Über die Reformation hinaus: Für eine Ökumene der Zweifler und Skeptiker

Über die Reformation hinausgehen: Für eine Ökumene der Zweifler und Skeptiker

Einige neue Thesen und Vorschläge  zum Reformationstag (31. 10. 2014)

Von Christian Modehn

An Gedenktagen sollte man denken. Auch heute. Und zwar Neues denken, Neues, d.h. auch bisher eher Ungesagtes oder an den Rand Gedrängtes. Dann wird man sich der Grenzen des Vergangenen und der bisherigen Interpretationen des Vergangenen bewusst. Man will weg aus Engführungen und kleinlichen Debatten der Spezialisten.

Das gilt auch für die Erinnerung an den Reformationstag 31.10. 2014:

Für den Philosophen G.W.F. Hegel war die Reformation Luthers „die Hauptrevolution“, so schreibt er in seiner „Philosophie der Geschichte“. Hegel teilte die Welt-Geschichte nicht nur „nach Christus“, sondern zusätzlich noch „nach Luther“ ein. Natürlich spielen bei Hegel ideologische und politische Bindungen seiner Zeit, des frühen 19. Jahrhunderts, hinein. Einen wahren Aspekt hat diese Interpretation der Lutherischen Reformation als grundlegender Umwandlung, als Revolution, aber doch. „Jeder Mensch hat nun an sich selbst (also in sich selbst, also in seinem eigenen Geist CM) das Werk der Versöhnung (zwischen Gott und Mensch CM) zu vollbringen“. Der einzelne, „das Subjekt“, ist also unendlich aufgewertet, ist unendlich wichtig, denn „in ihm ist Gott“. Worte, die an Meister Eckart erinnern, ihn erwähnt Hegel. Der Mensch ist also in gewisser Hinsicht mehr als bloßer Mensch. In seinem Geist ist das Unendliche lebendig zugegen. Alles Transzendieren des menschlichen Geistes geschieht nur kraft dieser „Dynamik“.

Gott ist in allen, so die metaphysische Aussage Hegels bzw. Luthers. Noch einmal: Diese Perspektive gilt für alle Menschen. Heutige Theologie und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auf andere Weise können diese Aussage nicht mehr nur auf den kleinen Kreis der Getauften beziehen. Vielmehr: Alle Menschen sind – in christlicher Deutung, die sich natürlich den anderen nicht aufdrängt – mit dem einen Gott und in dem einen Gott verbunden. Jeder und jede auf unterschiedliche Weise, je nach der Kultur, Sprache, Religion usw…

Gott in allen und im allem: Das ist für religiöse Menschen eine Perspektive zum Reformationstag 2014 und später. Sie befreit von den langweiligen innerkirchlichen und „ökumenischen“ Debatten, sie befreit von dem endlosen Streit um Studien und Konsens-Papiere zugunsten der Kircheneinheit, die Theologenkommissionen seit Jahrzehnten produzieren. Dabei wecken sie den Eindruck, Kircheneinheit, was man auch immer darunter verstehen mag, sei Sache von theologischen Gremien, also Sache des Herrschaftswissens einiger Hierarchen und ihrer Haustheologen.

„Gott in allen und in allem“ gilt, und das wäre das „Neue“ als eine Provokation, auch für Menschen, die sich gottlos oder agnostisch nennen. Diese Wahrnehmung und Interpretation der anderen, der Atheisten und Agnostiker, ist keine Arroganz religiöser Menschen, keine Kampfansage, kein Auftrag zur Bekehrung in die Kirchen hinein. Diese Wahrnehmung der „anderen“ kann lediglich behilflich sein, das Denken der sich irgendwie christlich nennenden Menschen friedlich zu bestimmen. Der einst feindlich betrachtete Atheist wird dann der Gesprächspartner, der Mensch, den es absolut zu respektieren gilt.

Aber über diese bloßen Dispute zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden muss man hinauskommen, nette Diskussionen finden als eine Art freundliche Konfrontation von Unterschieden schon seit Jahren statt. Etwas anderes ist freilich die wissenschaftlich fundierte Debatte unter Philosophen. Aber die gut gemeinten christlich–atheistischen Gespräche als Konfrontation der fixierten Meinungen sind in dieser Form eher überflüssig. Das spürte man deutlich bei den Dialogen „Vorhof der Völker, die der Vatikan mit Atheisten (etwa auch in Berlin) organisierte.

Jetzt kommt es darauf an, im Rahmen einer erweiterten, neuen Reformation, die Gemeinsamkeit von Glaubenden und Nichtglaubenden zu erkennen und praktisch zu leben. Denn Glaubende und Nichtglaubende (Atheisten usw.) haben als gemeinsame (!) geistige Basis, dass sie Suchende, Fragende, Zweifelnde sind. Denn auch religiöse Menschen, auch Christen, „haben“ ja niemals Gott, sind immer auf der Suche, fragend, nach dem göttlichen Gott…Es geht also um den Dialog und die Praxis unterschiedlicher Zweifler und Suchender. Es geht letztlich darum, am jeweiligen Zweifel noch einmal zu zweifeln, um daraus eine gemeinsame geistige, philosophische oder möglicherweise neue religiöse Ebene zu entdecken. Und um gemeinsame politische Aktionen zu starten, um gegen die militanten Nihilisten, diese Mörderbanden, die Zerstörer aller Kultur und Lebendigkeit, anzugehen. Es gilt also, eine Ökumene der Zweifler, der Humanisten, ob religiös oder nicht, zu fördern und vor Ort zu leben und zu beleben.

Daneben drängt sich eine weitere Thematik auf im neuen Gedenken an die Reformation Luthers. Bisher wird eben fast nur mit viel Aufwand an Luther erinnert und leider nicht ausführlich an die mutigen Theologen, die ihm sozusagen den Mut gaben und den Boden bereiteten, etwa Petrus Valdes und die Valdenser oder Jan Hus aus Prag. Auch die Konzeptionen eines humanistischen Christentums durch Erasmus und später durch die Remonstranten (und ihre heutige freisinnige Kirche) stehen absolut im Hintergrund. Unverständlich bleibt auch, warum nach dem Ende der DDR fast kein Theologe und Kirchenmann (keine Kirchenfrau) es mehr wagt, Thomas Müntzer, den großen Zeitgenossen Luthers, diesen Theologen der sozialen Befreiung, überhaupt zu erwähnen. Wo bleiben die -kritischen- “Müntzer Tage” oder “Müntzer Kongresse” bei all den vielen Luther-Feierlichkeiten?

Der Religionsphilosophische Salon wird jedenfalls einen Salon über das humanistische Christentum und über Thomas Müntzer im Jahr 2015 veranstalten.

Coypright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Leere Kirchen – lebendige Spiritualität. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Leere Kirchen – Lebendige Spiritualität?

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Von Christian Modehn

Besonders im Sommer, im Urlaub, besuchen viele Menschen während der Woche Kirchen, leere Kirchen, in denen im Augenblick kein Gottesdienst stattfindet. Viele laufen bloß neugierig herum, etliche, so meine Beobachtung, ruhen sich aus, verweilen, sammeln sich, beten vielleicht auch.

Was macht aus Ihrer Sicht den Charme leerer Kirchen aus? Fördern Sie irgendwie die individuelle Spiritualität, das stille Suchen nach dem eigenen Weg?

Leere Kirchen reduzieren die Nebengeräusche. Es gibt weniger Störungen von außen. Man muss sich vor allem nicht auf ein Geschehen einlassen, das, wie es bei jedem Gottesdienst der Fall ist, besondere Verpflichtungen einschließt. Wird in einer Kirche Gottesdienst gefeiert, dann werde ich konfrontiert, mit liturgischen Formeln, Chorälen, Predigten, gar sakramentalen Handlungen wie dem Abendmahl, der Eucharistie oder der Taufe. Sofort bin ich gezwungen, mich irgendwie zu dem zu verhalten, was da geschieht. Das kann aufregend und anregend sein. Das kann ärgerlich oder langweilig sein. Wie auch immer, ich bin dazu gezwungen, mich mit Zumutungen von außen auseinanderzusetzen. Aber vielleicht wollte ich genau dies nicht, sondern einfach nur die Kirche besichtigen, weil sie kunsthistorisch wertvoll ist, weil sie ein ästhetisch beeindruckendes Raumerlebnis verspricht, vielleicht auch nur, weil es in ihr an heißen Sommertagen so schön kühl ist.

Etwas anderes kommt hinzu, in der Regel ist es eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert. Wenn ich zu dieser Gemeinde nicht gehöre, fühle ich mich fremd, vielleicht sogar als Eindringling in eine vertraute Gemeinschaft. Da will ich nicht stören. In einer leeren Kirche bin ich willkommen, sofern ich mich still und rücksichtsvoll verhalte.

Das Wichtigste scheint mir zu sein: Leere Kirchen lassen sich zum privaten Meditationsraum machen. Wenn es ästhetische ansprechende Räume sind, verbreiten sie eine sakrale Aura. Sie schaffen eine Atmosphäre, die zur Andacht einlädt. Sie öffnen unser Herz, weiten unseren Verstand, ergreifen uns mit allen unseren Sinnen. Dadurch stimulieren sie unser religiöses Gefühl. Das ist das Gefühl jener Selbstvertrautheit, die all unseren Anstrengungen der Selbstreflexion und Selbstfindung immer schon vorausliegt. In ihm werde ich des Sinnes gewiss, der mein Leben trägt, kann mir die Nähe Gottes aufgehen, bin ich ohne Anstrengung zugleich ganz bei mir. Ich finde mich gleichsam passiv in mich selbst und den mich tragenden göttlichen Grund eingesetzt.

