixierung auf die „Identität“, die sich immer über das entscheidende Wort „zuerst“ definiert: Also nun auch „Italien zuerst“, wie die postfaschistische Girorgia Meloni betont, wie früher schon Madame Le Pen mit ihrem „Frankreich zuerst“ (Le Pen) oder auch „America first“ von Mister Trump.

2.
In dieser Situation einer zunehmenden nationalen und ins Faschistische abgleitenden Identitäts-Politik ist das neue Buch des Philosophen Omri Böhm von besonderer aktueller Bedeutung. Der Titel „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“ (Propyläen-Verlag, 2022) beschreibt sein philosophisches Programm, das Boehm mit aller Schärfe und Klarheit der Argumentation vorträgt. Boehm, Jahrgang 1979, ist israelischer und deutscher Staatsbürger, er lehrt als Associate Professor für Philosophie an der „New School of Social Research“ in New York.

3.
Die heutige Betonung einer angeblich absoluten Geltung der Identitäten betrifft nicht nur die nationalistischen und faschistischen politischen Strömungen. Identitäts-Fixierungen werden sichtbar, so Boehm, in zahlreichen aktuellen Theorien und Ideologien. Etwa, wenn behauptet wird, dass vorrangig die Identitäten von Geschlechtern oder sozialen und politischen Minderheiten respektiert werden müssen, dass also „meine Bindung“ an „meine besondere Gruppe“ (bzw. Nation) wichtiger sei als mein Respekt der universalistischen Werte der Menschheit.
Jedoch gilt: An dieser „allgemeinen“ Menschheit mit ihren universalen Rechten und Pflichten hat jeder einzelne Mensch als Mensch zweifelsfrei Anteil. Und diese allen gemeinsame Bindung an die Menschheit mit ihren Rechten und Pflichten muss bestimmender und vorrangiger sein als die begrenzten Werte, die aus meiner/unserer immer begrenzten Identität (etwa als Homosexueller, als Indigener, als Katholik usw.) folgen.

Boehm tritt also in aller Schärfe für einen „universellen Humanismus“ ein, das betont er schon in seinem „Prolog“ auf S. 12. Er zeigt, dass der moralische Universalismus die unbedingte Pflicht eines jeden Menschen bedeutet, für die universale Gerechtigkeit und für alle geltende Gleichheit einzutreten und diese zu leben und auch politisch zu gestalten.

4.
Die Kämpfer für die „identischen“ Rechte von bestimmten, abgegrenzten Gruppen (etwa „LGBTQ-Menschen, S. 13) will Boehm keineswegs diffamieren. Er will nur beweisen, dass sie in ihrem Einsatz für ihre Identitäten durchaus die Verbindung mit den universalen Grundrechten benötigen, soll denn das Engagement zum Ziel führen, also für sie selbst auch erfolgreich sein. Der universelle Humanismus soll also für Boehm „ein Kompass, sogar eine Waffe“ sein (S. 14). Und Boehm weiß, dass es viele „falsche Universalisten“ gibt, die mit ihren Sprüchen und Taten nur die westliche Vorherrschaft meinen, etwa: Von Menschenrechten groß schwadronieren, aber sich selbst nicht an sie binden. Das trifft etwa für die katholische Kirchenführung zu, dieses Beispiel nenne ich, nicht Boehm.

5.
Immanuel Kant ist für Omi Boehm „der unverzichtbare Denker“ (16). Kant hat, sage ich nun mit einem klassischen Begriff, „Wesentliches“ vom Menschen gedacht. Boehm meint dasselbe, wenn er betont: Kant habe den Menschen „frei von jeder Beimischung biologischer, zoologischer, historischer und soziologischer Tatsachen“ (16) erkannt. Diese Konzentration Kants auf das Allgemeine, „Wesentliche“ des Menschen bzw. der Menschheit, nennt Boehm durchgehend in seinem Buch „abstrakt“. Der entscheidende Begriff „des“ Menschen, muss also Kant folgend, „abstrakt bleiben“ (16), das betont Boehm immer wieder.
Ich möchte fragen, ob es geschickt ist, diesen universalen „Wesensbegriff“ des Menschen „abstrakt“ zu nennen. „Abstrakt“ hat oft eine negative Konnotation.
Aber abgesehen davon: Durch Kant wird die Menschlichkeit des Menschen nicht durch natürliche Bestimmungen festgelegt, sondern durch die geistigen Leistungen der Freiheit, zu der auch die Pflicht gehört, das moralische Gesetz in mir als unbedingt auch für mich geltend wahrzunehmen und ihm zu folgen. Denn der Mensch kann in seiner Freiheit dem moralischen Gesetz in seiner Lebenspraxis folgen, betont Kant, warum sonst würde sich dieses moralische Gesetz denn sonst im Menschen überhaupt unbedingt zeigen?
Wenn der Mensch sich von sich distanzieren kann, gleichsam auf sich und sein Tun “von iben rauf schaiut”, wenn er also fragen kann, was er tun soll, dann zeigt er sich darin als freie Person. Er kann dem kategorischen Imperativ prinzipiell folgen!
Dieser „kategorische Imperativ“ ist eine geistige Wirklichkeit, diese ist „nicht von Menschen gemacht“ (17), sie kann also auch nicht von Menschen ausgelöscht werden. D.h.: Der kategorische Imperativ ist also nicht an bestimmte Konventionen gebunden oder an historische Umstände, er gilt universell. Nur im Respekt vor einem „höheren Gesetz“ (20), also dem Kategorischen Imperativ, kann der einzelne darauf hoffen, dass seine persönlichen Wünsche (etwa hinsichtlich der Bindung an eine Identität) von anderen respektiert werden. Jeder, der ernsthaft seine eigenen Identitäten verteidigt, braucht als argumentative Unterstützung notwendigerweise die universalen Menschheitswerte der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit. „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit  löscht die Identitäten ja nicht aus; ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können“. (155).

6.
Boehm ist mit der jüdischen Spiritualität bestens vertraut. Seine besondere Leistung ist, dass er auch in seinem neuen Buch alt vertraute biblische Erzählungen korrigiert, etwa die Erzählungen der hebräischen Bibel, des Alten Testaments, die sich auf die Gestalt Abrahams beziehen. Abraham ist für Boehm die entscheidende und prägende Figur der Bibel: Abraham hat als gläubiger Mensch den Mut, Gott zu widersprechen und sogar noch weiter zu gehen… Boehm betont: Dass es für Gott eine noch über ihm stehende Gerechtigkeit gibt, der auch Gott unterworfen ist. Gerechtigkeit, durch die Vernunft der Menschen erkannt, steht nicht über den göttlichen Geboten, mehr noch: Auch Gott selbst steht in der Erfahrung Abrahams unter dem universalen Gebot der Gerechtigkeit! Was für eine Aussage, deren Konsequenzen leider Boehm nicht weiter entwickelt! Diese Erkenntnis führt zu einer radikalen Kritik des überlieferten und konfessionell immer nicht prägenden Begriff Gottes!

