Karl Rahner: zum 30. Todestag: Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Karl Rahner, zum 30. Todestag: Die Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, am 24.März 2014.

Hier wird eine neue Interpretation des zentralen Denkens Karl Rahners vorgeschlagen: Zentrale Aspekte seiner Theologe sind von einem Geist bestimmt, den man durchaus “liberal-theologisch” nennen kann. Diese Einschätzung hat bisher wohl niemand in der Form gewagt. Grundlage für diese Interpretation der “Grundstimmung” und wesentlicher Aussagen Rahners ist seine zentrale, immer wieder zitierte These “Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein”. Und Mystik ist eben nur denkbar als eine INDIVIDUELLE Interpretation des Glaubens. Ein historischer Beleg: “Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wird Mystik die Erfahrung eines radikal individuellen Umgangs mit dem Unversellen, dem Transzendenten, mit Gott”. (Koenraad Geldof, in: “Michel de Certeau”, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, Seite 140.

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Am 30. März 1984 ist der große Theologe Karl Rahner SJ im Alter von 80 Jahren verstorben. Im zeitlichen Abstand fragen sich heute einige, die Rahners Denken nach wie vor bemerkenswert, sogar wichtig und bleibend-aktuell finden, was denn das „besonders Anregende“, das „besonders heutiges Nachdenken Provozierende“ ist? Diese Frage ist natürlich angesichts der Fülle der Themen, zu denen Karl Rahner in seinem umfangreichen Werk Stellung nahm, schwierig zu beantworten. Seine Kritik an der bürokratischen, der „Geist auslöschenden Kirche“  ist unvergessen, sein Zorn über die Dummheit der Etablierten ist bekannt;  seine Vorschläge für eine „Ökumene jetzt“ (mit den Protestanten) ebenso. Diese Themen  und Vorschläge werden heute verdrängt, schon damals fanden sie nicht die berechtigte begeisterte Aufnahme in einem von Angst geprägten katholischen Milieu, etwa das Buch “Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe”, 1973.  Viele LeserInnen legen Rahners Werke als zu schwierig beiseite, sie vergessen allerdings dabei,  dass noch viel mehr die klassische katholische Schul – Theologie, selbst der offizielle römische Katechismus und das katholische Kirchenrecht, etwa die Ehegesetzgebung, alles andere als einfach und schnell nachvollziehbar,  gar „verständlich“  sind.

In unserer Sicht gilt es, eine bestimmte großartige Anregung Karl Rahners aufzugreifen, die ihren Ursprung in seiner transzendental gewendeten anthropologischen Theologie hat. Damit ist das (letztlich von Kant inspirierte) Denken gemeint,  bei jeder geistigen Wirklichkeit, also auch dem Glauben des einzelnen, nach den Bedingungen der Möglichkeit für ein Verstehen dieser Wirklichkeit zu fragen und diese Bedingung zu nennen. Wichtig und für weitere Diskussionen inspirierend ist also, kurz gesagt und nachvollziehbar formuliert, die Rahnersche Erkenntnis: Zwischen der in Sätzen formulierten, sozusagen vorgegebenen Glaubenslehre und dem religiösen Bewusstsein des glaubenden Menschen gibt es keine Fremdheit, auch nicht nur eine vage gedankliche Verbindung, sondern eine innere Nähe und sachliche Identität. D.h.: Was sich im religiösen Bewusstsein des einzelnen Christen erfahrungsmäßig zeigt, ist letztlich nichts anderes, als was in der zentralen Glaubenslehre, satzhafter Art sozusagen, ausgedrückt und formuliert wird.

Mit diesem Prinzip will Rahner andeuten: Es gibt grundsätzlich keine Fremdheit zwischen der grundlegenden Glaubenslehre und dem subjektiven religiösen Bewusstsein. Damit wird eine Antwort gegeben auf die neuzeitliche Problematik, wonach der christliche Glaube etwas völlig Fremdes und damit das Subjekt Entfremdendes ist. Die dialektische Theologie (etwa Karl Barth mit seinem Spruch „Gott ist ganz anders“) hat ja diese Entfremdungsthese ihrerseits zustimmend aufgegriffen und nur noch für weitere Befremdlichkeit gesorgt, meinen wir. Ob die für die Neuzeit typische Suche nach Überwindung der Fremdheit des „anderen“ im allgemeinen ihrerseits Norm sein kann, wäre aber eine eigene Diskussion für sich. Jedenfalls hat Rahner nie die göttliche Wirklichkeit als beliebiges Produkt menschlichen Geistes verstanden, auch wenn sich Gott zuerst und vor allem eben IM menschlichen Geist zeigt!

Karl Rahner wusste: Diese innere Verbindung von Mensch und Gott im Sinne tiefer Identität zwischen subjektiver religiöser Erfahrung und objekthafter Lehre kann schnell der Häresie verdächtigt werden, etwa im Rahmen der Abweisung des Modernismus durch die Päpste zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Vertreter dieser Theologie, die dann wegen des Modernismus angezeigt wurden, hatten ja das Ziel, sozusagen eine liberale katholische Theologie zu schaffen, in der das religiöse Bewusstsein des einzelnen Katholiken (endlich einmal) aufgewertet in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.

In dem Aufsatz „Die Forderung nach einer =Kurzformel= des christlichen Glaubens“ (von 1965, veröffentlicht in Band VIII der „Schriften zur Theologie“ Seite 153 ff.) beschreibt Rahner diese (oben genannte) innere Verbindung von Subjektivem und Objekthaftem, Satzhaften. Demzufolge ist der (objektive, also satzhafte) Glaube „keine von außen an den Menschen herangetragene Ideologie“ , sondern der Glaube (also die Glaubenslehre) ist „die erfahrene und erlittene Wirklichkeit seines (d.h. des Menschen) Leben selbst“.  An der Stelle, auf Seite 153 in Band VIII., weist Rahner dann sozusagen prophylaktisch im Blick auf das strafende Lehramt in Rom  auf die für ihn zentrale Gnadenlehre hin: In Fußnote 1 heißt es also: „Wenn man bedenkt, dass die Gnade Christi der äußeren Predigt des Evangeliums IMMER SCHON zuvorgekommen ist (nämlich als Anwesenheit der Gande im Menschen selbst, CM), kann diese Forderung (nämlich nach einer Kurzformel) nicht des Modernismus verdächtigt werden“. Mit anderen Worten gilt es an die zentrale Lehre von der göttlichen Gnade zu erinnern: Die Gnade Gottes ist als Gabe in jedem Menschen anwesend, diese Gnade ist aber schon die Offenbarung Gottes selbst. In jedem Menschen ist die Offenbarung also anwesend. Das hat weitreichende Bedeutung, auch im Blick auf den Dialog der Religionen usw. Gott/Gnade ist in allen geistbestimmten Vollzügen des Menschen lebendig zugegen. Sie findet in der satzhaften Beschreibung der Offenbarung, etwa in der Bibel, ihren sprachlichen Ausdruck. So weit ich weiß, hat Rahner nicht gesagt als konsequente Fortsetzung dieses Denkens: Die Bibel etwa ist Ausdruck des subjektiven Glaubens religiöser Menschen. Das hätte ja nahe gelegen und wird in einer protestantischen liberalen Theologie ja auch so betont!

Noch einmal: Karl Rahner will ein inneres Entsprechungsverhältnis, eine Identität, zwischen religiösem individuellen Glauben und satzhafter Lehre aufzeigen.

Das gilt etwa auch für die Christologie. In dem Buch „Ich glaube an Jesus Christus“, Theologische Meditationen, Benziger Verlag, 1968, Seite 29) heißt es: „Wir wollen von einem Punkt ausgehen, an dem der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, wenn auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz (!)  auffinden, wo er (Jesus) schon (!) wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben dann worthaft reflektieren“.  (Die Ausrufungszeichen sind von mir, CM).

Für Rahner gibt es also immer schon eine Anwesenheit des göttlichen Geistes in jedem Menschen. In alltäglichen Lebensvollzügen wird darum auch die Wirklichkeit Gottes erfahren, und gerade nicht in exklusiv sakralen Ereignissen,  etwa charismatischen Verzückungen. Gott ist da, wenn der Sinn des Lebens bejaht werden kann, Gott ist da, wenn Liebe möglich wird, wenn Solidarität gelingt. Gott zeigt sich im Alltag. Und diese Alltags – Erfahrungen finden einen Ausdruck in der Glaubenslehre.

Und genau an dieser Stelle beginnen weitere Frage, die Rahner selbst nicht beantwortet hat: Sind denn schlechterdings alle Glaubenslehren aus der inneren, der subjektiven Erfahrung heraus rekonstruierbar? Also findet sich das religiöse Subjekt in allen katholischen Glaubenslehren selbst wieder? Für die Gestalt Jesu Christi mag diese Verbindung von Subjektiv und Objekthaft gelingen, für die Gottesfrage im allgemeinen auch, aber wie ist es mit der römisch – katholischen Lehre von Maria, dem Papsttum usw. Da wird es wohl unmöglich, aus der religiösen Erfahrung des Subjekts her diese Lehren als „meine“ Lehren, also als Ausdruck meiner Gefühle zu verstehen.

Wir sehen also, dass der Ansatz einer transzendentalen, anthropologischen Theologie angesichts der Überfülle vorgegebener Kirchenlehren irgendwie dann doch sehr begrenzt ist.

Aber die Leistung Rahners bleibt gültig, unter der Voraussetzung, dass die katholische Kirchenlehre sich tatsächlich auf einiges Wesentliche reduzieren könnte und Vereinfachung nicht als Verlust der vorgeblichen „Substanz“, sondern als befreienden Gewinn begreifen würde. Wer am alten „Glaubensgut“ festhält hängt weiter fest am befremdlichen und entfremdenden Charakter der vielen detaillierten Glaubenslehren,  also der Eindruck bliebe: Die katholische Lehre ist eine kaum nachvollziehbare Überfülle von Lehren.

Traurig ist es in unserem Sinn, dass diese hier beschriebene ZENTRALE Linie innerhalb der Theologie Rahners heute im katholischen Raum nicht mehr fortgesetzt wird. Es gibt eine ungeheure Angst, zum ersten Mal überhaupt eine katholische liberale Theologie zu entwickeln, die eine Korrespondenz zwischen religiösem Gefühl und der “Lehre” herstellt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Schleiermacher innerhalb der katholischen Theologie keine Rezeption gefunden hat und meines Wissens z.B. der liberale Theologe in Berlin heute, Prof. Wilhelm Gräb, noch nie in einer katholischen Akademie oder katholischen Gemeinde gesprochen hat. Es gibt eine fundamentale Angst der römischen Katholiken vor einem liberal – theologischen Denken. Diese Angst ist meines Erachtens in Spuren selbst noch in der katholischen Abwehr von Rahners transzendental – theologischer Theologie zu spüren…

Dabei hat Rahner erste Ansätze für eine sehr moderate Form katholisch-liberaler Theologie entwickelt. Aber es gibt die herrschende und allmächtoge, nicht befragte Überzeugung, dass alles, was sich im Laufe der Jahrhunderte als katholische Lehre angesammelt hat, weitgehend doch erhalten bleiben soll. Nur gelegentlich werden nicht mehr nachvollziehbare Lehren beiseite gelegt, wie etwa der Limbus Puerorum, also die Vorhölle, die für kleine, ungetaufte Kinder einst bestimmt war.

Sicher haben Rahner Interpreten recht, wie Herbert Vorgrimler (in: „Karl Rahner verstehen“, Kevealer 2002, S 51 f.) und Karl Lehmann (In: „Karl Rahner Lesebuch“, Freiburg 2104, S. 27), wenn sie auf die tiefe Bindung Rahners an den Katholizismus hinweisen, trotz aller leidenschaftlichen Kritik am bürokratischen System Kirche.

Selbst wenn Rahner gegenüber der Kirche „eine unbedingte Loyalität“ (Vorgrimler, S. 51)  hatte: Tatsache ist, dass er den theologisch (für katholische Verhältnisse!) ungeheuerlichen Versuch machte, eine ganz innige Verbindung, wenn nicht Identität zwischen subjektivem Glauben und objektiver Lehre aufzuweisen und diese zu fordern als einen Beitrag, den Katholizismus aus der Entfremdung innerhalb der modernen Kultur herauszuführen.  Diese  Leistung Rahners sollte weiter konkretisiert und allseitig diskutiert werden.

Einige Zitate Rahners zu dem Thema:

Rahner kann das menschliche Dasein auf seine verborgenen Tiefen hin „ausloten“. Mitten im so genannten banalen Alltag ereignet sich die Erfahrung Gottes  „So etwa, wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe und Begegnung macht. Plötzlich selig erschreckt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird, obgleich man für sich selber allein in seiner Endlichkeit und Brüchigkeit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe, die einem entgegenkommt von der anderen Seite, gar keinen Grund und keine zureichende Begründung geben kann. Wie man selbst ebenso liebt, in unbegreiflicher Kühnheit die Fragwürdigkeit des anderen überspringend, wie diese Liebe in ihrer Absolutheit einem Grund vertraut, der ihr selber nicht mehr untertan ist, ihr in seiner Unbegreiflichkeit zuinnerst und von ihr unterschieden zugleich ist“.

„Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen ((an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch)) schon gegeben ist.

Noch in seinem letzten öffentlichen Vortrag, wenige Tage vor seinem Tod im März 1984, hat Rahner in Freiburg im Breisgau laut stark und dochmit melancholischem Ton gesagt: „Ich musste als Christ und als Theologe gar nicht selten mit einer gewissen Anstrengung des Geistes und des Herzens fragen, was mit einem bestimmten Satz, den das kirchliche Lehramt als Dogma vorträgt, eigentlich gemeint sei, um eine Zustimmung ehrlich und ruhig leisten zu können. Ich habe aber in meiner eigenen Lebensgeschichte keinen Fall erlebt, in dem mir dies nicht möglich gewesen wäre. Wenigstens dann nicht, wenn ich mir bei solchen Dogmen klar machte, dass sie alle nur mit einem, ihrem Richtungssinn auf das Mysterium Gottes selbst richtig verstanden werden“. Das “Mysterium Gottes” selbst aber, diese Ergänzung sei im Sinne Rahners erlaubt, zeigt sich gerade IM RELIGIÖSEN BEWUSSTSEIN des einzelnen.

 

Copyright: Christian Modehn, 24. 3. 2014.

Für eine Theologie, die religiöse Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt. Ein Vortrag von Prof. Wilhelm Gräb

Ein Vorwort:

Am 22. März 2014 hat Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin,  in München einen Vortrag gehalten für die „Gesellschaft für eine Glaubensreform e.V.“ Darin bietet er in konzentrierter Form wesentliche Elemente seiner Theologie, die wir in unserer Sicht durchaus ungewöhnlich, wenn nicht gar einmalig im deutschsprachigen Raum verstehen und schätzen. Es ist das Bemühen, Theologie als Hermeneutik der religiösen Kultur zu erarbeiten, ein neues Projekt, das die Rede von Gott aus der Selbstisolation der klassischen Theologien  und Kirchen befreien kann. Diese Einsicht führt zur Wahrnehmung eines tieferen, religiösen und durchaus sich christlich verstehenden Lebens, etwa auch in den Äußerungen der Kunst, der Musik. Wir sind froh, hier mit Genehmigung Wilhelm Gräbs den Vortrag in ganzer Länge zur privaten Lektüre zur Verfügung stellen zu können. Copyright: Wilhelm Gräb.

Die website der “Gesellschaft für eine Glaubensreform e.V.” ist erreichbar hier.

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Wilhelm Gräb:

Theologie in ihrer religiösen Funktion: Folgerungen für die theologische Ausbildung und das Selbstverständnis von Kirche

Vortrag auf der 2. Jahrestagung der „Gesellschaft für eine Glaubensreform e.V.“
21.-23. März 2014 Schloss Fürstenried

1. Theologie mit Sinn für Religion und ein Plädoyer für eine religionsfähige Kirche

Noch immer dominiert in der Theologie die Devise: Vom Text zur Predigt; vom biblischen Gotteswort zu seiner die eigene Zeit adressierenden Auslegung, von Schrift und Bekenntnis der Kirche hin zu dem, was sie heute zu sagen haben und dem Glauben seinen Inhalt und seine Orientierung geben. Das ist nach wie vor die dominante Bewegungsrichtung der Theologie. Allen ist klar, dass die Theologie sich dabei auf einem steilen, abschüssigen Gefälle bewegt. Die Fallhöhe ist enorm: Von den Höhen der biblischen Offenbarung und den gewaltigen Denkgebäuden, die die Theologie auf diesen Höhen mit der Ausbildung ihrer Kosmologien, Christologien und Eschatologien hin zu den heutigen Lebensfragen und dem Glauben, den die Menschen sich als den eigenen möglicherweise zuzuschreiben bereit sind. Diese enorme Fallhöhe des Geistes ist auch allen, die das theologische Geschäft betreiben, bewusst. Deshalb werden diese enormen hermeneutischen Anstrengungen ja permanent unternommen, sowohl in den Bibelwissenschaften wie in der Dogmatik. Sie zielen ja darauf, zeigen zu können, dass sich die Gegenwartsrelevanz der Topoi des biblischen Glaubens, von der Schöpfung über die Sünde bis zur Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung schon immer wieder wird zeigen lassen. Dieses Verfahren hat doch durch die Jahrhunderte funktioniert, warum sollte es heute nicht mehr gehen?

Ja, warum funktioniert dieses Verfahren einer aktualisierenden Auslegung der biblischen, theologischen und kirchlichen Überlieferungen nicht mehr? Denn das ist doch so, die Theologen mögen die biblischen Lehren immer wieder neu interpretieren, die Schöpfungslehre als mit der Evolutionstheorie vereinbar erweisen, die Sünde abschaffen, die Frage, warum Jesus am Kreuz sterben musste, mal so, mal anders beantworten, die Suche danach, wer Jesus war und ob er wirklich nach drei Tagen von den Toten auferstanden ist, in immer wieder neue Richtungen lenken, gelehrte Abhandlungen über Gottes Gerechtigkeit verfassen, außerhalb der geschlossenen Anstalten theologischer Fakultäten und einem eher engen Zirkel zumeist evangelikaler Christen interessieren diese theologischen Unternehmungen niemanden mehr.

Woran liegt das? Ich vermute, es liegt schlicht daran, dass die religiöse Bedeutung der Theologie, damit die existentielle, die Lebensinnbedeutung der Theologie und mit ihr auch der kirchlichen Predigt schon lange den Menschen nicht mehr im Blick ist. Die Kirche hat ihre Autorität als Sachwalterin göttlicher Offenbarungswahrheit eingebüßt. Aber nur solange die Theologie sich auf der Anerkennung kirchlicher Wahrheitsautorität abgestützt wissen konnte, waren ihre Künste in der Aktualisierung der biblischen und kirchlichen Lehrüberlieferung gefragt. Aufbauend auf einer Vorweganerkennung der biblisch-kirchlichen Wahrheitsautorität konnte sich die Theologie darauf beschränken, der vorgegebenen Wahrheit nachzudenken und sie immer wieder neu an die Bedürfnisse der Zeit, den lebenspraktischen und gesellschaftlichen Herausforderungen anzupassen. Abgestützt auf dem Schriftprinzip und der Autorität des kirchlichen Bekenntnisses, konnte die Theologie ihre Aufgabe darin sehen, den Weg vom biblischen Text zur Predigt immer wieder dergestalt zu ebnen, dass den „Gläubigen“ die je eigene Anerkennung der biblisch-kirchlichen Glaubenswahrheit möglich wird. Theologie zielte und zielt weithin immer noch auf den aneignenden Glauben. Ihn will sie ermöglichen, und dies durchaus so, dass keine Widersprüche und Unvereinbarkeiten aufkommen zwischen Glauben und Wissen, Kirche und moderner Gesellschaft. Zu diesem Zweck ist die traditionelle Theologie auch zu radikaler Kritik an bestimmten Glaubensvorstellungen, Dogmen und kirchlichen Bekenntnisaussagen bereit. Merkwürdigerweise kommt dennoch all diesen Bemühungen die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums mehr und mehr abhanden. Auch eine radikale Kritik schon in der Tradition zweifelhafter theologischer Lehren, ja selbst die theologische Abschaffung von als problematisch angesehenen Lehren, sei es die Erbsündenlehre, die Sühnopferlehre und anderes mehr verfängt allenfalls noch in engen kirchlichen Kreisen.

Woran liegt das? Viele sagen und sie sehen sich anscheinend durch die jüngste Veröffentlichung der Ergebnisse der 5. EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung bestätigt, es liegt an einem Verfall des religiösen Interesses, daran, dass den Menschen die Religion nichts mehr bedeutet. Ich bin da ganz anderer Meinung. M.E. liegt der ungeheure öffentliche Resonanzverlust der Theologie, das Desinteresse auch das ihre Bemühungen um eine Glaubensreform finden, eben darin, dass die Menschen religiös auf geradezu radikale Weise autonom geworden sind. Sie sehen sich selbst in der Position, sich den existentiell relevanten Sinnfragen des Lebens zu stellen. Sie investieren ihren Glauben in vieles, wovon sie sich Sinngewissheit auch noch in riskanten Lebenslagen meinen versprechen zu können. Dass sie des Insgesamt der Bedingungen des eigenen Daseins nicht vollständig mächtig sind, dass das eigene Leben und das derer, die einem nahestehen, permanent gefährdet ist, dessen sind sich die Menschen durchaus bewusst. Sensible sind sie der Kontingenz des Daseins gewärtig. Deshalb suchen sie immer auch Halt im Vertrauen auf transzendente, übermenschliche Mächte. Die Weihnachtsausgabe des SPIEGEL über „Religion und Magie“ hat für die auch gegenwärtig höchst aktive Tätigkeit des religiösen Bewusstseins viele Beispiele angeführt. Es lässt dieser Spiegelartikel aber genauso wenig einen Zweifel daran, dass die Theologie und ebenso die von der Theologie geprägte kirchliche Verkündigung weitgehend am religiösen Interesse der Menschen vorbei gehen.

Die akademische Theologie ist nicht nur viel zu kompliziert, sie geht vor allem von Fragestellungen aus, die nicht diejenigen der gelebten Religion sind. Ihre Fragestellungen sind solche, die sich auf dem Weg vom Text zur Predigt ergeben, Fragen der Anpassung der überlieferten Lehren über Gott und die Welt an heutige wissenschaftliche Standarts, sei es die Schöpfungslehre, die Sündenlehre oder was auch immer. Auch noch Fragen wie, ob die Schöpfungs- und Sündenlehre mit einem heutigen evolutionären Menschenbild vereinbar sei, lebt von der Auffassung, dass es Aufgabe der Theologie sei, eine biblisch begründete Wahrheit dadurch zu verteidigen, dass sie mit heutigen Wirklichkeitserkenntnissen als vereinbar erwiesen wird. Das genau sind aber Fragen, die nur für Menschen relevant sind, die von einer basalen Zustimmung zur Kirche und dem Glauben, für den diese Kirche steht, getragen sind. Das sind aber eben nur noch die Wort-Gottes-Gläubigen Evangelikalen bzw. die von der Theologentheologie mitgeprägten Kerngemeinden. Erstere wollen nur in ihrem Autoritätsglauben bestärkt werden und erwarten von der Theologie Argumente für den Glauben an eine supranaturale Heilswahrheit. Letztere, die kirchlichen Kerngemeindechristen erhoffen sich von der Theologie Argumente für eine kritische Verteidigung der Wahrheiten des christlichen Glaubens. Mit ihnen zusammen zu sein gefällt den universitär ausgebildeten Theologen deshalb auch besonders, weil sie dort ihr exegetisches, theologiegeschichtliches und systematisch-theologisches Wissen anbringen können. Sie sind deshalb auch das begehrte Objekt für sog. Glaubenskurse.

Die Mehrheit der Menschen in unsrem Land, ja selbst die weit überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder erreicht man mit dieser Theologie schon längst nicht mehr, wenn man sie mit ihr je erreicht hat. In den letzten 30 bis 40 Jahren ist allerdings schon eine Sache gravierend anders geworden, Theologie und Kirche haben enorm an öffentlicher Reputation, Aufmerksamkeit und Sprachkraft eingebüßt. Von Theologie und Kirche, deren Verlautbarungen zur neuesten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung belegen es, wird dieser Sachverhalt mit dem Nachlassen des Interesses an Religion und Glauben erklärt. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass genau das nicht stimmt. Der ungeheure gesellschaftliche Reputations- und Resonanzverlust von Theologie und Kirche erklärt sich m.E. aus der Religionsunfähigkeit von Theologie und Kirche. Theologie arbeitet ungehindert weiter in der Form einer Theologentheologie, befasst mit Problemen, wenn es hoch kommt, die die innere Systematik, Plausibilität und Gegenwartsrelevanz der christlichen Glaubensvorstellungen betreffen. Und die Kirche folgt mit ihrer Verkündigung weiterhin dieser Theologie, indem sie, am Schriftprinzip festhaltend, die Menschen zu Adressaten der biblischen Offenbarungswahrheit meint machen zu können, freilich in einer dem Zeitgeschmack angepasst Form, aber letztlich immer im Ausgang von einer biblisch vorgegebenen, autoritativen Wahrheit.