Leere Kirchen aktivieren das religiöse Gefühl. Sie laden ebenso zu dessen reflexiver religiöser Deutung ein. Dann sagen Menschen, dass sie an diesem heiligen Ort sich selbst und Gott gefunden haben. So kann sich gerade in leeren Kirchen ereignen, was schon Augustin in den Confessiones als das Motiv wie als das Ziel der Selbst- und Sinnsuche beschrieb: “Mein Herz ist unruhig, bis dass es Ruhe findet, o Gott, in Dir“.

Viele leere Kirchen, gerade hier in der Mark Brandenburg oder Mecklenburg, sind nur als begehbare Ruinen erhalten, etwa das ehemalige Kloster Chorin. Diese Orte und auch bloß notdürftige reparierte Dorfkirchen finden viel Interesse bei Besuchern. Spüren diese Menschen vielleicht, dass diese Kirchenruinen Symbole sind für untergegangene alte und veraltete Glaubenformen? Sind diese Kirchenruinen ein stiller Hinweis auf den eigenen, zerbrochenen Glauben, der vielleicht nach Neuem Ausschau hält?

Schon der Romantiker Caspar David Friedrich hat am liebsten zerfallende Kirchen gemalt. Heute erst recht sind Kirchen für viele Menschen Denkmäler. Sie steht für die Kultur der Erinnerung an Zentren geistlichen Lebens oder symbolisieren das ideelle Zentrum eines Dorfes. Deshalb kümmern sich in Brandenburgs oder Mecklenburgs Dörfern die Kirchbau- und Kulturvereine um den Erhalt der Kirchen. Sie wollen dort nicht wieder Gottesdienst feiern. Aber das Gebäude ist ihnen wichtig, weil es für den verlorenen Mittelpunkt des Dorfes steht.

Dieses erstaunlich breite Interesse an der Erhaltung alter Dorfkirchen wollen jedoch, ebenso wie die touristische Aufmerksamkeit, die Kirchenruinen finden, das soll noch tiefer verstanden sein. Es geht den Menschen, die diese Kirchen besichtigen und erst recht denen, die sie erhalten, nie nur um das kulturelle Gedächtnis. Für sie spielt, auch wenn sie ansonsten ganz unkirchlich sein mögen, eine enorme Rolle, dass es Kirchen sind, Orte des Glaubens. Diese lassen eine fromme Erinnerung lebendig werden werden: Da muss doch einmal ein Glaube gewesen sein, der den Menschen viel bedeutete, ihnen Halt gab und sie über das Geschäftliche hinaus in einer geistigen Tiefe miteinander verbunden hat!

So wecken die Kirchen, selbst wenn nur noch die Grundmauern stehen, eine heilige Wehmut: Es könnte vielleicht doch sein, dass uns Heutigen etwas fehlt. Das wäre das Zugeständnis einer Sehnsucht nach Religion, nach einem unbedingt verlässlichen Lebensunterhalt, nach einer bergenden Gemeinschaft, nach einem Gott, der die Liebe ist.

In vielen großen Kirchen finden gerade in den Sommermonaten Konzerte statt. Sind diese oft gut besuchten Veranstaltungen „nur“ Kulturveranstaltungen oder haben sie – gerade in diesen Räumen – auch eine spirituelle oder religiöse Dimension? Sind Musikveranstaltungen oder Lesungen oder Ballett in den Kirchengebäuden nicht eigentlich Gottesdienst?

Je deutlicher wir darauf aufmerksam werden, welch enorme Bedeutung das Gefühl in der Religion spielt, desto besser verstehen wir auch die religiöse Tiefendimension, die die Ästhetik der Kirchenbauten und Kirchenräume öffnet. Wir können uns dabei die innere Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung klar machen. Ästhetische Erfahrung, wie wir sie im Hören von Musik oder in der Begegnung mit Werken bildender Kunst machen, ist sinnlich vermittelte Sinnerfahrung. Sinnliche Sinnerfahrung, in der uns die Welt ebenso beglückend wie verstörend entgegenkommt. So macht die Kunst uns auf die Ambivalenz von Sinn aufmerksam. Sie fordert unsere Sinndeutung heraus. Dabei kommt den kirchlichen Räumen eine wichtige Rolle zu. Sie motivieren die religiöse Deutung der ästhetischen Erfahrung und ermöglichen den Umgang mit ihren Ambivalenzen.

Die in Kirchenräumen zur Aufführung kommende Kunst schließt das kulturelle Gedächtnis an die religiösen Deutungswelten biblischer Sprache an wie auch an die Ikonographie der christlichen Überlieferungen. Selbst wenn die Kunst den alten Glauben nicht erneuern kann, macht sie doch den spirituellen Sinn für Tiefenschichten bewusst, an dem teilzuhaben die kirchlichen Räume einst Gelegenheit boten.

So halten die alten Kirchen, gerade dann, wenn geistliche Musik in ihnen zur Aufführung kommt, die Ahnung lebendig, dass im Ganzen der Welt ein Sinn ist, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Käme diese Musik im Konzertsaal zur Aufführung, so würden wir sie dort nicht in der gleichen Weise erleben. Kirchengebäude öffnen Menschen, so säkular sie auch eingestellt sein mögen, für die spirituelle Tiefendimension ihrer Existenz. Besonders wenn die Werke Johann Sebastian Bachs in den alten Kirchen aufgeführt werden, stellt sich das Empfinden ein: Auch wenn wir unser eigenes Leben und schon gar die Welt, zu der wir gehören, nie ganz verstehen, wir können doch nicht in ihr verloren gehen.

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 17.August 2014

Religion vor der Herausforderung der Vernunft. Zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas

Religiöser Glaube vor der Herausforderung der Vernunft

Hinweise zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas am 18. Juni 2014

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 15. Juni 2014

Zum 80. Geburtstag (2009) wurden schon einige Hinweise zu den Auseinandersetzungen von Jürgen Habermas mit Religionen und Glauben publiziert. Wir weisen noch einmal auf diesen Text hin. Klicken Sie zur Lektüre hier.

1.

Aus dem umfassenden und grundlegenden Denken des Philosophen Jürgen Habermas möchte der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ erneut nur auf einen Aspekt seiner neuen Arbeiten hinweisen, auf die Rolle, die Religionen in den postsäkularen Gesellschaften Europas spielen können sowie auf die Frage, welche Form des Umgangs mit fundamentalistischen, also demokratiefeindlichen Religionen gelten sollte. „Postsäkular“  bedeutet, dass die von vielen (Soziologen) erwartete totale Säkularität nicht eingetreten ist. Religionen sind heute öffentlich sichtbar und auf vielfache Weise lebendig (und gefährlich).

2.

Dabei beziehen wir uns auf einen eher kurzen Aufsatz von Jürgen Habermas mit dem Titel „Politik und Religion“. Er ist in dem – insgesamt empfehlenswerten – Buch „Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart“ erschienen, Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier haben es im C.H. Beck Verlag 2013 herausgegeben. Ausgangspunkt für Habermas ist die Gesellschaft, die er postsäkular nennt, also eine Gesellschaft, die sich entgegen vielfacher Erwartungen nicht zu einer totalen Säkularität (oder bis hin zur umfassenden Gottlosigkeit) entwickelt, sondern in der das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften und religiösen Lebens offenkundig ist.

Seit mehr als 15 Jahren bietet Habermas Interpretationshilfen, um diese postsäkulare Gesellschaft zu verstehen. Einerseits ist für ihn unbestreitbar, dass der auf Vernunftgründen gebaute, also keiner bestimmten religiösen Tradition verpflichtete Staat, den man immer noch „säkular“ nennen muss (die Gesellschaft ist aufgrund der vorhandenen religiösen Vielfalt post – säkular, nicht der Staat!), gestärkt und verteidigt werden muss.

Religiösen Fundamentalismus kann der liberale Rechtstaat nicht zulassen. Er würde sich aufgeben, wenn eine bestimmte Religion ihre aus Offenbarungen entnommenen Weisungen unmittelbar ins politische und staatliche Leben übertragen würde. Das wäre das Ende eines auf Toleranz und Respekt vor den anderen Überzeugungen gegründeten liberalen Staates.

3.

Allerdings drängt Habermas auch in dem genannten Aufsatz/Vortrag auf eine differenzierende Haltung: In einem liberalen Staat müssen alle Bürger sich öffentlich und vernünftig äußern können, eben auch religiöse Bürger. „Religionsgemeinschaften dürfen, solange sie in der Bürgergesellschaft eine vitale Rolle spielen, nicht aus der politischen Öffentlichkeit in die Privatsphäre verbannt werden“ (S. 289 in dem genannten Buch von Graf/Meier). Das heißt konkret: Zu den in Staat und Gesellschaft heftig diskutierten Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe usw. dürfen sich selbstverständlich religiöse Bürger auch mit ihrer, aus der Religion stammenden Sicht zu diesen Themen äußern. Allerdings, und das ist für Habermas entscheidend: Wenn diese religiösen Beiträge von religiösen Bürgern auch in die „Agenden staatlicher Entscheidungsorgane Eingang finden“ (S. 290), dann müssen diese religiösen Beiträge, so Habermas wörtlich, ÜBERSETZT werden  in einen „allgemein zugänglichen (von Glaubensautoritäten unabhängigen) Diskurs“ (ebd.) Das heißt: Religiöse Inhalte, die politisch relevant werden sollten, müssen in die allgemeine Sprache aller Bürger und ihrer Gesetze gestaltet, übersetzt werden. Mit anderen Worten: Die esoterische Sprache der Religiösen muss ins Allgemeine, allen zugängliche Vernünftige, eben “Exoterische” übersetzt werden, um einmal mit den beiden Begriffen esoterisch und exoterisch zu spielen.