7.
In seiner Auseinandersetzung mit Gott angesichts der Bestrafung von Sodom und Gomorrah betont Abraham: „Sollte der Richter aller Welt, Gott, nicht gerecht richten“? (Genesis, 18., Vers 25). Die universelle Gerechtigkeit, die eben auch die Rettung der wenigen Unschuldigen in Sodom und Gomorrha betrifft, ist also wichtiger und größer als Gott selbst! Gort muss sich an das Prinzip der Gerechtigkeit binden!
Diese Erkenntnis bezieht Boehm auch auf die bekannte Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaac. Boehm zeigt: Abraham widerspricht Gott, und er opfert seinen Sohn gerade NICHT, wie es Gott anfänglich verlangte. Boehm hat zu dieser biblischen Erzählung ausführliche Studien betrieben. In der „Jüdischen Allgemeinen“ hat er schon am 24.2. 2015 darüber kurz berichtet: „Ich versuche nun, zu zeigen, dass zwei Verse dieser biblischen Geschichte in Wirklichkeit nachträgliche Hinzufügungen zum Originaltext sind. Es handelt sich um die Verse 11 und 12 in Genesis, Kapitel 22, in denen der Engel des Herrn Abraham im letzten Moment davon abhält, seinen Sohn zu töten. Wenn man diese Verse – eine spätere Einfügung – wieder herausnimmt, bekommt man eine in sich geschlossene, aber völlig andere Geschichte. Das heißt: Abraham entscheidet selbst und auf eigene Verantwortung – ohne das Eingreifen des Engels –, Gottes Weisung nicht zu befolgen“. Deshalb meint Boegm: Ungehorsam ist ein Eckpfeiler des jüdischen Glaubens und gerade nicht blinder Gehorsam.
Noch einmal: In seinem neuen Buch betont Boehm: „Da die Gerechtigkeit universell ist, steht sie auch über der Autorität der einen wahren Gottheit“ (53). Diese über allem und allen stehende Gerechtigkeit ist entscheidender noch als Gott! Das in dieser Deutlichkeit zu sagen, ist sensationell, weil dann Gott nicht mehr der „Aller-Oberste“ ist. Es gibt noch eine Art „Gott über Gott“, dies ist die universale Gerechtigkeit. Aber die zeigt sich in der Erfahrung der Menschen als eine nicht von Menschen gemachte und von Menschen verfügbare Wirklichkeit.

8.
Ist diese oberste Gerechtigkeit also selbst „wahrhaftig“ göttlich zu nennen, sozusagen der „oberste Gott“? Sollte sie, diese universale Gerechtigkeit, dann nicht auch – in welcher Form – verehrt werden?
Diese Frage wird leider von Boehm nicht erörtert. Nebenbei: Es gab ja bei dem protestantischen Theologen Paul Tillich schon den Gedanken, dass es einen „Gott über Gott“ gibt. Und auch Meister Eckart hat unterschieden zwischen Gott und der Gottheit, die er allerdings für unerkennbar bzw. undefinierbar hielt. Eine weitere Frage: Ist nicht diese oberste Gerechtigkeit („über Gott“ noch stehend) auch notwendigerweise dann doch (allzu) menschlich gedacht? Wenn ja, was sicher ist: Wie kann man dann aber noch an einem „eigentlich“ unerkennbaren, bildlosen Gott des Alten Testaments festhalten?

9.
Boehm zeigt weiter in seinem Buch, wie der Bürgerrechtler Pastor Martin Luther King ebenfalls die universalen Menschenrechte in seinem Kampf zugunsten der Rechte der Schwarzen an die erste Stelle setzte.
Eher auf die US-amerikanische Situation bezogen sind Böhms Auseinandersetzungen mit dem dort überaus populären Philosophen Richard Rorty: Er entwickelt eine eher „liberal“ genannte Philosophie, die sich auch nicht scheut, die Bedeutungslosigkeit der Philosophie für die Politik öffentlich zuzugeben. Auch der us-amerikanische Philosoph Dewey wird von Boehm heftig kritisiert, weil er eine kategorisch geltende Wahrheit ablehnt.

10.
Omi Boehm, geboren in Haifa, setzt sich seit einigen Jahren auch mit der Politik des Staates Israel auseinander, vor allem was den Aufbau gerechter Verhältnisse mit den Palästinensern angeht. Er kritisiert auch in seinem neuen Buch, so wörtlich, „die Apartheitstruktur“ (S. 150), die die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland „seit vielen Jahren betreibt“. Wie alle westlichen liberalen Demokratien ist in Böhms Sicht auch der Staat Israel „auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ (S. 152). Diese Identitätspolitik der Palästinenser wie der Juden kann nur, so Boehm, „jeweils zur Auslöschung der anderen führen“. Boehm plädiert für die „Einstaatenlösung“.

11.
So wird Omi Boehm durch seine erneute Auseinandersetzung mit Israel zu der Erkenntnis geführt: „Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch auslöschen, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigen Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen“ (154).

12.
Das Buch „Radikaler Universalismus“ verlangt eine konzentrierte Lektüre, es ist aber nicht für die wenige Fachphilosophen“ geschrieben. Ausnahmsweise muss man als Rezensent einmal sagen: Ich hätte mir sogar noch ausführlichere Darstellungen und Begründungen und Ausweis von Konsequenzen gewünscht.

13.
Kants Studie „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sollte in dem Zusammenhang viel mehr gewürdigt werden. Vielleicht gelingt das zum Kant Jubiläum 2024 (300. Geburtstag). Kants Vorschläge könnten den Christen (auch den Juden und Muslime) Möglichkeiten zeigen, ohne dogmatische Bindungen und ohne religiöse fixierte Institutionen ein vernünftiges religiöses Leben zu gestalten. Eben in der Überordnung des Ethischen (des moralisch guten Lebens) über die religiösen Gebote und Gesetze, über die kirchlichen Lehren sowieso, wie Kant dringend fordert! Ausführliche Hinweise, siehe: LINK.

Omri Boehm, „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identitäten“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022, Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian. 175 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Ludwig Feuerbach: „Der Mensch erschafft sich Gott“!

Wie aktuell ist der radikale Überwinder einer christlichen Theologie? Ludwig Feuerbach am 13.9.1872 gestorben.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Der Ausgangspunkt:


In der Erinnerung an den Philosophen Ludwig Feuerbach wird deutlich: Philosophische Reflexionen, zugespitzt auf griffige Formeln, werden weit über die eher kleine philosophische Fachwelt hinaus verbreitet, sie können dann das Denken und Fühlen weiter Kreise bestimmen. Ludwig Feuerbachs Formel „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“ gehört zu diesen Slogans wie auch seine Behauptung: „Die Vernunft, die an Gott glaubt, glaubt nur an sich selbst, also an die Realität ihres eigenen unendlichen Wesens“. Solche Sprüche haben sich durchgesetzt und wurden wiederum nur geglaubt und wie für selbstverständlich gehalten. Die breite Wirkungsgeschichte gerade des Buches „Das Wesen des Christentums“ ist paradox, betonte doch Feuerbach darin ausdrücklich, sein sehr umfangreiches Werk sei vor allem für die gebildeten Kreise bedeutsam. Dennoch haben sich bestimmte publikumswirksame Thesen der Religionskritik Feuerbachs schnell weit verbreitet …und werden wie Dogmen geglaubt.

