Die leeren Kirchen und die Fülle der Theologie. Über Tomás Halík.

Hinweise auf das neue Buch von Tomás Halík „Die Zeit der leeren Kirchen“ (Herder Verlag 2021)
Von Christian Modeh am 7.3.2021

1.
Tomás Halík (Jahrgang 1948) ist inzwischen zu einem der bekanntesten katholischen Priester und Theologen in Europa geworden. Er lebt in Prag und ist seit vielen Jahren für die von ihm gegründete „Akademische Gemeinde“ in der St. Salvatorkirche verantwortlich. Auch die „Christliche Akademie“ in Prag leitet er als ihr Gründer. In den letzten Jahren hat Halík immer wieder über seine Schwerpunkt – Themen publiziert. Darin wehrt er sich gegen die Ausgrenzung „unkirchlicher Menschen“ durch den Titel „Atheisten“. Für Halik sind „Atheisten“ meistens „Suchende“. Und er warnt immer wieder und immer heftiger vor dem endgültigen Niedergang der katholischen Kirche, etwa in der Tschechischen Republik, wenn nicht endlich der Klerikalismus, der Moralismus und der Dogmatismus überwunden werden. Ob dazu die sehr konservativen tschechischen Bischöfe noch die Kraft haben, bezweifelt Halik wie viele andere Theologen. Er sieht den Weg des Katholizismus in Europa zur zahlenmäßig kleinen wie theologisch schwachen Sekte. Reformen bzw. Reförmchen der Kirchenleiung heute nennt Halik „nur das Hin und Herschieben der Liegestühle auf der Titanic“ (S. 98). Welch treffendes Bild, auch Ausdruck des feinen tschechischen Humors!
Dass sich Halík in dieser durchaus provozierenden Haltung sozusagen vor dem Zorn der Hierarchie schützen muss, ist ihm klar. Aber Halik kann sich doch etwas sicher fühlen: Er hat inzwischen den international hoch angesehenen und bestens dotierten (mehr als eine Million Euro) Templeton-Preis erhalten. Und zudem kann er sich einer gewissen Sympathie vonseiten Papst Benedikt XVI. erfreuen: Der ernannte Halik nicht nur zum „Päpstlichen Prälaten“, sondern hat ihn auch in seinen eigentlich konservativ geprägten Schülerkreis – mit Treffen in Castelgandolfo – einbezogen. Unter diesen sicheren Bedingungen ist es dann doch für Halík eher ungefährlich,kritisch zu werden, wenn er natürlich auch nicht zu eigenwillig handeln darf: Er folgte etwa dem Verbot des konservativen Prager Kardinals Duka, in der St. Salvator Kirche wie schon angekündigt einen Gottesdienst mit und für Homosexuelle zu gestalten, das war im Jahr 2015. Heute regt sich Halik allerdings auf, wenn „Homosexuellen und Migranten“, so wörtlich, „von faschistischen Kampfgruppen attackiert werden“ Dies schreibt er in einem Beitrag, der sich mit der Pseudoreligion des Fundamentalismus und des Fanatismus befasst. Der Artikel wurde am 14.11.2020 auf der Website des „Münsteraner Forum Theologie und Kirche“ veröffentlicht (gelesen am 7.3.2021).
2.
Nun hat der Herder-Verlag im Februar 2021 ein neues Buch Haliks herausgebracht, erschienen ist es in Prag 2020. Es hat den Titel „Die Zeit der leeren Kirchen“, der Untertitel ist „Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens“. Mit „leere Kirchen“ meint Halik die aufgrund der Corona-Epidemie 2020 auch in Tschechien geschlossenen Kirchen. Und in einer leeren Kirche, „seiner“ St. Salvatorkirche, hat denn auch Halik Predigten bzw. kurze theologische Vorträge gehalten. Sie wurden als Video-Aufnahmen life gesendet und fanden viel Beachtung auch außerhalb Tschechiens.
3.
Das neue Buch „Die Zeit der leeren Kirchen“ ist also vor allem ein Buch der Predigten. Dies wird in der Verlagswerbung allerdings nicht gesagt. Und dies ist für viele erst einmal eine Überraschung, die das Buch in der Hand haben. Predigten als Titel verkaufen sich wahrscheinlich nicht so gut. In einem Vorwort von 20 Seiten fasst er noch einmal seine Grundideen zusammen, erinnert an die jüngste Geschichte der katholischen Kirche in Tschechien und erläutert die äußeren Umstände, die zu diesen Video-Predigten/Vorträgen führten. Die Leser können nun überprüfen, welche speziellen theologischen Ideen in der Corona-Pandemie (gemeint ist hier die Zeit vom Dritten Fastensonntag bis zu Pfingsten) von Halík verbreitet werden.
Auch in den Predigten werden die seit langem bekannten „Halík“ – Themen angesprochen:
Er unterscheidet wieder zwischen dem vulgärem Atheismus der „primitiven Vorstellungen von Gott“ und dem suchenden Atheismus derer, die zwar kirchenfern, aber doch irgendwie insgeheim vielleicht sogar Mystiker sind. Glauben und Nichtglauben spielt sich für Halik eher auf der bewusstseinsmäßigen Ebene ab, in der Theorie sozusagen. Der Gedanke Jesu, dass fromm jener ist, der die Nächstenliebe tätig tut, wird nicht so stark akzentuiert. Dann wird oft auch die Haltung der offiziellen katholischen Kirchenführung beklagt: Wenn Ehepaaren, die „geschieden, aber – nach staatlichem Recht – wiederverheiratet sind, der Empfang der Eucharistie/des Abendmahles verweigert wird.
Deutlich wird in den Predigten erneut, wie eindringlich Halik die Leistungen seiner Gemeinde beschreibt bzw. lobt, die tatsächlich in großer Offenheit für Kultur, Diakonie und Mystik eigentlich alles richtig macht. Und auch viel Erfolg hat, was die Anzahl der Taufen in der Gemeinde betrifft. Und nun hat die Gemeinde, Halik spricht auch von „Salvator-Gemeinschaft“, sogar in der Stadt Kolin (bei Prag) ein eigenes Meditationshaus.
4.
Aber es wird in den Predigten / Kurzvorträgen nicht recht deutlich, was denn nun diese Gemeinde, vor allem die jüngeren Leute, an elementarer praktischer Hilfe etwa für alte und kranke Menschen in der Not der Pandemie geleistet haben. Konnten die Gemeindemitglieder wenigstens Lebensmittel den Alten vor die Tür stellen, gab es telefonische Beratung, wie wurden Bestattungen gefeiert: Dazu erfährt der Leser nichts.
5.
Und ein weiterer Mangel in meiner Sicht ist: In diesen Predigten in Prag im Jahr 2020 soll ja wohl Elementares des christlichen Glaubens in einer neuen, also nicht verbrauchten und angestaubten formelhaften Sprache mitgeteilt werden. Aber der schöpferische Mut, aus dem Alten und Angestaubten wirklich zu neuen Einsichten und neuen Worten zu kommen, also alte Begriffe mutig in neuen Bildern zu formulieren, das fehlt, nicht nur mir.
Nur ein Beispiel: Warum kann Halík die Bedeutung Jesu von Nazareth nicht als erlösendes Vorbild darstellen? Und warum muss er schreiben: “Es war nicht der Glaube der Jünger, der Jesus zum Leben auferweckte“ (S. 139). Warum eigentlich nicht? Was denn sonst, war es wieder mal ein Wunder, ein völlig unverständliches Eingreifen des himmlischen Gottes nun mal auf dem Kalvarienberg? Die theologische Lösung ist doch einfach: Die Jünger vom Heiligen Geist geprägt, erkennen nach Jesu Tod: Derselbe Geist Gottes, der uns zur Erkenntnis bringt, hat auch den verstorbenen Jesus in eine ganz neue Lebendigkeit geführt, in die Ewigkeit Gottes geführt. Der ewige, göttliche Geist ist lebendig, ist auferweckend, bei den Jüngern wie im Fall des verstorbenen Jesus von Nazareth. Im ewigen göttlichen Geist wird deutlich: Dass alle Menschen kraft des Geistes auferstehen. Ich vermute, wenn man solche oder ähnliche Worte fände, wären sie verständlich in einem „atheistischen Milieu“. Halík hingegen hält sich viel zu oft an die Dogmatik des offiziellen Katechismus (von Ratzinger!) und spricht auch vom Abstieg Jesu in die Hölle (S. 121). Und er sogar, der Hinweis eines japanischen Jesuiten sei für Euripa hilfreich: Der Jesuit, Pater Kadowaki sagt: „Auf dem Weg in die Tiefe des Geheimnisses wird dir das Licht der westlichen Rationalität nicht helfen“ (S. 123). Warum das so ist, also warum der Vernunft wieder einmal die totale Unfähigkeit zum Verstehen Jesu von Nazareth und seines Lebens und Auferstehens bescheinigt wird, bleibt ohne Erklärung. Schade.
6.
In Pandemie Zeiten mit den Lock-Downs muss natürlich auch über Politik und Politiker gesprochen werden. Das macht Halik äußerst sparsam in seinen Predigten, er erwähnt den von vielen kritischen Beobachtern letztlich unfähigen populistischen tschechischen Präsidenten Zéman in einer Fußnote auf Seite 206. Das ist alles explizit Politische.
Da ist Halík in dem genannten Aufsatz „Pseudeoreligion“ vom November 2020 schon etwas weiter, aber da gilt die politische Kritik dem Nachbarn Polen, Kaczynskis Regime nennt Halík einen „autoritären Staat“.
7..
Interessant ist, dass Haliks Predigen nicht Teil einer tatsächlichen, aber virtuellen Eucharistiefeier waren. Für den Prager Theologen kann es Eucharistiefeiern nur mit leibhaftig anwesenden Gläubigen geben (S. 61). Ein diskutabler Gedanke. Aber andererseits berichtet Halik, wie er als Priester in der Zeit der Kommunismus für sich ganz allein – offenbar trotz aller Gefährdungen gern – ganz privat die Messe feierte. War die Not im Kommunismus größer als in der Corona Pandemie? (vgl. die Darstellung auf S. 90: „ich selbst habe – im Kommunismus – Tag für Tag elf Jahre lang, meistens allein oder mit eine paar getreuen, die Messe gefeiert)
8.
Halik deutet die Unmöglichkeit (für ihn) alleine in der St. Salvatorkirche Eucharistie zu feiern als eine Art göttlichen Eingriff: „Das erzwungene Fasten von der Eucharistiefeier und anderen Sakramenten hielt ich für einen wertvollen Ausdruck der göttlichen Pädagogik“… eben tiefer im „Fasten“ als Verzicht auf Eucharistiefeier nachdenken zu können, S. 14f. Auf der anderen Seite aber wehrt sich Halik dagegen, die Pandemie irgendwie mit dem Handeln Gottes, etwa eines strafenden Gottes, in Verbindung zu bringen (S. 25). Gilt also: Strafender Gott: Nein, pädagogischer Gott: Ja?
9.
Auch die Deutung der atheistischen Lebensformen in Tschechien scheinen mir zwiespältig zu sein: „Die tschechische Gesellschaft ist stark entkirchlicht, aber nicht atheistisch“ (S. 23) Die größte Gruppe derer, die sich nicht zu den Kirchen bekennen, seien die Menschen „die gleichgültig sind gegenüber der Religion“ (S.23)
Andererseits meint Halik, die große Mehrheit ´der Tschechen hat Ostern schon lange als Feiertag des Frühlings erlebt, freie Tage, die höchstens durch die folkloristische Nachahmung der heidnischen (! sic) Bräuche farbenfroh gemacht wurden.“ (S. 27)
10.
Mich freut, dass Halik wenigsten in einer knappen Formulierung das Grundprinzip der neuen protestantischen liberale Theologie für sich akzeptiert: „Jeder Mensch hat eine geistige Dimension seiner Persönlichkeit, jeder Mensch fragt auf irgendeine Weise nach dem Sind seines Lebens“ (S 23). Das ist die Grundlage für eine ökumenische Theologie, die alle Menschen bewegen kann.