Jürgen Habermas betont abermals in aller Deutlichkeit: „Wenn die liberale Verfassungsordnung …Legitimität beanspruchen können soll, dann müssen sich grundsätzlich ALLE Bürger, auch die religiösen, von der Vernünftigkeit der Verfassungsprinzipien überzeugen können“ (ebd.) Das heißt: Den religiösen Bürgern wird in einer liberalen Demokratie zugemutet, dass sie die „allein auf Vernunft gestützten Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaat jeweils auch aus ihrem Glauben heraus begründen“. (S. 291).

4.

Jürgen Habermas ist alles andere als fromm geworden, wie manche Beobachter etwa nach dem Münchner Gespräch mit Kardinal Ratzinger behaupteten und sich freuten, dass nun ein entschiedener Vertreter der (in kirchlicher Sicht) „bösen“ Aufklärungsphilosophie den Religionen und ihren Lehren entgegen kommt. Er kommt den religiösen Menschen allerdings entgegen. Und er wirbt sogar bei den säkularen Bürgern für ein Verstehen, dass sich die religiösen Bürger um ihre eigenen Offenbarungstraditionen kümmern und sorgen und diese Inhalte auch irgendwie staatlich geltend zu machen suchen. Aber religiöse Inhalte müssen für ihn, um staatlich wirksam zu sein, durch einen „Filter“ (S. 290), der religiöse Esoterik in allgemein nachvollziehbare vernünftige Sprachlichkeit führt.

5.

Es gibt für Habermas keinen Zweifel, dass die Idee von Demokratie und Menschenrechten über jeden Relativismus erhaben ist (S. 292). „Nicht zufällig bedienen sich heute Dissidenten in aller Welt der Sprache von Demokratie und Menschenrechten“ (ebd.). Habermas plädiert erneut für eine „selbstbewusste Verteidigung dieser universalistischen Ansprüche“ (S. 293), auch wenn er wohl weiß, wie diese humanen Prinzipien schnell missbraucht werden können und noch heute missbraucht werden in Gestalt etwa us-amerikanischer imperialer Politik oder einer europäischen “Entwicklungspolitik”, die arme Länder eher abhängig macht als zur Eigenständigkeit führt. Dabei weiß Habermas: Es gab falsche eurozentrische Verallgemeinerungen in Gestalt „imperialistischer Eroberungen und kolonialer Greuel“ (S. 292). Erst die Säkularisierung der Staatsgewalt hat für mehr Frieden gesorgt angesichts der religiösen Gewalt der Konfessionskriege.

6.

An den Prinzipen der Menschenrechte müssen die Menschen festhalten, trotz des offensichtlichen Missbrauchs im Namen dieser Menschenrechte. Was bliebe der Menschheit, wenn man die Menschenrechte fallenlassen und „verabschieden“ würde? Wohl nur das absolute Recht des Stärkeren ohne jegliche Perspektive des Besseren, ohne jegliche Chance, die Mörder usw. zu bestrafen.

7.

Dabei schärft Habermas immer wieder ein: Religiöse Bürger nicht nur als einzelne Bürger zu respektieren, „sondern als Teilnehmer an der gemeinsamen Praxis des öffentlichen Vernunftgebrauches von Staatsbürgern ernst zu nehmen“ (293). Vielleicht finden säkulare Bürger sogar in der religiösen Sprache „Resonanzen eigener verdrängter Intuitionen wieder“ (ebd.). Dadurch ist die Fremdheit zwischen Religiosität und Säkularität nicht so groß!

8.

Zum Schluss empfiehlt Habermas der Philosophie, „den Faden einer dialogischen Beziehung zur Religion nicht abreißen zu lassen“ (299). Dabei führt er zwei pragmatische – politische Argumente ins Spiel: Habermas sieht eine gewisse Schwäche der Vernunftmoral; er fragt, ob sie heute (allein) in der Lage ist, für die Integration vielfältiger Kräfte in der Gesellschaft zu sorgen. Er sieht zudem eine Schwäche der aufgeklärten, philosophisch vermittelten Moral, zu solidarischem Handeln umfassend zu verpflichten. Habermas fragt zudem, durchaus pessimistisch in unserer Sicht, ob die aufklärerische Philosophie nicht einen gewissen Defätismus verbreitet und deswegen als solche kaum in der Lage ist, dem, so wörtlich,  gefährlichen Kapitalismus Widerstand zu leisten, „der die Politik entwaffnet und die Kultur einebnet“ (300).

Dieser Pessimismus, geäußert am Ende des genannten Beitrags, darf wohl nicht so verstanden werden, als sehne sich Habermas nun doch wieder nach der ethischen oder gar politischen Macht der Kirchen und Religionen mit ihren aus den Offenbarungen stammenden Weisungen zurück, bloß weil die Kirchen möglicherweise 1000 Mutter Theresas anbieten könnten. Er will wohl nur ermuntern, die Vernunftmoral selbst stärker zu besprechen, zu hüten und zu pflegen. Kurz, die immer bedrohte Sache der Vernunft zur eigenen zu machen. Was haben wir denn sonst als Ordnungsprinzip in einer zunehmend „verrückt“ werdenden Welt?

9.

PS: Wir empfehlen in dem genannten Buch aus dem C. H. Beck Verlag den Beitrag des Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf, der die „Einleitung“ zu den Beiträgen dieses Buches verfasste. Er plädiert für eine starke moderne liberale Theologie als Form des intellektuellen Widerstandes gegen alle Formen harter, verknöcherter, versteinerter Formen des Religiösen. „Die Bürgergesellschaft braucht argumentativ ausgetragenen Glaubensstreit“ (43). „Wer den dogmatisch Starren, Harten … nicht das religiöse Feld überlassen will, muss mit ihnen streiten, auch über Glaubensfragen“. Schließlich darf man die Deutung der  Religion nicht den antidemokratischen Kräften überlassen. (s. S 44). Die liberale, die vernünftige Religion ist der beste Gesprächspartner und Vermittler in der säkularen Kultur, von der Habermas spricht.

Aber diese liberale, vernünftige christliche Gestalt der Religion hat es schwer, etwa angesichts des esoterischen, in sich geschlossenen charismatischen und fundamentalistischen christlichen Glaubens. In der allgemeinen Verwirrung der Gegenwart, verursacht durch das Zerbrechen einer vernünftigen Ökonomie bei einem schwachen demokratischen Staat, wird Religion wieder eher als rauschhaftes Opium gesucht (und teuer angeboten, siehe die meisten Pfingstgemeinden in Lateinamerika) denn als Form vernünftigen Glaubens, der das Leben im Horizont des Ewigen vorsichtig und nachvollziehbar interpretiert und von Gott eben nicht alles weiß, wie einst und heute die Dogmatik.

10.

Sehr lesenswert ist ebenfalls der „Epilog“ des anderen Herausgebers Heinrich Meier, er arbeittet als Professor für Philosophie an der Universität München und auch in Chicago. Er erinnert u.a. daran, wie die Philosophie seit dem Mittelalter von der dominanten Theologie und Kirche „domestiziert“ und „neutralisiert“ wurde, und als „selbständige Lebensweise“ (S. 311) verloren ging. Aber das ist ein weiteres Thema, auf das der Religionsphilosophische Salon zurückkommen wird.

Zur weiteren Lektüre:  Wer noch einmal grundlegende, eher kürzere Texte zum Thema „Habermas und die Religionen im Zusammenhang der Vernunft“ lesen möchte: Die Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 mit dem Titel „Glauben und Wissen“ ist im Suhrkamp erschienen und kostet nur 5 Euro! Fast eine Pflichtlektüre!

11.

In dem Buch „Über Habermas“ (hg. von Michael Funken) aus dem Primus Verlag (2008) ist ein schönes Interview mit Jürgen Habermas unter dem Titel „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“ (Seite 181-190) veröffentlicht. Diesen Titel sollte man im Kopf haben, wenn man an den Disput von Habermas in der Philosophischen Hochschule der Jesuiten in München (Februar 2007) denkt, der unter dem Titel „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ erschienen ist; ebenfalls in der edition suhrkamp.  In dem Buch „Über Habermas“ versucht übrigens der evangelische Theologe (und ehem. Ratsvorsitzende der EKD) Wolfgang Huber eine gewisse Nähe von Habermas zur „evangelischen Form“ (S. 134) des Glaubens herzustellen. Huber schreibt: „Ich bin auch skeptisch, ob das Max-Weber-Zitat vom -religiös Unmusikalischen-, das Habermas in seiner Friedenspreisrede aufgegriffen hat, so umstandslos auf ihn selbst passt“ (S. 133). Habermas dürfte dieser Behauptung von Wolfgang Huber wohl widersprechen.

Copyyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Gott um Gottes willen lassen: Zum Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon über Meister Eckart Salon am 30.5.2014

Gott um Gottes willen lassen: Hinweise zu Meister Eckart (1260 bis 1328)  anlässlich des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons am 30.5. 2014

Von Christian Modehn

Der Anspruch des Philosophen (und Mystikers) Meister Eckart ist radikal; auch heute, in einer von religiösen Institutionen geprägten Szene, die noch oft Formen der Herrschaft über den einzelnen religiösen Menschen ausüben. Meister Eckart, der Priester im Dominikanerorden, der hoch gebildete Philosoph und Theologe, zeigt mit Argumenten: Jeder Mensch ist mit dem Göttlichen und dem Ewigen bereits „von aller Ewigkeit her“ verbunden, er ist mit dem Göttlichen eins; der Mensch muss nur diese göttliche Dimension in sich zulassen, freilegen und im Alltag leben. Dies ist der „einzige, der zentrale Gedanke“ Meister Eckarts, dem alle seine Energie als Lehrer und Prediger gilt. Grundlage dafür mag seine persönliche intensive Gottes-Erfahrung sein, die manche mystische Erfahrung nennen. Andererseits ist das Argument bei Eckart so stark und der Hinweis darauf, dass das Göttliche Vernunft, Geist, ist, so deutlich: Dass die Göttlichkeit des Menschen, jedes Menschen, eben doch selbst auch Denken, Vernunft, ist. Warum soll es denn keine „Erfahrung des Denkens“ geben, die den Menschen tief prägt? Eckart erinnert zurecht daran: Was nützt es einem Menschen, der de facto König ist, aber nicht weiß, dass er König ist? Erst das Wissen von sich selbst verändert die “Lebenseinstellung”.