1.Der große Umbruch der Mentalitäten

Nach dem Tod G.W.F. Hegels im Jahr 1831 spürten die Intellektuellen, wie sich der geistige Horizont veränderte, wie sich ein Umbruch in der Mentalität ereignete, nicht nur unter den genanten gebildeten Kreise in Deutschland. Was Feuerbach entwickelte, war eine Revolution des Denkens, der Normen, der Werte, des politischen Handels, der Bindung an die Kirchen usw. Diese grundstürzende Veränderung nahm ihren Ausgangspunkt an der Kritik der spekulativen Philosophie, zumal der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels. Dieser geistige, philosophische und religiöse Umbruch fand statt inmitten der Etablierung der politischen Reaktion im so genannten „Vormärz“ (1815-1848). Vielleicht war Feuerbachs philosophisches Bemühen der Versuch, etwas – mindestens philosophisch Revolutionäres – der reaktionären Welt entgegen setzen.

2.Biographischer Hinweise

Ludwig Feuerbach starb vor 150 Jahren, am 13.9.1872, in Rechenberg bei Nürnberg, geboren wurde er am 28.7.1804 in Landshut. Er hat ein umfangreiches religionskritisches Werk verfasst, er war ein kenntnisreicher Theologe, vor allem: er war ein Schüler Hegels an der Berliner Universität. Wenige Jahre nach Hegels Tod (1831) setzte sich Feuerbach entschieden von seinem Lehre ab, den er bis dahin seinerseits auch in Vorlesungen erklärte. In seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“ (1839) behauptet Feuerbach, Hegel verbreite den „Unsinn des Absoluten“ , die Philosophie Hegels sei völlig haltlos, ohne Verbindung mit der realen Welt, sie bewege sich in einer reinen Welt der Begriffe. Nun aber, so Feuerbach, sei eine neue Epoche angebrochen, in der die Welt, die Natur, die realen, leibhaftigen Menschen nicht nur Ausgangspunkt der Philosophie sein müssen, sondern auch oberste Prinzipen und Normen darstellen.
Feuerbach war ein Gegner der politischen Restauration in Deutschland, die im „Vormärz“ das Leben bestimmte, einschränkte, kontrollierte. Die reaktionären Fürstenstaaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts legitimierten sich durch theologische Argumente. In Preußen gab es eine starke Verbindung von Thron und Altar, protestantische Theologen hatten einen enormen Einfluss auf die Gestaltung der Bildung, auch in den Universitäten. Wer evangelischer Theologe wurde, hatte die Gewissheit, berufliche Karriere im Staat zu machen. Schon Feuerbachs frühe Schrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ von 1830 brachten ihm Probleme mit der Obrigkeit, im Revolutionsjahr 1848 musste er wegen seiner politischen Haltung alle Hoffnungen auf eine Professur aufgeben, er starb zurückgezogen und verarmt.

3. War Hegel ein Pantheist?


Hegel wusste, dass die christliche Religion, auch der in den Kirchen gelehrte Glaube, in der Form der dogmatischen Behauptungen mit ihren historischen Details keine Überlebenschancen („Akzeptanz der Menschen“) mehr hat. Er wusste: Die dogmatischen Formeln werden noch nachgesprochen, aber sie finden kein Echo im Denken der sich noch nach außen hin kirchlich gebenden Leute. Hegel zeigte in den Berliner Jahren an der Universität einen Ausweg: Der Inhalt der christlichen Lehre (Dogmatik) wurde in seiner Philosophie „aufgehoben“, wurde also in wesentlichen Aussagen bewahrt, aber eben auch verändert („erhoben“ ins philosophische Denken): D.h.: Die dogmatischen Lehren wurden aus der Anschaulichkeit der Gottesdienste und Bilder, der Wallfahrten und der Überordnung des Klerus über die Laien befreit: Die dogmatischen Glaubensbekenntnisse wurden in die Form philosophischer Begriffe erhoben und deswegen für alle Vernünftigen auch vernünftig erklärt. Gott ist dann also kein heiliger „Gegenstand im Himmel“, auch keine „Person“, sondern er ist absoluter Geist, der sich aber in das Andere seiner selbst, in Welt und Mensch, entäußert, also als göttlicher Geist in Welt und Mensch lebt.
An dem göttlichen Geist hat jeder Mensch Anteil. Der göttliche Geist ist in der Welt, aber die Welt ist nicht Gott. Hegel war kein Pantheist, wie Feuerbach behauptete, darauf hat der Philosoph Wilhelm Weischedel (in: „Der Gott der Philosophen. Erster Band“, Darmstadt 1972, Seite 390) hingewiesen. Hier liegt der entscheidende Fehler in Feuerbachs Verständnis der Philosophie Hegels: Feuerbach behauptet, Hegel sei als Pantheist ein Denker, der „das göttliche, absolute Wesen nicht als ein von der Welt Verschiedenes, als jenseitiges, himmlisches Wesen, sondern als ein Wirkliches mit der Welt identisches Wesen erfasst“ (Band II der Gesamtausgabe Feuerbachs, S 379).
Hegel denkt hingegen Gott als absoluten Geist sozusagen auch „außerhalb“ der Welt, aber eben doch auch in der Welt, in der Lebendigkeit endlicher Menschen. Wenn man schon einen griffigen Begriff will: Hegel war Pan – en -Theist. Das heißt: Hegel dachte auch die Gestalt der Religionen in der Welt als Ausdruck des göttlich-menschlichen Geistes, also auch als Ausdruck der göttlichen Schöpferkraft, die sich mit den Menschen „äußert“, also institutionelle „äußere“ Realität wird.