Tomás Halìk, Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens. Herder Verlag, 2020, 207 Seiten, 20 Euro. Übersetzt aus dem Tschechischen von Markéta Barth und Benedikt Barth.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ein Theologe der Poesie und Literatur: Jean-Pierre Jossua, Paris. Gestorben am 1.2.2021

Ein Hinweis von Christian Modehn

Geschieben am 3.2.2021:
Pater Jean-Pierre Jossua ist am 1. Februar 2021 gestorben, an den Folgen der Corona-Pandemie, er wurde 90 Jahre alt, die Impfung kam wohl zu spät?

Der Dominikaner Theologe Jossua war ein außergewöhnlicher Theologe, darauf habe ich früher schon hingewiesen (siehe unten meinen Beitrag vom 24.9.2020).

Außergewöhnlich, weil er seit ca. 40 Jahren kein Interesse mehr darin sah, über Kircheninterna viel zu reden und zu schreiben. Er hatte erkannt, dass es sehr viel Wichtigeres gibt. Etwas, das nachdenkliche Menschen bewegt, die spirituell interessiert, aber un-kirchlich sind im Sinne von “nicht mehr römisch – katholisch”.
Jossua widmete sich der Literatur, selbstverständlich auch der unkirchlichen, „atheistischen“. Er nannte seine Theologie „théologie littéraire“. Ein großartiger Titel. Allein vier Bände umfasst seine Studie „Für eine religiöse Geschichte der literarischen Erfahrung“, erschienen bei Beauchesne, Paris. Sehr viel mehr Bücher hat Jossua verfasst.

Von Jean-Pierre Jossua wissen in Deutschland vielleicht noch einige, die die progressive katholische theologische Zeitschrift CONCILUM noch kennen, zu deren „Direktoren“ er einst gehörte, als er sich mit den Kircheninterna abgeben musste. Aber auf Deutsch liegt meines Wissens kein größeres Werk von ihm vor, auch die deutschen Dominikaner haben ihn wohl vergessen?

Wie früher schon von mir geschrieben: Jean Pierre Jossua stammte aus einer jüdischen Familie, sein Vater wurde in Auschwitz 1943 von Deutschen ermordet. Er selbst rettete sich nach Argentinien und trat als Konvertit 1953 in den Dominikanerorden in Frankreich ein, der damals für viele kritische Intellektuelle ein spirituelles Obdach bot.
Jossua sah seine Aufgabe darin, das Religiöse, auch das Christliche, ins Gespräch mit der gegenwärtigen Kultur zu bringen, auch und gerade der kirchenfernen, der „laique“ Kultur. Solche gebildeten Theologen mit diesen weiten, vernünftigen Ansätzen und Zielen sind sehr sehr selten geworden. Es herrscht heute bekanntlich und überall zu spüren der kleinkarierte, ungebildete Klerikalismus vor.
Katholische, kritische Intellektuelle gibt es nicht mehr, auch nicht in den Orden. Oder?
Man möchte Jean-Pierre Jossua danken.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

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Dieser Hinweis wurde verfasst anlässlich des 90. Geburtstages von Jean-Pierre Jossua am 24. 9. 2020:

Ein französischer Theologe hat sich viele Jahre seines akademischen Lebens und Lehrens mit der Suche nach dem Unendlichen, dem Sinnvollen, dem Göttlichen befasst, aber, eben anders als die vielen anderen, gewöhnlichen, möchte man fast sagen. Jean Pierre Jossua hat das Unendliche, Gott, das Göttliche, in der modernen Literatur gesucht und auf ungeahnte Weise gefunden. Pater Jossua ist Dialogpartner für Dichter und Schriftsteller, er will sie nicht belehren, nicht bekehren, sondern das Gesagte verstehen und mit ihnen das Ungesagte entziffern
Der Dominikaner Pater Jean – Pierre Jossua (Jahrgang 1930) ist also eine Ausnahme-Gestalt, die leider in Deutschland weithin unbekannt ist: Und das gibt zu denken: Wie weit ist Theologie in Frankreich selbst unter deutschen Theologen „entfernt“ uns fremd? Lediglich in der internationalen theologischen Zeitschrift CONCILIUM hat Jean Pierre Jossua einige auf Deutsch erreichbare Aufsätze publizieren können. Die Liste seiner Arbeiten auf Französisch ist lang. Eine ausführliche biographische und theologische Würdigung wäre angebracht und dringend geboten, man fragt sich: Warum machen das eigentlich die Dominikaner in Deutschland nicht?

Jossuas Motto heißt: „Als Theologe die Literatur lesen. Und als Theologe literarisch schreiben…“ Beide Forderungen hat er in seinem umfangreichen Werk erfüllt.
Jean Pierre Jossua wurde am 24.9. 1930 in Paris in einer jüdischen Familie geboren, die ursprünglich aus Saloniki, Griechenland, stammt. Jean Pierre Jossua gelingt unter der Naziherrschaft die Flucht nach Argentinien, sein Vater wird in Auschwitz von Deutschen ermordet.

Nach einem Medizinstudium konvertiert Jean Pierre Jossua zum Katholizismus und tritt 1953 in den Orden der Dominikaner ein, der sich damals in Frankreich vieler theologisch progressiver Mitglieder rühmen konnte (konservativer auch), erwähnt seien nur die progressiven Patres Chenu oder Pater Congar, die beim 2. Vatikanischen Konzil von Bedeutung waren. Sie hatten eine Leidensgeschichte hinter sich, etwa wegen ihres mutigen Eintretens für die Arbeiterpriester, dieses „Experiment“ hat Papst Pius XII. dann verboten. Den üblichen vatikanischen geistigen Terror mussten sie aushalten, mit Schreibverboten etc. Wie und warum haben das Intellektuelle damals nur mit sich geschehen lassen? Vielleicht, weil sie die an katholische Kirche doch noch als eine „göttliche Stuftung“ glaubten?
Pater Jossua hat sich als Theologe UND Kenner der Literatur und Poesie vor allem dem Dialog mit den Schriftstellern und Poeten gewidmet. Sozusagen innerhalb der Theologie eine Art Nischenthema,leider.