Dies ist die einfache und immer wieder ausgearbeitete Überzeugung Eckarts: Der einzelne und alles in der Welt ist mit Gott verbunden, ist mit Gott eins. Dies ist das Zentrum von Eckarts Theologie der “Schöpfung”!  Im Wesen eines jeden Menschen ist ein göttlicher „Kern“ bereits anwesend. Eckart spricht auch von Seelenfunken“. „Da liegt die Gottförmigkeit des Menschen“ (Quint).

Dieser göttliche, ewige „Kern“ kann durch das reflektierte Handeln der Menschen wirksam werden. Schritte dahin geschehen im Alltag des Menschen: Loslassen von irdischen Bindungen, von Haben, wie Erich Fromm in „Haben oder Sein“ sagt, zugunsten einer Haltung, die das Sein respektiert. „Dieser Funke will nichts als Gott“ (Quint). Er kann zum „Erglühen“ gebracht werden, also wirken, indem er den Menschen die Distanz lehrt zu aller Verklammerung ans bloß Irdische. Der Mensch lässt nicht nur das absolute, krampfhafte und krankhafte Gebundenheit an die Dinge; er wird also im Loslassen frei. Eckart nennt das „arm“, er wird leer von den Dingen, und gewinnt so die Weite des Denkens und Lebens wieder. Er wird eigentlich erst im wesentlichen Sinne lebendig.

Dieser Gedanke Eckarts ist alles andere als “bloß” philosophische Spekulation: Er hat enorme Auswirkungen für den Menschen etwa angesichts der Todesverfallenheit. Anders gesagt: Wer selbst Ewiges und Göttliches in sich „hat“, ist allem Fluss der Zeit enthoben, d.h. er ist ewig. Der Tod ist dann nicht mehr das Fallen in ein tiefes dunkles „Loch“ , ist kein „Schluss, Ende, Aus“.  Eckart hat also die Auferstehungsdimension des Glaubens gedanklich gestaltet und plausibel erklärt. Dadurch dass der Mensch immer schon mit Gott eins ist, ist er als Mensch immer schon auferstanden.

Dadurch erhält das Leben hier in dieser Welt ein anderes Licht. Man macht sich vielleicht keine Vorstellungen von der radikalen, die Wurzeln des Christentums berührenden Erkenntnis Eckarts: Wenn Gott in jedem Leben bereits lebt, seit Anbeginn, in aller Ewigkeit schon, wird die Institution, die Kirche, sehr relativ, und nicht mehr so wichtig. Das hat ja auch damals schon die Bischöfe und Päpste so aufgebracht an der Überzeugung Eckarts;  das führte schließlich zum Ketzerprozeß in Avignon. Hingegen kann im Sinne Eckarts die Gemeinschaft der Denkenden und auf diese Weise Glaubenden als (Gesprächs)-Gemeinschaft wichtig bleiben und hilfreich sein.

Noch einmal: Jesus Christus ist für Eckart nicht der einzige Sohn Gottes. An seinem (historischen) Leben entdecken wir nur, dass alle Menschen Töchter und Söhne Gottes sind, d.h. selbst in Gottes Leben gehören. (Nebenbei: Hier wären Verbindungen zu ziehen zur Christologie Karl Rahners und zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels)

Der Mensch ist also Gott gegenüber kein Knecht, er gehört zu Gott. Von daher ist auch für Meister Eckart auch das Bittgebet eher sinnlos: Wer selbst zu Gott gehört, braucht nicht Gott noch etwas zu bitten. Er ist sozusagen immer „bestens aufgehoben“. Wer Bittgebete noch spontan spricht, bittet dann sozusagen, zu sich selbst, er bittet sich selbst, bei Vernunft zu bleiben und an dieser Dimension der Gottverbundenheit doch festzuhalten.

Es gibt also die alltägliche Lebenswelt, in  der der einzelne noch nicht auf seine göttliche Dimension achtet und sich dann auch nach Menschenart seinen Gott schafft. In dieser Welt bildet der Mensch sich sein Bild von Gott, das auch in religiösen Texten bezeugt wird. Dieses Bild ist eben begrentes Bild, das es zu lassen, loszulassen,aufzugeben, gilt. Gott um Gottes willen lassen, heißt die entscheidende Aufgabe. Ich schiebe meinen (irdischen) Gott beiseite, weg, fort… zugunsten des wahren Gottes, der “Gottheit”, wie Eckart sagt.

Dieser Gott im weltlichen Leben muss als relativer dann auch losgelassen, aufgeben werden. Die Menschen müssen dieses Gottes quitt sein, ledig sein, wie Eckart immer wieder sagt, zumal in der deutschen Predigt “beati pauperes”. . Man könnte durchaus von einer gewissen Gottlosigkeit sprechen. In jedem Fall ist der wahre göttliche Kern so stark im Menschen, dass er dem Menschen sozusagen hilft, die geschaffenen Gottesbilder fortzulassen, wegzuschieben usw. Mit sehr eindringlichen Worten beschreibt Eckart diesen Prozess. Ich muss alles hinauswerfen, was selbstisch ist in mir, sagt Eckart; auch meine Gottesbilder sind noch viel zu selbstisch, viel zu eng, viel zu oberflächlich. Sie können zu Götzen werden, die mein Dasein gerade nicht in die Freiheit führen!  Es ist hier die weiter zu diskutierende Frage, ob diese Gottesbilder selbst noch der biblischen Tradition, der kirchlichen Lehre angehören. Wir haben den Eindruck, dass selbst die kirchlich propagierten Gottesbilder noch wegzulassen und aufzugeben sind im Sinne Eckarts. So radikal war er ja, dass er, mit Tillich gesprochen, den Gott ÜBER Gott, eben die Gottheit andachte.

Diese Befreiung von Gott ist von unglaublicher Radikalität. Sie klingt also durchaus nach einem christlichen Atheismus; das ist dies auch in gewissem Sinne. Eckart weist aber weiter, er weist den Weg von diesem verabschiedeten Gott hin zur Gottheit. Nietzsche spricht von dem durch Menschenhand getöteten Gott. Aber Nietzsche weist nicht mehr den Weg zur Gottheit, sondern zum Übermenschen und der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen….

Wer seinen Gott im Sinne Eckarts gelassen und aufgegeben hat, ist ARM. Es ist bezeichnend, dass der Dominikanermönch Meister Eckart das Ordensgelübde der Armut nicht in materieller Bescheidenheit sieht, nicht im materiellen Verzicht, sondern sozusagen in einem Aufgeben des irdischen Gottesbildeszugunsten des wahren Gottes, mit dem der Mensch “immer schon” als Sohn/Tochter eins ist und verbunden ist. Wir haben den Eindruck: Sehr viele Bibelstellen, sehr viele kirchliche Lehren, deutet Eckart im Licht seiner Überzeigung: dem wahren Gott, der “Gottheit”, nachzustreben…

Wird der “irdische Gott” gelassen, losgelassen, fortgeschobem wie auch immer, dann ereignet sich für Eckart die „Geburt“ des Logos, des Gottessohnes in mir. Eckart spricht auch von dem entscheidenden „Durchbruch“ als dem Abschied von Gott hin zur Gottheit. In der Gottheit bin ich und sind alle Wesen eins mit Gott. Eckart spitzt den Gedanken weiter zu: Wir sind selbst Gott, INSOFERN wir Söhne und Töchter Gottes sind, wie Eckart provozierend sagt. Diese Überzeugung wurde von der Amtskirche verworfen. Eckart, der große christliche Denker, steht bis heute im „Geruch“ der Irrlehre. Diese eilige Behauptung kann aber blind machen für den wahren Gedanken Eckarts. Und bis heute gibt es leider kaum religiöse Orte, Gebäude, Klöster, die seinen, Eckarts, Namen tragen. Die Allmacht der kirchlichen Institutionen ist überdeutlich, radikales Denken ist unerwünscht…

Für heutige Menschen, die immer noch auch das Christentum als Herrschaft von Dogmen und Klerus, als Herrschaft von Institutionen und Lehren usw. erleben, ist die Überzeugung Meister Eckarts eine Befreiung. Als ob man aus einem dichten Waldgestrüpp ins Freie tritt und erst dann ahnt, was eigentlich gemeint ist mit der Lehre von der Liebe Gottes zu allen Wesen.

Alles kommt im Sinne Eckarts darauf an, in dieses ewige Leben der Gottheit zurückzukehren. Er spricht von Wiedergeburt, neuer Geburt. Josef Quint erinnert zurecht an „Stirb und werde“; lass den alten Menschen sterben und werde dann der neue Mensch. Dieser neue Mensch ist „im Wesen“ der (nun bewusst gewordene) frühere Mensch, der ich eigentlich immer schon war.