Genau mit dieser Form, die dem Verkündigungsparadigma entspricht und den Weg vom Text zur Predigt meint gehen zu können, wissen die meisten Menschen, innerhalb, wie erst recht außerhalb der Kirche nichts mehr anfangen. Was dringend nottut, freilich schon oft auch gefordert wurde, aber eben nicht energisch und im Verbund der theologischen Fächer in Angriff genommen wird, ist die Umkehr des bisherigen Weges. Nicht vom Text zur Predigt, sondern von der Predigt zum Text gilt es zu gehen. Nicht die Bearbeitung der biblischen und dogmatischen Überlieferung, daraufhin, dass sie passförmig wird für den Glauben heutiger Menschen, gilt es fortzusetzen, sondern vom heutigen Glauben gilt es auszugehen. Vom Glauben der Menschen, der ein souveräner Glaube ist, ein Glaube, den die Menschen selbst hervorbringen, aus in den Bezügen ihres Lebens. Das ist ein Glaube, der aus dem bewussten Leben, dem Selbstverhältnis und Selbstverständnis der Menschen kommt, ein Glaube, der auf die im Leben aufbrechenden Sinnfragen antwortet. Dieser Glaube hat den Charakter eines Grundvertrauens, eines Lebenssinnvertrauen, was damit einhergeht, dass dieser Glaube ein solcher ist, der sich selbst immer auch in Frage steht. Dieser Glaube verlangt deshalb immer wieder auch ins Gespräch gezogen zu werden, teilzuhaben an kommunikativen Vollzügen, in denen hervortritt, was den Glauben des einen mit dem anderer verbindet. Auch dieser Lebensglaube ist eine kommunikative Angelegenheit. Hier zeigt sich deshalb, wo er auf Theologie angewiesen sein könnte. Das wäre dann aber eine Theologie, die von der Predigt, also vom gegenwärtigen Vollzug einer Kommunikation des Lebensglaubens von Menschen auf den Text zurückgeht, auf biblische Texte, auf andere Texte, in denen das religiöse Lebensinteresse von Menschen Nahrung findet. Eine so bei der gelebten  Religion der Menschen ansetzende und die heute gelebte Religion, bzw. das existentielle Sinninteresse der Menschen im Rückgang auf die biblische und kirchliche Tradition diese Religion kritisch über sich verständigende Theologie möchte ich eine religionshermeneutische Theologie nennen.

Ein Beispiel für eine solche religionshermeneutische Theologie habe ich jüngst nicht in der theologischen Bibliothek, sondern dem Buch des Journalisten Jan Ross gefunden. Es trägt den Titel: „Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird“.[1] Ross geht in diesem Buch so vor, dass er zeigt, wie Gott bzw. der Glaube um der Menschlichkeit des Menschen willen gebraucht wird. Da können dann biblische Vorstellungen, wie die von der Gottebenbildlichkeit des Menschen oder von seiner Rechtfertigung allein aus Gnade, neu wichtig werden. Aber eben nicht in ihrem alten, gegenständlichen Sinn, nicht als Vorstellungen von einem schöpferischen oder rechtfertigenden Handeln Gottes am Menschen, denn wer versteht schon, was gemeint ist, wenn von einem Handeln Gottes die Rede ist? Nein, es geht darum, wie Ross sagt, die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner göttlichen Rechtfertigung als „hermeneutisches Prinzip“ zur Verständigung über den Menschen einzusetzen. Die Dimension des Göttlichen als zugehörig zum Menschen lässt sich „nüchtern gesprochen, in ein hermeneutisches Prinzip übersetzen, in einen Verständnisschlüssel, eine Suchrichtung für die Deutung des Menschen: in ihm im Zweifel eher mehr zu vermuten als zu wenig, etwas Unausgeschöpftes, einen Überschuss.“ (37) Jan Ross tritt für Gott ein, weil es ihm um die Verteidigung des Menschen geht, letztlich um seine Heiligung. Nur mit Gott, so meint er, sei ein ebenso realistischer wie universaler Humanismus möglich.

Jan Ross weiß, dass die Sprache der Religion kaum noch jemandem verständlich ist. Dennoch hat er dieses Buch über Gott geschrieben, eben weil ihm klar geworden ist, dass die Verteidigung des Menschen die Religion braucht. Aber diese Religion muss sich in einer neuen Sprache artikulieren, in einer Sprache die den Menschen sich selbst auf göttliche Weise zu verstehen gibt. Deshalb fängt Jan Ross an, die biblische Rede von Gott zu übersetzen und sagt, im Menschen das Göttliche zu sehen, heißt, sein Geheimnis zu respektieren, seine Unauslotbarkeit. Der Mensch, so sagt Ross, gerät, indem ihm Gottes Ebenbildlichkeit zugeschrieben und Gottes unbedingte Rechtfertigung zuerkannt wird, unter den „Schutz des religiösen Tabus.“. Genau das, meint er, ist heute so unendlich wichtig. Denn „ohne den Schutz des religiösen Tabus wird der Mensch berechenbar für die Wissenschaft, kontrollierbar für die Macht, eine Funktion der biologischen, psychischen und sozialen Realität. Warum nicht versuchen, ihn zu dressieren, zu verbessern oder abzuschaffen? Der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch.“ (38f.) Und er fügt hinzu, ziemlich erstaunt, dass da die religiöse Rede scheinbar doch noch funktioniert: „Noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wird von der Heiligkeit der menschlichen Person als Grundlage der Menschrechte und der Menschenwürde geredet. Man kann offenbar kaum anderes, als für den letzten Schutz der Humanität auf ein religiöses Motiv zurückzugreifen. Das ist die Ausdrucksweise, in der die Kultur über die großen Fragen redet: Wenn sie ihren Mund auftut und das Allerwichtigste sagt, spricht sie die Sprache des Glaubens.“ (39f.)

Die Kultur spricht die Sprache des Glaubens. Die Menschen in ihrer Alltagswelt sprechen die Sprache des Glaubens. Was ist ihre Sprache des Glaubens? Es ist die Sprache, mit der sie Auskunft über ihre elementaren Lebensinteressen geben, über ihre Ängste und Hoffnungen,  ihre Sinnerfahrungen und Sehnsuchtsbilder.

Natürlich, die Zeitdiagnosen und religionsempirischen Untersuchungen, werden von der These beherrscht, dass dort, wo das Interesse an den kirchlichen Lehren und dem kirchlichen Gottesdienst abnehme, es auch mit dem Interesse an der Religion vorbei sei. Aber es ist eben genau diese Gleichsetzung von Kirchlichkeit und Religion, die ebenfalls von der Auffassung leben, dass der Glaube, um dessen Beförderung es Theologie und Kirche gehen müsse, in der Anerkenntnis der kirchlichen Glaubensinhalte und der Teilnahme am kirchlichen Leben bestehe. Das genau stimmt nicht und dass dies nicht stimmt, Religion kein Heilstatsachenglaube, sondern ein gefühltes Daseinssinnvertrauen ist, dafür, für diese Einsicht muss die Theologie als religionshermeneutische Theologie heute die Augen öffnen. Sie kann dabei durchaus auch einen guten Anhalt an der kirchlichen Praxis selbst finden. Denn nach wie vor sind es eben doch die Lebensrituale, die die größte Resonanz bei den Kirchenmitgliedern, gerade auch den distanzierten finden. Das hängt genau damit zusammen, da bei diesen Ritualen, die an den Lebensübergängen angesiedelt sind, sich den Menschen die religiös produktiven Lebenssinnfragen in den Vordergrund drängen, sie die Arbeit an ihrem souveränen Glauben selbst aufnehmen.

Eine religionshermeneutische Theologie ist eine Theologie, die ihre Sätze aus der Verständigung über den gelebten Glauben der Menschen gewinnt, nicht aber ihm lehrgesetzlich bestimmte Glaubensinhalte vorgibt. Eine solche Theologie mauert sich nicht in einer nur den kirchlichen Theologen noch verständlichen bzw. in bestimmten kirchlichen Milieus gepflegten Sondergruppensemantik ein. Sie rechnet vielmehr mit der Vielfalt individueller Religionsproduktivität. Sie gesteht den Menschen das Recht zum autonomen religiösen Glaubensausdruck zu. Sie hat Menschen vor Augen, die nicht Adressaten der im Glauben anzunehmenden biblischen (Heils)Botschaft sind und dies auch nicht sein wollen, sondern souveräne Subjekte ihrer religiösen Selbstdeutung. Sie rechnet damit, dass die Menschen sich als solche wissen, die sich immer schon in weltanschaulich orientierenden Lebensdeutungszusammenhängen bewegen, aber dennoch die gesteigerte Erfahrung der Bedeutsamkeit des eigenen Lebens machen wollen, besonders an den Krisen- und Wendepunkten der Lebensgeschichte.

Eine solche erfahrungsnahe Theologie arbeitet im Anschluss an Paul Tillich mit einem dialogisch-korrelativen Verfahren, das dem Verstehen der biblischen und kirchlichen Überlieferung das Verstehen der religiösen Selbsttätigkeit der Menschen in den religionsproduktiven Momenten ihres komplizierten Lebens gleich gewichtig zur Seite treten lässt. Die in der menschlichen Situation aufbrechenden Fragen, so Tillich, verweisen dann auf die biblische Antwort, wenn sie als aufs Ganze gehende Sinnfragen bewusst sind. Wo und wie artikuliert sich in den lebensweltlichen Milieukontexten die gelebte Religion der Menschen und sei es eben als Suche, als Frage, als Sehnsucht nach einem unbedingten Sinn?[2]

Die Methode der Korrelation verlangt im Grunde ein religions- und kulturhermeneutisches Vorgehen. Sie veranlasst, die hybriden Neubildungen des Religiösen ebenso zu thematisieren wie die weithin verborgen bleibende religiöse Dimension in den lebenspraktisch gleichwohl mit unbedingtem Anspruch sich anmeldenden Lebenssinnfragen anzusprechen. Die Methode der Korrelation lässt nach den religiösen Sinnformen in populären Hollywood-Filmen, in der Popmusik und Fankultur fragen und deckt den religiösen Gehalt in den Online-Netzwerken der neuen Medien auf. Die Korrelationsmethode zielt schließlich darauf, auf dem Wege qualitativ-empirischer Religionsforschung die Menschen in ihrer Lebenswelt selbst zu Wort kommen lassen. Dann schreibt die Theologie Religion nicht nur als implizite zu, dann kritisierte sie religiöse Überzeugungen schon gar nicht, nicht von außen. Dann zeigt sie vielmehr, wie Menschen in ihrer Sprache, also der Sprache ihrer sozio-kulturellen Milieus selbst ihre elementaren Lebenssinteressen artikulieren und in einen Prozess kritischer Selbstthematisierung und Selbstbildung eintreten – ein Prozess, der von der Theologie als religiöser Sinndeutungsvorgang beschrieben werden kann und den sie den Menschen auch als genuin religiösen zu verstehen geben sollte. Oft ist es heute die wichtige Aufgabe der Theologie in die Tiefe gehenden Lebensdeutungsvorgänge als religiöse zu kommunizieren und sie damit an religiöse Traditionen und ihren Reichtum an Formen und Sinnbildern zu befördern..

Die entscheidende Frage, die sich an die religiöse Kommunikation in der Kirche heute richtet, ist ebenfalls religionskulturhermeneutischer Natur. Denn die kirchliche Kommunikation in Predigt, Unterricht und Seelsorge zielt ja eben darauf, dass die Menschen an die Deutungsangebote der kirchlichen Verkündigung, sowie die Interpretation des biblischen Ursprungszeugnisses christlichen Glaubens anschließen können und sie diese in ihrem auf Ganze gehenden Sinnerschließungsgehalt verstehen, deshalb in ihnen die Bereitschaft wächst, sie für sich selbst zu übernehmen.

Auch die in kirchlicher Verantwortung stattfindenden religiösen Bildungsprozesse verlaufen heute nicht mehr im Schema der Vermittlung vorgegebener Traditionsbestände, sondern nach Maßgabe der Bereitschaft mündiger, auf ihre Autonomie Wert legender Menschen, die christlichen Symbole bzw. Narrative von Schöpfung, Sünde und Erlösung in die Vollzüge ihrer Selbstdeutung zu integrieren – nach Maßgabe einer selektiven, von lebensgeschichtlichen Sinnbedürfnissen gesteuerten Wahrnehmung.

Menschen, die an ihren Lebensstationen einen kirchlichen Gottesdienst begehren, wollen, dass die Bedeutsamkeit des eigenen Lebens, die im Durchgang durch diese Lebensstation gesteigert erleben werden will, dort auch thematisiert, zelebriert und inszeniert wird. Sie sind dann, sofern nur die persönlichen Lebensbedeutsamkeitserfahrungen gemacht werde, auch aufgeschlossen dafür, dass die christliche, an Jesu Lebensweg orientierte, im evangelischen Rechtfertigungsglauben zusammenfassend formulierte christlich-religiöse Lebensdeutung zur Sprache kommt.

Die Lebensrituale sind insofern für eine erfahrungsnahe Theologie die entscheidenden Gelegenheiten die Konturen des Christlichen in einer religiösen Lebenshaltung zu profilieren. Sie weiß, gerade die der Gemeinde nur locker Verbundenen und sehr oft auch Austrittsbereiten, ziehen aus einer kirchlichen Trauung, einer Tauffeier, einer Konfirmation, einer kirchlichen Bestattung, denen es gelungen ist, den christlichen Glauben in seiner lebensdienlichen Kraft zu verdeutlichen, den Schluss, doch in der Kirche bleiben und der Gemeinde weiterhin bewusst zugehören zu wollen.

