Die Lehren der Philosophie. Eine Buchempfehlung

“Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik”

Zu einem Buch von Michael Hampe

Von Christian Modehn

Dieses Buch wird unseren „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ in diesem Jahr 2015 und darüber hinaus begleiten: Als Inspiration, als Kritik an festgefahrenen Vorstellungen, als Eröffnung neuer Möglichkeiten philosophischen Denkens und philosophischen Lebens. Das gilt, auch wenn das großartige Buch von Michael Hampe (Professor in Zürich) einige Fragen offen lässt, wie sollte es anders sein. Und auch, wenn das uns besonders interessierende Thema, die Möglichkeit Religion/Gott/Göttliches philosophisch zu denken, nicht in der von uns vielleicht ersehnten Ausführlichkeit diskutiert wird.

Es ist naturgemäß unmöglich, das 455 Seiten umfassende Buch auch nur annährend in Kürze zu würdigen. Ich möchte nur aus meiner Sicht auf einige besonders inspirierende Erkenntnisse Michael Hampes hinweisen, die hoffentlich zu weiterer Lektüre und Auseinandersetzung bei den LeserInnen führen. Die Verweise auf die Seiten beziehen sich ausschließlich auf das Buch, das im Suhrkamp Verlag 2014 erschienen ist.

Zentral ist der Vorschlag, Philosophie nicht länger nur als doktrinäre Lehre und behauptende Wissenschaft zu verstehen und zu praktizieren, also nicht länger nur ausgefeilte Systeme, Kantianismus, Hegelianismus, Thomismus usw. für Gestalten akademischer (Universitäts)-Philosophie zu halten. Es gibt daneben eine ganze Welt „anderer Philosophie“, die sich sehr stark an Sokrates orientiert, die mehr das Fragen als das Wissen liebt, mehr die Zweifel als die Gewissheit.

Philosophie ist für Hampe „eine Tätigkeit des Nachdenkens“, „die als nicht doktrinäres, aber auch nicht narratives Reflektieren ein intellektuelles Projekt sui generis darstellt“ (74). Mit anderen Worten: Philosophie ist zuerst Philosophieren als geistige Tätigkeit des einzelnen und auch in kleiner Gruppe, und dies muss nicht zuerst an einer Universität durch verbeamtete Professoren (55) geschehen. In unserer Sicht kann ein philosophischer Salon auch der treffende Ort des „nichtdoktrinären Nachdenkens“ sein. Das Stichwort „philosophischer Salon“ fällt unseres Wissens nicht in dem Buch, die Sache aber wird durchaus von Michael Hampe angezielt. Denn es kommt alles darauf an, Fragen zu stellen, die nicht nur aus dem internen Disput der Fachphilosophen erwachsen, sondern die aus dem Leben der TeilnehmerInnen sich aufdrängen. „Die philosophische Rede führt uns eigene Erfahrungen distanzierend vor Augen. Sie sucht nach den richtigen Begriffen für diese Erfahrungen und fragt, wie diese zu bewerten sind“ (74). Und diese Erfahrungen sind jeweils neu und immer anders, so dass sich Philosophie als ein andauernder Neubeginn verstehen sollte. Sie ist keine Wissenschaft, die Schritt für Schritt allgemein gültige Erkenntnisse niederlegt, Philosophie ist ganz anders, spielt eine Sonderrolle im Gesamt der Wissenschaften und Künste. „Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik“, steht auf dem Buchumschlag. Philosophie lernt man vor allem, indem man eine hohe Sensibilität für je individuelle Lebenserfahrungen pflegt, die sich je anderen Texten mit je anderer Sprache ausdrücken. Philosophieren ist darum stets Neubeginnen.

Der sokratische Impuls des Fragens, des Erschütterns, des Offenhaltens, zieht sich für Hampe durch die ganze Geschichte der Philosophie verstanden als nicht-doktrinäre Philosophie. Diese Tradition gilt es neu zu beleben, damit Philosophie wieder „etwas Persönliches“ (54) wird und die „Deplaziertheit lehrbuchartiger Texte“ (ebd.) freigelegt wird. Wer diese auf die Individualität abhebende Philosophie fördert und fordert, will sozusagen den einzelnen retten vor der gängigen Vereinnahmung in Allgemeinbegriffe. Dabei ist sich der Autor durchaus bewusst, dass auch im Ausdruck einer individuellen Einzelerfahrung durchaus allgemeine Begriffe eine Rolle spielen. Die Frage aber ist, wird das Gesicht des einzelnen deutlich oder wird dieses Individuum eher mit der allgemeinen Maske des allgemein Menschlichen versehen. Um die Geltung des Individuums muss die nicht-doktinäre Philosophie ringen. Und sie findet Impulse für diesen Weg durchaus in der Literatur, die ja bekanntermaßen nicht von „dem“ Menschen spricht. Diese Hinweise Hampes verlangen eine weitere ausführliche Diskussion, er selbst verweist auf John M. Coetzees Roman „Elizabeth Costello“. Da wird deutlich, wie “Romanautoren” selbst philosophische “Leistungen” vollziehen.

Es sind oft auch einzelne, kleinere Passagen in Hampes Buch, die zu ausführlicherem Nachdenken und Debattieren einladen. So etwa, wenn er schreibt, das philosophische Experimentieren mit Begriffen aus der Überzeugung geschieht, „dass unser Sprechen und unser Leben so miteinander verbunden sind, dass eine gemeinsame Veränderung in unserem Sprechen auch eine Veränderung in unserem Leben darstellt“ (67). Noch deutlicher: Mit der Liebe zur Weisheit verbindet sich die Hoffnung, dass sich „unser Leben verbessern lässt, wenn wir unsere Sprache verändern“ (68). Die praktische Relevanz des individuellen Philosophierens, also der Pflege der Weisheit, wird so klar formuliert: „Durch Nachdenken zu einem besseren Leben“ zu kommen. Und das Nachdenken sich und anderen sagen, in Worten, die individuell berührend, in die Tiefe gehend sind, und deswegen verändernde Kraft haben können.

Viel Beachtung verdienen auch die Hinweise zu einer aus dem individuellen Leben heraus sprechenden Philosophie, die sich der Grenzen der begrifflichen Sprache bewusst ist: Und dann eher das Schweigen bevorzugt, aber nicht das beliebige Verstummen der Sprachlosen ist gemeint, sondern das wissende Schweigen derer, die ihr gemeinsames Schweigen verstehen und bejahen. Da werden Dimensionen der Mystik berührt oder Heideggers Hinweise zum „Erschweigen“ angesichts der Seinserfahrung. Interessant ist dabei der knappe Hinweis auf das Schweigen Jesu während seines Prozesses (381 f.).

Das Buch verlangt höchste Konzentration, und manchmal wünscht sich der Leser etwa kürzere, d.h. überschaubarere Sätze, um sozusagen nicht den „rationalen Atem“ zu verlieren. Aber der Leser wird von kritischen Hinweisen etwa zur Unkultur des Kapitalismus belohnt: „Indem Menschen sich als strategisch Handelnde in einer Konkurrenz um Ressourcen deuten, werden sie im Laufe der Zeit zu Personen, die vor allem strategisch handeln und denen alles als knappe Ressource erscheint“ (42). So werden Menschen verdinglicht…

Mit besonderem Vergnügen werden wahrscheinlich die Ausführungen über Sokrates gelesen, dem Inbild einer nicht-doktrinären Philosophie, so Hampe. Nicht das Aufstellen von Behauptungen sei für Sokrates zentral, sondern deren Infragestellung. „Er stellt Behauptungen in Frage, ohne sie durch vermeintlich bessere zu ersetzen“ (47).

Die Frage bleibt, ob dieses offene sokratische Infragestellen nicht doch von einem noch unthematischen Wissen her bestimmt ist. Auf die Angewiesenheit auch der nichtdoktrinären Philosophie eben nun doch auf gewisse Überzeugungen (Doktrinen?) wäre noch einmal später zurückzukommen.

Das Buch könnte meiner Meinung eine Art ausführliche Einleitung sein für die Entwicklung einer nicht-doktrinären Philosophie in vielen fogenden Büchern, die thematisch ausführlich behandeln was in dieser bislang eher marginalen Art des Philosophierens zu Themen wie „Mein Leben“, „mein Lieben“, „meine Welt“, „mein Gott“ usw. zu sagen Not tut.