4. Hegel – Feuerbach – Marx


Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie fand den leidenschaftlichen Widerspruch unter seinen Schülern. Sie litten förmlich unter der Übermacht der Geistphilosophie und der Degradierung des Sinnlichen, des Leiblichen, also dessen, was sie die wirkliche Welt nannten. Wirklichkeit sollte ausschließlich die empirische und über die Sinne erfahrene Realität sein. Dass diese irdische Realität in geistigen Begriffen ausgesagt werden musste, störte die Leidenschaft dieser Verteidiger der ausschließlich irdischen Wirklichkeit gar nicht.
Ludwig Feuerbach, einer aus dem Kreis der Anti-Hegelianer, auch „Linkshegelianer“ (oder „Junghegelianer“) genannt, setzte sich mit rigorosem Nachdruck für das Irdische, Menschliche, Sinnliche als Prinzip der Philosophie ein. Er wurde dadurch zum „Freund der Menschen“. Der übliche christliche Gott der Tradition wurde von ihm als Illusion abgetan, als Produkt des noch nicht zum richtigen Verstand gekommenen Menschen gedeutet. Den Begriff „Illusion“ wird später Freud in dem Zusammenhang verwenden! Das Christentum und seine Theologie wurde also wirklich abgeschafft, als Wunsch-Projektion der Menschen disqualifiziert. Aber Feuerbach wusste, dass seine radikale Leidenschaft für die Welt und den Menschen nur ein Ausgangspunkt, ein Anfang, einer neuen Epoche sein konnte.
In der Hinsicht entwickelten Karl Marx und Friedrich Engels nach ihrer Lektüre von Feuerbach ihre politische und ökonomische Gesellschaftskritik. Nicht vom abstrakten Menschen und seiner Sinnlichkeit (wie bei Feuerbach) war bei ihnen die Rede, sondern von der Überwindung der ungerechten politischen und ökonomischen Verhältnisse, in denen Menschen leben müssen. Revolutionär war also nicht mehr die Behauptung Feuerbachs, Gott sei eine Illusion des Menschen. Revolutionär war nun die Lehre, dass Menschen, die Proletarier, im politischen Kampf ihr Leiden zugunsten einer gerechten Gesellschaft überwinden sollen. Philosophie als Form der vernünftigen Selbstverständigung konnte es unabhängig vom Klassenkampf nicht mehr geben. Und die Gottesfrage war für Marx und Engels durch Feuerbach „erledigt“.
Diese Skizze des großen Umbruchs der Mentalitäten in der Mitte des 19. Jahrhunderts führt also zu Feuerbach, der in der Mitte steht zwischen dem Philosophen Hegel, der das Christentum denkend retten wollte und den Gesellschaftskritikern Marx und Engels, für die Religion und Kirchen „Opium des Volkes“ waren.

5. Das Zentrum der Philosophie Feuerbachs:


Ludwig Feuerbach ist in „weiten Kreisen“ noch heute bekannt: Mit einer gewissen Leichtigkeit verbreitete sich seine These, die dann geradezu populär wurde: Was die Menschen Gott nennen, ist kein Urgrund, keine himmlische Person, sondern ein Bild des idealen, des vollkommenen Menschen. Die Erkenntnis Gottes ist nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Menschen. Theologie wird also für Feuerbach zur Anthropologie, der Mensch ist für ihn das höchste Wesen. „Das Höchste ist für den Menschen der Mensch“, so Karl Löwith, einer der Feuerbach – Interpreten im 20. Jahrhundert („Von Hegel zu Nietzsche“, Fischer Verlag 1969, S. 95).
Die Feuerbach Spezialistin Prof.Ursula Reitemeyer schreibt: „Ist Gott aber nur das Produkt menschlicher Phantasie, die Projektion einer Allmachtsidee im Angesicht menschlicher Ohnmacht, dann verkünden das Dogma und die sie stützende spekulative Logik, nur relative, vom Zeitgeist abhängige Meinungen, aber keine absolute Wahrheit. So trennt sich im Zuge von Feuerbachs Hegelkritik die Philosophie nicht nur ein weiteres Mal von der Theologie, sondern zugleich von der Macht der Meinungsmonopole. Dadurch wird Religionskritik zur Ideologiekritik.“ (https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/ueber/index.html).
Gott als personales Wesen als Idee, absoluter Geist außerhalb der Menschenwelt, wird von Feuerbach beseitigt, aber die Prädikate, die Gott einst schon auszeichnen, Güte, Liebe, Gerechtigkeit, Weisheit bleiben als absolute Werte erhalten, auch wenn es Gott als Person, dem einst diese Prädikate zugesagt wurden, nicht mehr „existiert“. Es geht Feuerbach also um ein merkwürdiges Fortleben göttlicher Prädikate bei einem verstorbenen Gott. So kann Feuerbach behaupten, Atheist sei nur der, der die Bedeutung der Prädikate Gottes (Güte, Liebe etc. ) leugnet. „Güte und Gerechtigkeit sind keine Chimären, selbst wenn die Existenz Gottes eine Chimäre ist“ (VI. Band der Sämtlichen Werke Feuerbachs, S. 26). Tugenden werden also von Feuerbach vergöttlicht, und dies kann der Mensch durchaus leisten, meint er, weil im Menschen doch noch eine gewisse Unendlichkeit lebt: „Es gibt eine Unendlichkeit des Denkvermögens“… „fühlst du das Unendliche, so fühlst und betätigst du das Unendliche“ (VI. Band, S 10). Diese Ambivalenz als Ja und Nein zum Unendlichen, als Ja und Nein zu etwas Göttlichem…. ist typisch für Feuerbach.

6. Was ist Wirklichkeit?


Mit allem Nachdruck muss unterstrichen werden, dass der Übergang von Hegel zu Feuerbach sich an der unterschiedlichen Erfahrung und Wertung des Wirklichen festmachen lässt. Das Christentum und seine klassische Theologie war bis ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) durchaus ein Feind der sinnlichen, irdischen, leiblichen und sexuellen Erfahrung. Die entsprechenden moralischen Abweisungen des Irdischen, Sexuellen etc. des Apostels Paulus und seiner Schüler, formuliert in den zum Neuen Testament gehörenden Briefen, sind bekannt. Die Philosophin Ursula Reitmeyer fasst Feuerbachs Position zusammen: „Erst mit der Etablierung des sinnenfeindlichen Christentums, das den Verlust der sinnlichen Vernunft durch eine Ästhetik des Übersinnlichen kompensiere, habe sich formelhaftes Wissen an die Stelle eines lebensweltlichen Materialismus gesetzt. Folge sei, daß der wirkliche, real arbeitende Mensch, ebenso entmündigt wie entleiblicht, seine Existenz kaum fristen könne, während sich das System und mit ihr die Elite permanent reproduziert. (Ursula Reitemeyer, in dem Beitrag „Über Feuerbach“, https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/ueber/index.html).