Dieses Innewerden des Göttlichen in mir, diese Neugeburt, ist nach Eckart jedem Menschen erfahrbar. „Kein Mensch ist so grobsinnig, dass er das nicht versteht“, so Eckart. Und wer es nicht versteht, “bekümmere sich nicht”, tröstet Eckart. Voraussetzung für das Verstehen des naturgemäß schwierigen Werkes des im Mittelalter lebenden, aber modernen Philosophen Eckart ist nur die Einsicht: Selbst wenn man heute sich als Materialist versteht, dann ist dies eine Glaubensentscheidung, keine Wissenschaft, ist eine Möglichkeit, mehr nicht. Ob gut begründet, ist die weitere Frage. Eckart versucht unter der Annahme des erfahrenen Gottes ein grundlegend anderes Konzept, mit guten Gründen, als Gesprächseinladung an alle, auch außerhalb des Christentums.

Der göttliche Gott, die Gottheit, wie Meister Eckart auch sagt, ist reiner Geist, umfassend, ewig, die ganze Welt in sich begreifend. Die Gottheit nennt Eckart auch „stille Wüste“, um andeuten, wie wenig tatsächlich von dieser Gottheit gesagt werden kann aus der Situation des irdischen Menschen.

Wird durch Eckart nun alles Weltliche, alles Leibliche usw. abgewertet? Er selbst schätzt ausdrücklich das weltliche Leben. Er war viel beschäftigt in seinem Orden, als Provinzial, als Lehrer der Theologie, als Prediger, als Organisator usw.. Eckart unterstützt das aktive Tun auch theologisch, etwa am Beispiel der Gestalt Marthas, die er in ihrer umfassenden Fürsorge mehr schätzt als die bloß fromme, mystisch verzückte Maria. Für Eckart gibt es nichts Größeres als die Nächstenliebe und die Hilfe für die Armen. Die Mystiker sollen aufhören zu beten, wenn sie einen armen Menschen sehen, sie sollten anstelle des Gebets helfen, sagt er wörtlich. Eckart war ein sozialer Denker, darauf hat der Spezialist Dietmar Mieth hingewiesen.

Diese Verbindung mit den Dingen und den Menschen in der Welt ist gut, weil auch darin das allumfassend Göttliche anwesend ist. Aber: noch einmal: Zur Erkenntnis dieser von Gott umfassten Wirklichkeit kommt eben nur der gebildete Mensch, der sich aus der Verklammerung an die Welt befreit hat. Hier spielt die Dialektik rein: Annahme und Distanz zur Welt, zum Leib, zum „Ich“.

Wie kann diese Philosophie ins Heute, ins heutige Erfahren und Denken, übersetzt werden? Hat sie Sinn für Menschen, die Mühe haben, von Gott und Gottheit zu sprechen? Wäre die alles gründende Sinnzuversicht die „Gottheit“, dieses Wissen von einem letzten Sinn, der unser aller Sein prägt und trägt…trotz allem? Wäre die Dimension des Göttlichen erfahrbar in den Momenten, wo wir das Gefühl haben, aus der Zeit herauszutreten und ganz gegenwärtig und ganz in der Gegenwart zu sein? Liegt das Unverständnis vieler Zeitgenossen für diese Philosophie Eckarts auch daran, dass sie sozusagen in einer materialistischen Welt längst versinken? Gibt es eine zeitbedingte Blindheit für „metaphysisches“ Philosophieren? Wie könnte diese kulturell bedingte Blindheit korrigiert werden? Sind die religiösen Institutionen, etwa die Kirchen, selbst Orte, wo man das Loslassen der Dinge und das sich Befreien von dem irdischen Gott und seinen Bildern einübt? Fördern die Kirchen aber selbst, auch im Klerus, das egozentrische Klammern, das Anhäufen von Besitz, (siehe Limburg, siehe Vatikan etc.), dann geben sie keinen Raum mehr frei für den göttlichen Gott. Sie werden, wie Nietzsche treffend sagte, zum Grab Gottes.

PS: In unserem Salon am 30.5. bezogen wir uns vor allem auf die Predigt „Beati Pauperes“, „Selig die Armen in Geiste“. Sie nennt einer der Eckart Spezialisten,  Josef Quint, „die tiefsinnigste und klügste Predigt Eckarts“.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.

 

 

 

 

Jeder Mensch hat seinen Gott. Für ein neues Verstehen des Atheismus. Text einer Ra­dio­sen­dung

Der folgende Beitrag ist der Text einer Ra­dio­sen­dung auf NDR Kultur am 25. Mai 2014 um 8. 40 Uhr in der Reihe “Glaubenssachen”:

“Jeder Mensch hat seinen Gott”. Für ein neues Verstehen des Atheismus‘

Von Christian Modehn

Redaktion: Dr. Claus Röck, Norddeutscher Rundfunk, Religion und Gesellschaft, Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22, 30169 Hannover

www.ndr.de/ndrkultur

– Unkorrigiertes Manuskript -Zur Verfügung gestellt vom NDR. Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR.

………………….

Sprecher:

Immer mehr Menschen in Europa nennen sich Atheisten. Das Gottesbild der Bibel halten sie für eine Illusion, die dogmatischen Lehren und moralischen Weisungen der Kirche lehnen sie ab. Repräsentative Umfragen und religionssoziologische Untersuchungen dokumentieren den aktuellen religiösen Wandel.

Sprecherin:

Vor 30 Jahren galt Spanien noch als ausschließlich katholisch geprägtes Land. Heute nennen sich bereits 10 Prozent der Einwohner Atheisten. In Frankreich ist jeder Dritte ungläubig, ebenso viele sind es in den Niederlanden, in Böhmen sind es sogar 70 Prozent. In Polen wurde bei den dortigen „Tagen des Atheismus“ mitgeteilt, dass sich jeder Zehnte Einwohner gottlos nennt.

Sprecher:

In Deutschland ist jeder Dritte konfessionslos. Dazu gehören unkirchliche, doch spirituell interessierte Menschen, aber auch Skeptiker, Agnostiker oder militante Atheisten. Gläubige wie Ungläubige sind oft zugleich auch Anhänger esoterischer Lehren, wie der Astrologie oder der Rückführung in vormalige Leben. Für den Gott der Bibel gibt es dann nur noch selten Interesse.

Sprecherin:

Man könnte sich mit dieser Analyse der religiösen Situation schnell abfinden. Einige Beobachter sehen darin tatsächlich den Untergang des christlichen Abendlandes. Andere jubeln im Geist der philosophischen Aufklärung, weil bislang übliche religiöse Bindungen nun von persönlicher Freiheit und Wahlmöglichkeit abgelöst werden.

Sprecher:

Gibt es einen Ausweg aus dieser abstrakten Gegenüberstellung von gläubig oder ungläubig, von religiös oder atheistisch? Sind die Gesellschaften Europas so tief gespalten, dass keine gemeinsame weltanschauliche oder philosophische Basis mehr vorhanden ist? Europa sollte doch mehr sein als ein Wirtschaftsverband.

Sprecherin:

Dass die Europäer zunehmend als ungläubig oder atheistisch angesehen werden, gilt nur dann, wenn man Atheismus sehr eng definiert. Nämlich als die entschiedene und bewusst formulierte Ablehnung des Gottesbildes der Kirchen. Gegen diese Festlegung wehren sich heute immer mehr Menschen. Umberto Eco zum Beispiel, weltweit bekannter Autor aus Italien und Professor für Semiotik, nennt sich selbst in einer neuen Konfessionsbeschreibung „weltlich religiös“. Er betont in dem Buch „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“:

Zitator:

Ich bin Agnostiker, weiß also nicht genau, ob es Gott gibt. Ich bin aber fest überzeugt, dass es eine weltliche Religiosität gibt, also einen Sinn für das Heilige, und den gibt es, auch wenn ich nicht an einen personalen und alles vorhersehenden Gott glaube.

Sprecher:

Die Bindung an etwas Heiliges ist der Mittelpunkt dieser weltlichen Religiosität. Und die entdecken viele Menschen nicht in ekstatischen Erlebnissen oder mystischen Verzückungen. Sie erfahren Heiliges, Erhabenes, Transzendentes nicht in Tempeln, Kirchen oder Klöstern, sondern inmitten ihres alltäglichen Lebens.

Sprecherin:

Gläubige wie auch ungläubige Menschen sind erstaunt, tief berührt oder gar erschüttert, wenn sie beim Spaziergang innehalten und sich ganz in die Pracht der Kirschblüten versenken oder die Lichtung im Wald. Oder wenn sie am Meer verweilen und die Weite des Horizonts bewundern. Unvermittelt ergibt sich dann die Frage: Warum ist das alles, warum ist nicht vielmehr nichts? Für Immanuel Kant gehört die Ehrfurcht vor dem Erhabenen zum Wesen des Menschen. Das Erhabene zeigt sich, so meinte Kant, wenn der Mensch den bestirnten Himmel über sich wahrnimmt und das moralische Gesetz in sich selbst.

Sprecher:

Wer dem moralischen Gesetz, also seinem Gewissen folgt, setzt sich auch für andere Menschen ein, so könnte man heute Kant verstehen. Kann man denn einen Menschen ungläubig nennen, der zum Beispiel einen guten Teil seiner Lebenszeit in humanitären Organisationen einsetzt? Etwa in einer der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, wie den „Ärzten ohne Grenzen“, wo jüngere und ältere Fachärzte mitten in den kriegerischen Auseinandersetzungen Afrikas ihre Hilfen anbieten. Ihren Einsatz können diese Menschen nur leisten, weil sie glauben, dass die Ärmsten der Armen genauso viel Respekt verdienen wie die wohl situierten Bürger in Berlin, Hamburg und anderswo. Dieser Glaube an den unbedingten Wert eines Jeden ist der persönliche spirituelle Mittelpunkt dieser engagierten Menschen, egal, ob sie sich religiös oder atheistisch nennen.