Copyright: Christian Modehn

Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp Verlag 2014. 455 Seiten. Leider ohne Namens – und Sachregister.

 

Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Von Elisabeth Hoffmann, am 30.12.2014 (dem 101. Geburtstag meines Vaters)

Wer wird da sein, wenn niemand da ist? Wer kann mich wirklich im Innersten verstehen? Wer kann immer da sein und segnend die geistigen Hände über mich halten, wenn ich falle? Wer kann spüren, was ich spüre? Den großen Schmerz ermessen, der mein Sein zum Werden zwingt? Wer ist da, wenn niemand mehr da ist? Wer kann mich ernst nehmen, wenn ich an Grenzen komme, wenn ich am Ende bin mit meiner Zuversicht, den nächsten Tag, das nächste Jahr so zu durchschreiten, daß ich mich ehren kann? Wenn ich keinen Ort mehr habe, der Geborgenheit spendet, wer wird mir als Brücke dienen, bis ich wieder festen Grund habe? Wer kann meine ureigenen Bedürfnisse ernst nehmen, fördern, Gelegenheiten schaffen, sie zu erfüllen? Wer weiß von meinen tiefsten Sehnsüchten nach einem anderen, eigentlicheren Leben? Wer ist Zeuge meines Ichs durch all die verschiedenen Identitäten im Laufe meines Lebens hindurch vom Kind, über die Jugendliche, junge Erwachsene, bis zur Alten und irgendwann Sterbenden? Wer weiß am Besten von all meiner inneren Wahrheit? Wer kann weitergehen, wenn ich nichts erkennen kann? Wer will aus meiner Enttäuschung lernen? Wer möchte den Unterschied machen vom So-Sein wie die Anderen zum Selbst-Sein des Eigenen? Immer ich selbst. Mit meine inneren Aufmerksamkeit mir selbst gegenüber kann ich mich sehen, spüren, verstehen, so lassen und Hoffnung spenden – von innen her kann ich mich erfahren, mit meiner Präsenz mich so-sein-lassen, mich mit allem was ist einverstanden erklären, in mir, mit mir. Weil ich so bin, wie ich bin, weil ich erlebe was ich erlebe, weil ich empfinde, wie ich empfinde, wäre es wirklich ein kleiner Segen, wenn ich mir freundschaftlich zugewandt leben könnte.

Selbst wenn ich nicht alles von mir verstehe, kann ich mir mit Wohlwollen gewogen sein. Ich kann mich grundsätzlich lieben, radikal lieben, egal, ob ich Erfolg habe oder scheitere, egal, ob ich mich dumm anstelle oder inspirierend für mich und andere bin, egal, ob ich hilflos verunsichert ohnmächtig oder voller Selbstgewissheit bin. Selbst wenn ich in Angst bin oder in Zuständen bzw. Ablenkungen, um die Angst nicht zu fühlen, könnte ich im Wohlwollen mir gegenüber bleiben ohne mich zu entlassen aus dem nächsten Wachstumsschritt, der hinter der Angst auf mich wartet. Meine freundschaftliche Haltung könnte mir Mut zusprechen und die Ermutigung, noch ein wenig mit dem nächsten Schritt zuwarten oder mir klar zu werden, wessen es noch bedarf, damit ich ihn gehen kann.

Meine Liebe zu mir, meine Freundschaft mit mir selbst könnte der Beginn eines Lebens werden im Einverständnis mit mir und meinem Schicksal, meinen Grenzen, meinem Geworfen-Sein in die Umstände, die ich erfahre – vom ersten bis zum letzten Atemzug den ich mache. Leider ist unsere innere Aufmerksam, unser Merk-Sinn dem Lebendigsein in uns gegenüber, mit Maßstäben, Urteilen, Ängsten und Scham verunsichert worden. So verstecken wir uns oft hinter Masken und Rollen, und betäuben unsere Gefühle von Angst und Ohnmacht mit ungesunden Gewohnheiten, mit falschen Tröstern statt uns selbst ein bester Freund zu sein, der uns hält und auch herausfordert, in den Spiegel zu sehen und die Grenzen anzuerkennen, um sie endlich zu überwinden. „Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst“ schrieb Ernst Bloch – und Werden kann man mit Freunden, echten Freunden viel besser als mit Idealen (und der Strenge, die sie oft implizieren) und So-tun-als-ob (einhergehend mit Überheblichkeit anderen gegenüber).

Ist die Freundschaft zu sich selbst ein Ersatz für nicht gelebte Freundschaft zu anderen?

Wer so in einem inneren liebevollen verstehenden Dialog mit sich ist, ist derjenige nicht egoistisch, zu sehr auf sich selbst bezogen in narzistischer Abkehr von der Welt? Wie wäre eine Welt voller selbst liebenden Menschen, selig versunken in ihren Selbstbezug? Das kann es doch nicht sein, denken sicher viele. Und sie haben Recht und auch nicht. Aber probieren Sie es doch aus? Leben Sie eine Woche diese radikale Art der Selbstfreundschaft, Lächeln Sie ihrem eigenen Herzen zu (Thitch Nhat Than), dem inneren Kind, dem verkrampften Erwachsenen und schauen Sie sich die Wirkung nach einer Woche an.

Lieben Sie sich, wenn Ihnen die innere kritische Stimme wieder einmal die Leviten liest, was sie wieder falsch gemacht haben oder sich dumm angestellt, ein Vorhaben vergessen oder nicht geschafft haben. Solidarisieren Sie sich mit dem Beschimpften und weisen sie die Kritik bestimmt zurück. Bitten Sie mal den inneren Kritiker etwas freundlicher mit Ihnen zu reden und schauen Sie welche Wirkung das hat. Und wenn die Orientierung gebende Stimme des Gewissens Sie merken lässt, dass Sie nicht einverstanden sein können, mit dem, wie Sie sich verhalten, dann stehen sie sich als FreundIn bei und stützen sich, um zu dem als richtig Erkannten wieder zurückzukommen ohne sich schämen zu müssen, sondern aufrichtig zu seiner Unachtsamkeit stehen, erst vor sich, dann vor anderen. Wie schön könnte die Welt sein, mit solchen ehrlichen menschlichen Menschen.

Nur wer eine freundschaftliche Haltung zu sich eingeübt hat, braucht sich mit Schuld- und Schamgefühlen nicht mehr zu verstecken, sondern kann zu sich stehen, ohne zu verleugnen, was geschehen ist. Wir geißeln uns nicht länger, wir wissen von unseren Grenzen und Schatten, wir kennen unseren unachtsamen Modus und unsere eigene familiäre Prägung, die nicht immer zu unserem Umfeld passt, die Andere befremden kann, unsere Nächsten oder unsere Kollegen. Wir lernen von unserem Gewissen, wir öffnen uns dafür und spüren, dass auch im Gewissen ein innerer Freund mit uns spricht, einer der uns liebevoll die Richtung immer wieder geduldig weist.

Aber die Praxis, die Stimme des Gewissens von der des Über-Ichs (unsere anerzogenen Gebote durch Autoritäten der Kindheit) und von der des Kritikers (sozial eingeübte Gebote, oft Moden, oder Vergleiche mit anderen erfolgreicheren, schöneren Menschen, etc) nach und nach unterscheiden zu lernen, dafür brauchen wir unsere innere FreundIn. Wir brauchen eine Haltung und eine Stimme des unbedingten Zu-uns-Stehens – ähnlich wie die Stimme eines Anwalts vor Gericht – um die zarte Flamme der Würde des Mensch-Seins durch den Sturm des inneren Konfliktes zu schützen. Dann werden wir daraus mit gefestigter Position hervorgehen und ehrlicher zu uns und dann auch zu anderen uns verhalten können. Wir verlieren Angst so zu sein, wie wir jetzt sind. Wir entwickeln die Stärke des Zu-uns-stehen-Könnens während wir uns fehlbar und unsicher fühlen. Das nenne ich radikale Selbstfreundschaft. Und wenn wir so differenziert, milde stark zu sein lernen, dann werden wir diese milde Stärke verkörpern und so sichtbar werden – außerhalb des Verstecks der Scham. Wir werden wie wir sind und sind Zugewandte zu uns und anderen und keine Abgegrenzten oder gar Richter uns bzw. anderen gegenüber mehr. Wir leben entspannter mit uns und anderen, weil wir da sind, wo wir sind.