Wer eine erfahrungsoffene und lebensnahe Theologie in der universitären theologischen Ausbildung noch nicht entwickelt hat, entwickelt sie denn auch in der Regel spätestens angesichts der kasualpraktischen Anforderungen des kirchlichen Berufs und damit angesichts der Anforderungen an die Glaubenskommunikation in Gemeinde und Schule. Wer heute auf breiterer Front religiös überzeugend sein will, also nicht nur die schon Bekehrten bekehren will, braucht eine solche Theologie. Denn sie lehrt die unterschiedlichen Formen gelebter Religion zu beachten, reflektiert auf die persönliche Glaubenserfahrung, interpretiert die milieubedingt höchst verschieden auftretenden Glaubenssprachen, und ermöglicht so die selbstkritische, je eigene religiöse Position.

2. Von der religiösen Erfahrung ausgehen

Eine erfahrungsoffene und erfahrungsnahe Theologie sucht ihren Ausgang bei der religiösen Erfahrung. Sie will in erster Linie ins Bewusstsein heben und verständlich machen, wie sehr religiöse Erfahrungen in die Alltagswelt eingelassen sind. Zu den theologischen Grundfragen gehört es insofern, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was eine religiöse Erfahrung überhaupt ist.

Wie jede Erfahrung ist auch die religiöse Erfahrung ein Ineinander von Erleben und Deutung. Auch in der religiösen Erfahrung steht das Erleben für das unvertretbare Dabeisein des Menschen, der die Erfahrung macht. Erlebt wird in der religiösen Erfahrung die Begegnung mit einer den Menschen auf sich ausrichtenden und damit zugleich in seinem Lebensvollzug bestimmenden und qualifizierenden Wirklichkeit. Der Mensch wird mit etwas konfrontiert, das den Deutungs- und Orientierungsrahmen seiner bisherigen Lebens- und Sinnwelt überschreitet. Das kann die ebenso überraschende wie tiefe Begegnung mit einem anderen Menschen sein, mit einem Text, mit einem Bild. Das kann die Teilhabe an einem religiösen Ritual sein und das Betroffensein von der affektiven, existentiell ansprechenden Kraft einer die religiöse Gemeinschaft formenden Gebetssprache. Zur religiösen Erfahrung wird solches Erleben, wenn sein Transzendenzbezug als solcher gedeutet wir, als Gottesbegegnung, als Erfahrung des geöffneten Himmel, als Stauenden über das Wunder des Lebens..

Zu verweisen ist hier etwa auf den zeitgenössischen französischen Philosophen Alain Badiou, der in seiner Paulus-Interpretation den Vorgang einer religiösen Erfahrung aufgedeckt hat, die sich genau im Zusammenspiel von Erleben und Deutung, dem Widerfahrnis eines Ereignisses und einer es zum Inhalt einer religiösen Erfahrung machenden, neuen religiösen Deutungssprache bewegt.[3] Badiou sieht bei Paulus die auf einem persönlichen Erlebnis beruhende, individuelle Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Ereignisses der Auferstehung des Christus. Diese individuelle Überzeugungsgewissheit ist verbunden mit einer bestimmten Deutung des Inhaltes dieses singulären Ereignisses und damit dessen, was das Erleben dieses Ereignisses zu einer allgemein mitteilbaren religiösen Erfahrung macht. Erst die Deutung des singulären Ereignisses ist es, die dessen Erleben zu einer religiösen Erfahrung von allgemeiner Bedeutung werden lässt, und dieses Ereignis allgemein vermittelbar macht. Dann ist auch die Teilhabe an diesem Ereignis nur im Modus der Übernahme seiner allgemeinen Deutung möglich, da das Ereignis ja, solange es Inhalt bloßen Erlebens ist, an den singulären, das Individuum ergreifenden Moment gebunden bliebe. Die semantisch gehaltvolle Deutung erst macht das singuläre Erlebnis des Einbruches der Transzendenz zu einer allgemein bedeutsamen religiösen Erfahrung. Für Badiou liegt die universale Bedeutung des singulären Ereignisses der Auferstehung des Gekreuzigten konkret darin, dass dann in diesem Ereignis der Sieg des Lebens über den Tod und damit die unendliche Bedeutsamkeit jedes individuell Lebendigen erkannt wird. Im Grunde vertritt Badiou damit freilich die Auffassung, dass Paulus die universale Wahrheit der christlichen Erfahrung auf nichts anderem als einer objektiv grundlosen, allein dem individuellen Erleben präsenten Überzeugungsgewissheit abgestützt hat.

Eine Theorie religiöser Erfahrung, die vom individuellen religiösen Erleben ihren Ausgang nimmt, dann aber auch zeigt, wie es zu dessen allgemein vernünftiger Deutung kommt, hat nun jedoch kein anderer auf eine bis heute maßgebliche Weise vorgelegt als der Berliner Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher. Von der Individualität auszugehen, um deren Universalität mit Gründen zu behaupten, das war überhaupt das philosophische und theologische Programm Schleiermachers.[4]

Schleiermacher hat in Ansätzen eine Theorie über die Konstitution religiöser Erfahrung vorgelegt, die ihr kennzeichnendes Merkmal darin hat, in der Reflexion auf das Ineinander von Erleben und Deuten am Ort des individuellen humanen Subjekts entwickelt zu sein. Auch theologisch ging Schleiermacher von der individuellen humanen Subjektivität und ihrer Erfahrung aus. Seine Frage war im Grunde die, unter welchen Bedingungen eine individuelle, endliche Erfahrung als religiöse Erfahrung verstanden und allgemein verständlich kommuniziert werden kann. Anders als eine nicht von der endlichen Individualität, sondern vom Absoluten bzw. vom göttlichen Offenbarungshandeln ihren Ausgang nehmende Theologie oder Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie verstand Schleiermacher das Wort „Gott“ als Deutung des Woher derjenigen menschlichen Grunderfahrung, mit der einem Menschen das kontingente Sich-Gegebensein seines endlichen Daseins zum Bewusstsein kommt. Was in religiösen bzw. theologisch-religionshermeneutischen Sätzen zu einer semantisch gehaltvollen Deutung findet, resultiert aus der an die christlichen Überlieferungen angeschlossenen Deutung individueller religiöser Erfahrung.

3. Die gelebte Religion wahrnehmen

Die religiöse Erfahrung ist selbst bereits hermeneutisch konstituiert. Religiöse Erfahrung ist immer eine religiös gedeutete Erfahrung.  Doch in welchen Lebenszusammenhängen machen Menschen religiöse Erfahrungen? Wie zeigt sich Religion in der Lebenswelt, der Alltagskultur, in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Bildung, in der Wirtschaft, in den Rechtsverhältnissen? In großer Weite und zugleich so konkret, so erfahrungsnah und existentiell nachvollziehbar, sollte die Frage nach der religiösen Erfahrung und damit nach der „gelebten Religion“ gestellt werden.  Diese Frage nach der religiösen Erfahrung und der gelebten Religion ist die Grundfrage der Religionshermeneutik.

Diese religionshermeneutische Fragestellung bildet sich im Kontext einer erfahrungsbezogenen, beim Menschen ansetzenden Theologie.[5] Eine beim Menschen und seinen religiösen Erfahrungen ansetzende Theologie redet von Gott in der Perspektive des menschlichen Gottesverhältnisses und fragt nach der Bedeutung des Gottesverhältnisses fürs menschliche Selbstverständnis. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden, so sagte schon Bultmann zu Recht, heißt davon reden, wie ein Mensch sich selbst versteht, dann, wie ein Mensch sich selbst gerade im Lichte der biblischen Botschaft sich selbst zu verstehen gegeben wird, was für ihn die letzte, ihn und alle Welt bestimmende Wirklichkeit ist bzw. wird.

Die Religionshermeneutik ist der Versuch, die im Leben aufbrechenden religiösen Erfahrungen der Menschen wahrzunehmen und in ihrer existentiellen Tiefendimension zu verstehen. Sie stand schon Rudolf Bultmann im Blick, als er seine „existentiale Interpretation“ der biblischen Texte entwickelte.[6] Dieser Auffassung von Theologie, wonach Theologie unter neuzeitlichen Bedingungen nur auf Basis existentieller religiöser Erfahrung und als deren Auslegung möglich ist, gilt es wieder Gehör zu verschaffen.

Bultmann hat die Theologie als biblische Theologie auf anthropologischer Basis entwickelt[7], auf dem Wege einer existentialen Interpretation biblischer Texte. So konnte er die Exegese theologisch fruchtbar werden lassen. Wir können uns ihm auch heute anschließen, mit dem Unterscheid freilich, dass wir die notwendig mythologische, symbolische und narrative Darstellung religiöser Gehalte anerkennen. Die mythischen Vorstellungen und die symbolischen, bedeutungstiefen, nach Deutung verlangenden Erzählungen der biblischen Texte wollen wir nicht mehr auf ihren rationalen Kern reduzieren, sondern gerade in ihrer transzendenzoffenen Mehrdeutung in dem zu verstehen versuchen, was sie uns über den letztlich nicht objektivierbaren Sinn unseres Daseins in dieser Welt zu verstehen geben. Gerade der symbolische Tiefenschichtssinn der religiösen Texte wird für uns interessant, weil wir ihm Einsichten über unsere geheimnisvollen Verbindungen mit dem Göttlichen abgewinnen können.

Immer aber müssen die religiösen Symbole und Narrative so aufgenommen und gedeutet werden, dass sich heutige Menschen mit ihren existentiellen Erfahrungen des Glück und der Not, der Angst und des Vertrauen, der Schuld und des Neubeginns dabei tiefer über sich selbst verständigt finden. Sie werden dann sich selbst zu verstehen gegeben als solche, die einbezogen sind in den Sinn des Ganzen von Welt und Leben, der deren göttliches Geheimnis ist. Die Rede von Gott ist, so noch einmal Bultmann, nur als existentiell-religiöse Rede möglich, als Auslegung religiöser Erfahrung im Medium der sie deutenden Symbole und Narrative, nicht aber im Stil der Verkündigung allgemeiner Wahrheiten.[8] Außerdem gilt es mit Bultmann, aber auch mit Tillich festzuhalten, dass selbst dort wo das Wort „Gott“ im modernen Lebenszusammenhang nicht gebraucht wird, Menschen doch religiöse Erfahrungen machen, Erfahrungen mit dem, was ihr Leben mit Inhalt füllt. Diese Erfahrungen sind es, die die Theologie als religiöse, d.h. in ihrer transzendenzoffenen Tiefendimension zu Sprache zu bringen versuchen sollte. Hervorzukehren gilt es, dass das die Gotteserfahrungen sind, die Erfahrungen, in denen es um  Sinn und Glück geht, um das Gefühl frei zu sein, hineingehalten in die Unendlichkeit, nicht aufzugehen in dem, was das Dasein letztlich zu einer einzigen Krankheit zum Tode macht, nicht aufzugehen in Schuld und Versagen, sondern seine Bestimmung in der Zugehörigkeit zu Gott, dem Ewigen, Unendlichen zu haben, sich somit jetzt schon unbedingte Bedeutsamkeit zuschreiben zu können. Dann kann Religion verstanden, religiös zu sein verstanden werden als die Möglichkeit recht eigentlich als Mensch wirklich zu werden, als ein Mensch, der dessen gewiss sein kann, auf keinen Fall vergeblich zu leben, somit, wie Bultmann völlig richtig sagte, zur eigentlichen Existenz, ins Gelingen des Lebens zu finden.[9]

Mein Verständnis von dem, was es heißt, theologisch von der religiösen Erfahrung auszugehen und die Religion als Verständigung des Menschen über sich und die Tiefendimension seines Leben zur Auslegung zu bringen , weiß sich eng verbunden mit Bultmanns Existentialhermeneutik. Wie Bultmann wende auch ich mit dem Verständnis von Theologie als Religionshermeneutik bzw. als religiöse Existentialhermeneutik gegen die Vergegenständlichung der Glaubensinhalte wie sie mit der Aufstellung von sog. Heils- oder Glaubenswahrheiten geschieht.[10] Ich wende mich überhaupt gegen die Auffassung vom Glauben als einem intentionalen Bezogensein auf Glaubensinhalte wie sie die theologische Traditionen mit den Dogmen und kirchlichen Lehren festgehalten hat.

Die Dogmen und kirchlichen Lehren, sei die von Schöpfung und Sünde, von Christus und dem Hl. Geist, von Rechtfertigung und Erlösung, vom Sühnopfer oder den göttlichen Heils- und Lebensgaben beschreiben nach meiner Auffassung gar keine eigene göttliche Wirklichkeit. Sie bieten vielmehr Möglichkeiten, uns im christlichen Sinn über die göttlichen Dimensionen der Erfahrungen und Wirklichkeiten unseres Lebens in dieser Welt zu verständigen. Dabei liegt das Kriterium ihrer Wahrheit dann darin, nicht ob sie biblisch gut begründet sind, sondern ob sie uns auf lebensdienliche Weise helfen, uns über unser Dasein zu verständigen oder ob sie uns eher daran hindern, dass wir die höchsten Möglichkeiten, menschliches Lebens gelingen zu lassen, erreichen. Das Kriterium der Lebensdienlichkeit ist das einer Theologie des Lebens angemessene Kriterium, wohl wissend, dass sog. biblische Befunde immer ein Resultat der sie zustande bringen Hermeneutik sind, also als objektives theologisches Wahrheitskriterium nicht taugen.