Ich konnte 2011 mit Pater Jossua in Paris, im Dominikanerkloster St. Jacques im 13. Arrondissement, ein Interview führen. Das große Kloster und die einstige renommierte theologische Fakultät „Le Saulchoir“ ist heute eine bescheidene theologische Bildungsstätte des Ordens.
Pater Jossua hat auf die enge Verbindung von Poesie und Spiritualität hingewiesen: „Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegung geworden. Poesie könnte für sie sogar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich möchte ich sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet kann nur gewinnen, wenn es wieder die Form poetischer Qualität entdeckt“.
Schon 1970, beim internationalen Kongress der internationalen Zeitschrift „Concilium“ deutetd Pater Jossua seine besonderen, vom „Üblichen“ abweichenden theologischen Interessen an: „Streng genommen ist die Idee von einem Berufstheologen eine Blasphemie, steckt doch hinter dieser Idee der Gedanke, dass es im Christentum Fachmänner für Gott gibt“ (S. 54)… Am Ende seiner Vortrags in Brüssel zeigte der damals noch junge Theologen Jossua, welche Interessen ihn bewegen: Er sprach hochschätzend von „Charismatikern“ (geisterfüllten Menschen) „der Schwelle“, von Schriftstellern und Philosophen, die von außen das theologische Leben beobachten. Diese nannte Jossua durchaus auch Theologen,, „die“, so wörtlich, „kein kirchlicher Maßstab messen kann. Ich denke an Menschen wie Bergson, Simone Weil und viele andere“. (in: „CONCILIUM. Die Zukunft der Kirche“. S. 59, Benziger und Grünewald Verlag 1970).
Über diese Theologen der Schwelle“ hat Jossua seine „théologie littéraire“ entwickelt und regelmäßig davon über viele Jahre berichtet, abgesehen von zahlreichen eigenen Studien zum Thema. LINK

Von den zahlreichen Studien Jossuas soll hier nur erwähnt werden: „La passion de l infini: Littérature et théologie“. Nouvelles recherches. Paris 2011, Editions du Cerf.
Eines seiner letzten Bücher hat den für Jossua bezeichnenden Titel: „Chercher jusqu à la fin“, „Suchen bis zum Ende“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Jérome Lejeune: Abtreibung nannte er einen “Genozid”. Und seine Stiftung verteufelt die Homoehe. Aber von Papst Franziskus wird er bald „selig gesprochen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Bald können Katholiken einen militanten Wissenschaftler als einen Seligen verehren: Er hat jegliche Abtreibung verurteilt, er war gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen… und ein bekennendes Opus Dei Mitglied. Ausgerechnet Papst Franziskus wird ihn bald selig sprechen. Ein Papst, der es „allen recht machen will“.
2.
Wieder hat es der Papst es eilig mit einer Seligsprechung: Der Franzose, Professor Jérome Lejeune (1926 bis 1994), gehörte als Genetiker zu dem Team, das 1959 die Trisomie 21 entdeckte. Seit der Zeit wurde Lejeune international geehrt. Zuletzt auch von seinem engsten Freund Papst Johannes Paul II., der Lejeune zum Präsidenten der „Päpstlichen Akademie für das Leben“ ernannte.
3.
Papst Franziskus ist nun fest entschlossen, Lejeune selig zu sprechen, als erster Schritt wurde ihm „der heroische Tugendgrad“ zuerkannt, eine Voraussetzung für eine Seligsprechung und die dann folgende Heiligsprechung. Die erforderlichen Akten für den Prozess der Seligsprechung wurden bei den Vatikanischen Behörden übrigens erst 2012 eingereicht, es überrascht also das Tempo im Vatikan, diesen Herren letztlich zur Verehrung aller Katholiken auf die Altäre zu erheben. „Heiliger Professor Lejeune“, bitte für uns, kann man dann beten. Auch der Gründer des Opus Dei, José Maria Escriva, wurde im Eiltempo gegen alle Üblichkeiten heiliggesprochen. Tatsächlich spielt auch Geld immer eine Rolle, was das Tempo von Selig und Heiligsprechungen angeht. Und: Die möglichst konservative theologische Orientierung.
4.
Aber es waren nicht nur wissenschaftliche Qualitäten, die dem Papst gefallen: Jérome Lejeune war bekanntermaßen Opus Dei Mitglied. Er war zudem ein leidenschaftlicher Feind jeglicher Abtreibung. Er nannte Abtreibung einen Genozid und gründete den Verein „Laissez les vivre“, „Lasst sie leben“, der eng verbunden war mit der rechtsextremen Partei Front National von Jean Marie Le Pen.
5.
Nach dem Tod von Lejeune wurde die gemeinnützige „Stiftung Lejeune“ gegründet, die seitdem vor allem gegen die Homoehe auftritt und auch entsprechende Demonstrationen mit organisiert hat. Siehe den Protest von Wissenschaftlern gegen die politischen Verquickungen der Stiftung Lejeune, die zudem staatlich gefördert wird: https://www.numerama.com/sciences/244921-146-scientifiques-denoncent-une-fondation-reactionnaire-qui-entrave-la-recherche-sur-les-embryons.html
6.
Die alsbaldige Seligsprechung des Antiabtreibungs-Professors passt gut in die (kirchen-)politische Szene heute:In den USA predigen viele katholische Bischöfe ihren Widerwillen gegen Präsident Joe Biden, weil er die Abtreibung in einem bestimmten rechtlichen Rahmen zulassen wird. Ein seliger Jérome Lejeune passt gut in die reaktionäre Politik Polens und die Anti-Abtreibungspolitik so genannter katholischer Staaten in Lateinamerika, wie Nicaragua, El Salvador, Guatemala und so weiter.
7.
Die letzte politische Bastion der katholische Kirche, dies ist ihr moralischer Einspruch zugunsten von absolutem Abtreibungsverbot und ihr radikaler Widerstand gegen Homoehe oder Sterbehilfe, muss von ihr absolut verteidigt werden. In diesen Fragen will die Kirche noch einmal, wie im Mittelalter, das staatliche Leben auch in der Gesetzgebung bestimmen. Es ist freilich ein verlorener Kampf, weil selbst die noch verbliebenen Katholiken etwa in Europa und Amerika mehrheitlich die vernünftigen moralischen Positionen übernommen haben. Die rigiden moralischen Gesetze der Kirche sind nicht vernünftig, sie haben einen esoterischen Charakter.
7.
Papst Franziskus zeigt mit dieser baldigen Seligsprechung von Prof. Jérome Lejeune, Opus-Dei, dass er in seiner Haltung theologisch zerrissen ist. Er will es offenbar (um des eigenen Überlebens willen?) allen recht machen im Vatikan, auch dem Opus Dei und den reaktionären Kräften in Frankreichs Kirche.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

„Ignorant katholisch“.

Populäre Variationen im aktuellen Katholizismus
Beiträge zum Thema: Mit welchen “dringenden” Themen sich heute einige katholische Theologen befassen…
Hinweise von Christian Modehn

Das Motto:
“Man denke ja nicht, dass ein Kirchenkritiker ein Atheist ist“ (Voltaire)

Das Vorwort:
Natürlich kann jeder glauben, was er will, so lange er in seiner Glaubenspraxis andere nicht gefährdet.
Aber unsere Frage ist theologisch gesehen doch wohl üblich und normal: Kann man im Katholizismus alle nur denkbaren, auch dummen, bloß populären Inhalte als „Glaubensgut“ propagieren? Darf man das tun, wenn einem die seelische und spirituelle Gesundheit, die eigene wie die der anderen Glaubenden, wichtig ist?
Mit dieser Frage wird selbstverständlich nicht für eine Wiederkehr der Zensur plädiert. Pluralität der Glaubensinhalte muss auch im Katholizismus gelten. Aber nicht alles offiziell Verkündete kann vor dem Anspruch der Vernunft bestehen. Und sollte freimütig kritisiert werden. Welchen Maßstab für die Unterscheidung aller nur denkbaren Glaubensinhalte gibt es denn, wenn nicht die selbstkritische Vernunft? Die kritische Vernunft entscheidet, nicht irgendeine der vielen theologisch – dogmatischen Traditionen.