Schritte zur Freundschaft mit sich selbst

Beginnen könnten wir mit einem Entschluss: ich will mir selbst FreundIn sein. Ein Entschluß setzt eine Markierung in unser Leben, auf die wir immer wieder zurückkommen können, auch wenn wir x-mal diese neue Karawane der Selbstfreundschaft verlassen werden, kehren wir, wenn möglich, wieder zurück, ohne uns zu verurteilen, sie verlassen zu haben. Wir kehren einfach wieder zurück und fühlen uns freundlich empfangen von unserer Seele, die immer geduldig auf uns wartet und nichts übelnimmt. Wir kommen wieder zurück zu uns. Immer wieder. Besonders in schlechten Zeiten. Aber in den Guten üben wir, die Freundschafts-Seile zu halten, damit dieser innere Halt hält, wenn es härtere Winde gibt für unsere kleine Nussschale auf dem Ozean des Lebens.

Es gibt so viele schöne Liebeslieder. Es kann eine Ahnung für die Qualität der Selbstfreundschaft vermitteln, wenn wir ein Liebeslied so hören, als ob wir es uns selbst widmeten. Es gibt vom gerade erst verstobenen Sänger Joe Cocker ein wunderschönes Lied „You are so beautiful“, was sich eignet, es mal in einer Haltung zu hören, als sängen wir es uns selbst vor. „You are so beautiful“. Wir üben beide „Rollen“ oder Gemütszustände gleichzeitig oder abwechselnd einzunehmen: mal als Hymne der Freundin unserer selbst an uns selbst („you are so beautiful“) und ein anderes Mal als Gemeinte und Beschenkte, als Zuhörende eines für uns gemeinten Liebesliedes, das wir tief in uns hineinlassen „I am so beautiful“. Meine freundschaftliche Haltung mir selbst gegenüber bezeugt mir ihre unbedingte Liebe. Das öffnet mich für diese emotionale Tiefe der Selbstfreundschaft.

Im Alltag sind gerade die Situationen wichtig, Freundschaft mit uns zu pflegen, wenn wir in schwierigen emotionalen Gewässern segeln, oder wenn wir unsere Ziele nicht erreicht haben, wenn uns etwas umgehauen hat und wir aus der Balance geraten sind, dann wäre es hilfreich, sich der Selbstfreundschaft zu erinnern, statt uns allein und elend und gottverlassen zu fühlen. Es gibt schöne selbst bestärkende Sätze die uns Mut und Achtung uns selbst gegenüber wiedergeben können. Zu Beginn kommt uns diese Praxis sicher sehr merkwürdig vor …. jawohl: würdig, diese neue Haltung zu merken. Es lohnt sich.

Wenn wir dieses Zu-uns-stehen-und-lieben immer und immer wieder praktizieren, dann werden wir uns trauen, uns auch anderen zu öffnen und dieses Innere uns trauen anderen mitzuteilen. Wenn ich diesen Selbsthalt nicht habe, laufe ich Gefahr andere mit meinem Selbstbezeugungsdrang zu überfordern, und die weiteren Folgen können dann schmerzlich sein: Abgrenzung oder Ignoranz, belächelt werden, verdreht werden, gemobbt werden, etc….. Kränkungen, die wir alle zutiefst kennen und die das Gift in den zwischenmenschlichen Beziehungen (von der individuellen bis zur Staatsebene) emporsteigen lassen und die Fronten weiter verstärken.

Aber wir werden keine Anderen als Freunde gewinnen, wenn wir uns nicht öffnen können, wenn wir aus einmal erlittener Verwundung durch Nicht-Verstanden-Werden uns misstrauisch verschließen. Der Grat ist sehr schmal und ein großes Wagnis. Ich glaube, wenn wir mit uns innerlich befreundet sind, dann können wir uns trauen, uns zu zeigen, dann spüren wir, wann ein richtiger Moment für die Selbstbezeugung einem anderen Menschen gegenüber gekommen ist und wir können uns halten, wenn die Aufnahme unserer Öffnung im Anderen nicht so gelingt, wie wir es uns vorgestellt haben. Wir trösten uns und bemühen uns um einen adäquateren Selbstausdruck, der annehmbar für mein Gegenüber ist. Selbstfreundschaft bietet so eine Voraussetzung für eine Freundschaft zu einem anderen Menschen. Ich erkenne meine Grenzen und respektiere die des Anderen. Die innere Ent-täuschung wiege ich freundschaftlich in meinem Herzen, statt sie als Enttäuschungswut gegen mich, den anderen oder im neuen Kontext an Schwächeren auszuleben.

Je mehr ich auch eine Art Selbst-Empathie mit meinen schwierigen emotionalen Zuständen einübe, um so besser kann ich einerseits Empathie anderen gegenüber praktizieren und auch nach und nach innerlich präsent bleiben, wenn ich durch ein äußeres Geschehen mit anderen Menschen aus der Fassung gerate. Ich kann mich freundschaftlich begleiten und erstmal wieder beruhigen, um dann freundlich meine Erfahrung und mein Bedürfnis auszudrücken, ohne den Anderen wiederum aus seiner Fassung mit meiner Reaktivität zu bringen. Freundschaft in mir verhilft mir sicher, nicht den Respekt für das Anders-Sein des Anderen aus den Augen zu verlieren – gerade bei den mir Nächsten aber auch bei den mir Wesens- bzw. Kulturfremden.

Das Nadelöhr des Allein-Seins

Die Praxis der Selbstfreundschaft führt uns direkt zur Erfahrung des Allein-Seins. Das ist eine sehr große Hürde bzw. Enge auf dem Weg der Selbstfreundschaft. Das ist ein heikler Ort in unserer Seele. Aber unser Schicksal, Mensch zu sein, birgt die Aufforderung, Bewusstsein über das Mensch-Sein zu erlangen. Niemand bewältigt sein Leben, ohne dieses Bewusstsein. Viele scheuen sich jedoch davor, weil diese existentielle Einsamkeit als horror vakui darin erlebt werden kann. Und gerade darum ist die innere Selbstfreundschaft so wichtig. Sie erscheint mir als der einzige Weg zur Entfaltung meines Mensch-Seins an sich, meines Individuum-Seins – hier, wo ich gerade bin unter anderen. Wir gehen durch dieses Nadelöhr hindurch, es gibt ein vorher und nachher und merken, wir kommen an im eigenen Leben, bei uns selbst und verlassen uns nicht mehr. Es wird ein anderer Wind wehen – ein Wind der uns näher zu uns bringt und neu und anders nah zu den Anderen. Erstmal fühlt sich das kühl und einsam an. Dann kann aber etwas erblühen, was auf der „Wiese“ der symbiotischen Nähe nie aufblühen wird – echte Nähe jenseits der Identifikation mit dem Anderen oder mit dem WIR der anderen.

Nur manchmal müssen Freunde mir meine ureigne Melodie selbst wieder vorsingen, wenn ich sie gerade nicht mehr hören kann, sie bestärken mich, wenn ich es selbst nicht mehr kann – aber so wie ich mich kennenlernen kann, so kann es niemand. So nah wird mir nie jemand sein. Ich werde mich brauchen, noch oft. Ich war nicht da als ich kam, aber ich werde da sein, wenn ich gehe. Und das wird ein weiteres Wunder werden. Wie alles was uns widerfährt. Leben – ein einziger heiliger Moment. Welch Geschenk. Beschenken wir uns mit einer exquisiten Freundschaft zu uns selbst. Möge es uns gelingen – zum Wohle aller.

Copyright: Elisabeth Hoffmann

Freundschaft – eine Tugend oder eine “Fügung des Himmels” (Montaigne) ?