Sprecherin:

Man muss aber nicht immer nach den großen Vorbildern oder Helden Ausschau halten: In der Nachbarschaft leben Menschen, die einem zentralen Wert unbedingt entsprechen wollen, wenn sie etwa angesichts des Leidens und der Not anderer den eigenen Lebens-entwurf radikal umstellen. Man denke an die Frauen und Männer, die sich voller Hingabe der Pflege ihrer Angehörigen oder Freunde widmen. Sie sind überzeugt, dass alte und kranke Menschen besser nicht in Pflegeheimen untergebracht werden sollten, sondern gerade zuhause noch Lebensfreude erleben können.

Sprecher:

Auch diese Menschen folgen einer elementaren Überzeugung, die Philosophen eine Evidenz-Erfahrung nennen: Absolut und unumstößlich schätzen sie den Wert eines jeden Menschen, gerade der Kranken, Ausgegrenzten oder Verarmten. Der österreichisch-amerikanische Theologe und Religionssoziologe Peter L. Berger geht sogar noch weiter, wenn er schreibt:

Zitator:

Ich nenne Phänomene und Verhaltensweisen in unserer alltäglichen, natürlichen Lebenswelt Zeichen der Transzendenz, wenn sie über die enge alltägliche Welt hinaus-weisen. Transzendenz ist hier nicht im üblichen konfessionellen Sinne zu verstehen, sondern als ein geistvolles Überschreiten der Alltagswelt.

Sprecher:

Berger bietet dafür ein eindringliches Beispiel. Er erinnert an die Sorge der Mutter um ihr Kind. Es beginnt nachts zu schluchzen und zu schreien, so sucht es voller Angst die Nähe seiner Mutter.

Zitator:

Sie wendet sich beruhigend ihrem Kind zu, spricht sanfte Worte oder sie singt ihm ein Schlummerlied. Der Grundtenor dieses Verhaltens ist bei allen Menschen derselbe: Hab keine Angst, mein Kind. Alles ist in Ordnung, alles ist wieder gut. So gewinnt das Kind sein Vertrauen in die Wirklichkeit zurück, es kann wieder einschlafen.

Sprecher:

Die Mutter kann ihr Kind nur trösten, weil sie überzeugt ist: Wir Menschen können unserem Dasein in dieser Welt vertrauen, selbst wenn wir nicht alles überschauen und vieles uns auch ängstigt. Es gibt aber in uns eine Energie, eine geistige Kraft, die uns zu solchen Aussagen ermuntert und die Gewissheit schenkt: Die Tröstung meines Kindes ist keine Lüge. Die Mutter lebt in dem elementaren Glauben: Die Dunkelheit der Nacht und das Beängstigende des Lebens sind nicht allmächtig. Dieser Glaube hat nur ein ganz einfaches Dogma: Hab keine Angst, die Welt ist – trotz allem – gut.

Sprecherin:

Diese Religiosität des Alltags hält uns lebendig und inspiriert uns: Sie ist die Basis, auf der eine Bindung an eine Kirche oder religiöse Institution weiter aufgebaut werden kann oder eben auch die Entscheidung für den Atheismus. Diese weltliche Spiritualität, die in uns lebendig ist, wird noch von der abstrakten Gegenüberstellung von gläubig und ungläubig oder von christlich und atheistisch erlebt. Weltliche Spiritualität ist wichtig, weil sie uns erleben lässt, wie wir über das eigene Ego und die begrenzte Welt hinausblicken.

Sprecher:

Philosophen, Sozialwissenschaftler und auch Theologen können diese elementaren religiösen Empfindungen mitten im Alltag nicht übersehen. Der österreichische Sozialwissenschaftlers Thomas Luckmann hat dazu 1967 seine Studie unter dem Titel „Die unsichtbare Religion“ veröffentlicht. Angesichts der Macht der Kirchen als Institutionen sollten auch die vielen Beispiele individueller, also eher unsichtbarer Formen von Religiosität wissenschaftlich gewürdigt werden. Thomas Luckmann

schreibt:

Zitator:

Jeder Mensch hat ein Wertesystem, das für ihn heilig und absolut geltend ist. Heute bilden sich Menschen in ihrer Privatsphäre ihre individuelle Religiosität. So schaffen sie sich Werte und Themen, denen sie eine entscheidende, letzte Bedeutung zuweisen.

Sprecherin:

Diesen Mittelpunkt im Leben entfaltet jeder Mensch auf seine persönliche und individuelle Art, etwa bei der Frage: Worauf freue ich mich am meisten? Welche Gemein-schaft von Menschen erlebe ich als Wohltat, vielleicht sogar als Stärkung, so dass ich immer wieder gern mit ihnen zusammen bin? Wie erlebe ich meine Dankbarkeit für schöne Stunden? Und: Wem oder was kann ich zutiefst dankbar sein?

Sprecher:

Als Mittelpunkt ihres Lebens bezeichnen Menschen auch Hobbys, wie das Fußballspiel mit der geradezu innigen Liebe zu einem Verein; es kann auch der ständige Besuch im Fitness-Studio sein, wo alles für den perfekten Körper getan wird. Zentral für ihr Leben nennen andere ihre Begeisterung für Mozart oder Wagner. Oder ihre völlige Hingabe an die Arbeit, von der nicht nur Manager, sondern auch Künstler und Schriftsteller sprechen. Immer gilt es, einem hoch geschätzten Wert zu entsprechen, dem man sich voller Hin-gabe und Begeisterung zuwendet. Diese intensive emotionale Bindung an das Erhabene nennt man auf Lateinisch „religio“, also Religion.

Sprecherin:

Der Begründer der Soziologie in Frankreich, Emile Durkheim, wollte diese vielfältige Bindung an Werte sortieren, differenzieren und Schwerpunkte setzen: Für ihn ist entscheidend die starke Verbundenheit mit grundlegenden humanen Werten. Sie finden in den allgemeinen und universellen Menschenrechten ihre sprachliche Gestalt. Darin sieht Durkheim die allen gemeinsame Religion der Moderne. Emile Durkheim lebte von 1858 bis 1917; zuletzt war er Professor an der Sorbonne in Paris. Dort hat er die Menschenrechte als etwas Heiliges verteidigt:

Zitator:

Wer auch immer einen Menschen angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu. Die Person hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihrem Gott verleihen. Dieses Gefühl der Abscheu bei Gewalt gegen einen Menschen ist ähnlich dem Gefühl des Gläubigen, wenn er erlebt, wie sein göttliches Idol nicht respektiert wird.

Sprecher:

Natürlich propagiert Durkheim nicht die Anbetung des Menschen durch den Menschen. Er will auch keine neuen Kulte entwickeln, die wie zur Zeit der Französischen Revolution, die Vernunft des Menschen zur Göttin bzw. zum Götzen erklärten. Durkheim denkt nüchtern und kritisch: Wer die menschliche Person heilig nennt, meint ihre unantastbare Würde, den Schutz, die Förderung und die Pflege, die sie absolut verdient. Vor aller konfessioneller religiöser Bindung, so unterstreicht Durkheim, gibt es diese allen gemeinsame Erfahrung der Erhabenheit und Heiligkeit der Person. Und diese Vorschläge wirken noch heute weiter: Etwa bei dem katholischen Soziologen und Philosophen Hans Joas. Er lehrte viele Jahre in Chicago und Freiburg im Breisgau. Vor kurzem erschien sein Buch „Die Sakralität der Person“, darin schreibt er:

Zitator:

Der Glaube an die Menschenwürde ist eine Form, den Menschen als ein heiliges Wesen anzusehen. Ohne diese Überzeugung hätte es nie eine Abschaffung der Sklaverei gegeben. Und aus der Vorstellung einer von Gläubigen und Nichtgläubigen geteilten Erfahrung von Heiligkeit des personalen Lebens ergeben sich heute politische Konsequenzen.

Sprecher:

Von dieser Einsicht in die Heiligkeit der Person lassen sich zahlreiche Theologen inspirieren. Für den protestantischen Theologen Wilhelm Gräb von der Berliner Humboldt Universität ist sie die Basis. Denn nur so können das Fragen und Suchen des einzelnen Menschen absolut ernst genommen werden, meint Gräb. In einem Vortrag zum Thema: „Religion – eine Angelegenheit des Menschen“ sagte er kürzlich:

Zitator:

Wir sollten von der Gleichsetzung loskommen, die darin besteht, Kirchlichkeit und Religion zu identifizieren. Religion ist doch zuerst das gefühlte Vertrauen in den Sinn des Daseins. Und dieses Gefühl haben alle Menschen! Auch wenn also das Wort Gott im modernen Lebenszusammenhang nicht gebraucht wird, machen doch Menschen religiöse Erfahrungen, wenn sie fragen: Was gibt meinem Leben Inhalt und Sinn. Die Theologie muss diese Fragen ernst nehmen. Wir brauchen eine Theologie, die die Menschen völlig respektiert und keine anderen Interessen hat, als den Menschen zur besseren Klarheit über die eigene Spiritualität zu verhelfen.

Sprecherin:

Auch für den katholischen Theologen und Jesuiten Karl Rahner gibt es keinen Zweifel: Alle Menschen machen als geistvolle Wesen auch religiöse Erfahrungen. Damit will er nicht Atheisten und Agnostiker in den Schoß von Mutter Kirche heimholen. Er würdigt nur elementare Formen geistigen Lebens, die als Hinweise auf die Transzendenz zu ver-stehen sind. Karl Rahner betont in seinem Aufsatz „Selbsterfahrung und Gottes-erfahrung“:

Zitator:

Mitten im Alltag ereignet sich eine Erfahrung Gottes. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe macht und das Geschenk einer Begegnung und plötzlich selig erschreckt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird. Darum meine ich: Wenn die Menschen, auch die so genannten Atheisten, unbedingte Treue, absolute Wahrhaftigkeit und selbstlose Hingabe an das Wohl anderer kennen und leben, dann wissen sie irgendwie schon etwas von Gott.