Statt das intentionale, auf Glaubensinhalte ausgerichtete Glaubensverständnis weiter zu befördern, gilt es vom Glauben in einem nicht-intentionalen Sinn zu reden. Dann meint glauben zu können, aus einem unbedingten Vertrauensverhältnis zu leben, aus dem Bewusstsein eines letzten Gegründet- und Gehaltenseins. Dieses Bewusstseins spricht sich im Glauben an Gott aus, wobei der Sinn des Wortes Gott eben der ist, die selbst unbedingte, alles bedingende Wirklichkeit zu sein, auf die sich das Daseinsgrundvertrauen stützen kann. In der Behauptung, das Wort „Gott“ spreche eine allgemeine Wahrheit aus, bleibt die Rede von Gott deshalb leer. Nur im Rückbezug auf die je eigene existentiell-religiöse Erfahrung kann gezeigt werden, dass sie ihren Wahrheitsanspruch zu Recht erhebt. Deshalb wird es zur wesentlichen Aufgabe der Theologie, das religiöse Verhältnis als ein konstitutives Moment im Selbstverständnis menschlicher Existenz zum Verständnis zu bringen.

Wie Menschen sich selbst verstehen und welche Rolle der religiöse Bezug darin spielt, das erschließt sich uns freilich immer nur indirekt, aus den Lebensäußerungen, vermittels der Zeichen, mit denen Menschen in den Erfahrungen des Lebens ihre Einstellungen und Überzeugungen zur Darstellung bringen. Das Verstehen des Sich-Selbst-Verstehens von Menschen beginnt mit der Wahrnehmung ihrer immer kulturell, des näheren religionskulturell, nicht zuletzt auch kirchlich vermittelten Lebensäußerungen. Die vermittels ihrer kulturellen Zeichen wahrnehmbaren Lebensäußerungen lassen Rückschlüsse auf die Einstellungen und Überzeugungen der sie kommunizierenden Menschen zu. Die Interpretation der objektiven Religion ist der Weg zur Wahrnehmung und zum Verstehen der subjektiven Religion.

Keiner kann einem anderen Menschen ins Herz sehen. Ich kann über die religiöse Einstellung eines Menschen immer nur insoweit Aussagen machen, als ich seine Lebensäußerungen in ihrem religiösen Gehalt zu deuten vermag. Solche Deutungsarbeit ist die Aufgabe der Religionshermeneutik. Mit ihr geht es um die Interpretation objektiv zugänglicher menschlicher Lebensäußerungen, die diese in ihrem religiösen, das Selbstverständnis des Menschen qualifizierenden Gehalt erschließt. Im Begriff des Christentums und dann auch des Protestantismus, hat die neuzeitliche evangelische Theologie schon früh zum Ausdruck zu bringen versucht, dass die christliche Religion weit über institutionelle kirchliche Zugehörigkeiten hinaus eine die Sinneinstellungen und Lebensorientierungen prägende Kraft darstellt. Zum Christentum als Kultur gehört auch sein Eingang in Verfassungsgrundsätze, in moralische Intuitionen und rechtliche Normen, schließlich auch und vor allem in die Sinngrundierungen des Alltags.[11]

Religionshermeneutik ist letztlich nur als Religionskulturhermeneutik möglich, auf dem Wege einer Interpretation der Zeichen und Symbole, vermittels derer sich das religiöse Bewusstsein kulturellen Ausdruck verschafft und kommunikative Tatbestände hervorbringt.[12] Religionskulturhermeneutik hält dazu an, die religiöse Dimension in den kulturellen Lebensäußerungen zu erkennen, die einen unbedingten Sinngehalt für die Menschen bedeutsam werden lassen. Die Wahrnehmung und Auslegung des Vorkommens religiöser Symbole und Sinnmotive in der Alltagskommunikation, dann auch in den literarischen, audio-visuellen und digitalen Medien erlaubt Rückschlüsse auf den religiösen Bezug im Selbstverständnis der Menschen.

Von religiösen Symbolen und Sinnmotiven sollte dennoch nicht in einem substantiellen, gar ontologischen Verständnis die Rede sein. Es gibt keine religiösen Symbole unabhängig von dem religiös sinnproduktiven Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Gerade angesichts der medialen Präsenz religiöser Sinngehalte – in der Literatur, in der Popmusik, im Film, im Internet – ist zu ihrem Verständnis immer die Perspektive ihrer Rezeption, ihrer Aneignung einzunehmen. Nur dann erlauben die Wahrnehmung und das Verstehen der religiösen Sinnmotive in der Kultur Rückschlüsse auf ihren je subjektiven Eingang in die persönlichen Sinneinstellungen und Lebensorientierungen.

4. Erprobungen einer religionshermeneutischen Kulturtheologie: Eine Konsequenz für die theologische Ausbildung

Die christliche Symbolsprache ist zu einem kulturellen Treibgut geworden, das weit über die kirchlichen Vermittlungs- und Kommunikationszusammenhänge hinaus in der gesellschaftlichen Kommunikation präsent ist. Sie hat manifesten Eingang in die populäre Medienkultur gefunden, in die Werbung und ins Kino. Sie wird in der Popmusik gesprochen, im Theater und im Musical zur Aufführung gebracht.

Das ist natürlich ein weites Feld. Einen kleinen Gang durch die religiös auslegungsfähige Gegenwartskultur will ich jedoch noch machen. Er soll zeigen, wohin sich die Gewichte theologischer Ausbildung dringend verlagern müssten, weg vom immer wieder neuen Durchdenken der biblischen, dogmatischen und kirchlichen Überlieferung, hin zur religiösen Hermeneutik der der Gegenwartskultur, vor allem ihrer ästhetischen Dimensionen. Denn in der literarischen, bildnerischen und musikalischen Ästhetik verschafft sich die heutige religiöse Erfahrung am ehesten Ausdruck. Durch sie wird religiöse Erfahrung auch angeregt.

Gerade die moderne Kunst hat die Stillstellung unserer Lebensfragen durch die fertigen Antworten der Kirche von sich abgestoßen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht immer noch die spirituelle Dimension bei sich hat, diese auch unter Aufnahme christlicher Symbolsprache ausdrückt, vor allem aber umgetrieben wird von der Frage nach der Bewandtnis, die es mit unserem einmaligen, zugleich so zerbrechlichen menschlichen Leben auf sich hat. Alle Produktion und Rezeption von Kunst, so könnte man vielleicht sogar sagen, wird in Bewegung gehalten von der Frage, in der sich unser aller existentielle Gefährdung ausspricht.  Gottfried Benns hat sie die „ewige Frage: wozu?“ genannt, 1953, in seinem Gedicht „Nur zwei Dinge“: „Durch so viel Form geschritten, durch Ich und wir und Du“. Die überlieferten Antworten der Religion, die Bergung und Orientierung boten, dem Ich seine Identität zuschrieben, dem Wir seinen Zusammenhalt gaben und die Vertrauensbasis für das Du schufen, sind längst vergangen. „Doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: Wozu“.

„Das ist eine Kinderfrage“, fährt der Dichter fort und zugleich gesteht er ein, dass es auf diese Kinderfrage doch keine befriedigende Antwort gibt: „Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines: ertrage – ob Sinn, ob Sucht ob Sage – dein fernbestimmtes: Du musst.“ Die Sinnversprechen und Heilszusagen der Religion beantworten die Sinnfrage nicht. Es geht aber auch nicht, die Sinnfrage zu verdrängen oder sie zu überspielen. Was bleibt? „Ertrage dein fernbestimmtes: Du musst.“ Das ist die Antwort. Ein fernbestimmtes „Du musst“. Du bist letztendlich zu der Einsicht genötigt, dass du über deinen Lebensgang nicht verfügst, nicht Herr bist im eigenen Hause, dass es da ein fremdbestimmtes „Du musst“ gibt. Eben zu dieser unhintergehbaren Vorausgesetztheit deines Lebens kannst du dich aber einsichtsvoll verhalten. Das heißt jetzt religiös zu sein: Die Unverfügbarkeit des Lebens anzuerkennen:

„Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.“[13]

Auch wenn du den unverfügbaren Grund deines Lebens nicht erkennen kannst, auch wenn du nicht weiß, ob da das Nichts ist oder ein Gott, du weißt, dich selbst gibt es, dein Selbst, in das sich die Spuren des Lebens eingezeichnet haben. Das ist für dich die wirkliche Wirklichkeit, dein „gezeichnetes Ich“. Ein Mensch bist du, der sich selbst zu verstehen gegeben wird. Nutze die Zeichen, die sich in dein Leben eingeschrieben haben. Verstehst du sie zu lesen? Dann kannst du Aufschluss gewinnen über den Sinn deines Daseins in der Welt.

 

Der Künstler Thomas Lehnerer hat auf einem seiner Blätter mit einem Bleistift notiert: „Was kann man machen, wenn man nichts mehr machen kann?“

 

 

 

Das ist die quälende Grundfrage, wie sie aufbricht im gezeichneten Ich, dann, wenn es an die Grenzen seiner analytischen Fähigkeiten, seiner Leidensfähigkeiten, an die Grenzen auch seiner ethischen Sicherheit, ja ans Ende aller seiner Handlungsmöglichkeiten gerät. Das Bild zeigt den verwundeten Menschen, der doch, merkwürdig genug, umfangen ist von einer ihn umgebenden Hülle, die ihn zusammenhält und in seiner Not vielleicht auch ein wenig zu wärmen vermag. Das wäre zugleich eine religiöse Deutung dieses Kunstwerkes, die auf Gott, ja den gekreuzigten Christus ausgreift und an Ressourcen zur Bewältigung unserer Endlichkeitserfahrung erinnert, die aus dem Gottesverhältnis Jesu entspringen. Zwingend ist diese Deutung nicht, aber doch widerspruchsfrei möglich. Sie nimmt ihren Ausgang von den Zeichen, mit denen der früh verstorbene Künstler die Zeichnung seines eigenen Lebens durch die tödliche Krankheit ins Bild gesetzt und seinen Umgang mit ihr auf diese Weise der Deutung zugänglich gemacht hat.

„Die Religion, gehört der Kirche nicht“ hat Thomas Lehnerer unter eine seiner anderen Installationen geschrieben.[14] Sie gehört auch der sich autonom entfaltenden Kunst. Die Religion gehört gerade in der modernen Lebenswelt auch der Kunst, weil die Kunst die letzten Fragen offenhält und die souveränen, mündigen Menschen die Antworten, die ihnen den Sinn ihres Lebens erschließen, selbst entwickeln lässt. Durch Kunst wird das Leben nicht zum Kunstwerk. Die Kunst stellt uns jedoch vor die Sinnfragen. Durch Bilder der Kunst kann es uns gelingen, uns über uns selbst und unser gefährdertes Dasein zu verständigen, uns bewusster zu unserer Endlichkeit und Zerbrechlichkeit zu verhalten. Die Kunst ist das elementare Echo menschlichen Lebens. Sie zeigt uns, warum wir in die Welt passen und dennoch nie ganz in ihr zu Hause sind.

Ein Widerspruch zur Religion und zur Verkündigung der Kirche liegt in all dem nicht, eher ihre Ergänzung und Erweiterung, ihre Fortsetzung mit den Mitteln der Kunst, in unseren Zeiten, in denen es mit den geschlossenen religiösen und weltanschaulichen Systemen ebenso vorbei ist wie mit einem klar definierten Kunstbegriff. In solchen Zeiten ist auch die Kirche ganz bei ihrer Sache, wenn sie Werke der zeitgenössischen Kunst in ihre Räume holt.

Auch die Musik hat sich von der Kirche und den traditionellen Vorstellungen des alten Heilsglaubens gelöst. Das heißt aber ebenfalls nicht, dass sie nicht immer noch oder jetzt gerade das Medium ist, in dem Menschen religiöse Erfahrungen machen, Erfahrungen, die sie ihr eigenes Leben tiefer empfinden lassen, eingebettet in ein kosmisches Ganzes, das das Gefühl für den Sinn, des das Ganze des eigenen Lebens und dieser Welt zu wecken vermag. Es zudem möglich, dass zu der Musik, die uns heutige anspricht, auch die heutige Jugend anspricht, Texte gefunden werden, die dem religiösen Gefühl eine Sprache geben.