Freundschaft – eine Tugend oder „eine Fügung des Himmels“ (Montaigne) (1)

Hinweise zu einer Lebensform

Von Christian Modehn

– Diese Überlegungen gehören zur Vorbereitung für einen privaten Gesprächskreis zum Thema Freundschaft im Dezember 2014. –

Es gibt auch heute, so hören wir und lesen wir, offenbar viele Beziehungen, die sich Freundschaft nennen. Wir leben also gar nicht in einer anonymen Gesellschaft der Einsamen, sondern in einer Welt der Freunde? Oder will man glänzen, wenn man eine halbwegs „berühmte“ Person öffentlich seinen Freund, seine Freundin, nennt. Viele eher flüchtige „Bekannte“ werden plötzlich, wenn es denn zu etwas nützt, Freunde genannt. „Amigo“ war und ist ja in gewissen politischen Kreisen, auch in Deutschland, ein gängiger Begriff. Der Amigo ist der Bundesgenosse in einem System wechselseitiger Bereicherung. Sind etwa bestimmte Lobbyisten die neuen Amigos? Also die charmanten und so furchtbar freundlichen versteckten Propagandisten und Betrüger? In der romanischen Sprachwelt wird man auch als Unbekannter schnell als „Cher ami“ angeschrieben. Auch die obersten Mafia-Bosse nennen sich nicht nur Brüder, sondern tatsächlich Freunde. Freunde im gemeinsamen Verbrechen.

Aber, wo sind die wahren Freunde? Gibt es sie, diese Menschen, denen ich mich vorbehaltlos anvertrauen kann, die mich stützen und die ich stütze, fraglos und selbstverständlich? Gibt es sie, diese Menschen, mit denen man das Leben teilt, die das ethische und spirituelle Wachstum für einander fördern? Menschen, mit denen man das Angenehme gern erlebt, Menschen, auf die man sich freut und die ich kritisiere und die mich kritisieren, allein, damit wir weiterkommen auf dem Weg menschlichen Reifens? Man lese einmal die Bücher 8 und 9 in der „Nikomachischen Ethik“ von Aristoteles (384-322 v.Chr.), also die Kapitel über die „wahren Freundschaft“. Da werden die genannten Aspekte von Freundschaft weiter differenziert entwickelt. Das gemeinsame Leben in der Nähe wird dabei als besonders wichtig beschrieben, in der nahen Verbundenheit mit dem Freund lernt man voneinander, man wird mit einander vertraug, ja: man wird einander ähnlich…

Gibt es heute noch (wahre) Freunde und Freundinnen? Nicht solche Personen, die als Freunde sozusagen aufoktroyiert werden in religiösen Gemeinden, Sekten oder politischen Gruppen, in denen die Führer das Sagen haben und aus allen Individuen mit deren eigenem Profil sozusagen „maßgeschneiderte“, flexibel agierende und gehorchende „Freunde“ (Objekte) machen?

Oder sind die so genannten „Bekannten“, wie wir jene 100 oder oft nur 10 Leute nennen, die wir irgendwie auf der Straße mal wieder- erkennen, deren Namen man vielleicht weiß oder ahnt, mit denen man den langweiligen small talk pflegt, sind diese Bekannten (manche sprechen gar von „befreundeten Bekannten“) gar die neuen Freunde? Wie tief ist das Verständnis von „wahrer“ Freundschaft gesunken, wenn man flüchtige Bekanntschaften nun wie Freunde einschätzt?

Die Beziehung zu Bekannten schließt aber auch die Möglichkeit ein, dass aus guten Bekannten mit viel Geduld und Sympathie auch gute Freunde werden können. Aber eben „können“, wenn der Aufbau einer Freundschaft „gelingt“, ist ein mühsamer Weg erst einmal abgeschlossen und der mühsame Weg gemeinsamer Freundschaft kann beginnen. Voraussetzung aller Freundschaft ist – auch unter Heterosexuellen –stets eine erotische Dimension, eine auch ästhetische Begeisterung für die individuelle Ausstrahlung des /der anderen. Ohne Erotik (Erotik wird hier von Sexualität – in der Liebesbeziehung – unterschieden) keine Freundschaft.

Philosophie und der lebendige Vollzug der Philosophie, also das eigene Philosophieren, enthält in der Selbstbeschreibung und dem Selbstverständnis, wie sonst kaum eine andere kulturelle Praxis, das Wort Philos, Freund. Insofern ist es nahe liegend, dass Philosophie das Thema Freundschaft zu einem Thema, wenn nicht zu einem Schwerpunkt machen sollte. Trotz etlicher, aber eher entlegener philosophischer Studien haben wir den Eindruck, dass Freundschaft heute leider nicht im Mittelpunkt der akademischen Philosophie an der Universität steht. Liegt das daran, dass akademische Philosophie sehr viel Angst hat, möglicherweise als „Lebenshilfe“ zu erscheinen? Aber ist nicht Philosophie als Philosophieren immer elementar Lebenserhellung und damit Lebenshilfe? Die dreibändige „Enzyklopädie Philosophie“, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, hat zum Beispiel keinen eigenen lexikalischen Beitrag zum Thema Freundschaft! Auch das von uns immer wieder sehr empfohlene Buch „111 Tugenden, 111 Laster“ von Martin Seel (Fischer Verlag, 2011) enthält leider kein Stichwort zur Tugend Freundschaft, sondern nur den (aber auch sehr lesenwerten Beitrag !) zum Thema „Freundlichkeit“ (S. 18 f.) Wobei die gelebte Freundlichkeit gegenüber oft unbekannten Menschen recht wenig Verbindung hat zu dem, was die klassische Philosophie (etwa Aristoteles) unter Freundschaft verstand. In einer bloß freundlichen Welt muss nicht unbedingt Freundschaft entstehen. Das „Keep Smiling“ ist eine trainierte Haltung des Kommerz, nicht der Innerlichkeit.

Pierre Hadot, der große französische Philosoph, hat in seinem Beitrag „La figure du sage dans L Antiquité gréco-latine“ (2) darauf eindringlich hingewiesen, dass die Freundschaft (Hadot spricht wie Aristoteles auch von amour!) des Philosophen gegenüber der Weisheit (Sophia) immer ein Streben, ein Suchen, ein „Trachten … nach“ ist., niemals aber ein Besitz oder ein Verfügen über die Sophia! (vgl. S. 179, le philosophe, „qui aspire à la sagesse). Den „Zustand der Weisheit” wird auch der Weise niemals ganz erlangen.

Ohne jetzt dieses Thema zu vertiefen: Deutlich wird: Freundschaft, Befreundet sein (auch mit der Sophia) ist ein Prozess, ein Lebensweg, ein ausdauerndes gemeinsames Gehen auf einem gemeinsamen Weg, oft voller Mühe. Freundschaft ist keineswegs (nur) gemeinsames Vergnügen, Lust am Gespräch, an der Freude aneinander. Freundschaft ist mühsam. Auch wenn sie vielleicht weniger anstrengend ist als die natürliche Bindung an Verwandte oder die berufliche Verbindung mit Kollegen….Jedenfalls: Den perfekten Weisen, also den Philo-Sophen, der die ganze Fülle der Weisheit kennt, gibt es, so Pierre Hadot im Anschluss an Seneca, „une fois tous les cinq cents ans“ („nur einmal alle 500 Jahre“) (3). Wird es also jemals den perfekten Freund, die perfekte Freundin geben? Sicher nicht. Das auszuhalten, gemeinsam auszuhalten, ist wohl die „Kunst der Freundschaft“.

Auch Michel de Montaigne (1533-1592) denkt ähnlich (natürlich inspiriert von den griechisch-römischen Philosophen): Seine Freundschaft mit Etienne de la Boethie (Sarlat) (1530-1563) war das Schönste, was er erleben konnte. Diese Freundschaft nennt Montaigne eine „Fügung des Himmels“ (4): „Bei der ersten Begegnung , die zufällig auf einer großen städtischen Feier und Geselligkeit erfolgte, fühlten wir uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, dass wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren“. (Nebenbei es wird dringend empfohlen die großartige Schrift de la Boethies zu lesen, „Discours de la servitude volontaire(Vortrag über die freiwillige Knechtschaft) (9).

Montaigne ist sicher einer der am meisten zum Thema Freundschaft beachteten Philosophen, wobei seine zeitbezogenen Fehlurteile wohl entschuldbar sind, etwa, wenn er meint, Frauen seien zur Freundschaft nicht in der Lage (5). Interessanter ist: Montaigne hält hat die wahre Freundschaft für wichtiger und menschlicher als die Zweckgemeinschaft Ehe (6), also eine Vereinigung zur Zeugung von Kindern. Die wahre Freundschaft ist für ihn das Verschmelzen zweier Seelen, das Einswerden von zwei Personen, die grundsätzliche Bejahung des Freundes, die Freude darüber, dass er eben „er“ ist und so ist, wie er ist.