1.
Ein erstes Beispiel für unsere Rubrik „Ignorant katholisch“: Das Jahr 2021 soll das“ Jahr des heiligen Josef“ sein!

So will es ausdrücklich Papst Franziskus: Josef, den der Papst, wie in offizieller Dogmatik üblich, nicht etwa den Vater Jesu nennt, sondern als den „Ziehvater“ Jesu bezeichnet. Früher sprach man vom „Nährvater“ Josef, um auch so jeglichen sexuellen Kontakt mit seiner Verlobten Maria auszuschließen. Maria wurde bekanntlich dadurch Mutter Jesu, weil sie „vom heiligen Geist empfangen hat“. Dabei aber spricht das Johannes-Evangelium, knallhart möchte man sagen, (Joh. 1, 46), von „Jesus als dem Sohn Josefs“. Aber die leib- und sexfeindliche Theologie machte in ihrer Angst aus Josef den asexuellen Ziehvater. Was für ein Titel! Und dieser „Ziehvater“ soll nun, so wörtlich Papst Franziskus, als „Vorbild“ heute in Corona- Zeiten gelten. Ausgerechnet wegen, so wörtlich, „seines kreativen Mutes, seiner Bescheidenheit, wegen seines Gehorsams und der Zärtlichkeit sowie der Verantwortung“. Dieses Vorbild des heiligen Josef sei gerade in Pandemie – Zeiten relevant. Darf man fragen: Was soll dieses fromme Schwadronieren? Ich kann diese Verkündigung des Papstes Franziskus nur als einen Beitrag für eine Theologie des Absurden bezeichnen: Weil wir allen Ernstes von diesem Mann Josef fast gar nichts wissen. Josef ist nämlich eine Art Phantom. Der aber dann doch, versehentlich möchte man meinen, im Neuen Testament Vater einer größeren Familie genannt wird. Wobei dann Jesu Brüder (vgl. die Namen der vier Brüder Jesu bei Markus, 6,3) zu nahen Verwandten heruntergestuft werden, bloß damit Maria die total unberührte sexuell Reine bleiben kann.
Und auch dieses noch: Kein einziges Wort wird von diesem Familienvaters Josef in den vier Evangelien überliefert, von seinem Tod oder Weiterleben nach der Hinrichtung Jesu ist im Neuen Testament nichts bekannt. Lediglich über seinen Beruf wird ein Wort verloren, er soll den damals angesehenen Beruf des „Bauhandwerkers“ ausgeübt haben, ein Job, den sein Sohn offenbar auch lernte, so überliefern es viele Künstler in ihren Bildern.
Kurzum:
Wie kann eine Phantomgestalt, oder ein Protagonist eines Mythos, heute Vorbild sein für Katholiken im Jahr 2021? Oder werden die Gläubigen schlicht nur aufgefordert, ihrer Phantasie freien Raum zu lassen und sich ihren ganz persönlichen Josef zu imaginieren? Lebt der Glaube etwa von wunderbaren Legenden? Vielleicht wird dann sogar die von Josef mit seiner Gattin (?) Maria gelebte „Josefsehe“ wieder attraktiv in diesen Corona – Zeiten, wo wir leibliche Kontakte möglichst meiden und alle anderen Menschen auf Distanz halten sollen.
Katholiken können bekanntlich Heilige als Fürsprecher im Himmel anflehen: Sie mögen sich doch bitte bei Gott einschalten und dem Betenden hilfreich sein. So wird Josef traditionell als Schutzpatron der Sterbenden verehrt. Meinte dies etwa Papst Franziskus, als er das „Jahr des heiligen Josef“ in dieser Pandemie ausrief? Welche Form von Spiritualität wird dann aber gefördert? Sollte man diese Spiritualität nicht allen Ernstes eine Form des Aberglaubens nennen: Ein heiliger Josef, im Himmel wandelnd, bittet den Ewigen Gott um Erbarmen in einem ganz konkreten Fall eines hoffentlich braven Menschen? Was soll das? Hat das etwas mit christlichem Glauben zu tun?
Wenn schon der Papst dem Jahr 2021 ein besonderes Motto geben will, das für nachdenkliche Menschen nachvollziehbar ist und nicht absurd wirkt: Warum sagt er dann nicht: Das ist ein Jahr der Solidarität, der Hilfsbereitschaft auch der katholischen Gemeinden und ihrer Priester. Sie sind bereit, mit einzelnen, unter Beachtung aller geltenden Schutz-Regeln, zu sprechen; sie öffnen ihre Kirchen tagsüber zum stillen Gebet oder der Meditation für einzelne oder ganz kleine Gruppen, sie sind als Priester in diesen Kirchen anzutreffen, denn in diesen Corona-Zeiten haben die Pfarrer ja so furchtbar viel nicht zu tun, weil alle Gruppen, Bibelkreise etc. ausfallen. Diese Pfarrer und ihre Gemeinden beschenken dann die Pflegenden, trösten die Trauernden. Und verschanzen sich nicht in den hübschen Pfarrhäusern und Klöstern oder katholischen Akademien. Was haben die Akademie Direktoren eigentlich in Corona – Zeiten gemacht? Wahrscheinlich haben sie in der langen Freizeit Bücher geschrieben…
Wie auch immer: Nur praktische Hilfe ist sinnvoll und frei von jeglichem absurden Aberglauben. Ein offizielles Jahr des heiligen Josef weltweit, verführt angesichts der Phantom-Gestalt dieses Mannes nur zu spinösen Ideen … und ist insofern absurd. Lassen wir den heiligen Josef also ruhen oder im Himmel sich erfreuen…

2.
Ein zweites aktuelles Beispiel: Die katholische Kirche soll doch bitte das „Fest der Beschneidung Jesu“ wieder einführen.

Der 1. Januar war bis 1969 das Hochfest der Beschneidung Jesu. Irgendwann aber war den Theologen doch klar, dass für Christen die Beschneidung Jesu aktuell keine Bedeutung mehr hat. Dass Jesus als Jude beschnitten wurde, ist ja klar, bedarf aber wohl keines eigenen christlichen Festes. Nun gibt es im heutigen Katholizismus prominente Stimmen, die das Fest der Beschneidung Jesu wieder einführen wollen. Dadurch soll der „Relativierung des Mann-Seins (sic!) Jesu“ Widerstand geleistet werden (man ahnt, das hat etwas mit der Abwehr des Frauenpriestertums zu tun) und der „Marginalisierung des Jude-Seins Jesu“ sollwidersprochen werden, so etwa wörtlich der katholische Theologe und Universitätsprofessor (Wien) Jan-Heiner Tück in der „Herder-Korrespondenz“ Januar 2021, S. 25. Inzwischen will sich auch Kardinal Marx für die Wiederbelebung des Festes der Beschneidung Jesu einsetzen. Der Provinzial der Jesuiten in der Schweiz, Pater Christian Rutishauser, macht sich schon seit längerer Zeit für das „Beschneidungsfest“ stark. Ein entscheidendes Motiv dafür ist, der jüdischen Gemeinschaft den guten Willen zu zeigen und Jesus als vollständigen Juden auch in christlicher Sicht herauszustellen. Diese Idee ist sehr löblich, man muss sich aber auch mit der Abwehr der Beschneidung durch den Apostel Paulus noch befassen. Und sich fragen, wie der Jude Jesus nicht vielleicht doch aufgrund seiner Kritik an jüdischen Gelehrten dich etwas über das Judentum hinausgewachsen ist. Das wäre ein spannendes religionswissenschaftliches Thema…Diese Wiederbelebung einer katholisch zu feiernden Beschneidung Jesu ist aber sicher kein wirksamer Beitrag, um den auch in katholischen Kreisen immer noch und immer wieder vorhandenen Antisemitismus zu bekämpfen. Judenfeindschaft heute, propagiert von Rechtsextremen, überwinden Katholiken nur, wenn sie gegen den Antisemitismus der Rechtsextremen kämpfen. Und wenn sie in den christlichen Gemeinden die Kenntnis des jüdischen Lebens vertiefen, Begegnungen ermöglichen und vor allem auch die hebräische Bibel studieren. Damit machen sie wohl der jüdischen Gemeinschaft mehr Freude als mit der Wiedereinführung des Festes der Beschneidung Jesu.

Nebenbei: Ich wäre den LeserInnen sehr dankbar, die mir verraten könnten, wo denn überall die kleinen Fetzen der Vorhaut Jesu als bis heute übliche Reliquien in katholischen Kirchen verehrt werden, Hautfetzen, die nach der Beschneidung Jesu übriggeblieben und – angeblich wie immer bei Reliquien – wohl erhalten sind. Nur darf es so viele Hautfetzen eigentlich gar nicht geben….Ich kann nur daran erinnern, dass sich vor etlichen Zeit die Vorhaut Jesu in Antwerpen befunden haben soll. Aber es kommt noch anders: „Am intensivsten war die Vorhautverehrung in Frankreich, wo man sich auch im Besitz einiger Nabelschnüre des Heilands glaubte: “Praeputia Christi”,Vorhäute Jesu, gab es in vielen Städten, wie Besançon, Boulogne, Compiegne, Langres, Nancy, Paris
doch die berühmteste Vorhaut nannte die Abtei von Charroux bei Poitiers ihr Eigen..“ (Quelle: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/kirche/die-vorhaut-christi-vom-niedergang-einer-reliquie).
Für mich ist die Überlegung zu einer Wiedereinführung des Festes der Beschneidung Jesu ein weiterer Beitrag zum Thema „Ignorant –„ oder sollte man schon sagen „absurd – katholisch“.
PS.: Wer sich für eine Ausweitung dieses Themas interessiert, also die Widereinführung alter, Gott sei Dank abgeschaffter Feiertage, möge sich bitte für eine Wiederbelebung des Titels „Fest Mariä Reinigung“ einsetzen oder auch des Festes „Sieben Schmerzen Mariens“. Auch ein großes Fest zu Ehren des imaginären, also „legendär“ genannten heiligen Georg wäre dann sinnvoll. Als siegreicher Ritter gegen allerhand fremde Feinde, auch aus dem Ausland, könnte er doch himmlischer Fürsprecher sein. Vielleicht ist dieser mythische Georg der ideale Schutzpatron der AFD? Die prominenten katholischen Freunde in der AFD, wie Pater Ockenfels OP, sollten sich bitte mal darum kümmern. „AFD -Georgs -Bund“ klingt doch nicht schlecht.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Fortsetzung folgt, leider.