7. Kritische Hinweise zu Ludwig Feuerbachs Philosophie:


Feuerbach hat das leidenschaftliche Interesse, an die Stelle der Theologie die Anthropologie zu setzen, und dabei musste er bei seinem auf Sinnlichkeit fixierten Anthropologie – Begriff unbedingt auf metaphysische Spekulationen – etwa im Sinne der Vernunftphilosophie seines Lehrers Hegel – verzichten. Bei diesem radikalen Bruch in der Geschichte des Denkens hat Feuerbach bestimmte Differenzierungen und Nuancen übersehen. Abgesehen davon, dass Feuerbach Aussagen in „Das Wesen des Christentums“ durchaus sehr langatmig und gedehnt erscheinen, der Philosoph Walter Schulz nennt sie vornehm „weitausholend“ („Philosophie in der veränderten Welt“, Neske Verlag, 1980, S. 371). Wichtiger sind inhaltliche, philosophische Vorbehalte zu einigen zentralen Thesen Feuerbachs im „Wesen des Christentums“: „Feuerbach hat die (zentrale) These, dass der Mensch ein sinnliches Wesen sei, zwar propagiert – seine Schriften sind, wie die Titel zeigen, zumeist überhaupt Programmentwürfe – aber nicht wirklich reflektiert“ (, so Walter Schulz a.a.O., S 376). Walter Schulz meint, Feuerbach habe einfach die traditionelle Überzeugung, dass die Vernunft das Herrschende sei, in ihr Gegenteil verkehrt: “Der Mensch ist wesentlich NICHT von der Vernunft, sondern vom nichtvernünftigen Willen, dessen Träger der Leib ist, bedingt“ (a.a.O.).
Von Gott kann sich Feuerbachs Anthropologie auch nicht ganz befreien, auch daran muss noch einmal nachdrücklich erinnert werden: Feuerbach muss zur Bewertung des Menschen und die Bindung des einzelnen an die Gattung des Menschen dann doch auf Qualitäten des Göttlichen zurückgreifen: Der abgeschaffte Gott hinterläßt der gottlosen Menschheit die Bindung an die göttlichen und heiligen Prädikate des göttlichen Wesens. Denn bestimmte gute Eigenschaften hatte die Menschheit Gott zugeschrieben, jetzt sollen diese Eigenschaften allein als göttlich gelten. Der Mensch kommt also für Feuerbach nicht vom Göttlichen los, das kann daran liegen, dass, wie Hegel richtig sah, das schöpferische Göttliche (absoluter Geist) eben doch im Menschen wirkt. Religionen sind dann also Ausdruck der Geistigkeit des Menschen. Das deutet Feuerbach selbst an, wenn er Vernunft, Wille, Liebe, als Kräfte bezeichnet, die der Mensch nicht gemacht hat, die also „göttliche, absolute Mächte sind, denen der Mensch keinen Widerstand entgegensetzen kann“ (zit. in Weischedel, a.a.O, S. 400, auch Feuerbach Sämtliche Werke, Band VI 3f.).
Karl Löwith schreibt in seinem Buch „“Von Hegel zu Nietzsche“ (S. 96). „Gemessen mit dem Maß von Hegels Geschichte des Geistes muss Feuerbachs massiver Sensualismus gegenüber Hegels begrifflich organisierter Idee als ein Rückschritt erscheinen, als eine Barbarisierung des Denkens , die den Gehalt durch Schwulst und Gesinnung ersetzt“ .

8. Das Ende der Philosophie?

Feuerbach selbst betonte, sein Denken als ein Denken der Sinnlichkeit, der sinnlichen Wirklichkeit von Welt und Mensch, sei bereits eine Negation der Philosophie, also der klassischen, Hegelschen Philosophie. Feuerbach meinte sogar, „sein Denken sei gar keine Philosophie mehr“. Die spekulative Philosophie sei – so wörtlich- eine betrunkene Philosophie. „Die Philosophie muss daher wieder nüchtern werden“, also nicht spekulativ, sondern sinnlich werden. (zit bei Weischedel, a.a.O., S. 392). Dabei sind viele Formulierungen Feuerbachs, leidenschaftlich und polemisch, alles andere als Ausdruck einer „nüchternen Philosophie“.
Nur in dieser Haltung glaubte Feuerbach, den „Menschen zur Sache der Philosophie zu machen“, eine Philosophie, die wie gesagt, die ihr eigenes Ende einläutet, also explizit sich selbst aufheben will und dies behauptet. Feuerbach sagt: „Die wahre Philosophie ist die Negation der Philosophie, ist keine Philosophie“ (Feuerbach Sämtliche Schriften, II, 409 f., zit auch bei Weischedel, a.a.O. 395).
Tatsächlich aber waren die Gedanken Feuerbach dann doch wieder Ausdruck von Philosophie, wie sollte es auch anders sein, man denke an Feuerbachs Reden von der Unendlichkeit des menschlichen Bewusstsein oder von der Göttlichkeit der menschlichen Prädikate Gottes.
Ludwig Feuerbach ist der durchaus irritierende, wenn nicht verwirrende Philosoph bzw., wie er selbst sagt „Nicht-Philosoph“, der wegen seiner populär verbreiteten Slogans eine enorme Wirkungsgeschichte hat. Aber eins ist sicher: Atheist – als heftiger Feind alles Göttlichen- war Feuerbach sicher nicht, wie auch Vittorio Hösle betont, und Feuerbach war kein heftiger Feind des Christentums und der Kirche, wie Nietzsche. Feuerbach bleibt ein Denker der „Zwischenstellung“, zwischen klassischer, sich noch fürs Christliche interessierenden Philosophie und der radikalen Gesellschaftskritik bzw. dem radikalen Atheismus. Für ihn ist Gott keine „himmlische Person“, die Abwehr der göttlichen Person verbindet ihn zwar mit Hegel, hingegen hielt Hegel bekanntlich an einer eigenständigen Wirklichkeit des „absoluten Geistes“ fest.

9. Gott ist die Liebe. Die Liebe ist göttlich.


Man darf nicht vergessen: Feuerbachs Grundsatz war: „Gott ist die Liebe“, verstanden als „Die Liebe ist göttlich“. Also das Höchste, Wichtigste überhaupt. Die Liebe sei zudem der Maßstab im Leben Jesu Christi. Daraus schließt Feuerbach: „Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt … der ist Christ, der ist Christus selbst“ (zit. In Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“, S. 172). Diese selbstverständlich erotische, sinnliche Liebe zum Menschen, zeichnet diesen irritierenden religiös – atheistischen Denker Ludwig Feuerbach besonders aus. Er versuchte im 28. Kapitel seines „Wesen des Christentums“ die anthropologisch (!) relevante Dimension der kirchlichen Sakramente aufzuzeigen, etwa das christliche Abendmahl, verstanden als das Essen und Trinken als ein „Mysterium“ (S. 409 ff, in Reclam Ausgabe, 1971).
Feuerbach beendet diese seine umfangreiche Studie mit einer Übersetzung des christlichen Abendmahls in eine noch mögliche weltliche Bedeutung mit den Worten: „Heilig sei darum das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser! Amen.“ Das Amen beendet dieses grundlegende religionskritische Werk! Der Philosoph Vittorio Hösle findet dieses „Amen am Ende des Buches nicht aufgesetzt“ (a.a.O. . 172). Das Amen ist sicher Ausdruck des irritierend frommen wie religionskritischen Denkers Feuerbach. Glaubte er mit seinem Opus eine neue, anthropologische Predigt gehalten zu haben? Vielleicht!

Ich empfehle die Studien der „Arbeitsstelle Internationale Feuerbach-Forschung“ in Münster zu beachten, mit der Prof. Ursula Reitemeyer. Siehe: https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/index.html.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Struktur und Verfassung der katholischen Kirche sind Menschenwerk. Und deswegen wandelbar und korrigierbar.

Kritik und Zurpückweisung der klerikalen Ideologie, vertreten durch Kardinal Ludwig Müller.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Kardinal Ludwig Müller (Rom) behauptet im Juli 2022: „Der Grund (meiner Ablehnung tiefgreifender Kirchen-Reformen) ist, dass die Kirche von Jesus Christus eingesetzt und entworfen worden ist. Wir haben keine Vollmacht, diese Ordnung zu verändern“.