Montaigne wehrt sich ausdrücklich, seine tiefe Liebe zu Etienne de la Boethie, sein Einswerden mit ihm, wie er sagt, habe etwas mit Homosexualität zu tun: Montaigne spricht in dem Zusammenhang diskret von unzüchtiger Freundesliebe der Griechen (7). Wie weit diese Aussage eine „Schutzaussage“ ist in einer Zeit, die Homosexualität als Begriff nicht kannte und auch als Lebensform nicht respektierte, bleibt offen. In seinem Bericht über seine Rom-Reise berichtet Montaigne hingegen nicht ohne Sympathie etwa von der Segnung homosexueller Paare dort.

In jedem Fall ist für Montaigne eine tiefe Freundschaft eher eine absolute Seltenheit.

Anders dachten da einige Intellektuelle, Literaten, Künstler, Juristen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie trafen sich in dem Freundschaftstempel des Autors Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt (er lebte von 1719 bis 1803) (8)

Gleim wollte gegen die Kälte des bloßen Verstandes und gegen die kontrollierende, alles Individuelle vernichtende Macht der Fürsten die Freundschaft unbedingt pflegen. Freundschaft als Rettung in einer feindlichen Welt? Als Zuflucht? Warum nicht. Das ist etwas ganz Besonderes, auch wenn dieser Freundschaftskult in Halberstadt relativ unbekannt ist: es wird berichtet, dass sich die Freunde bei Begrüßung und Abschied sehr herzlich küssten! Und es ist wohl dem Zeitgeist geschuldet, wenn nur Männer im Freundschaftskreis willkommen waren. Gleim hat sogar für die verstorbenen Freunde kleine Gedenkstätten in seinem Garten geschaffen und in seinen Salons prachtvolle Porträts seiner Freunde gesammelt. Er war tief überzeugt, nach dem Tod wieder mit den verstorbenen Freunden vereint zu sein. Die waren alle niemals nur ein Herz und eine Seele, man stritt sich durchaus, man debattierte, suchte nach einer gemeinsamen Wahrheit, aber es kam nie zu einem Bruch. Und man schrieb einander und zwar sehr viel und sehr oft. Allein Gleim hat über 10.000 Briefe verfasst an über 500 verschiedene Korrespondenten. Diese Handschriften sind im Gleimhaus versammelt.

Insgesamt war seine geräumigen Wohnung mit mehreren Etagen für Gleim ein „Tempel der Freundschaft“ und er sah sich selbst als „Küster“ dieses Tempels.

Entscheidend und bleibend aktuell ist die Einsicht Gleims: Vertrauen ist Voraussetzung von gelingender Freundschaft! Über das Vertrauen zu sprechen und im Vertrauen zu leben, ist die Basis von Freundschaft. Die konkrete einzelne Freundschaft wird freilich nur gelingen, wenn die Freunde von einem Grundvertrauen in die Wirklichkeit des Lebens insgesamt geprägt sind.

Aktuell wird Freundschaft heute als eine Lebensform eingeschätzt, die wir herbeisehnen. Und zwar bezogen auf unsere Gesellschaft, in der die Menschen, die Arbeitskollegen, die Nachbarn usw. als Konkurrenten begegnen, als Wesen, die man eher übertreffen, wenn nicht auslöschen muss, will man selbst überleben und sich selbst als der Stärkere behaupten. Frank Schirrmacher, der verstorbene FAZ Redakteur, hat in seinem Buch EGO von einer Gesellschaft egoistischer Nutzenmaximierer gesprochen. Wenn von Beziehungen die Rede ist, dann spricht eher von Netzwerken, von Verbindungen also, die nach dem Gesetz ökonomischen Profits funktionieren. Man gibt etwas, schenkt etwas, berechnet aber, ob es sich lohnt und was man den „Einsatz“ mindestens auch zurückbekommt.

Vertrauen als Basis von Freundschaft meint: Es ist ein Risiko, Freundschaft einzugehen, Freundschaft zu pflegen. Vertrauen beginnt, wenn einer, eine, beginnt sich den anderen zu öffnen. Da ist nicht immer “Erfolg” garantiert. Man kann sich blamieren, man kann Widerstände und NEIN erleben. Freundschaft ist einen Tugend, die Stärke verlangt. Wer hat heute noch diese innnere Stärke?

Die entscheidende Frage könnte sein:  Wo können wir das Vertrauen grundsätzlicher Art finden, das so genannte Urvertrauen? Jenes Vertrauen, das uns leben lässt, immer weiter sinnvoll zum Leben ermuntert, auch wenn unsere (Suche nach)  Freundschaft scheitert?
Dabei kann man auf eine biblische Weisheit verweisen. Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, wenn wir von Bibel sprechen, auch von biblischer Weisheit zu sprechen. Nicht alles in der Bibel ist Weisheit, vieles können wir beiseite legen. Aber manches bleibt Inspiration, bleibt Weisheit für alle Menschen. So heißt es etwa im Titus Brief im Neuen Testament: „Erschienen ist uns die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“.

Noch wichtiger ist eine Aussage aus dem Johannes Evangelium, da werden Jesus von Nazareth, dem menschgewordenen Logos, treffende Worte in den Mund gelegt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.” (Joh 15,15).

Das ist entscheidend: Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist das Verhältnis zu einem Freund. Das ist natürlich ein Bild, und alles schlichte Übertragen dieses Bildes vom menschlichen Freund auf das absolute Geheimnis Gottes wäre falsch. Aber es wird eine Richtung des Verstehens gewiesen: Gott ist nicht nur freundlich, sondern ähnlich wie ein „wahrer Freund“. Andere Titelfür die unendliche Wirklichkeit, wie Herrscher, sind dann eher abzulehnen. Da ist meines Erachtens ein  Angebot an Sinn  enthalten: Mensch und Gott sind befreundet. Das heißt: Es gibt eigentlich keinen willkürlichen Herrscher-Gott mehr! Dieser „Herr“-Gott ist durch Jesus entthront, sagt die Gemeinde, die das Johannes Evangelium wichtig findet. Das ist auch die Kernaussage vieler christlicher Mystiker wie Meister Eckart.

Die Basis von Freundschaft wird hier angesprochen: In einem Urvertrauen leben, um anderen vertrauen zu können. Freundschaft lebt ja vom Vertrauen, vom Risiko des Sich- Öffnens, vom Miteinanderlebenauf der gleichen Höhe. Bei Freunden gibt es keine Hierarchie. Das gilt auch für jene, die religiös sich an eine Gotteserfahrung haltenn.

Das war wohl auch so bei den ersten Christengemeinden, die Apostelgeschichte berichtet, wie die ersten Christen „ein Herz und Seele“ waren, wie sie alles teilten, wie sie wahre Freunde waren. Das nannten manche zu Recht eine Form des Urkommunismus. Aber auch der hat nicht lange gelebt, weil der menschliche Egoismus diese schöne Glaubenshaltung erdrückte.

Zum Schluss ein Thema, das hier nur kurz angesprochen wird: Es ist die Freundschaft mit sich selbst! Von ihr spricht bereits Aristoteles. Ohne diese Freundschaft mit sich selbst kann kein Mensch leben, reif leben und authentisch sein. Die Freundschaft mit sich selbst beginnt mit der vorbehaltlosen Annahme und Akzeptanz seiner selbst.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Literaturverweise:

(1) Michel de Montaigne, Essais. Frankfurt M. 1998, übers. von Hans Stillett., Seite 101.

(2) zuerst erschienen 1991, jetzt erneut publiziert in seinem Buch (posthum) „Discours et Mode de vie Philosophique“ (Paris, 2014, S. 177 bis 198)

(3) ebd. S. 190.

(4) Michel de Montaigne, siehe (1), Seite 101.

(5) ebd. S. 100.

(6) ebd. 426

(7) ebd. S. 100.

(8) zum “Freundschaftstempel” in Halberstadt siehe etwa: „Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen“. Wallstein Verlag, 2004.