Zwei Beispiele will ich zum Schluss geben für Lieder, deren Musik wie deren Text heutiges religiöses Gefühlslagen und Gestimmtheit gut trifft. Das eine ist ein aus England stammendes Lied, das auf dem Bremer Kirchentag 2009 auf gesungen wurde und seither uns öfters auch in Gottesdiensten begegnet. Ich meine das Lied von Anne Quigley: „There is a longing in our hearts…“. Der deutsche Text stammt von Eugen Eckert:

Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibt (Refrain):1. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung bitten wir; 2. Um Einsicht, Beherztheit, um Hoffnung bitten wir; 3. Um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir; 4. Dass du , Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir.

Der Text dieses Liedes gibt der heute starken Signatur religiöser Erfahrung Ausdruck, dem tiefen Verlangen nach Glück und nach Liebe, nach Frieden und Freiheit. Es ist die Sehnsucht nach dem Vollkommenen. Das Vollkommene aber, das ist Gott. Indem wir uns ihm zuwenden, geben wir uns nicht damit zufrieden, dass die Welt kalt, unbarmherzig und friedlos bleiben muss. Es ist ein Sehnen in uns, ein Verlangen nach Glück, nach einer Welt, in die wir hineinpassen und in der wir sein können, wozu wir uns bestimmt wissen. Diese Sehnsucht ist die Gottessehnsucht in uns, das, was uns glauben und hoffen lässt. Die Sprache der Tatsachen spricht nicht dafür, dass unser Glaube und unsere Hoffnung gerechtfertigt sind. Der Glaube an und die Hoffnung auf das Vollkommene sind ein Wagnis. Deshalb singen wir, um uns gegenseitig zu diesem Glauben Mut zu machen. Wenn es viele sind, die mitsingen, dann stärkt das unseren Glauben. Dann bleibt unsere Sehnsucht lebendig.

Nur schwache Anklänge an die traditionelle Glaubenssprache finden sich in diesem Lied. Vor allem ist es weit weg von jeglichem Glauben an sog. Heilstatsachen. Hier wird das Heil nicht objektiviert, und als etwas dargestellt, an dem wir auf wundersame Weise teilhaben, sondern das Heil, das als „Ganzwerden“ verstanden wird, wird in den lebendigen Vollzug der Selbstauslegung des religiösen Gefühls, dem wir in der Sehnsucht nach dem Vollkommenen begegnen, hineingelegt.

Mein zweites Beispiel für eine zeitgenössische Ästhetik des religiösen Liedes, die dessen Eignung als Kirchenlied ausmacht, entnehmen ich den Lieder der Düsseldorfer Rockband „Die Toten Hosen“.

Die Musik der „Toten Hosen“ wird weder zu eingängigem Sakropop, noch bewegen sich die Texte auf einer Linie, der man die Affirmation des katholischen Kirchenglaubens unterstellen könnte.  In ihren Songs findet die Musik vielmehr zu Texten, in denen ein heute dominantes Lebensgefühl starken und bewegenden Ausdruck gewinnt. In Verbindung mit den Videoclips artikulieren diese Lieder das Gefühl von Weltverlorenheit und transzendentaler Obdachlosigkeit. Dabei wird die Hinwendung zu einer anderen Wirklichkeit gesucht, ein transzendentes Gegenüber. Aber die Erwartung ist vergangen, dass dieses Gegenüber reagiert eine Antwort auf die großen Fragen der Existenz und des Glaubens gefunden werden kann.

Das Religiöse an dieser Musik ist eben dies, dass hier ein unruhiges Daseinsgefühl seinen unbedingten Ausdruck sucht. Die Sprache dieses Gefühlsaudrucks ist die Musik mit ihren antinomischen Rhythmen und schreienden Disharmonien. Diese Musik ist es, die anspricht und andere einen Ausdruck ihres eigenen inneren Erlebens erkennen lässt. Die Texte muss man dabei gar nicht unbedingt verstehen. Die Artikulation des Gefühls kann auch durch die Bilder des zum Song gehörenden Videoclips verstärkt werden, wenn man zum Beispiel in dem Videoclip „Ertrinken“ Campino sieht, in der Gefängniszelle, rückseitig, zum Lichtfenster nach oben blickend, ein fiktives Gegenüber anrufend, mehr Frage als Antwort, dann ihn sieht im tristen Gefängnisinnenhof, ganz am Boden und schließlich ausgestreckt auf dem elektrischen Stuhl, die Assoziation des Gekreuzigten auf sich ziehend. Wer den Text hört, dem verdichtet sich der Gefühlsausdruck der Bilder. Auch wer den Text versteht, bekommt freilich keine Antwort auf die großen Fragen. Im Gegenteil, der Text versucht genau dies zu sagen, dass keine Antwort in Sicht ist, dass vielmehr die Antworten, von denen viele im Raum stehen, nur noch tiefer in die Fragen hineintreiben, in die Fragen nach Glück, nach Freiheit, nach Liebe, nach Gerechtigkeit.

Es ist das Meer der Antworten, in dem wir ertrinken. Die unendliche Fülle der Glückversprechen, die den Zweifel an ihnen allen zur Folge hat. Was wird erwartet? Keine religiösen Trostzusagen. Keine Beschwichtigung. Keine letzte Antwort. Keine Gewissheit. Keine Glaubenszuversicht. Und doch rühren die Melodien an die elementarsten religiösen Motive. Sprichst du meine Sprache? Siehst du mein Gesicht? Liest du meine Träume? Ich will dir vertrauen, ich versteh mich nicht. Ich versteh dich nicht. Was ist das Glück? Wo find ich Liebe? Sind die Gedanken wirklich frei? Mit diesen Fragen wird die Hinwendung an ein fiktives Gegenüber vollzogen. Ist es die Lebensgefährtin? Ist es der Gott? Die Transzendenz bleibt stumm. Aber ohne die Richtung auf sie hin, ohne den Gott fänden die eigenen Gefühle und Existenzfragen keinen Ausdruck.

So ist es aber doch, sage ich jetzt. Es ist die Religion genau dazu da, diejenigen Fragen wachzuhalten, auf die es keine abschließende Antwort gibt. Die Musik, viele Produkte der zeitgenössischen Popmusik, aber auch viele Liedermacher, die für zeitgenössische Gottesdienste produzieren, vermitteln den Zugang zur religiösen Erfahrung mitten in der Kultur der Gegenwart. Ihr wären m.E. auch die Türen unserer Kirchen noch weiter zu öffnen als dies mancherorts schon geschieht.


[1] Jan Roß, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012.

[2] Vgl. Wilhelm Gräb, Die Lehre der Kirche und die Symbolsprachen der gelebten Religion, in: Ulrich Barth, Christian Danz, Wilhelm Gräb, Friedrich Wilhelm Graf (Hrg.), Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich (Theologische Bibliothek Töpelmann 165) Berlin/Boston 2013, 137-154.

[3] Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus. Aus dem Französischen von Heinz Jatho (1977), Zürich, Berlin 2009.

[4] Vgl. Andreas Arndt, „Ausgehn von Individualität“. Schleiermachers philosophische Grundposition, in: Dersb. Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin, Boston 2013, 3-16.

[5] Zum Zusammenhang von Daseinshermeneutik und den Fragestellungen einer Religionshermeneutik, insbesondere in Aufnahme und Fortführung des Denkens Rudolf Bultmanns vgl. Christof Landmesser, Religion und Hermeneutik, in: Birgit Weyel/Wilhelm Gräb (Hg.), Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven, Göttingen, 231-241, ders., Hermeneutik, in: Wilhelm Gräb, Birgit Weyel, Handbuch der Praktischen Theologie, Gütersloh 2007, 748-759; sowie ders., Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 113), Tübingen 1999.

[6] Vgl. oben Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, 4Tübingen 1965, 211-235.

[7] Vgl. Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es von Gott zu reden? (1925), in: Ders. Glauben und Verstehen, Bd. 1, 9Tübingen 1993, 26-37.

[8] Vgl. Rudolf Bultmann, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung (1957), in: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 1960, 166-177; sowie ders., Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert, (1955) in: Ders. Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 1960, 130-155.

[9] Vgl. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 2. Bd. 4 Tübingen 1965, 211-235.

[10] Einen Versuch, Bultmanns biblische Existentialhermeneutik konsequent religionshermeneutisch zu interpretieren, hat Karsten Jung in seiner Berliner Dissertation unternommen. Vgl. Karsten Jung, Homiletische Hermeneutik. Rudolf Bultmanns Beitrag für ein fröhliches Christentum, Waltrop 2004.

[11] Vgl. Wilhelm Gräb, Religiöse Sinndeutungen im Alltag des Lebens, in: Ders., Religion als Deutung des Lebens, Gütersloh 2006, 29-45.

[12] Michael Moxter geht deshalb auf dem Wege des Aufbaus einer zeitgenössischen Kulturtheologie neben Tillich, dem er die Ontologisierung des religiösen Symbols zum Vorwurf macht, vor allem auf die „Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer zurück – da dort dem Hervorgang des religiösen Symbols aus der symbolisierenden Tätigkeit des menschlichen Geistes nachgedacht wird. Vgl. Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000. Zu Cassirer als Religions- und Kulturhermeneutiker vgl. auch meinen Aufsatz, Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluß an Ernst Cassirer, in: Dietrich Korsch, Ernst Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 229-248, sowie Wilhelm Gräb, Praktische Theologie als religiöse Kulturhermeneutik. Eine deutende Theorie gegenwärtig gelebter Religion, in: Eberhard Hauschildt/Martin Laube/Ursula Roth (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums. Eine phänomenologische Wissenschaft und ihre hermeneutische Dimension Rheinbach 2000, 86-110.

[13] Benn (1953)

[14] Titel einer Vitrine von Thomas Lehner im Neuen Museum „Weserburg“ in Bremen.

Tomas Halik erhält Templeton Preis 2014

Prof. Tomas Halik erhält 2014 den Templetonpreis

Der tschechische Theologe, Soziologe und katholische Priester Tomas Halik (Prag) erhält in diesem Jahr 2014 den hoch angesehenen TEMPLETON Preis.  Die Freunde des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin kennen und schätzen sehr die Arbeiten Tomas Haliks. Vor allem sein Eintreten für eine mystische Gotteserfahrung und sein entschiedenes Plädoyer für den lernbereiten Dialog mit “Atheisten” und Ungläubigen verdienen höchste Beachtung in einer Zeit, in der sich die Kirchen immer mehr dogmatisch eingrenzen.

Christian Modehn hat als Journalist mehrfach Tomas Halik interviewen können, zur Lektüre eines von mehreren Beiträgen klicken Sie hier. Der Beitrag erschien in der Zeitschrift PUBLIK FORUM und trägt den Titel: “Nachtgedanken eines Beichtvaters”, bezogen auf eines der letzten Bücher Haliks.

Außerdem hat Christian Modehn 1999 für die ARD einen der ersten längeren Filme über Tomas Halik realisiert, der 30 Minuten Film über und mit Tomas Halik hat den Titel: “Meine Freunde die Ungläubigen” (SFB und MDR). Der Film ist nach wie sehenswert, er zeigt wesentliche biographische Elemente und Beispiele aus der vielfältigen Tätigkeit Prof. Haliks in Prag.

Kritische Hinweise zu Papst Franziskus – nach einem Jahr

Den Papst kritisieren: Ein Hinweis:    “Ein Jahr Papst Franziskus”.

Von Christian Modehn

Der folgende Beitrag wurde zuerst in ähnlicher Form in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM (am 28.2.2014) veröffentlicht. Am Ende des Beitrags hier finden Sie einige weitere Aktualisierungen zu der Frage: Ist Papst Franziskus tatsächlich ein Reform-Papst?

Bisher sieht es so aus, als würden alle halbwegs progressiv gestimmten Katholiken zu einem neuen Ultramontanismus neigen, zu einem  jubelnden Bekennen wie einst in Zeiten des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert: “Der Papst ist der größte”. Jenseits der Alpen, ultra montes, da gibt es den guten Herrscher…. Und dann kann man das Lied anstimmen, wie damals in Holland: “Römisch das sind wir, römisch das bleiben wir”.  “Treu zu Rom” sangen die deutschen Katholiken, vielleicht sollte man das Lied wieder hervorholen?

Es gibt jedenfalls eine Art heilige Scheu, diesen Papst zu kritisieren. Dabei sollen seine persönlichen Leistungen nicht geleugnet werden: Sein eher bescheiden wirkendes Leben, den Verzicht auf das Wohnen im Renaissance-Palast, das Füßewaschen von Gefangenen (auch Frauen!), der Mut, die katholische “Basis” nach der Einschätzung der katholischen Moral wenigstens zu fragen, selbst wenn der Papst und mit ihm die Kurie gleichzeitig sagt: “Da kann eigentlich nichts geändert werden”. Das heißt: Die Umfragen offenbaren aus vatikanischer Sicht eher ein “falsches Bewußtsein”. Dass in der Abweisung der katholischen Moral der “Heilige Geist” an der Basis sich machtvoll Ausdruck verschafft und auf Änderung drängt, um es theologisch zu sagen, auf diesen Gedanken kommen weder der Hof  (die Curie) noch die Bischöfe. Früher gab es einen gewissen Respekt für den Begriff “sensus fidelium”. Im 2. Vatikanischen Konzil aber behauptete der Klerus explizit: Diesen sensus fidelum, diesen Glaubenssinn (der Basis, der Laien) den interpretieren und deuten selbstverständlich nur wir Kleriker in Rom und anderswo. Solche “Reformbeschlüsse” des 2. Vatikanischen Konzils, des “Reformkonzils”, werden gern vergessen.