2.
Das sagt Kardinal Ludwig Müller (74 Jahre), von Papst Franziskus als Chef der obersten Glaubensbehörde im Juli 2017 abgesetzt. Seitdem ist er heftiger Gegner von Papst Franziskus.
Müller wohnt in der einstigen großzügigen Wohnung seines alten Gönners, Kardinal Joseph Ratzinger, ganz dicht am Vatikan. Er verbreitet seine Theologie, die vor wissenschaftlichen Standards keinen Bestand hat. Müller will tiefgreifende Reformen des römischen klerikalen Systems mit einer falschen Theologie bremsen und verhindern.
Theologisch nicht gebildete Leute fallen auf Müllers Sprüche rein. Sie wissen nicht, dass die oben zitierten Aussagen des Kardinals, der als Theologieprofessor in München arbeitete und Priester ausbildete, schlicht und einfach überholt und falsch sind. Es steht fest: Die katholische Theologie ist eine kritische Wissenschaft, falls sie sich nicht gängeln lässt von uralten Vorgaben und Kontrollen der kirchlichen Herrschaft. Auch eine freie und umfassend kritische katholische Theologie also erkennt Falsches und Wahres, wissenschaftlich Erwiesenes und in der Phantasie Erdachtes.
Müllers oben zitierte Abweisung von tiefgreifenden Kirchenreformen, wie sie der Synodale Weg in Deutschland vorschlägt, sind also Ausdruck einer uralten klerikalen Ideologie, die nur dazu dient, den Status quo zu schützen und zu erhalten. Trotz der theologisch – wissenschaftlichen Inkompetenz Ludwig Müllers lässt er sich als Kardinal „Eminenz“ anreden, in der offiziellen Vatikan-Sprache ist er also ein „Herausragender“, eine „Hoheit“. Und diese Eminenz äußerte sich also in dem genannten Zitat, es wurde veröffentlicht im „Tagesspiegel“, 1.8.2022, S. 4 oder in der „Süddeutschen Zeitung“, 1.8.2022, Seite 6.

3.
Die theologischen Fehler in der Argumentation Müllers wenigstens in Grundzügen darzustellen, ist alles andere als eine theologische Spitzfindigkeit, und keineswegs nur wichtig für einige Spezialisten. Daran sollten doch weite Kreise interessiert sein: Es geht um ein wissenschaftlich korrektes, also ein vernünftiges Verstehen von dem, was katholische Kirche eigentlich ist. Sie ist ein Werk von Menschen und deswegen stets reformierbar, also korrigierbar. Nur wenn man, wie die Klerus-Herrschaft es versucht, die katholische Kirche als Gottes Werk ( oder auch Christi Werk) versteht, wird sie wie Gott in die Ewigkeiten der Unwandelbarkeit erhoben. Und der Klerus kann seine Allmacht bewahren. Um dieses Problem also geht es!

4.
„Jesus Christus“ also soll – so Eminenz Ludwig Müller – die katholische Kirche „eingesetzt und entworfen haben“.
Der Fehler beginnt ganz entschieden damit, dass Müller von „Jesus Christus“ in einer Weise spricht, als wären beide Namen, also Jesus wie auch Christus, Eigennamen für eine historische Person, so, wie man etwa von einem „Hans Peter“ oder einem „Friedrich Wilhelm“ spricht.
Hingegen ist wahr: Eigenname als Vorname für eine historische nachweisbare Person ist allein der Name Jesus. Es ist Jesus von Nazareth, der jüdische Wanderprediger, der um 5 vor unserer Zeitrechnung geboren und im Jahre 30 in Jerusalem am Kreuz gestorben ist.
Die Bezeichnung „Christus“ ist hingegen kein Name, der eine historische Person nennt! Sondern Christus benennt nur eine besondere Qualität, in dem Fall die Qualität dieses Menschen Jesus von Nazareth. Die besondere Qualität „Christus“ bzw. „Messias“ im jüdischen Sinne meint keine göttliche Qualität, wie später die Kirchenführer behaupteten, sondern „Christus“ bzw. „Messias“ benennt nur eine besondere Auszeichnung eines Wanderpredigers als einem „Gesandten Gottes“ oder einem „König, der Heil bringt“.
Wer die Formel „Jesus Christus“ verwendet, meint also NICHT eine historische Person unter diesem Doppel-Namen. Sondern: Jesus von Nazareth, der nach etliche Jahre nach seinem Tod von Menschen gedeutet wurde als der „Christus“ bzw. (synonym) „Messias“ bzw. „der Gesalbte“. Aber diese Qualitäten werten diesen Jesus von Nazareth NICHT als Gott oder Gottes Sohn auf.

5.
Paulus, einst der Pharisäer Saulus, hat Jesus von Nazareth nicht persönlich gekannt, die 4 Evangelien konnte er nicht kennen, weil sie zu seinen Lebzeiten noch nicht verfasst waren. Paulus spricht in seinen authentischen Briefen vom Messias Jesus oder auch von Jesus Christus, im Sinne, wie oben beschrieben, also von Jesus als dem Christus, als dem von Gott Gesalbten. „Wenn Paulus in Jesus Christus einen Gott (oder Gott-Sohn) gesehen hätte, wäre es völlig widersinnig, wenn Paulus wörtlich zugleich auch von einem „Gott unseres Herrn Jesus Christus“ sprechen würde. Denn das hieße zu behaupten, dass dieser (angebliche) Gott Jesus noch einen Gott über sich haben würde. (Hermann Baum, „Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht“, Düsseldorf 2006, S. 59). Jesus von Nazareth sah sich selbst nicht als ein ein göttliches Wesen oder gar als eine zweite Person einer göttlichen Trinität.

6.
Der historische Jesus von Nazareth hatte, wissenschaftlich eindeutig erwiesen, keine Ambition, eine Kirche zu gründen. Jesus war so sehr auf ein baldiges Ende der Welt fixiert, dass ihn eine Kirchenorganisation mit Klerus und Sakramenten gar nicht in den Sinn kam. „Mit der Naherwartung Jesu – also der Erwartung eines bevorstehenden Welten-Endes – lässt sich die Absicht, eine Kirche zu gründen nicht vereinbaren“ (Hermann Baum, a.a.O., S 80).

7.
Es sind Menschen, die ersten Gemeinden, die sich auf Jesus Nazareth als Messias beziehen und sich dabei als eigene Gruppe zuerst versuchsweise innerhalb des Judentums, dann neben dem Judentum explizit konstituieren, die ihren „Meister“ Jesus von Nazareth als eine besondere und einmalige Gestalt deuten …. bis hin zum Johannes Evangelium, das Jesus mit dem göttlichen (himmlischen) Logos identifiziert, Jesus als Logos und damit als Wirklichkeit des transzendenten Gottes. Diese ins Göttliche weisende Interpretation des Johannes -Evangeliums wurde 60 Jahre nach Jesu Tod verfasst. Der Theologe Tertullian (ca.160-220) spricht bereits explizit von „Jesus Christus unserem Gott, der die Apostel sandte zu predigen…“ (zit. in Maurice Sachot, „L Invention du Christ“, Paris 2011, S. 211).