(9) De la Boethie fragt die Menschen, die sich staatlichen Obereren oder religiösen Herrschern, heute: auch Gurus, so gern unterordnen und im Gehorsam sich ihr individuelles Leben freiwillig rauben lassen: „Diesmal möchte ich nur erklären, wie es geschehen kann, dass so viele Menschen, so viele Dörfer, Städte und Völker manchesmal einen einzigen Tyrannen erdulden, der nicht mehr Macht hat, als sie ihm verleihen, der ihnen nur insoweit zu schaden vermag, als sie es zu dulden bereit sind, der ihnen nichts Übles zufügen könnte, wenn sie es nicht lieber erlitten, als sich ihm zu widersetzen.“ Seine Erklärung der Tyrannenherrschaft kleidet de la Boethie in eine rhetorische Frage: „Wie kommt er zur Macht über euch, wenn nicht durch euch selbst? Wie würde er wagen, euch zu verfolgen, wenn ihr nicht einverstanden wäret?

 

Die Erfindung des Landes Israel. Ein neues Buch von Shlomo Sand

Die Erfindung des Landes Israel: Ein neues Buch von Shlomo Sand

Erschienen im List Verlag Berlin. 396 Seiten. 11,99 €

Von Christian Modehn

Eine Rezension für die Zeitschrift PUBLIK FORUM, erschienen am 19. 12. 2014.

Wer den Staat Israel verstehen will, sollte sich von Mythen und Märchen befreien, die über das „Land des jüdischen Volkes“ machtvoll verbreitet werden. Diese Position begründet ausführlich der weltweit angesehene Historiker der Universität von Tel Aviv. Jüdisch-polnischer Herkunft, will er mit seinem Buch anregen, den „entschwindenden Traum“ festzuhalten, dass Israel die Errichtung eines palästinensischen Nachbarstaates doch noch zulässt. Nur so kann Friede möglich werden auf einem Territorium, das, so Sand, im Rahmen eines maßlos agierenden Zionismus besetzt wurde. Die Schuld Europas und Amerikas an diesem Zustand wird nicht verschwiegen. Die Vorstellung, dass Juden ein fest strukturiertes „Volk“ sind, wird von dem Historiker zurückgewiesen. Judentum ist für Sand „nur“ eine Religion; das „verheißene Land“ ist wesentlich ein „religiöses Symbol“, aber kein politisches Projekt. Unter den heutigen politischen Bedingungen hält Sand an dem Existenzrecht eines allerdings umfassend friedfertigen (!) Staates Israel fest.

 

Grenzen der Heidegger Forschung

Es gibt keine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers

Über die Grenzen der Heidegger Forschung

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 13. 11. 2014 (Nr. 47) veröffentlichte DIE ZEIT einen wichtigen Beitrag von Eggert Blum über neue Erkenntnisse einer kritischen Heidegger-Forschung. Der Titel „Die Marke Heidegger“. Der Untertitel „Wie die Familie des Philosophen jahrzehntelang versuchte, das Image des umstrittenen Denkers zu kontrollieren und kritische Studien klein zu halten“.

Eggert Blum arbeitet als Journalist vor allem für SWR 2.

Sein Beitrag für DIE ZEIT findet unseres Erachtens leider nicht eine breitere Rezeption in der Öffentlichkeit. Dabei bietet er einige wichtige Erkenntnisse aus neuester Forschung über den Philosophen Martin Heidegger. Um zu weiteren Recherchen – wenn möglich – zu ermuntern, nur einige zentrale Fakten aus dem Beitrag von Eggert Blum.

– Die Familie Heideggers, allen voran der Sohn Hermann Heidegger, „üben eine strikte Kontrolle über die Gesamtausgabe aus, sie beanspruchen Deutungshoheit über das Heideggerbild in der Öffentlichkeit und versuchen, kritische Stimmen klein zu halten“. Tatsache ist also, trotz der allmählich abgeschlossenen „Gesamtausgabe“: „Es gibt keine historisch-kritische Gesamtausgabe, die Änderungen des Autors kenntlich und so die Textgeschichte überprüfbar mache“. Damit sind vor allem die Äußerungen des NSDAP Mitglieds Martin Heideggers (Mitglied bis 1945) zur Rolle der Juden gemeint, etwa: „Über die Vorbestimmung der Judenschaft zum planetarischen Verbrechertum“ (so ein Zitat Heideggers in DIE ZEIT vom 13.11.2014).

– Die Philosophin Sidonie Kellerer hat sich große Verdienste erworben, im Detail nach zu weisen, wie Martin Heidegger nach 1945 höchst peinliche Äußerungen (um es mal moderat zu sagen) über Juden ausgelöscht hat. Der Beitrag zeigt diese sehr genaue Recherche am Beispiel des Aufsatzes “Zeit des Weltbildes”, den Heidegger 1938 in Freiburg gehalten hat. In der Veröffentlichung dieses Aufsatzes in dem Sammelband “Holzwege” 1950 streicht Heidegger Äußerungen dieses Vortrags, die er 1938 zugunsten der NSDAP Ideologie gemacht hatte.

– Nachschriften aus Universitätsseminaren, etwa aus dem Wintersemester 1933 /34, in denen Heidegger den Führerstaat, Nationalismus und Antisemitismus propagiert, fehlen in der Gesamtausgabe. Sie ist ja auch keine kritische Gesamtausgabe … und somit eigentlich nur sehr begrenzt für die Forschung verwendbar. Dies ist wohl die am meisten schockierende Erkenntnis, die der Artikel vermittelt.

– „Teile des Nachlasses befinden sich weiter in Familienhand“, also bei Hermann Heidegger und dessen Sohn.

– Hermann Heidegger, der Sohn,  publiziert seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft im Verlag ANTAIOS, wo sich vor allem Autoren der so genannten Neuen Rechten (Nouvelle Droite, etwa der Meisterdenker Alain de Benoist tummeln). Der ANTAIOS Verlag stellt Hermann Heidegger auf der Verlagswebsite – zweifellos mit dessen Einverständnis – vor: „Seit 1976 ist Hermann Heidegger verantwortlich für die Gesamtausgabe der Werke seines Vaters Martin Heideggers“.

– Der von Heidegger selbst geschätzte Interpret und Herausgeber einiger Werke der Gesamtausgabe, der Philosoph Friedrich Wilhelm von Herrmann, hat dem russischen Nationalisten Alexander Dugin (er gehört zu Putins Beraterkreis) ein zweistündiges Filminterview gegeben. Der Journalist und Philosoph Thomas Assheuer schreibt über Alexander Dugin in “Die Zeit” vom 17. Dezember 2014, Seite 4: “Von der inneren Unterwanderung des Westens träumt auch der russische Philosoph Alexander Dugin. Im Mai (2014) war Dugin in Wien Stargast eines =Geheimtreffens=, an dem neben dem FPÖ Chef Heinz Christian Strache auch die Ekelin Jean-Marie Le Pens teilnahm, also eine Abgeordnete des /französischen/ Front National… Dugin wird nicht beleidigt sein, wenn man ihn eine Neofaschisten nennt… Dugin entwirft  eine Blaupause für eine postliberale Gesellschaft, die auf den Ruinen des Westens errichtet werden soll…”

Uns ist nicht bekannt, ob sich der “hervorragende Heidegger Spezialist”, Prof. Friedrich Wilhelm von Herrmann, zur Bedeutung und zum Sinn seinwa ausführlichen Fernsehgesprächwa mit Dugin geäussert hat. Die Hauptfrage bleibt also: Welche philosophische Nähe zwischen Dugins explizitem Abweisen des demokratischen Liberalismus und der expliziten Kritik Heideggers an der “Macht des westlichen Imperalismus” gibt es? Ist es also purer Zufall, dass sich der Neofaschist Dugin für Heidegger interessiert und sich alles hübsch von Heideggers Sekretär und Oberinterpreten erläutern lässt?

– Eggert Blum stellt am  Ende seines Beitrags die Frage: „Man mag fragen, warum man sich heute noch mit Heidegger beschäftigen soll. Ist über den NS Philosophen nicht alles Entscheidende gesagt? Kann man den ernst zu nehmenden Teil seiner Philosophie nicht einfach den Spezialisten überlassen?“ Der Autor fährt fort: „Das könnte ein Irrtum sein. Denn für Nationalisten und radikale Rechte ist dieses Denken attraktiver denn je“.