Sprecher:

Beobachter der religiösen Situation in Ostdeutschland melden da ihre Fragen an: War denn nicht die Werbung für den Atheismus und der Kampf gegen die Kirchen in der DDR so stark, fragen Pfarrer und engagierte Christen zwischen Rostock und Chemnitz, dass sich letztlich der Atheismus durchgesetzt hat? Sind diese so genannten Atheisten wirklich irgendwie noch religiös? Heute nennen sich nur 15 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern Christen.

Sprecherin:

Die Leipziger Soziologie-Professorin Monika Wohlrab-Sahr hat bei ausführlichen Befragungen von Bewohnern der ehemaligen DDR entdeckt, dass auch dort bescheidene, aber ungewöhnliche Formen von Transzendenz erlebt wurden: als Überschreitung des alltäglichen Einerleis. In ihrem Buch „Forcierte Säkularität“ schreibt Monika Wohlrab-Sahr:

Zitator:

In den Interviews lobten die Gesprächspartner die damaligen Ideale, etwa den gemeinschaftlichen Zusammenhalt der Menschen in der DDR; sie lobten das Ideal der Ehrlichkeit untereinander in dem kleinen überschaubaren Alltag. Auch das Ideal der Solidarität wurde hervorgehoben. Ausdrücklich betonen die Interviewpartner, dass in ihrer Erinnerung das egoistische Leben nicht so verbreitet war. Man habe mehr füreinander statt nebeneinander gearbeitet, sagen sie.

Sprecher:

Menschen können wichtige Werte und Ideale auch dann hoch schätzen, wenn sie in einer religionsfeindlichen Gesellschaft aufwachsen. Das Bestreben des menschlichen Geistes, sich geistige Mittelpunkte und spirituelle Zentren im Leben zu schaffen, verbindet nämlich alle.

Sprecherin:

Natürlich fördern nicht alle Ideale oder Werte in gleicher Weise die freie, selbst-bestimmte Individualität. Es mag ja im persönlichen Erleben durchaus faszinierend sein, wenn ich mich mit ganzer Hingabe meinem Motorrad widme. Vielleicht spielt da eine Bewunderung für die technischen Leistungen der Menschen hinein, vielleicht sogar ein Respekt vor dem schöpferischen und erfinderischen Geist. Aber es kann auch gefragt werden, ob diese erhöhte Aufmerksamkeit für eine Maschine meine persönliche Entwicklung fördert, mich also zu größerer geistiger Weite und Reife führt.

Sprecher:

Der Philosoph Erich Fromm ist zwar als Psychotherapeut überzeugt, dass jeder Mensch eine intensive Bindung an einen zentralen Mittelpunkt im Leben braucht. Nur so kann er die eigene enge Welt überhaupt ertragen und möglicherweise auch übersteigen, um sie besser und gerechter zu gestalten. Aber für den Psychologen Fromm steht fest: Es sollten niemals irdische Dinge und leibhaftige Menschen so verehrt werden, wie ein Gott. Jeglicher Götzendienst macht den Menschen unfrei und tötet den lebendigen Geist und die Kreativität. Deswegen schärft Erich Fromm seinen Lesern ein:

Zitator:

Der Kampf gegen den Götzendienst kann Menschen aller Religionen und auch Menschen ohne Religionen vereinen, und zwar gerade um der geistigen Freiheit willen und der personalen Entwicklung eines jeden. Bindung an höchste Werte darf nie zum Götzen-dienst werden.

Sprecherin:

Diesen kritischen Hinweisen schließen sich auch Theologen an. Zum Beispiel der Hamburger Jesuitenpater Paul Bolkovac. Bis zu seinem Tod 1993 war er in der Hanse-stadt tätig. Ihn beschäftigte die Frage: Wo sind die Maßstäbe, um das Wertvolle im eigenen spirituellen Leben zu unterscheiden von dem, was mich in den engen Rahmen meines Alltags nur einschließt? Wie kann ich in der Bindung an höchste Werte seelisch gesund bleiben und reifen? Paul Bolkovac schreibt in dem Buch „Atheismus kritisch betrachtet“:

Zitator:

Im praktischen Leben wird deutlich, wofür oder wogegen der Mensch steht. In der Praxis, in den praktischen Interessen, wird sichtbar, ob ein Mensch mit Heiligem zu tun hat oder mit einem Götzen. Maßstab der Erkenntnis ist für mich das Gebot der Liebe zu sich selbst und zum Nächsten. Darum kann man sagen: Wer in seinem praktischen Alltag nichts tut, um das Miteinander und Füreinander der Menschen zu fördern, geht seinen Weg fern von Gott und ohne Gott. Gottlos ist derjenige, der im Egoismus befangen bleibt. Diese Atheisten, also diese Egoisten, gibt es quer durch alle Weltanschauungen, unter Christen wie unter Nichtchristen. Und jeder einzelne Mensch, wenn er Egoist bleibt, bewegt sich in dieser Zone der Gottlosigkeit.

Sprecher:

Die höchsten spirituellen Werte, für die sich die Menschen so vielfältig entscheiden, können also auf ihre Qualität hin befragt und überprüft werden. Das Heilige mitten im Alltag wird dann als wertvoll erfahren, wenn es die Liebe zu sich selbst wie die Liebe zum Nächsten und Fernsten fördert. Diese Aussage ist alles andere als pathetisch oder bloß poetisch, meint der Philosoph Maurice Blondel. Denn wer liebt, so sagt er, erlebt zugleich auch seine geistige Energie, sie ist eine Gabe, die den Menschen auszeichnet. Diese Liebe nennt Blondel auch die heilige Unruhe, denn sie führt über die Enge der Welt hinaus in eine offene Transzendenz, an die sich Gläubige wie Atheisten gleichermaßen halten können.

 

Zum Autor:

Christian Modehn, Theologe und Journalist aus Berlin;   http://religionsphilosophischer-salon.de/

 

Literaturangaben:

Umberto Eco (mit Cardinal Martini) „Woran Glaubt, wer nicht glaubt“, DTV Taschenbuch 1999

Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel, Herder Spektrum, Freiburg 1991

Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Suhrkamp, Frankfurt 1991

Emile Durkheim, „Der Individualismus und die Intellektuellen, 1898, zit. in Hans Joas, Die Sakralität der Person, Suhrkamp Verlag 2011.

Hans Joas,  Die Sakralität der Person, Suhrkamp, 2011.

Wilhelm Gräb, Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Vortrag 2014, gehalten in Wien, bisher nur veröffentlicht in: www. religionsphilosophischer-salon.de

Karl Rahner, Selbsterfahrung und Gotteserfahrung in: Karl Rahner, Schriften zur Theologie Band X., Benziger Verlag Zürich, 1972.

Monika Wohlrab Sahr, Forcierte Säkularität, Campus Verlag Frankfurt 2009

Erich Fromm, Gesamtausgabe,  Band VI, darin „Ihr werdet sein wie Gott“. Deutsche Verlagsanstalt, 1980.

Paul Bolkovac, „Atheismus im Vollzug – Atheist durch Interpretation“, in „Atheismus kritisch betrachtet“

(hg. von Emerich Coreth) Walter Verlag, 1971

 

 

 

 

Religion – Eine Angelegenheit des Menschen. Ein Vortrag von Wilhelm Gräb

 

Wilhelm Gräb: Religion – eine Angelegenheit des Menschen

Vortrag auf der internationalen Tagung „Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der Glaubenskultur des Christentums“ in Wien, 9.4. – 12.4.2014

 1. Von einer aufgeklärten Theologie mit Leidenschaft für den Menschen

Vom Menschen gilt es auszugehen, in aller kirchlichen Praxis. Das ist es, wozu die Kirche da ist, dass die Menschen in eine tiefere Verständigung über sich selbst und die Bestimmung ihres Daseins finden. Dass der Mensch sein Leben in Würde zu führen vermag, dazu braucht er Religion und dazu ist die Kirche da. Das ist keine Entdeckung aufgeschlossener Theologie von heute. Es war bereits das Projekt der Theologie der Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorangetrieben von Theologen, die zugleich im kirchlichen Beruf standen. Die Erinnerung an die durch die Aufklärungstheologie betriebene Umformung des Christentums zur Humanitätsreligion, die dem Gedanken der unantastbaren Würde des Menschen und sei-ner unveräußerlichen Rechte auch von kirchlicher Seite den Boden bereiten half, soll deshalb in meinem Beitrag den Anfang machen. Eine Theologie und kirchliche Praxis, die heute ihr Bestreben wieder darauf richtet, zur Geltung finden zu lassen, dass der christliche Glaube eine bestimmte Kultur humanen Sich-selbst-Verstehens ermöglicht, kann sich durch Impulse der kirchlichen Aufklärungstheologie dazu anregen lassen.

 

In seiner frühen Schrift „Die Bestimmung des Menschen” (1748)1 ging der Berliner Aufklärungstheologie und Prediger an St. Nikolai Johann Spalding darauf zurück, dass dem Menschen nicht von einer höheren göttlichen oder weltlichen Instanz gesagt ist, weshalb er auf der Welt ist und wie er zu leben hat. Der Mensch ist vielmehr dasjenige Wesen, das sich selbst über seine Bestimmung Klarheit verschaffen muss. Er ist fähig, sich im Denken über seine Stellung in der Welt und den Sinn seines Lebens zu orientieren.

 

Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen nahm die Gestalt einer Selbstbe-trachtung an. In der Achtung vor dem selbst entworfenen Gesetz des guten Lebens ist dessen Sinn und Ziel zu finden. Sie kommt der Achtung vor dem Wert des eigenen, vernünftigen Daseins gleich. Die Bestimmung des Menschen ist ein Leben, das aus der Kraft zur Selbstbe-stimmung geführt wird. Zu ihr fähig zu sein, ermöglicht dann auch die Selbstachtung, somit ein Leben, das im Gefühl der ihm eigenen Würde gelebt werden kann.