Der religiöse Beethoven – ein Meister für heute und morgen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.12.2020

Die Geburtstagsfeiern zu Ehren Ludwig van Beethovens werden ins kommende Jahr 2021 verlängert. Das steht fest angesichts der Corona – Beschränkungen in diesem Jahr. Also können sich auch alle philosophisch und theologisch Interessierten weiterhin auf den „religiösen Menschen“ Beethoven beziehen. Im „Blick zurück“ ist eine heutige Perspektive leitend: Beim geistigen Zusammenbruch der alten christlichen Konfessionen in Europa (der sich als Zusammenbruch aber noch lange hinziehen kann) gilt es, sich religiöser Gestalten zu erinnern, die sich als „freie Geister“ in religiösen Fragen zeigten. Da muss Ludwig van Beethoven genannt werden! Als selbstbewusster Überwinder konfessioneller Üblichkeiten, zugunsten einer Spiritualität, die Musik als Weg zur Transzendenz entdeckt. Genau deswegen ist die philosophische und theologische Auseinandersetzung mit Beethoven und seinem Werk ( 772 Werke sind es!) so wichtig. Er gehört als „freier Geist“ in unsere Zeit.

Dieser Hinweis kann nur ein bescheidener Impuls sein für jene, die in der Musik und durch die Musik die Tiefe ihres Daseins erleben und, gelegentlich wohl, im Hören (oder im schöpferischen „Nach“-Schaffen der Musik), das Göttliche als das gleichermaßen Tragende und Bergende sowie als das Herausfordernde und Unheimliche erleben.

1.
Auf ausführliche biographische Hinweise will ich hier verzichten.Nur so viel: Schon mit 13 Jahren spielt Beethoven die Orgel in der Bonner Hofkirche. Dort hört er („berufsbedingt“, möchte man sagen) viele Predigten, auch von Universitätsprofessoren, er lernt also die populären Darstellungen katholischer Dogmatik und Moral kennen. Angesichts der vielen Messen an vielen Orten in Bonn und sogar in Siegburg ist er als Organist ausgelastet und muß sich wohl gegen die religiöse Routine wehren, die alle überkommt, die berufsmäßig mehrfach am Sonntag Orgel spielen müssen oder, im Falle der Priester, beten und lesen und predigen müssen, eben in der Routine der immer selben liturgischen Formen der Messe. Das führt bekanntlich zu spirituellen „Abnutzungserscheinungen“. Hat die Routine der vielen Messen, an denen der junge Beethoven teilnehmen musste, hoch oben, an der Orgel, seinen Abstand vom offiziellen Katholizismus befördertet? Das ist wohl so.

2.
Mit 22 Jahren zieht Beethoven als freier Musiker und Komponist nach Wien. Dort geht er auch religiös seinen eigenen Weg! Er entwickelt sich allmählich zu einem „multireligiös denkenden und empfinden“ Musiker, lässt sich also nicht auf eine einzige Glaubenshaltung und auf die angestammte (katholische) Konfession festlegen. Es gibt eine Notiz in einem seiner „Konversationshefte“, die er wegen seiner Ertaubung nutzen musste: „Sokrates und Jesus waren mir Muster“. Und er bezieht sich dabei auf seine große Messe, an der er viele Jahre arbeitete…
Auch Sokrates war für ihn ein Vorbild in spirituellen Fragen. Genauso wie Kant. Und Jesus schätzte Beethoven mehr als die ferne und nur erhabene Christus-Gestalt.Jesus war für ihn ein Mensch, leiblich, greifbar, voller Emotionen. In seinem Oratorium „Christus am Ölberge“ will Beethoven Jesus als Menschen näherbringen …und wahrscheinlich das eigene Leiden an der Taubheit mit dem Leiden Jesu von Nazareth vor seinem Tod zu verbinden.

3.
Explizit religiöse Kompositionen hat Beethoven in nur geringer Zahl geschaffen. Er hat etwa neben dem Oratorium „Der Sieg des Kreuzes“ eine „kleine Messe“ in C Dur als Auftragsarbeit 1807 geschrieben: Dies ist keine Messe, die der volkstümlichen Frömmigkeit in „bewährter Manier“ dienen soll, also in einer Gestalt, wie sie noch Haydn pflegte. Vielmehr zeigt Beethoven in der Komposition dieser Messe seinen eigenen individuellen Glauben, er lässt hören, was ihm persönlich wichtig ist. Glaube kann also sehr treffend nur als Wechselspiel zwischen dem einzelnen und den objektiv vorgegebenen Texten bzw. Organisationsformen verstanden werden. Bei Beethoven kommt meines Erachtens sein einzelnes Fühlen und Denken in gebührender und starker Weise zum Ausdruck. So soll es ja sein, weil Glauben nur als „mein Glauben“ überhaupt möglich ist, diesen Imperativ hat die offizielle Kirche in ihrer Bevorzugung des Objektiven, „Amtlichen“, „Dogmatischen“ allzu oft vergessen. Jan Assmann, der bekannte Ägyptologe, den als Protestanten die Theologie “am meisten interessiert”, hat eine große Studie über Beethovens Missa solemnis geschrieben “Kult und Kunst” (C.H. Beck Verlag). In einem Interview mit der Zeitung Christ und Welt, Heft 53/2020, Seite 3 sagt Assmann kurz und bündig, aber sicher treffend, bezogen auf das Benedictus der missa solemnis:“Beethoven schwelgt in der Präsenz Gottes. Das zeigt mir, dass er den Gottesdienst nur noch musikalisch feiern will. Er braucht keine Priester mehr”.

4.
Ein Wort zur Vielfalt der Bedeutungen, die für Beethoven das Wort Gott hat: Beethoven spricht auch von Gottheit, von dem Vater oder dem Allerhöchsten, dem Himmel oder dem Schöpfer. Diese transzendente, aber gleichermaßen in der Seele lebendige Wirklichkeit kann für Beethoven nicht nur in der Musik, sondern auch in der Natur vor allem erfahren werden.
Auf seine Krankheiten hat Beethoven musikalisch geantwortet. Man denke an das Opus 132, das späte Streichquartett aus dem Jahr 1825, der 3. Satz hat den Titel „Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit, in der lydischen Tonart“, also in der Oktavgattung des altgriechischen Systems. Theologisch gesehen beachte man: Beethoven nennt diesen Satz eine Dankgesang an die „Gottheit“. Im Jahr 1825 war der Komponist von einer schweren Krankheit heimgesucht worden.
Seine Verzweiflung inmitten des Lebens hat er auf Gott bezogen: „Ich habe schon oft den Schöpfer und mein Dasein verflucht“ (Brief vom 29. Juni 1801). Er war auch empört über die groben Missverständnisse seiner Verwandten: Davon schreibt er in dem „Heiligenstädter Testament“, das er allerdings niemals als Brief absandte. Angesichts der Feindseligkeit und der Verletzungen gesteht er: „Es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben.. Nur die Kunst, sie hielt mich zurück“.

5.
Für unser Interesse ist die „Missa solemnis“ wichtig: Sie ist eigentlich als eine wirkliche Konkurrenz zu einer Messe gemeint, die in einer Kirche während des katholischen Gottesdienstes, der Messe, aufgeführt wird. Im 19. Jahrhundert entstanden die Konzerthallen in Berlin und Wien, in denen auch religiöse Musik aufgeführt wurde, etwa in der „Singakademie“, dem heutigen Gorki Theater in Berlin. Die christliche Musik wurde aus den Kirchenräumen befreit und erreichte dadurch ein anderes Publikum, das die Messe eher als religiöses Ereignis der individuellen Gefühlswelt wahrnahm denn als Vertiefung in die vorgegebene dogmatische Lehre der Kirche. Die große Weitung der Spiritualität gelingt dann Beethoven in seiner 9. Symphonie, vor allem im Schlusschor, der Ode „An die Freude“ von Friedrich Schiller. Ein Bekenntnis zur Freundschaft unter den Menschen, ein Bekenntnis zur Menschlichkeit, das über alle konfessionellen (und ideologisch – politischen) Bekenntnisse als gemeinsame und universale humane Basis hinausweisen kann. Und sollte. Aber was hat die Musik „bewirkt“? Darf man so fragen? Was haben alle die vielen tausend, wenn nicht Millionen Hörer „gemacht“ mit ihrem Erleben der Ode „An die Freude“. Hier wird die Beziehung von ästhetischem Erleben zur ethischen Praxis berührt. Wie wird ein Ästhet zum Ethiker? Eine grundlegende Frage.