In jedem Fall, so scheint es, will sich der eher progressive Teil des Katholizismus jetzt bestimmte Illusionen nicht nehmen lassen angesichts von Papst Franziskus. Merkwürdiger noch sind die konservativen Verteidiger des ancien régime unter Benedikt dem XVI., diesem (angeblichen) “Mozart unter den Theologen”, diesem “feinen Geist” und Augustinus Freund; diese Leute vom ancien régime kritisieren Papst Franziskus auf polemische, manchmal hinterhältige Weise. Man ahnt, in welcher Gesellschaft er sich befindet.

Es muss aber unter Journalisten in  Deutschland und überall in der Welt möglich sein, auch eine angebliche Lichtgestalt wie Papst Franziskus außerhalb von Heiligenlegenden und Huldigungen zu betrachten, selbst wenn man sich als Journalist einer modernen, einer neuen liberalen und  kritischen Theologie verpflichtet weiß, wie der Autor dieser Hinweise.

Zum Text selbst, der in sehr ähnlicher Form in PUBLIK FORUM veröffentlicht wurde:

Die Konservativen haben ihren Papst und die Reformer haben ihren Papst. Denn Franziskus will der Liebling aller sein. Die einen jubeln, wenn er Erzbischof Gerhard Müller, den obersten Glaubenshüter, zum Kardinal ernennt. Die anderen dürfen sich über seine „kollegiale Wende“ freuen, weil er sich von 8 Kardinälen beraten lässt. Die einen begeistern sich für seine dogmatisch „festen“ Predigten, die er in der Kapelle seines Domizils Santa Marta hält. Bei den anderen weckt er politische Leidenschaft, wenn er die Sache der Flüchtlinge zu seiner eigenen macht. Der Apostel Paulus nannte diese Haltung „allen alles werden“. Sie ist auch für Ignatius von Loyola, dessen Orden Jorge Bergoglio angehört, ein Leitprinzip.

Mitten in der Kirchenkrise und nach der eher frustrierenden Herrschaft Benedikt XVI., inszeniert Papst Franziskus seine Offensive des Charmes, des Lächelns, der Nähe. Wenn er schlichte Lebensweisheiten verbreitet, sind ihm die  Sympathien sicher. Am Valentinstag empfahl er den Eheleuten, niemals im Streit abends ins Bett zu gehen… In seiner argentinischen Heimat wird er bereits wie ein Heiliger verehrt: „Bescheiden, intelligent, zärtlich, stark, ehrlich und entschieden“ nennt ihn die dortige Theologin Nancy Raimondo.

Aber seine Menschenfreundlichkeit steht im Dienst einer größeren Sache: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung“, so in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“, „die fähig ist, alles zu verwandeln“. Verändert werden sollen Gewohnheiten, Strukturen, Zeitpläne, Sprachgebrauch in der Kirche. Franziskus will durch seinen Eifer die Kirche wieder stark und attraktiv machen.

Seit den ersten Stunden seines Pontifikats wiederholt er unermüdlich: “Wie sehr wünsche ich eine Kirche für die Armen“. Sympathische Worte, wer könnte im Ernst etwas dagegen haben? Genauer betrachtet, wird diese Sehnsucht aber kaum präzisiert. Es wird kein Programm entwickelt, wie Armut in der Kirche realisiert werden kann. Das Hauptproblem liegt bei dem „FÜR“. Denn eine Kirche FÜR die Armen im Sinne des Papstes steht den Armen noch caritativ -helfend gegenüber. Hingegen entspräche das Motto „Eine Kirche DER Armen“ oder „eine Kirche MIT den Armen“ der Forderung der 500 Konzilsväter, die sich im so genannten „Katakombenpakt“  im November 1965 verpflichteten, radikal eine arme Kirche zu gestalten. Eine Kirche FÜR die Armen kann sogar noch Machtansprüche verbergen: Wenn etwa die Kirche als eine Art starke Volks – Bewegung verstanden wird, als Konkurrenz zu den eher linken „Volksbewegungen“ in Venezuela, Ecuador und Bolivien. Darauf hat der argentinische Philosoph und Theologe Rubén Dri hingewiesen.

Unklar bleibt, wie sich denn Franziskus eine gerechte Weltgesellschaft konkret vorstellt. Der entscheidende Ziel-Begriff  könnte heißen „Zivilisation der Armut“: Sie ist nur möglich mit „unvermeidlichen Einschränkungen im Lebensstil der reichen Länder“ (P. Martin Maier SJ). Konkrete Schritte zur Veränderung des Lebensstils der reichen Kirchen des Nordens hat Papst Franziskus bisher nicht beschrieben, geschweige denn durchgesetzt. Die päpstliche Bank will er zwar transparenter gestalten, sie soll nicht länger kriminellen Geldwäschern zur Verfügung stehen. Auch über die vatikanische Güterverwaltung, inklusive des Immobilienbesitzes, will der Papst mehr Klarheit: Aber es findet kein Nachdenken statt, warum denn ein Papst überhaupt eine Bank und ein Millionenvermögen braucht. Die uralten  vatikanischem Strukturen mit ihrem „Filz“ stoppen offenbar den Enthusiasmus des Papstes. Tief greifende Reformen hat er ja  am 4. Juli 2013 gewagt anzudeuten: „Selbst im Leben der Kirche gibt es alte und überholte Strukturen: Wir müssen sie erneuern“. Es fällt auf, dass der Papst vor allem in den ersten Monaten seines Pontifikates zu mutigen, man möchte sagen „radikalen“ Worten fand. Hat er jetzt Angst vor der eigenen Courage oder vor den Nachstellungen der Curie, des päpstlichen Hofes? Wie stark ist der Einfluss des Ultra-Orthodoxen Kardinals Müller? Er betonte am 12. Februar 2014 in diplomatischer Deutlichkeit: „Das Wichtigste ist freilich, dass unsere Kongregation (die Glaubensbehörde) dem Papst in seinem Petrusdienst zur Seite steht und ihm in seinem Lehramt zuarbeitet“.

In den letzten Wochen ist tatsächlich eine Zunahme „behutsamerer Formulierungen“ bei Franziskus zu beobachten: Zu wiederverheiratet Geschiedenen oder zur homosexueller Liebe vertritt er jetzt den uralten Standpunkt. Am 16. Januar 2014 sagte er: „Einen Christen ohne Kirche versteht man nicht. Auf Christus zu hören, nicht aber auf die Kirche, das geht nicht“.  Im Interview mit den Jesuitenzeitschriften vom August 2013 waren noch offenere Worte zu hören: „Gott ist im Leben jeder Person, im Leben jedes Menschen“. Auch der Mystiker Meister Eckart hat dies gelehrt, für ihn wurde dann aber die Kirche nicht mehr so wichtig.

Ist das theologische Profil des Papstes also zwiespältig und diffus? In dem Interview für die Jesuitenzeitschriften vom August 2013 konnte er noch sagen: „Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben“. Diese nicht so selbstverständliche Forderung illustrierte er damals mit einem Hinweis auf einen gewissen Respekt vor Homosexuellen: „Wir treten hier in das Geheimnis der Person ein. Gott begleitet die Menschen durch das Leben und wir müssen sie begleiten und ausgehen von ihrer Situation“.  Zu den Prinzipien katholischer Sexualmoral befragt, sagt er kurz und bündig: „Man muss nicht endlos davon sprechen“.  Da hatten die Leser den Eindruck: Die katholische Morallehre will der Papst zwar nicht nach den Prinzipien der Vernunft und Menschlichkeit neu formulieren und  korrigieren. Er macht es sich in gelegentlichen Äußerungen einfacher und empfiehlt, von den alten Lehren einfach nicht zu viel zu reden. Wird so ein altes  Motto katholischer Alltagsmoral beschworen: „Nach außen hin orthodox, nach innen liberal“?  In dem Buch „El Jesuita“ (Buenos Aires 2010) erzählt Kardinal Bergoglio selbst einen Witz: Zwei Priester diskutieren, ob ein neues Konzil den Pflichtzölibat aufheben wird. Da sagt der eine Priester: “Ich meine ja. Aber in jedem Fall werden wir das nicht mehr erleben. Sondern nur UNSERE Kinder“.

Wichtiger als solche Witzchen wäre es zu erfahren, wie sich der Papst die Zukunft der Kirche in Europa vorstellt angesichts des unbestrittenen Aussterbens des Klerus in vielen Ländern. Wie lange kann da ein Papst noch am Zölibatsgesetz festhalten? Mit einem Wort könnte er es abschaffen.

Die „einfachen, schlichten Gläubigen“, die er ohnehin ganz besonders liebt, werden auf andere Themen verwiesen, etwa auf die Marienverehrung. Sie ist die innere, die „intime“ Mitte seines Lebens. Sein Pontifikat hat er sofort unter den Schutz der Madonna von Fatima (Portugal) gestellt. Der Ort ist wegen seiner mysteriösen, apokalyptischen Visionen Marias bekannt. Auch Papst Johannes Paul II. verehrte diesen Ort. Und nur wenige Stunden im Amt, ist Papst Franziskus zum Gnadenbild von Santa Maria Maggiore geeilt. Der Jesuit Jorge Bergoglio war vom Kult der „Maria als Knotenlöserin“ begeistert. Das Bild entdeckte er in Augsburg und verbreitete es in Argentinien. Es zeigt die himmlische Mutter, wie sie Knoten entwirrt, die einen langen Faden unbrauchbar machen.

Dieser spirituellen Mittelpunkt wird sichtbar in dem Schreiben „Evangelii Gaudium“ : Nachdem der Papst „die Ungleichverteilung der Einkünfte“ und die „absolute Autonomie der Märkte“ gegeißelt hat, preist er Maria unvermittelt in klassischen Formeln als „Mutter der Liebe und „als Braut der ewigen Hochzeit“, dies nicht zur poetischen Erbauung, sondern als Orientierung. Mit Maria will er die Revolution der „Zärtlichkeit und Liebe“ beginnen. Spiritualität und politisches Handel werden verbunden! Von Menschenrechten spricht der Papst in „Evangelii Gaudium“ erst etwas ausführlicher, wenn er den Schutz „der ungeborenen Kinder“ fordert. Ohne differenzierter zu untersuchen, wann denn personales Leben im Mutterleib beginnt, meint der Papst pauschal: Abtreibung muss verboten sein, denn sie „vernichtet menschliches Leben“. Aber um allen gerecht zu werden, fordert er, Frauen angemessen zu begleiten, wenn sie den Schwangerschaftsabbruch wünschen.

Insgesamt, so betont die Befreiungstheologin Yvon Gebara (Brasilien), hat Franziskus keinen Blick für die Leistungen der Frauen in den feministischen Bewegungen. Ähnlich denkt der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto OP., er hält den Jubel seines Kollegen Leonardo Boff über den so wunderbar  progressiven Papst Franziskus für übertrieben. Franziskus schickt zwar im Januar 2014 ein nettes Grußwort zum Kongress der brasilianischen Basisgemeinden. Aber er geht mit keinem Wort auf die Forderung dieser Gemeinden ein, aus ihren eigenen Reihen Frauen und Männer für die Leitung der Eucharistie zu bestimmen. Fast gleichzeitig unterstützt er „fürs Volk“ die Verehrung der angeblichen Knochenreste des heiligen Petrus im Vatikan.

Über die Rolle des Jesuitenprovinzials Jorge Bergoglio  während der argentinische Militärdiktatur (1976 –83) gibt es immer noch keine Klarheit. Der Papst hat kein vorrangiges Interesse an Aufklärung und gesteht nur: „Oft werfe ich mir vor, nicht genug getan zu haben“, so in dem Buch „El Jesuita“. Er gibt zwar zu, eine Messe „vor der Familie des Diktators Videla in privatem Rahmen gehalten zu haben“. Dabei wollte er den Aufenthaltsort gefangener Priester erfahren. Ob ihm dies der Diktator mitteilte, verrät der Papst nicht. Gegenüber seinen Kritikern kann er nur – herablassend – sagen: „Herr, lehre mich, gegenüber dem Spott zu schweigen“. Der Befreiungstheologe Pater Jon Sobrino SJ meint: „Pater Bergoglio hatte jedenfalls nicht den Mut eines Erzbischof Romero“.  Der argentinische Philosoph Professor Enrique Dussel betont: „Bergoglio hat vieles unterlassen in der Zeit der Diktatur“.

Ein Jahr Papst Franziskus: Der Gesamteindruck ist zwiespältig: Er will den alt bekannten Wein in neue, nach außen hin attraktivere Gefäße gießen.