Der Beitrag in DIE ZEIT: http://www.zeit.de/2014/47/philosoph-heidegger-antisemitismus

Zum Interview Friedrich W. von Herrmann mit dem russischen Nationalisten Alexander Dugin:

http://www.4pt.su/de/content/prof-alexandre-dugin-mit-prof-friedrich-wilhelm-von-herrmann

Die angesehene Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlichte 2007 einen Beitrag über Dugin mit dem Titel „Faschismus a la Dugin“. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Konsumismus als Religion. Ein Kommentar nicht nur zum 9.November

Konsumismus als Religion: Die neuen Götter in Berlin

Ein Kommentar nicht nur zum 9. November

Von Christian Modehn

Ein Motto zu Beginn: “Jetzt kommen die Investoren, denen ist Berlin völlig egal. Weil sie die Stadt als große Spielwiese der Spekulationen sehen. Da gibt es kein Halten mehr. Wir benötigen Gesetze, die alle diese Investoren ein bißchen im Zaum halten. Man kann denen doch nicht die Stadt überlassen. Wem gehört die Stadt, das ist die Frage”. Katja Lange-Müller, Schiftstellerin, in Der Tagesspiegel, 9. November 2014, Seite 23.

An der zentralen Schnittstelle zwischen dem einstigen Ost- und West-Berlin, am Leipziger Platz, gibt es seit Ende September 2014, wie ein Stadtmagazin schreibt, „die schöne, neue Shopping-Welt: Die Mall of Berlin“. An der früheren Wall of Berlin mit ihrem Todesstreifen nun also die „innovativste“ und „superlativträchtige“, wie es heißt, Mall of Berlin. Sie umfasst 270 Geschäfte auf 76.000 Quadratmetern Verkaufsfläche, es gibt Büros und sogar Wohnungen, natürlich in der üblichen Luxusausstattung, auch ein Parkhaus und ein Motel. Die Kosten: 1 Milliarde Euro, so „TIP“ Berlin.

An Einkaufsscenters ist in Berlin seit dem Fall der Mauer wahrlich kein Mangel: Die „Potsdamer Platz Arkaden“ sind unmittelbar Nachbarn, in der Nähe das „Alexa Shopping Center“ mit bloß 57.000 Quadratmetern Verkaufsfläche; weiter entfernt das „Bikini Berlin“ oder die „Gropiuspassagen“ mit 85.000 Quadtratmetern Verkaufsfläche oder der „Boulevard Berlin“ in Steglitz mit bloß 76.000 Quadratmetern für Geschäfte und Boutiquen.

Dies ist nur eine kleine Auswahl an Centers, “Arcaden” und Kaufhäusern, die über die ganze Stadt Berlin verteilt in bester Lage und niemals zu übersehen mit ihrer dominanten Architektur eine einzige und einfache „gute Botschaft“ verbreiten: „Ihr Menschen seid in erster Linie Käufer, ihr seid wesentlich Konsumenten. Ihr braucht z.B. ständig Neues, das euch von den so genannten Modeschöpfern als der weltweite Stil des Jahres aufgedrängt und von der Werbung eingeredet wird. Fragt nicht, warum die Preise eurer Klamotten so billig sind, fragt nicht nach den Produzenten, kauft und schmeißt diesen Krempel spätestens im nächsten Mode-Jahr bitte wieder weg. Aber bleibt eurer Marke, eurer Firma, treu, sie gibt euch das Gefühl, wertvoll zu sein, einen Status zu haben. Steigt also niemals aus dem endlosen Prozess des Kaufens aus, verlasst nicht diesen Kreislauf, der euer Leben bestimmt“.

Hier wäre ein Ansatz für ein Kapitel kritischer Philosophie zum Thema „25 Jahre nach dem Mauerfall“. Eine solche Philosophie wurde noch nicht geschrieben. Anregungen gäbe es bei Pier Paolo Pasolini und seiner Konsumismuskitik, vielleicht wird sie anlässlich von seinem 40. Todestag 2015 (2. Nov.) umfassend gewürdigt.

Also: Was wurde wirklich neu gebaut im vereinten Berlin? Was fällt in die Augen, wer durch die Straßen flaniert? Kirchen, Orte der Stille, der Ruhe, der Kontemplation, wurden nicht neu errichtet, eher wurden sie verkauft wie die St. Agnes Kirche. Auch erkennbare Neubauprojekte, Tempel anderer Religionen, etwa des Buddhismus, sind nirgendwo in Sicht. Ein so genanntes Interreligiöses Zentrum (die evangelische „Petrikirche“ in Mitte) soll gebaut werden, mit sehr mäßiger muslimischer und sehr mäßiger jüdischer Beteiligung, Buddhisten sind nicht dabei, Katholiken oder Orthodoxe auch nicht, Freikirchen auch nicht. Humanisten und Atheisten (da gibt es doch auch Glaubenshaltungen!) sind nicht mit von der Partie. Das soll inter-religiös sein? Da und dort wurde in Berlin eine Moschee errichtet. Ein neues Theater wurde nicht gebaut, kleinere Kinos wurden abgerissen (wie die Kurbel), neue Kino-Komplexe gebaut. Haben diese etwa Charme? An eine Agora, als einem geräumige Platz/Ort für den Disput der Bürger, denkt offenbar niemand. Lediglich die Zahl der Galerien ist gestiegen, geht es dabei aber zuerst auch um Kommerz oder um Kunst?

Die Stadt Berlin ist – wie alle anderen Städte der reichen Welt – nach dem Mauerfall zur „Stadt des Konsums, zur Stadt der malls und Shoppinglandschaften“ geworden. „Ich shoppe, also bin ich“, heißt das Credo. Mindestens 400.000 Berliner können an dieser wunderschönen Konsumwelt nicht teilhaben, sie sind Hartz IV Empfänger und oft ziemlich arm, sie leben von Suppenküchen und nicht von den Menus in den Restaurants der Malls.

Die Konsum-Tempel sind langweilig, öde. Sie strapazieren die Seele. So waren sie wohl schon immer. Vielleicht hat man in den „goldenen Zwanzigern“ die großen Kaufhäuser von Tietz und Co. noch mit glänzenden Augen verlassen, staunend und entzückt vom unendlichen Angebot an Käuflichem. Der Charme des Neuen kann jetzt gar nicht entstehen, man glaubt dort, keine wirklichen Überraschungen mehr zu erleben, die Phantasie ist ausgelöscht bei all den Neubauten, deren Architektur man schon tausendmal gesehen hat.

Wer als Flaneur in Berlin durch die neuen shoppings malls geht, findet immer dieselben Namen multi-nationaler Ketten, kein einziges individuelles Geschäft mehr. Die kleinen Händler haben keine Chance, da machen sie den Charme einer Stadt aus: Der Verlust des Individuellen, typisches Kennzeichen der heutigen Gesellschaft, wird hier mit Händen zu greifen. In den Malls sucht man etwa kleine, private Buchhandlungen vergeblich, mit einem Buchhändler, den man kennt, mit dem an plaudert usw… Es gibt dort keinen privaten Stil, nichts „Kleines“, nichts Experimentelles.

Und so ist man hilflos in der Erkenntnis, dass es der kapitalistischen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, uns einzureden: Der Mensch ist wesentlich der Käufer, er gilt als der Bedürftige, der ständig Neues braucht, der ständig stolz auch Neues wegwirft, der also der Gierige ist. Es wird das Bild eines Menschen propagiert, der förmlich wie ein hungriges Baby ewig schreit „Haben, haben, haben“. Die dermaßen vom System total reduzierte Person stolziert also gelangweilt, eigentlich alles schon habend, nichts wirklich brauchend, durch diese malls. Und fühlt sich inmitten der Käufer allein.