6.
Beethoven bleibt für spirituell Interessierte gegenwärtig. Er ermuntert durch sein Beispiel, den eigenen spirituellen Weg zu gehen. Die so „eigene“ errungene Spiritualität zu leben und zu denken und dann auch anderen zu sagen, darauf kommt es wohl an. Wer die eigene Spiritualität sagt, sucht den Dialog, nimmt teil an der Lebendigkeit des Geistes, der sich überall „Ausdruck schafft“ und damit die Kultur belebt. So könnte die Kirche eine große Gesprächsgemeinschaft werden, die den spirituellen Austausch lebt und alle bequeme Routine von sich weist. Die Hörer der Ode „An die Freude“ in aller Welt hätten sich viel zu sagen. Sie müssten nur die starre Haltung des „Kulturkonsumenten“ aufgeben.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Weihnachten: „Christus, der Retter, ist da…“ Oder: „Jesus der Retter ist da” ?

….diese Frage ist alles andere als nur theologisch subtil…
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Krisenzeiten neigen Menschen dazu, sich in (angeblich) altbewährte Traditionen zu flüchten, wenn sie sich denn nicht gleich Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien hingeben.
Um beim Weihnachtsfest zu bleiben: Es gibt das Bedürfnis in unserer „durchrationalisierten“ und digitalisierten Welt der totalen Ernüchterung, in die „verzauberte“ Welt der Kindheit, der Märchen und Legenden einzutauchen, um dort – wie im Traum – etwas Halt und seelische Wärme zu empfinden: Weihnachten ist der Inbegriff der Ergriffenheit, der Traditionspflege, des „Einst war es doch so schön“. Der ganze Kommerz–Wahn zu Weihnachten hat diese Wunschvorstellung nicht nur nicht kleingekriegt, der Kommerz hat diffuse Sehnsüchte wohl noch beflügelt…

2.
Also bleiben wir realistisch: Man kann wirklich nicht sagen, dass die Weihnachtsgefühle inklusive der obligaten Weihnachtslieder tatsächlich eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse gebracht haben. Man hat „Christus der Retter ist da“ viele Male gesungen, vielleicht mit Tränen in den Augen voller Wehmut, der Kindheit gedenkend … und ist dann drei Tage später wieder in die übliche Alltagsroutine zurückgefallen, die Alltagsroutine aus Egoismus, Hass, Neid, Gier und Krieg, siehe die orthodoxe Kirche in Pution -Russland und ihres Patriarchen Kyrill…

Weihnachten mit seine humane Botschaft hat selten und kaum nachzuweisen zu einer Neuorientierung, zur Abkehr vom üblich gewordenen Inhumanen, geführt. Das über alle die Jahrzehnte und Jahrhunderte empirisch zu belegen, wäre eine tolle Aufgabe. Die Kirchen würden solche Forschungen bestimmt nicht unterstützen…Also: Wer will im Ernst der Erkenntnis widersprechen, dass Weihnachten gefeiert und Weihnachtslieder gesungen wenig spürbar zu einer menschlicheren Welt beigetragen haben. Das ist die traurige Bilanz einer Religion, die sich als Heil, als Rettung selbst versteht. Bestenfalls fand diese Erlösung, Rettung, dann im Innern der privaten Seele statt. Aber die Wirkungen nach außen blieben aus.

3.
Manche „Optimisten“ werden auf die Bereitschaft zum Spenden hinweisen für „Brot für die Welt“ oder „Adveniat“. Aber Spenden für die Armen sind nun einmal der hilflose Ausdruck dafür, dass „wir Erlöste“ strukturell die Welt nicht verbessern können oder veröndern wollen: Der Hunger von Millionen Menschen weltweit besteht weiter  seit Jahren, die Kriege sind Alltagsrealität, die Rüstungsindustrie floriert, die Zahl der Milliardäre nimmt zu, die Anzahl von diesen Leuten Armgemachten ebenso… Da sind Spenden ein Alibi für die Hilflosigkeit der Kirche, wirklich praktisch und politisch und sozial spürbar durchzusetzen, dass „dieser Christus der Retter wirksam da ist“. Es blieb und bliebt also beim Singsang. Wirkungslos.

4.
Mein Vorschlag zu einer wirklichen wirksamen Bedeutung von Weihnachten: Singen wir und sagen wir  nicht länger „Christus, der Retter ist da“, sondern „Jesus, der Retter ist da“. Das ist mehr als eine theologische Spitzfindigkeit. Da geht es um Wesentliches. Aber das muss erklärt werden.

5.
Mir geht es um ein Thema, das nicht nur religionsphilosophisch Interessierte bewegt: Wenn der christliche Glaube, auch im Falle von Weihnachten, im Leben des einzelnen noch eine Rolle spielen soll, dann ist Glaube sinnvoll nur zu definieren als eine Form der Lebensorientierung, als eine Gestalt einer Lebensphilosophie. Der christliche Glaube als Lebensphilosophie mit der entsprechenden Lebenspraxis: Dann ist immer – wie bei jeder Philosophie – gemeint das vernünftige Verstehen, das Reflektieren, also auch die Kritik der „Inhalte“ dieser Lebensphilosophie, die da als kirchlicher Glaube verbreitet wird.

6.
Wer die uralten Weihnachtslieder betrachtet oder singt und eben darin einen hilfreichen Ausdruck seiner Lebensphilosophie sehen will, sollte sich also fragen: Was singe ich da eigentlich, welche Inhalte singe ich oder summe ich dann mit? Wenn es mir auf den Inhalt, den „Text“ der Lieder gar nicht mehr ankommt und diese für mich verständlicherweise veraltet wirken, dann reicht es, einige Weihnachtslieder einzig instrumental zu inszenieren. Und ich kann beim Hören der Melodie mir meine eigenen Gedanken machen jenseits von „O Kindelein von Herzen“ und den „himmlischen Heeren, die Ehre jauchzen“ usw. Nebenbei: Eines der wenigen, auch vom Inhalt her noch singbare alte Weihnachtslied ist für mich das Lied von Paul Gerhardt: „Ich steh an deiner Krippen hier“…

7.
Das beliebte Lied „Stille Nacht…“ verdient eine besondere kritische Aufmerksamkeit. Da heißt es in der 2. Strophe: „Christus der Retter ist da“? Christus ist der Retter. Und er soll also „da“ sein.
Wer das singt, hat, irgendwie verschwommen, einen oder seinen „Christus“ vor Augen, eine Art hoheitlicher Heilsgestalt, einen Gottessohn, der sich am Ende seines Lebens blutend und leidend für die Sünden der Menschen hingibt und dadurch seinen zornigen Vater(gott) versöhnt. Ist diese Überzeugung von Christen aus dem Mittelalter heute noch glaubwürdig und nachvollziehbar? Wie viele andere Theologen und Religionsphilosophen sage ich Nein. Es geht Weihnachten um Jesus von Nazareth, geboren als Kind von Obdachlosen in der Krippe zu Bethlehem, im Stall, inmitten seiner Eltern Maria und Josef. Dann war Jesus in Nazareth als Tischler tätig, später als Prophet und Prediger. Und er wurde umgebracht und später wussten seine Freunde: „Dieser Mensch ist der „Auferstandene“.

8.
Und jetzt kommt in meiner Sicht – ein theologisches Ereignis! Ein spiritueller Umbruch. Dabei geht es nur dem Schein nach um etwas Subtiles für „Spezialisten“: Es geht um den Unterschied zwischen „Christus“ und „Jesus“. Christus ist der himmlische Herr oder der Sühne leistende Sohn Gottes. Dies gilt, selbst wenn oft von „Jesus Christus“ die Rede ist: Da tritt aber die Gestalt des Jesus immer in den Hintergrund gegenüber dem allmächtigen Christus. Das Konzil von Nikäa undndie folgenden Konzilien haben diese Tendenz absolut verstärkt. Leider!

Jesus von Nazareth hingegen ist eben der jdüische Mann mit einer bestimmten Geschichte, mit einem Lebensentwurf, einer bestimmten Lebensphilosophie. Er ist ein Mensch mit einem Gesicht, einer Geschichte, er wird zum Propheten, den viele für einen Lehrer, einen Weisen, halten.