Der uralte Wein darf bestenfalls etwas nachgewürzt werden.

Darum noch mal die Nachfrage: IST PAPST FRANZISKUS TATSÄCHLICH EIN REFORM – PAPST?

Mit dem „alten Wein“ ist die alte Lehre in den uralten Worten, Formeln und Floskeln gemeint. Es herrscht bis heute ungebrochen und immer vom Vatikan verteidigt eine Sprache vor, etwa im offiziellen Glaubensbekenntnis, die dem 4. und 5. Jahrhundert angehört und tief in der neuplatonischen Philosophie verwurzelt ist. Ein Glaubensbekenntnis sollte für die 1, 3 Milliarden Katholiken ad hoc verständlich sein und nicht langatmiger Übersetzungen bedürfen. Zentrale Lehren, wie die etwa die Erbsündenlehre des Augustinus, um nur ein Beispiel zu nennen, sind kaum noch nachvollziehbar für kritische, gebildete (selbst noch religiöse) Menschen. Für andere ohnehin nicht. Diese Erbsündenlehre wurde einst propagiert, um die absolute Notwendigkeit der Taufe (und damit der Kirche und damit des maßgeblichen Klerus) herauszustellen. Dazu gibt es hervorragende Studien, etwa von Prof. Kurt Flasch zum Streit Augustins mit dem großen Theologen Julian von Eclanum. Er hielt die Sache der menschlichen Freiheit hoch. Zu welchen grausigen Vorstellungen die Erbsündenlehre etwa bei Calvin führte, ist bekannt. Ähnliche Korrekturen wären heute in der Trinitätslehre vorzunehmen, wo die Rede von den “drei Personen” kein Mensch korrekt ad hoc versteht, wenn er solches im Glaubensbekenntnis spricht und mindestens eine zweistündige Erläuterung braucht. Der große katholische Theologe Edward Schillebeeckx hatte seine intellektuelle Mühe mit der höchst mißverständlichen offiziellen Trinitätslehre: “Ich bin im Hinblick auf eine Trinitätstheologie fast ein Agnostiker” (in: E. Schillebeeckx im Gespräch, Edition Exodus, Luzern 1994, Seite 107). Solche Worte wurden und werden ignoriert. Die Kirchenführung hat enorme Angst, bestimmte Lehren beiseite zu lassen oder ganz neu zu formulieren, weil sie nicht nur von der angeblichen Ewigkeit dieser auch historisch entstandenen Dogmen überzeugt ist, sondern auch noch die antike Sprachform heilig findet, in der diese Lehen bis heute eingepaukt werden. Korrekturen der Lehre gelten so viel wie Gotteslästerung. Noch einmal: Es ist die Lehre, (es ist das Dogma ältester Prägung), die heute den katholischen Glauben jenseits der kritischen Kultur placiert und so irrelelvant und wirkungslos macht. Es gibt einen Atheismus, der entstanden ist aufgrund der nicht mehr nachvollziehbaren Dogmen. es gibt einen kirchlich verschuldeten Atheismus. Das könnten sich doch eingefleischte Dogmatiker mal vor Augen halten. Die päpstliche Liebe (des Papstes Franziskus) zur Volksreligion, die ja auch heute allerhand offiziell geförderte Blüten treibt (Fatimakult, Padre Pio, Knochenkulte genannt Reliquienverehrung, selbst noch das Festhalten am Ablass usw.) kommt wohl daher, dass der Papst spürt: Die alte Lehre ist kaum noch durchzusetzen, sollen sich die Frommen doch bei Nebenthemen tummeln…

Dieser Bruch zwischen dogmatischem Glauben und kritischem Bewusstsein kann nicht mehr gelöst werden, indem, wie üblich, einseitig der dogmatische Glaube wiederholt und eingepaukt wird. Das kritische Bewusstsein heute ist theologisch gesehen ein Zeichen des heiligen Geistes, das ernst zu nehmen ist. Das kritische Bewußtsein hat theologische Autorität!

Also: Das alte Bekenntnis verstehen nur noch Neuplatoniker. Papst Franziskus wird erst dann als Reformpapst in die Geschichte eingehen, wenn er an diesem Punkt Reformen setzt und für ein kreatives Denken und Sprechen sorgt, und, ja auch das, nicht mehr nachvollziehbare Glaubenslehren eben guten Gewissens beiseite legt. Von der Absolutheit der lateinischen Kirchensprache konnte sich der Vatikan schon im 2. Vatikanischen Konzil verabschieden, ebenso vom Limbus puerorum, der Vorhölle für ungetaufte Kinder, die so viel Angst und Schrecken über Jahrhunderte verbreitete…Der Vatikan konnte vor 50 Jahren die lange Zeit verdammte Urnenbestattung erlauben, er hat sich vom Index getrennt usw. Alles das sind nicht dogmatische, “definierte” Lehren, aber immerhin…

Es ist wohl Zeit, weiter aufzuräumen, auch im Blick auf die angeblich ewigen Glaubensgüter, die je bekanntlich fest in der Hand des Klerus (und nur des Klerus, also nicht des glaubenden Volkes Gottes) wirklich “ruhen”.

Mit diesem Befreiungsschlag für eine einfache und arme Kirchenlehre ist allerdings kaum zu rechnen. Wer tatsächlich einmal des Papstes viel gerühmtes, „modernes“ Schreiben „Evangelii Gaudium“ liest, findet in den 217 Anmerkungen bzw. Quellenangaben des Papstes ausschließlich Verweise auf päpstliche Äußerungen oder Stellungnahmen der Konzilien. Als einziger Laie und Autor wird der französische Schriftsteller Georges Bernanos (Fußnote 64) erwähnt und ein Zitat aus dem Roman von 1937 „Tagebuch eines Landpfarrers“ geboten, ansonsten fast nur Zitate von Bischofskonferenzen, dem mittelalterlichen Thomas von Aquin und Augustinus. Die viel besprochene Forderung von Papst Franziskus, die Kirche möge doch ihre  Selbstbezüglichkeit aufgeben, wird jedenfalls in dem Text „Evangelii gaudium“ nicht erreicht!

Wer wirklich den Bruch, Lessing sprach vom garstigen Graben, zwischen Moderne und Katholizismus beheben will, sollte nicht nur menschlich nett sein, so wunderbar und ungewöhnlich dieses für einen Papst auch sein mag. Er sollte nicht nur politisch radikale Forderungen publizieren (werden sie in den Kirchen Europas überhaupt gehört, geschweige denn umgesetzt, eher wohl nicht), ein Reformpapst muss sich der veralteten Lehre widmen und da vieles entstauben und beiseite stellen. Und dann auch über das Papstamt neu nachdenken.

Das heißt ja nicht, dass alles Moderne gut und besser ist. Aber ein Glaube mit neuplatonischen Bekenntnisformeln bleibt heute etwas für den kleinen Kreis der Esoteriker und Historiker. Und ein Papst, der auch als Papst Franziskus immer noch alles tun und lassen kann, was er will, ohne sich auf gewählte Gremien des Volke Gottes zu beziehen, ist und bleibt – gerade im Gedenken an die Reformation – für viele höchst fragwürdig. Dabei ist klar: Bei der völlig chaotischen Situation der Menschheit weltweit sind diese Themen sozusagen Nebensächlichkeiten. Es wäre wohl passender zu fragen: Wie können die Christen und die Kirchen die ethische Botschaft der gleichen Rechte für alle Menschen, die Lebenschancen für alle usw., Menschenrechte genannt, authentisch leben und durchsetzen. Die Idee des Papstes, eine Kirche FÜR die Armen zu gestalten, ist ja erst nur eine Idee, aber sie ist zu schwach. Es geht um eine gerechte Weltordnung mit Lebensmöglichkeiten für alle.

 

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

Ein Jahr Papst Franziskus: Der Superpapst?

Zur Lektüre des ausführlichen und aktualisierten Textes klicken Sie hier.

Am 13. 3. 2013  wurde der argentinische Jesuit und Kardinal von Buenos Aires Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. Schon die Entscheidung für den Namen Franziskus finden viele bemerkenswert, eine Entscheidung, aus Respekt vor Franz von Assisi, dem Armen, dem Ordensgründer und radikalen Kirchenreformer im Mittelalter (bei seinen Reformvorschlägen wurde er dann von den Päpsten gebremst und amtlich sozusagen “vereinnahmt”).

Ein Jahr also Papst Franziskus: Wir weisen bei der Gelegenheit erneut empfehlend auf die Zeitschrift PUBLIK FORUM hin, dort erscheint in der Ausgabe vom 28.Februar 2014 aus diesem Anlaß eine Titel-Geschichte “Papst Franziskus-der Superpapst” von Christian Modehn. Zur Lektüre der Kurzfassung dieses Beitrags klicken Sie bitte hier. …Und vergessen Sie nicht, ein kostenloses Probeabonnenment zu bestellen. Publik-Forum ist eine von jeglicher Kirchenleitung unabhängige ökumenische Zeitschrift in Deutschland.

Ein Jahr Papst Franziskus: Der Superpapst?

Am 13. 3. 2013  wurde der argentinische Jesuit und Kardinal von Buenos Aires Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. Schon die Entscheidung für den Namen Franziskus finden viele bemerkenswert, eine Entscheidung, aus Respekt vor Franz von Assisi, dem Armen, dem Ordensgründer und radikalen Kirchenreformer im Mittelalter (bei seinen Reformvorschlägen wurde er dann von den Päpsten gebremst und amtlich sozusagen “vereinnahmt”).

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Ökumenische Verständigung: Schon im 17. Jahrhundert in Polen

Manfred Richter (Berlin) hat eine große Studie veröffentlicht über „Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645“.

Ein Buchhinweis von Christian Modehn

Bisher ist es einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, dass in der polnischen Stadt Thorn im Jahr 1645 ein wohl bedachter Versuch gewagt wurde, eine gemeinsame theologische Basis zu finden für die zerstrittenen, sich bekämpfenden Protestanten und Katholiken. Man bedenke, dieses ökumenische Colloquium im Geist der Friedfertigkeit und des wechselseitigen Verstehens fand noch gegen Ende des „Dreißigjährigen Krieges“ statt. Polen erlebte damals – eine Ausnahme in Mitteleuropa – seine glanzvolle Zeit, eine Zeit des Friedens und der weitgehenden Toleranz unter den zerstrittenen Konfessionen.

Zum „Colloquium Charitativum“ hatte der polnische König Wladyslaw IV. eingeladen. Dabei war der Beitrag des Theologen und Pädagogen Johann Amos Comenius von ganz besonderer Bedeutung. Es ist das Verdient des Berliner Theologen Manfred Richter, dass er in einer ausführlichen Studie diese Zusammenhänge untersucht. Sein Buch hat den Titel  „Johann Adam Comenius und das Colloquium Charitativum von Thorn 1645“, Siedlce 2013, 545 Seiten.

Diese Studie bietet auch zahlreiche Informationen für philosophisch Interessierte, die sich für den Frieden unter den sich auf einen friedfertigen Gott berufenden Christen interessieren.

Manfred Richter zeigt auch kenntnisreich und sehr detalliert die Voraussetzungen und Vorbereitungen für dieses ungewöhnliche Kolloquium, das eben nicht dem damals üblichen konfessionalistischen Gezänk folgte. Comenius selbst, der große Theologe der böhmischen Brüder, bemühte sich eine über das Konfessionelle hinausgehende Vision des Christlichen zu entwickeln, die auf der Bibel wie auch auf der wahren katholischen Lehre (!) beruhte. Er erarbeitete eine Art ökumenische Theologie der gemeinsamen christlichen Grundlagen! Er forderte zudem, wie Manfred Richter berichtet, eine vere catholica philosophia, diese natürlich nicht im engen konfessionalistisch römischen Sinne zu verstehen!

Interessant sind auch für alle, die sich für die Theologie der in den Niederlanden entstandenen Kirche der Remonstranten interessieren, die Hinweise auf die Sozinianer in Polen. Sie waren zum eigentlichen Colloquium in Thorn dann leider doch nicht zugelassen (weil sie nicht die Trinität für eine zentrale Lehre hielten und zu humanistisch-rationalistisch dachten). Die Remonstranten in Friedrichstadt haben die Sozinianer damals unterstützt. Die Remonstranten selbst waren ja damals verfolgt (in Holland!), eben weil sie auf den freien Willen des Menschen auch im Glauben nicht verzichten wollten.

Für Manfred Richter ist diese große, reich dokumentierte Studie eine weitere Bestärkung, das eigene, langjährige und nicht nur in Berlin bekannte ökumenische Engagement fortzusetzen. Er kritisiert etwa den Begriff der offiziellen “Lutherdekade” (im Blick auf 2017) und wünscht sich viel dringender, weil theologisch viel treffender, eine Reformationsdekade: Denn alle Kirchen, aber auch alle Kirchen und Konfessionen bedürfen der Reformation.

Weitere Informationen auch über www.deutsche-comenius-gesellschaft.de

Wir sind gespannt, was Manfred Richter anlässlich des Jan Hus Jubiläums plant.