8.
Mit dieser von Menschen geleisteten absoluten Höchststellung Jesu von Nazareth geht auch der Ausbau der Kirche- Institutionen einher, die immer mehr vom Klerus bestimmt und beherrscht werden bzw. In den ersten Jahrhunderten von den theologisch einflussreichen, christlich, kirchlich, gewordenen römischen Kaisern.
Diese Interpretation (Jesus als Gott) ist Ausdruck einer Machtpolitik: Indem die Hierarchie beanspruchte, einzig kompetent die Bibel zu deuten und die Dogmen zu lehren, zog sie ihren Gott Christus als ideologische Stütze auf ihre Seite, also den ewigen Gott innerhalb der Trinität, der als der Ewige (d.h. damals Unwandelbare) natürlich keine Veränderungen und Reformen „seiner“ Kirche wünscht. „Wie es war im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit, Amen“, heißt es so schön in einer beliebten Gebets-Formel, die eigentlich nur den göttlichen Stillstand und die Unwandelbarkeit formuliert. Erst wenn Menschen Jesus zum Gott Christus erklären, hat die Hierarchie Chancen, ihre Macht auszuüben.
Der Klerus, die Priester, verstehen sich in besonderer Nähe zu der göttlichen Wirklichkeit, nur sie allein können (und dürfen) Brot und Wein in Jesu Leib und Blut verwandeln, wie die katholische Kirche lehrt.

9.
Die Kirchenführer sind so klug, diese ihre Auszeichnung Jesu von Nazareth als des göttlichen Christus nicht als ihre menschliche Verfügung und Tat hinzustellen. Sie sagen: Jesus als den Gott-Menschlichen Jesus Christus zu bezeichnen ist gnadenhafte Tat des göttlichen Geistes, also Gottes selbst. Sie haben sich vorher theologisch abgesichert, indem sie behaupten: Gott selbst will, dass der Klerus dogmatischen Traditionen schafft, also das Dogma formuliert: „Jesus von Nazareth ist der Gott-Mensch Jesus Christus“.
Ob nun mit heiligem Geist oder bloß mit menschlichem Geist erdacht: Die Kirche ist ein Werk von Menschen. Sie ist nicht Tat einer imaginären Person „Jesus Christus“, Christus ist nur ein schlichter Ehrentitel, mehr nicht, Christus ist keine einzelne Person unter diesem Namen.

10.
Aber im Laufe der Kirchengeschichte hat sich populär und offiziell die Meinung durchgesetzt, Jesus von Nazareth sei von vornherein kein anderer als der Gott-Mensch Jesus Christus, oft nur Christus genannt. Man denke nur an den theologischen Unsinn populärer Weihnachtslieder mit ihrer Behauptung: Jesus sei in seiner Krippe zu Bethlehem ein „göttliches Kind“. „Des ewigen Vaters einig Kind, jetzt man in der Krippe findet“ usw…
Aber diese Theologie, die meint, es gebe eine historische Person mit dem Namen Jesus Christus wird auch bis heute offiziell verbreitet, etwa in der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ des 2. Vatikanischen Konzils (1962-65). Dieser zentrale Text stellt von Anfang an klar, dass eine Person, hier sogar nun kurz „Christus“ genannt, „das Reich der Himmel auf Erden begründet hat“ (§ 3). Unmittelbar daran anschließend ist von „Kirche“ (auch von dieser nur „Christus“ genannten Gestalt gegründet) die Rede. „Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi….“ (§ 3).

11..
Noch einmal zur Behauptung von Kardinal Müller.
Diese Analyse der Behauptung Müllers zeigt: Die katholische Kirche, wie alle anderen christlichen Kirchen, sind Werk von Menschen. Es ereignete sich keine Geheimoffenbarung in den Vatikanischen Gärten oder sonst wo, in der Gott selbst gesprochen hat, bestimmte auf ewig fixierte Kirchenstrukturen zu schaffen. Das Kardinalskollegium wie das Papsttum und die Sakramente und die Gestalt der Gottesdienste sind Menschenwerk, entstanden im Laufe der Kirchengeschichte.
Kardinal Müller aber behauptet in dem oben genannten Zitat: Dieser menschlich – göttliche Jesus Christus habe „DIE“ Kirche „eingesetzt“. Das Datum der „Einsetzung“ als angeblich historisches Ereignis wird nicht genannt und kann auch nicht genannt werden. Pfingsten hat kein Datum innerhalb der Weltgeschichte, die so genannte „Himmelfahrt Jesu“ auch nicht, in den fromm erdachten „Erlebnissen“ wurde jedenfalls noch nicht an die Struktur einer Klerus-Kirche gedacht.
Das Wort „Einsetzen“ wird von Müller verwendet, ein merkwürdiges Wort für die Kirchengründung. Müller hat offenbar doch Angst zu sagen, die Person Jesus Christus habe die Kirche gestiftet bzw. gegründet. Das kann selbst Müller als Theologieprofessor nicht meinen, er weiß doch in gewisser Weise: Jesus von Nazareth dachte nicht im entferntesten an eine Kirchengründung…
Die Behauptungen Kardinal Müllers werden noch irritierender:: Jesus Christus habe die Kirche, so wörtlich, ENTWORFEN. Was ist ein Entwurf? Eine Vorlage, der dann die Bauleute folgen. Also sind die gebauten Strukturen dieser römischen Kirche, so wie sie sind, von diesem Jesus Christus (wer immer das sein mag) irgendwie implizit doch gewollt? Damit wird wieder Tür und Tor geöffnet für die schon beschriebene Vorstellung: Diese Person, nun Jesus Christus genannt, wollte also diese faktische Klerusherrschaft, Jesus Christus wollte also diese Zölibats-Strukturen, die auch zu dem tausendfachen sexuellen Missbrauch durch Kleriker führten und führen? Jesus Christus wollte allen Ernstes, dass Frauen keine priesterlichen Ämter in dieser Kirche ausüben, nur weil die theologisch ungebildeten Kardinäle glauben: Aus der Berufung von 12 Männern zu Aposteln durch Jesus von Nazareth seien Frauen als Apostel ausgeschlossen…Das war Jesu „Entwurf“?

12.
Man denkt manchmal, wenn man die Texte Müllers liest, an Dogmen der neoliberalen Herrscher heute erinnert zu werden, vor allem an deren Aussage „There ist no Alternative“. Kardinal Müller scheint an diese Ideologie gebunden zu sein, wenn er allen Ernstes behauptet: „Wir (also Müller und der Klerus ) haben keine Vollmacht, diese Ordnung zu verändern“. Das ist es wieder: „There is no alternative!“. Eine erbärmliche Welt, eine erbärmliche Kirche, die keine Alternative sieht zu ihrer jetzigen Gestalt und Struktur.