9.
Und was ist das „theologische Ereignis“? In der heute üblichen katholischen Version heißt es seit 1975 im Lied „Stille Nacht“ sehr treffend: „Jesus der Retter ist da“. Im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“, (Lied Nr. 145, in „Gotteslob“, Berlin, Morus-Verlag, 1975, Seite 219) rettet also Jesus. Die Evangelische Kirche in Deutschland und alle volkstümlichen Songs singen hingegen nach wie vor: „Christ(us) der Retter ist da“. In einer kritischen heutigen Theologie hat die katholische Version zweifellos recht: Jesus ist der Retter, Jesus ist da ALS Retter: Warum ist Jesus für uns der Retter? Und nicht die abgehobene Christus-Gestalt?

10.

Natürlich kann diese einzelne, konkrete Person aus Nazareth nicht die Welt, nicht alle Menschen dieser Welt seit Anbeginn der Welt, retten, umkrempeln, zum Besten führen, allen Schmerz und alles Leiden auslöschen. Aber er als Person, mit einem Gesicht, einer Geschichte, mit seiner Liebe zur Gemeinschaft, zum gemeinsamen Speisen, seiner Praxis der Meditation und des gelegentlichen Rückzugs in die Wüste, mit seiner Liebe für die Frauen, seiner Liebe zu seinem “Lieblingsjünger Johannes” usw.: Dieser Mann Jesus weckt eine besondere Einsicht, vielleicht ein neues Engagement! Da wird Leben geweckt – anders als bei der abstrakten Christusgestalt, dem Himmelherrn, dem Logos, dem sich aufopfernden Gottessohn etc.

11.
Jesus von Nazareth kann Welt und Menschen nur insofern als „Retter“ angesprochen werden, als sich Menschen einigen Aspekten seiner Lebensphilosophie, der des Menschen und Propheten Jesus von Nazareth im Geist, in der Seele, in der Praxis anschließen. Also: Nächstenliebe, Solidarität, Gerechtigkeit, Freundlichkeit als oberste Werte anerkennen. Wie bei jedem Menschen können wir einiges von dem, was er lehrte, problematisch finden und heute zurückweisen: Wie etwa Jesu Vorstellung seiner alsbaldigen Wiederkunft…
Jesus, der Retter ist da: Aber bitte differenziert betrachtet, als Vorbild und damit als Einladung, den Weg der Humanität mit ihm zu gehen. Diese humane Praxis war für Jesus von Nazareth der einzig wahre Gottesdienst, wie alle wissen, die das Neue Testament lesen (vgl. Matthäus, Kap. 25, Verse 31-46).

12.
Jesus von Nazareth als Vorbild für eine individuelle, aber auch politische Lebensgestaltung, die allen Wert auf Dialog, Versöhnung, Gerechtigkeit legt: Aber für das soziale und politische Zusammenleben bleibt das entscheidende Kriterium unsere Bindung an die universalen Menschenrechte, die in mancher Hinsicht auch einiges den Lehren des Jesus von Nazareth verdanken.

13.
Man denke daran, dass der große katholische Theologe Edward Schilllebeeckx (Nijmgen, NL) von Jesus als dem erlösenden Vorbild sprach. Insofern befinde ich mich hier in bester theologischer Gesellschaft. Und Jesus als Vorbild führt weiter zu der argumentierenden Frage: Wo sind heute weitere Vorbilder? Wahrscheinlich Gandhi oder Martin Luther King? Oder Bonhoeffer? Oder Erzbischof Romero aus El Salvador? Oder bestimmte Werke der Musik, vielleicht die Missa Solemnis von Beethoven? Oder manches von Literaten oder von Malern, etwa von van Gogh? Wie auch immer: „Jesus der Retter ist – in gewisser Hinsicht – da“. Rettung erhält so ein Angesicht, eine historische Konkretheit. Rettung ist dann etwas anderes als ein transzendentes, als ein nur innerliches Geschehen der Versöhnung, das sich abstrakt „himmlisch-irdisch“ zwischen Gott – Vater und seinem „eingeborenen“ Sohn „abspielt“.

14.
Rettung der Welt, auch ökologisch, auch friedenspolitisch… wird zur Aufgabe der Menschen, die Weihnachten feiern. Nicht als Last, nicht als Fremdbestimmung, sondern als Form, das eigene Wesen zu leben, lebendig zu sein. Frei zu sein und frei zu leben – auch dem Göttlichen gegenüber.. und den Kirchen sowieso.

Weihnachten hat also nichts mit Nostalgie zu tun, sondern mit Lebensenergie. Weihnachten ist das „Eingedenken“ an Jesus von Nazareth, den Lehrer der Weisheit, den Propheten.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Theologisches Denken gelingt nur im Miteinander