Es gibt keine Institutionen mehr, die diesen trostlosen Charakter unseres fremdbestimmten Daseins auch nur ansatzweise kritisieren. Noch denkt man bei dem Thema in unseren Breiten an die Kirchen, aber die sind selbst viel zu sehr mit ihren Kirchensteuer und sonstigen Milliarden Einnahmen befasst, sie verwalten sich selbst und schweigen als Komplizen des Systems zu dieser Verblendung. Die evangelischen Kirchen kritisieren gelegentlich das System, aber ihre Stimme wird kaum gehört, ist paradoxerweise trotz/wegen ihres Reichtums zu schwach. Nur zu Weihnachten sind die Kirchen voll. Aber da ist prophetische Kritik unerwünscht, weil störend. Es könnten ja anschließend die Gottesdienstbesucher aus der Kirche austreten…

Was hat das alles mit dem 9. November zu tun, dem Durchbruch durch die Mauer, dem Abreißen der Betonwände, von betonierten Köpfe errichtet? Man wird traurig über den offenbar totalen Sieg des Konsumismus auch in dieser Stadt, die sich rühmt, irgendwann einmal, in der fernen Vergangenheit von 1989, die Freiheit als der Güter Höchstes proklamiert zu haben. „Wir sind das Volk“ von 1989 meinte „Wir sind ein freies Volk“, nicht aber “Wir wollen unbedingt ein Volk der Konsumenten werden“.

Tatsächlich siegte die Herrschaft des Geldes, auch in Berlin. Profit, nicht Freiheit und Gerechtigkeit, wurde zum obersten aller Götter erklärt, dem sich jeglicher Wunsch nach Individualität bitte schön unterzuordnen hat. Alles, was menschlich, human, notwendig wäre, was also die viel besprochene Lebens-Qualität fördern könnte, aber eben doch dem Staat Geld kostet, wird unterlassen: Orte freien Gesprächs, Orte, wo man kostenfrei sitzen, lesen, dösen, diskutieren kann ohne für Geld konsumieren zu müssen. Orte also, wo man sich mit vielen Touristen zwanglos treffen kann, um in ein freundliches Gespräch über dieses vielfältige Europa einzutreten. Wer hat denn auch im entferntesten daran gedacht, in einer Stadt mit ca. 4 Millionen ausländischen Touristen Orte der freien, „kostenlosen“ Begegnung zu schaffen? Oder auch Orte, wo nicht ganz Arme mit wirklich Armen das Brot teilen, Orte, wo man probieren kann, ob und wie jeder Mensch wirklich ein Künstler ist (Beuys), Orte, in den der Disput über die Zukunft der Stadt gepflegt wird: All das gibt es nicht, all das will man nicht vonseiten einer technokratischen Regierung.

Eigentlich wäre da, wie gesagt, auch eine Aufgabe der Kirchen, aber die sind fixiert auf Dogmen und Geld. Und tun diakonisch viel Gutes, sie tun das, was eigentlich ein Staat, der sich Sozialstaat nennt, leisten müsste. Kirchen sind doch mehr als diakonische Unternehmen, die einspringen, wenn der angeblich soziale Staat versagt.

So müssen die Bürger sich abfinden, die Rolle des konsumierenden Geldausgebers spielen zu dürfen, wenn sie die Öffentlichkeit, und dies ist wesentlich Konsum-Öffentlichkeit, betreten, in der bei allem Reden und Gerede und bei allem florierenden „Kulturbetrieb“ (Adorno) das Gespräch, der Dialog, das freie Miteinander, irgendwie schon ausgestorben zu sein scheint.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Eine Welt der neuen Klänge. Warum die “zeitgenössische Musik” inspiriert. Ein Vorschlag von Joachim Gies

Ein “Rückblick” auf unseren Salonabend zum Thema: “Sprache der Musik – ein Weg in die Transzendenz ?” (am 26. 9. 2014): Dabei hat Joachim Gies mit uns diskutiert und auch Ausschnitte aus seinen Kompositionen fürs Saxophon zu Gehör gebracht. In seinem folgenden Beitrag geht Joachim Gies der Frage nach, warum wir “zeitgenössische Musiker” – selbst wenn sie manchmal für viele Irritierendes  komponieren – doch als  Inspiration schätzen lernen könnten.

Liebe Freunde besonderer Musik,

heute möchte ich über einen Komponisten des 20. Jahrhunderts reden, den ich für einen der Größten von den 60er bis zu den 90er Jahren halte: György Ligeti    http://de.wikipedia.org/wiki/György_Ligeti

Nach dem Aufstand in Ungarn 1956 flüchtete er nach Österreich und wurde zu einem Erneuerer der zeitgenössischen Musik im Westen. Nachdem er zwei politische Diktaturen überstanden hatte, unterhöhlte er die Denkschablonen der Nach-Schönberg-Ära, in der die Kompositionen in allen Bereichen (Tonfolge, Rhythmik, Atonale Harmonik bis hin zur Klangfarbe) determiniert waren. Also fast so, wie zuvor die politischen Diktaturen agiert hatten: alles Individuelle war einem „System“ unterzuordnen. Ligetis erste Aufsehen erregende Komposition war 1961 Atmosphéres, hier in einer Interpretation mit Claudio Abbado:

http://www.youtube.com/watch?v=JWlwCRlVh7M

Als berühmtes Chorwerk entstand 1966 „Lux Aeterna“:

http://www.youtube.com/watch?v=mIcO8fPspP0

Alles verschmilzt zu einem Klangfeld, das magisch wirkt. So sehr, dass die meisten von euch die Musik schon gehört haben, denn Stanley Kubrick benutzte die Werke in seinem Film „2001: Odyssee im Weltraum“ neben der „Blauen Donau” von Johann Strauss und dem „Zarathustra-Beginn“ von Richard Strauss. Auch in seinen späteren Filmen „Shining“ und „Eyes Wide Shut“ setzte Kubrick die Musik Ligetis ein. Eine hübsche Anspielung auf Ligeti machte Kubrick in „A Clockwork Orange“, wo in einem hippiemäßig ausgestatteten Plattenladen eine Ligeti-LP zu sehen ist. Für mich sind Kubricks Filme genauso sehenswert wie die Musik Ligetis hörenswert ist. Filme mit philosophischem Ernst sind heute ja kaum noch zu finden. Kubrick setzt Nietzsches Gedanke der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ in „“2001“ und in „Shining“ eindrucksvoll ins Bild.

http://de.wikipedia.org/wiki/Stanley_Kubrick

Weitere beeindruckende Werke von Ligeti sind:

http://www.youtube.com/watch?v=GrVagXdfnbc

„Lontano“ für großes Orchester

http://www.youtube.com/watch?v=l2OQbA3r78M

Nach Ligeti weiß man als ehrlicher Komponist stets, wen man nachahmt, wenn man eine Komposition mit einem Ton beginnen lässt oder wenn man sich auf wenige Töne begrenzt.

Das Besondere an Ligeti ist es aber, dass er, bei allen Erfolgen, nie einen Stil bis zur Ermüdung beibehalten hat. Er ist dabei durch schwere Schaffenskrisen gegangen, aber am Ende hat er sich stets neu erfunden. Solch eine Lebenshaltung gibt mir zurzeit viel Mut.

So befasste er sich in den 80er Jahren fremdartigen Stimmungen, die für uns „wohltemperiert“ Zentralbeheizte ein wenig „falsch“ klingen. Ein sehr schönes Beispiel ist das „Hamburg Concerto“ für Orchester und einen Horn-Solisten.

http://www.youtube.com/watch?v=OXWjayXSzcE

Ligeti beschäftigte sich auch intensiv mit afrikanischer Polyrhythmik und einer Art von Maschinenmusik, fast unspielbar:

Ètude Nr. 1 “Désordre”

http://www.youtube.com/watch?v=qj9QlWltv8s

Für 30 € gibt es die sehr gut aufgenommene Sony-Edition mit 9 CD bei einem Internethändler, der nicht mit „A“ beginnt.

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Gy%F6rgy-Ligeti-1923-2006-Gy%F6rgy-Ligeti-Edition-Sony-Classical/hnum/5116806

Auch das Ligeti-Project ist mit 5 CDs noch erschwinglich:

https://www.jpc.de/s/ligeti+project

Ich würde mich freuen, wenn ich euch dazu anregen könnte, einmal etwas Zeit der neuen Musik zu gönnen. Natürlich ist das nichts zum nebenher hören. Aber ich glaube, die Reise in die Welt der neuen Klänge zeigt uns vieles, was außerhalb und innerhalb von uns liegt, woran wir sonst vorbei gingen.

Copyright:   Joachim Gies, Berlin