13.
Man sollte daran erinnern, dass Eminenz Müller sich auch nicht dazu hinreissen lässt, zukünftige Reformen der Römischen Kirche als „Zugeständnisse an den Zeitgeist“ zu nennen. Aber: Was ist denn der Zeitgeist? Es ist der Geist dieser Zeit des 21. Jahrhunderts, ein Geist, eine Form von Mentalitäten und Überzeugungen, von denen Christen und theologisch Gebildete wissen: Es ist der Geist Gottes, der auch im 21. Jahrhundert irgendwie wirkt und „weht“. Demokratie, Menschenrechte, Frauenemanzipation, gleiche Rechte für Homosexuelle, Lebensrechte für die Armen, Aufteilung des Kirchenbesitzes zugunsten der Armen usw. sind der gute Geist der Zeit, theologisch gesehen: Ausdruck des heiligen Geistes.
Wer aber, wie seine Eminenz, Herr Müller, in Abrede stellt, dass jede Zeit, auch unsere Zeit, irgendwie und irgendwo doch noch vom göttlichen Geist durchweht ist, der wurde einst und wird heute Atheist genannt, also ein Mensch, der nicht mehr an die Wirkkraft des göttlichen Geistes in allen Zeiten glaubt.

14.
Diese Kleruskirche beansprucht eine „heilige Kirche“ zu sein.
Im offiziellen katholischen Glaubensbekenntnis, dem „Apostolischen Glaubensbekenntnis“ müssen die Glaubenden bekennen:“Ich glaube an die HEILIGE katholische Kirche“. Das genauso offizielle Glaubensbekenntnis des ökumenischen Konzils von Konstantinopel (381) formuliert: „Wir glauben an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“. Auch die Evangelische Kirche (EKD) hält fest am Apostolischen Glaubensbekenntnis, und formuliert: „Ich glaube an die heilige (!) christliche Kirche… Das „katholisch“ wurde ökumenisch weit durch „christlich“ ersetzt, das „heilig“ blieb erhalten..
Tatsache ist für jeden Christen: Heilig ist einzig und allein Gott. Außer Gott noch etwas oder jemanden heilig zu nennen, ist eigentlich eine Gotteslästerung. Aber diese Grenzüberschreitungen sind üblich, zumal im Katholizismus: Da gibt es den „heiligen Vater“, den Papst oder „die heilige Kirche“: Davon spricht das 2. Vatikanische Konzil ständig: In § 8 der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ wird Christus (nicht etwa Jesus Christus, sondern, Christus behauptet als selbständige Person ) als Gründer der Kirche wieder einmal genannt: „Christus hat seine HEILIGE Kirche hier auf Erden verfasst…“ Eine sehr mysteriös anmutende Erklärung für die Heiligkeit der Kirche bietet der offizielle katholische Katechismus (Vatikan 1993) im § 823 mit Verweis auf das genannte Dokument des 2. Vatikanischen Konzils: Als Begründung heißt es im Katechismus. „Christus der Sohn Gottes, hat die Kirche als seine Braut geliebt, indem er sich für sie (offenbar am Kreuz, C.M.) hingab, um sie zu heiligen“. Die Heiligkeit des Sohnes Gottes als Kirchengründer überträgt sich auf die Institution der Kirche, hier mal eine „Braut“ genannt. Die Institution, die Verfassung mit der Hierarchie usw., soll also heilig sein und heilig ist im klassischen Verständnis immer unwandelbar! Überhaupt nicht heilig sind hingegen die allermeisten Mitglieder dieser Kirche, sie sind Sünder, das wird offen von den Päpsten seit Johannes Paul II. zugegeben. Aber diese sündigen Mitglieder der Kirche belasten oder verstören bzw. zerstören diese Kirche als Institution ganz und gar nicht, so die offizielle Lehre. Die Kirche als Institution, als göttliches Projekt oder gar als „Idee“, bleibt ewig heilig, und das heißt immer auch unveränderlich., siehe die einschlägige Meinung Kardinal Müllers. Mit anderen Worten: Diese Art von Theologie als Ideologie des herrschenden Klerus kann eigentlich nicht aufgebrochen werden, sie ist in sich verschlossen, erratisch. In dem Sinne auch: Sie macht hoffnungslos.

15. Zusammenfassung:
„Das Christentum ist eine Religion, die nicht bereits von Jesus gestiftet und festgeschrieben worden ist, sondern das Ergebnis einer zweitausend jährigen Entwicklung, geprägt von Menschen, deren grundsätzliche Irrtumsfähigkeit außer Zweifel steht“ ( Prof. Hermann Baum, a.a.O., S. 221).

16. Ausblick:
Nur eine grundlegende Transformation der katholischen Kirche zu einer demokratisch verfassten Gemeinschaft, ohne allmächtige, angeblich gottgewollte Hierarchie, hat eine Zukunft. Natürlich, diese Kirche in der jetzigen Struktur kann wie ein steinernes Skelett noch lange fortbestehen, solange Menschen diese Herrschaft aus Autoritätshörigkeit und Angst finanziell unterstützen.
Aber: Diese neue Gemeinschaft wird im Rahmen der Transformation viele ihrer Glaubensinhalte endlich beiseite legen und dies als Befreiung erleben. Der offizielle katholische Katechismus wird von jetzt 2865 Paragraphen zu Dogma und Moral (2875 Paragraphen in der Ausgabe des Vatikans, 1993) auf vielleicht 50 reduziert. Viele nebulöse, mythologische, d.h. unwissenschaftliche Interpretationen der Bibel, die im Dienst der Klerusherrschaft stehen, werden dann ausgelöscht sein. Und diese Gemeinschaft hat dann vielleicht noch Chancen, Menschen spirituelle Impulse, politische Ideen zugunsten der lebendigen Menschenrechte, also Hilfe und umfangreiche Befreiung und Heilung anzubieten.

17. Weitreichende Konsequenzen
Wenn Jesus von Nazareth als der Messias, aber nicht als der zum Gott gemachte Christus, anerkannt wird:
Dann muss u.a. die Trinitätstheologie neu bestimmt werden, siehe auch die Abwehr dieser 3 Personen – Trinitätslehre durch den katholischen Theologen Edward Schillebeeckx…
Dann muss die klassische, sich orthodox nennende Erlösungslehre („erlöst durch Jesus Christus“) neu bestimmt werden. In keinem Fall ist dann noch Jesus Christus als der von Gott zum erlösenden Kreuzestod zu den Menschen entsandte Sohn Gottes relevant. Vielmehr: Jesus als der Messias (nicht der göttliche Christus !) ist in der neuen Theologie erlösend, befreiend, zum Frieden inspirierend als das befreiende Vorbild.
Dann wird auch die sich orthodox nennende Lehre von der Erbsünde („totale Verfallenheit aller Menschen an eine sich durch die Sexualität immer fortsetzende Sünde Adam und Evas) beiseite gelegt.
Dann wird neu nachgedacht werden über die spirituellen Versammlungen der Gläubigen (Gottesdienste, Messen, genannt), die selbstverständlich jeder und jede gut ausbildete Gläubige leiten kann…

18. Finis: Ein Zitat für bibelfeste und bibeltreue LeserInnen:

Im Zusammenhang der Klerus – Kritik lohnt es sich immer, das 23. Kapitel des Matthäus-Evangeliums zu lesen „Worte gegen die Schriftgelehrten und die Pharisäer“, also übersetzt gegen den heutigen Klerus und seine Theologen.
Ich zitiere zum Schluss den Vers 4: „Sie (die Kleriker) schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen“.
Und Vers 13 heißt. „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.