„Theologie aus Beziehung“ – ein neues Buch der Theologin Hadwig Müller
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
So war es Jahrhunderte lang: Die (Lehr)Bücher der katholischen Dogmatik, der Moraltheologie oder des Kirchenrechts usw. wurden an Schreibtischen verfasst, in Klöstern oder in Studierstuben von Priesterseminaren oder bischöflichen oder vatikanischen Palästen. Theologie, als Rede von dem Gott der Kirchen, entstand auf diese Weise in Europa. Und Europa war absolut, für alle Welt, maßgebend! Und es waren Männer, die „den“ Glauben „der“ Kirche den anderen „zum persönlichen Glauben“ vorsetzten. Katholische Theologie hatte, global betrachtet, im monologischen Denken einzelner oder gleichgesinnter Kleriker- Gruppen, ihren Ursprung und ihre Mitte. Das änderte sich nach 1970, also nach dem Ende des 2. Vatikanischen Konzils. Da fühlten sich auch Laientheologen berufen, ihre Ethikbücher oder ihre Fundamentaltheologie zu schreiben, meist aber auch als einzelne am Schreibtisch. Oft hatten die Autoren die Fragen ihrer Studenten noch im Hinterkopf.
Ich erinnere mich noch an eine zufällige Begegnung unterwegs in München – Schwabing mit dem mir bekannten ökumenisch aufgeschlossenen, also dialogfreudigen katholischen Laientheologen (und Ex-Dominikaner) Otto Hermann Pesch. Er erklärte mir stolz, er schreibe gerade an seiner katholischen Dogmatik. Als ich fragte, ob diese Dogmatik denn von München oder Bayern und den Menschen dort geprägt sei, sagte er mir eher verlegen: „Na ja, irgendwie schon“.
Die Bindung ans Universelle und die Methode des Monologischen überwiegt bei Theologen bis heute. Da und dort gab es früher wenigstens Vorbesprechungen der Sonntagspredigt von Pfarrern mit den Laien. Aber dafür haben die wenigen verbliebenen Priester keine Zeit mehr. Die Beispiele monologischer Theologie sind uferlos. Den nur mit einer monologischen Theologie glaubte die katholische Kirche viele Jahrhunderte lang ihre „Einheit“ zu retten.
Aber, wie gesagt, allmählich ändern sich die Verhältnisse – seit etwa 1970: Katholische TheologInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien melden sich mit eigenen Studien zu Wort, nicht immer zur Zufriedenheit der vatikanischen Glaubens-Behörde. Die Liste der Bestrafungen und Schreibverbote von TheologInnen aus den genannten Kontinenten ist lang. Einheit kann also Rom nur als Einheitlichkeit verstehen.
2.
Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, kann man verstehen, welche Bedeutung die theologische Arbeit von Hadwig Müller hat, gerade dann, wenn sie ihrem neusten Buch den sehr knappen, wie ein Programm gemeinten Titel gibt „Theologie aus Beziehung“. Also, einmal ausführlicher formuliert heißt das: „Theologie als Versuch, von Gott zu sprechen, aber erlebt, erfahren, gedacht und formuliert aus Begegnungen und Dialogen … und nach Begegnungen und Dialogen und Auseinandersetzungen. Und erst danach geschrieben, aber voller Verunsicherung und Infragestellung des eigenen Lebens. Theologie also geprägt von der Anwesenheit der oft befremdlich Anderen“.
3.
Hadwig Müller meint in ihrem Buch immer die konstruktiven theologischen Beziehungen, die zwar auch konfliktreich sein können, die aber nicht in ein Verhältnis der Herrschaft und Willkür ausarten. Schließlich hatten die viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden und werden, auch „Beziehungen“. Und auch die Beziehungen sind nicht gemeint, wenn Posten an theologischen Fakultäten oder Akademien nur aufgrund von „Beziehungen“ erreicht werden können.
4.
Theologie aus Beziehung also, entstanden im Dialog, im Hinhören und auch im emotionalen “Miteinanderschweigen”: Dies ist das Motto und wie ein Programm eigentlich für alle, die aus dem anstudierten und angelernten, dogmatisch exakten Floskelhaften des Sprechens von dem Göttlichen, von Gott, dem Ewigen, herausfinden wollen. 20 Aufsätze aus zwei Jahrzehnten hat Hadwig Müller unter diesem Titel versammelt. Wer genau in der Bibliographie (S. 327 – 342) hinschaut, wird auf viele weitere, aktuelle Aufsätze, Studien und Bücher verwiesen. Die meisten Beiträge in dem Buch „Theologie aus Beziehung“ sind aus Begegnungen als Lernprozessen in Brasilien entstanden oder in Frankreich. Nach ihrer theologischen Promotion über Lacan zog es Hadwig Müller erst einmal vor, Deutschland zu verlassen, und sich den Fremden, den anderen, auszusetzen, eben in Brasilien, dort lebte sie von 1983 – 1993 vor allem in Basisgemeinden. Sie wird förmlich hineingestoßen in die reale Lebenserfahrung, wie die Armen ihren Gott erleben, als eine Wirklichkeit, die allem Elend zum Trotz Sinn stiftet und Mut macht, die Misere der totalen Ungerechtigkeit zu überwinden. Hadwig Müller sagt von ihren brasilianischen Freunden und Freundinnen, es seien „Menschen, die mich leben lehrten“ (49). Die Gemeinschaft der Unterdrückten – also eine Schule des Lebens: Nicht, um sich in diesem Zustand zu fixieren, sondern um die Gerechtigkeit für alle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Autorin erkennt während ihrer Gespräche mit Ausgegrenzten und Armen in Sao Paulo und in Crateus (Nordostbrasilien) in Gemeinschaft mit dem wegweisenden Bischof Antonio Fragoso: „Armut ist geraubtes Leben – und ich war nicht auf der Seite der Beraubten“ (29). Das führt zu weiteren Fragen, die eigentlich das herrschende System einer reichen Kirche erschüttern: „Die Kirche ruft Gläubige dazu auf, die Lebensbedingungen de Armen zu verbessern. Aber sie schweigt meistens darüber, wie sich ihre Beziehung zu den Armen auf ihre Identität als Kirche Jesu Christi auswirkt“ (51f.). Ein Bischof, der als single in einem Palast lebt (wie so viele “Oberhirten” in Deutschland usw.) und dann von der kirchlichen Solidarität mit Armen schwafelt, ist natürlich aprioi unglaubwürdig. Zu einem solchen Satz kann sich Hadwig Müller allerdings nicht aufraffen… Sie schreibt eleganter, aber nicht minder radikal: „Die Option für die Armen verlangt von den Reichen selbst ein anderes Bewusstsein: sich als Bedürftige zu wissen, die selbst aufs Empfangen angewiesen sind und die um nichts anderes als die Armut der Armen“ (55). Was das nun wieder in einer katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, die ein Kirchensteueraufkommen im Jahr 2018 von 6,25 MILLIARDEN Euro hat, wird leider nicht erwähnt oder gar ausgebreitet. Dabei hatte ich immer geglaubt, dass durch die Befreiungstheologie sozusagen die Aufmerksamkeit auf die Gelder und Reichtümer der Kirche geschärft wird auch hierzulande…
Sehr eindringlich ist ihr Essay „Der Hunger nach Brot – das Begehren des anderen“. Im Hungern wie im Begehren äußert sich die gleiche Sehnsucht und Angewiesenheit, “nicht ohne andere“ leben zu können. Die viel besprochene Option der Kirche für die Armen ist für die Autorin das „Herzstück der Befreiungstheologie“ (58), aber sicher auch der Mittelpunkt jeder Theologie.
5.
Es wäre für ein weiterführendes Gespräch vielleicht interessant, wenn man auch kritisch die Befreiungstheologen befragen könnte, inwieweit sie in vielen ihrer Aussagen die Bibel fundamentalistisch, im Sinne von wortwörtlich, verstehen. Und inwieweit die einzelnen Verhaltensweisen und Lebensregeln Jesu von Nazareth zu unmittelbar als relevant für die (auch politische) Gegenwart eingesetzt werden. Diese Kritik wird nicht vorgebracht, um die Theologien der Befreiung zu diskreditieren, sondern um andere befreiungstheologische Möglichkeiten aufzuzeigen, die weniger im Verdacht des biblischen Fundamentalismus stehen. Alternativ wäre zu denken und mit den Betroffenen zu besprechen: etwa die Erfahrung und die daraus entstehende Weisheit, dass Gott Mensch wird in Jesus von Nazareth, wie er erlebt wird, dass nun alle Menschen göttliche Würde erhalten! Das ist – ultrakurz gefasst – auch ein Gedanke Hegels und der christlichen Mystiker, etwa Meister Eckarts. Von da aus ließe es sich auch sehr gut eintreten für eine politische Neu-Ordnung, die die Menschenrechte als oberstes „göttliches“ Gestaltungsprinzip anerkennt. Da wäre mehr vernünftige Argumentation möglich als im unvermittelten Verweis darauf, dass Jesus ein armer Handwerker war „wie wir“, dass er solidarisch war und die Frauen und die Armen liebte…Aus solchen biographischen Elemente wird dann unmittelbar geschlossen: „Also sollten wir auch solidarisch sein etc…“. Wenn hingegen jeder Mensch von unendlichem göttlichen Wert ist, kann viel besser argumentativ und vernünftig auch eine mögliche „Revolution“ zugunsten und mit den Armen eingeleitet werden.
6.
Nach Deutschland zurückgekehrt, konnte sich Hadwig Müller u.a dem deutsch-französischen Dialog widmen, aber immer unter der kaum beachteten, aber wichtigen Perspektive der Religion und der katholischen Kirche. Die Autorin hat u.a. die hochinteressanten und durchaus – leider – einmaligen Entwicklungen im Erzbistum Poitiers genau kennengelernt. Sie erlebte dort eine Kirche, die, wie bekannt, auch von dem zunehmenden Mangel an Priestern bestimmt ist. Die aber daraus, geleitet von ihrem mutigen Bischof Albert Rouet, neue Konsequenzen zog: Teams von Laien werden in den Dörfern – und Stadt-Gemeinden ohne Priester zu verantwortlichen Animateuren der Gemeinde. Deutsche Pfarreien, das weiß ich, haben sich das Projekt in Poitiers angeschaut, aber meines Wissens nichts davon als Modell für Deutschland „übernommen“. Die Fixierung auf den Klerus ist also in Deutschland nicht zu brechen. Und das Modell von Poitiers macht eben auch viel Arbeit – bei den Hauptamtlichen…
7.
Diese hier besprochenen Themen erscheinen sicher vielen philosophisch Interessierten, etwa in Berlin, der säkularen Stadt, wie Einblicke in eine ferne noch kirchlich bestimmte Welt. Aber deutlich wird: Wenn sich TheologInnen auf das Zuhören, das geduldige Mitsein, den Dialog einlassen, und sich dabei in Frage stellen lassen: Dann gibt es neue, ungeahnte Einsichten. Das gilt ja auch für die Philosophien.
8.
Ein gewisses Hemmnis für säkular, „bloß“ philosophisch Interessierte ist sicher der Untertitel des Buches: „Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. Diese speziellen Zuordnungen gelten wohl dem zweifellos begrenzten Lesepublikum innerhalb der Kirchenorganisation, die mit diesen Begriffen noch etwas anfangen kann. So aber werden mit diesen Begriffen förmlich sprachliche Barrieren aufgerichtet, die verhindern, dass säkulare und „bloß“ philosophisch Interessierte dieses Buch aufschlagen und einiges lesen. Aber das Thema „Theologie aus Beziehung“ ist bleibend inspirierend: Eine ganze Buchserie könnte unter diesem Titel erscheinen aus Beziehungen von Theologen mit Arm-Gemachten hierzulande oder mit Schwulen und Lesben und deren neuen Familien oder mit Flüchtlingen oder mit Opfern rechtsextremer Gewalt. In jedem Fall werden nun vermehrt Menschen fragen: Spricht da ein Bischof aus Beziehung mit anderen Menschen, spricht er aus dem Leben als Begegnung, der Verantwortung, der Irritation durch andere? Und man wird sicher in Zukunft noch mehr theologische Bücher beiseite legen, die nur altbekannte Begriffe dreimal hin- und herwenden und den Eindruck bestärken, vom einsamen Schreibtisch aus eine zeitgemäße Spiritualität oder Theologie entwickeln zu können. Falls diesen meinen Hinweis Theologinnen lesen, bin ich gespannt, wie sie mir plausibel machen, dass nicht allein Hadwig Müller Theologie aus wirklichen Beziehungen, Begegnungen und Lernbereitschaft gestaltet…

Hadwig Ana Maria Müller, „Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. 351 Seiten. Grünewald-Verlag, Ostfildern, 2020, 38 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

(Nebenbei: Das Thema Befreiungstheologie bewegt mich seit vielen Jahren: Ich habe 1973 in der Philos.-Theolog. Hochschule St. Augustin bei Bonn die erste große Tagung über die Befreiungstheologie in Deutschland organisiert. 1975, also zu Beginn der Debatten über die Befreiungstheologie in Deutschland, habe ich einen kleinen Essay als Broschüre veröffentlicht „Der Gott, der befreit“. 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner und Hans Zwiefelhofer das Buch „Befreiende Theologie“ herausgegeben…)