 

Die Gefahr, sich selbst zu verfehlen ist dabei immer mitgegeben. Vorzuwerfen habe ich mir, so meinte Spalding, aber nur dann etwas, „wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.”(2) Menschen zu solcher Selbstüberlegung zu befähigen, das ist jetzt die Aufgabe kirchlicher Predigt und Seelsorge, nicht ihnen von oben herab zu sagen, was sie zu glauben und wie sie zu leben haben. Schon die kirchlichen Aufklärungstheologen ha-ben das Ende der heteronomen kirchlichen Autoritätskultur ausgerufen.

 

Andere kirchliche Aufklärungstheologen wie Marezoll, Töllner, Teller und Jerusalem teilten Spaldings Auffassungen energisch und unternahmen den groß angelegten Versuch, das Ver-ständnis vom Christentum in eine Religion der freien Einsicht in das Gute umzuformen. Einer Ethik der autonomen Selbstbestimmung sollte ein souveräner Glaube, der als der eigene aus persönlicher Überzeugung vollzogen wird, entsprechen.(3)

Johann Gottlieb Töllner brachte in seinen „theologische(n) Untersuchungen” (4) das neue Ver-ständnis vom humanen Sinn der christlichen Religion auf den Begriff, wenn er eine seiner Abhandlungen unter das Thema stellte: ”Die ganze Religion Dank: und die ganze Religion Vertrauen” (5). Auch Töllner ging es um das Verständnis vom Menschen und die Frage, wie er religiös so anzusprechen ist, dass ihm deutlich wird, es ist die christliche Religion, die der Selbstbestimmung keineswegs entgegensteht, sondern zu ihrer Wahrnehmung befähigt. Deshalb richtete Töllner sich gegen die Lehre der lutherischen Orthodoxie, wonach der Mensch von Natur aus böse ist, ein verlorener Sünder, dem mit der Predigt des Gesetzes ein heiliger Schrecken einzujagen sei, auf dass er mit der Botschaft von Gottes gnädiger Vergebung wieder erhoben werden kann. Nein, sagte Töllner, „ich glaube klar zu sehen, daß dieses gar nicht die wahre Methode sey, deren sich ein Seelsorger zu bedienen hat: und daß sein ganzes Be-mühen dahin gerichtet seyn muß, Vertrauen zu Gott in seinen Zuhörern aufzurichten, wenn er von dem Wunsche belebt wird, wahrhaftig die Religion in ihnen aufzurichten.” (6) Der rechte Seelsorger vermittelt – wie Töllner weiter ausführte – das Vertrauen auf Gott, indem er zur Einsicht bringt, dass Gott Güte ist und die Menschen liebt. (7) Damit ist die Anerkenntnis ver-bunden, dass der Mensch zwar nicht von Natur aus gut ist, wohl aber von Natur aus fähig zur vernunftbestimmten, freien Einsicht in das, was ihm und seinesgleichen guttut. Ein Gott, der Güte und Liebe ist, lässt dankbar sein für alle guten Gaben, mit denen er die Menschen ge-schaffen hat. Er ist der Grund des Vertrauens auch auf der Menschen Güte. Wer auf des Menschen Güte vertraut, der aber begegnet ihnen nicht mit „Gesetzespredigten”( 8), nicht nach der „gewöhnliche(n) Bekehrungsmethode”, nicht auf dem Wege der Einschüchterung und Anklage, sondern „sogleich” mit „Liebe und Vertrauen” (9). So soll daher der Seelsorger auch vorgehen. Dann lässt er die Menschen erfahren, wie Gott ist. (10)

Auf eine menschenfreundliche Anschauung des Menschen sowie den daraus folgenden anderen Umgangsstil unter den Menschen, wollte Töllner das alte Buß- und Bekehrungschristentum umgeformt wissen. Es sollte wegkommen vom Glauben an die dunkle Macht der natürlichen Sündhaftigkeit des Menschen. Statt die Lehre „Von der Erbsünde” (11) weiterzuverbreiten, sollte das Vertrauen auf die „Güte der menschlichen Natur” (12) treten. Die Menschen in ihrer Selbstgewissheit zu stärken, das sollte die Richtschnur für die aufgeklärte kirchliche Predigt und Seelsorge werden. Die Menschen sollten in der Kirche die Erfahrung machen können, dass sie anerkannt und geliebt sind, solche, die zum Tun des Guten aus eigener Einsicht fähig sind. Gott, so sagten es die Aufklärungstheologen in ihrer Predigt, ist derjenige, der zum Tun des Guten befähigt und die Erwartung künftigen Glücks bekräftigt. Dass dies beides, das Tun des guten wie das zukünftige Glück aus einem vertrauensvollen Gottesverhältnis erwachsen kann, dafür hat Jesus das eindrücklichste Beispiel gegeben.

 

Grundlegend für den Entwurf dieses Humanitätschristentums war ein theologisches Denken vom Menschen her, eine Anthropologie, so könnte man sagen, in theologischer Absicht. Nicht von Gott in seiner biblischen Offenbarung, nicht von der Hl. Schrift als dem alleinigen Prinzip theologischer Erkenntnis gingen die Aufklärungstheologen aus. Sie setzten beim Menschen und seinem Gottesbewusstsein an, wollten zunächst einmal die Religion als eine konstitutive Dimension der humanen Natur verstanden wissen, bevor sie ihr christliches Proprium als die entscheidende Antriebskraft in der Perfektibilität, in der Vervollkommnung des Menschen explizierten.

 

Die anthropologische Begründung der Religion und einer die christliche Religion in ihrer Lebensdienlichkeit explizierenden Theologie hat mit Breitenwirkung vor allem wieder Spalding dargelegt. Zu verweisen ist hier auf die zunächst anonym erschienenen „Vertraute(n) Brie-fe(n), die Religion betreffend” (13), sowie seine Altersschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen” (14). ”Religion eine Angelegenheit des Menschen”, schon mit diesem Titel seiner Schrift wollte Spalding darauf hinweisen, dass die Religion etwas ist, das wir uns angelegent-lich sein lassen sollten, dass sie etwas jeden Menschen Angehendes ist. Insbesondere wenn vom Christentum die Rede ist, so Spalding, möge von etwas die Rede sein, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.”(15)

Spalding schloss mit seinen Religionsschriften direkt an seine über 40 Jahre hinweg in unzähligen Auflagen erschienen populäre Schrift „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen” an. Die Frage des Menschen nach sich selbst, nach dem, was ihn seiner Würde und seines Wertes gewiss macht, sollte nicht nur für Theologie und Kirche zur wichtigsten Frage werden, sie allein führt auch zum angemessenen Verständnis von der Religion und von dem Gott, zu dem die Religion die Beziehung herstellt.

Die Religion aber, das ist die Beziehung des Menschen zum Göttlichen, die den ganzen Menschen ergreift und umwandelt, ihn in seinem Fühlen, Denken und Wollen bestimmt und zu einem Leben in vertrauens- und hoffnungsvoller Zuversicht befähigt. In seinen „Vertrauten Briefen, die Religion betreffend“ drückt dies Spalding so aus, dass er sagt: die ”Religion ent-hält schon unstreitig solche Erkenntnisse und Ueberzeugungen, die, vermittelst einer anschau-enden Betrachtung, nothwendig rühren, große Empfindungen aufwecken, Bewunderung, An-dacht, Freude, Zuversicht und Hoffnung, überhaupt Bewegung, Erhebung und Veredlung der Seele wirken müssen.” (16) Doch, damit wir Gott so als die innere Kraft unseres Lebensglaubens und unserer Ewigkeitshoffnung erfahren können, müssen wir, so Spalding, von „einer ernsthaften Nachfrage bey uns selbst und der genauen Beobachtung unserer wesentlichen, von der menschlichen Natur untrennbaren Anlagen” (17) ausgehen.

 

Die Aufklärungstheologen haben Schleiermachers Apologie der Religion bereits kräftig vor-gearbeitet. (18) Gewiss, Schleiermacher vollzog in seiner Religionsschrift von 1799 sehr viel energischer die Unterscheidung von Religion und Moral. Auch zielte er im Gegensatz zu Spalding, von dem er freilich dennoch viele Anregung, auch hinsichtlich der Bedeutung des Gefühls in der Religion, erlangt hatte, (19) auf eine nichttheistische Fassung des religiösen Be-wusstseins.20 Aber auch Spalding hat die Religion keineswegs den Zwecken einer Glückse-ligkeitsmoral untergeordnet, sie nicht, was ihm oft vorgeworfen wurde, für den durchaus vorherrschenden Eudämonismus funktionalisiert. Er hat vielmehr deutlich gemacht, dass die Religion dem Menschen zu seiner Menschlichkeit verhilft. Sie tut dies, weil sie den Menschen auf Gott als den Sinn des Ganzen von Welt und Leben ausrichtet und in jedem Menschen das Gefühl einer unendlichen Bedeutung weckt.

 

2. Vom heutigen Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen

Der gesellschaftliche Resonanzverlust der Kirchen hält an. Dennoch stimmt die These nicht, die für die Auswertung der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung leitend war. Diese behauptet, es nähme die Indifferenz der Religion gegenüber immer weiter zu, nur die kirch-lich Hochverbundenen wären noch an ihr interessiert. Ihr Engagement steigere sich angesichts der sonst dominierenden Indifferenz sogar noch, weshalb es kirchenstrategisch geboten sei, sich in Zukunft sehr viel stärker den Treusten der Treuen zuzuwenden. (21) Religiöse Indifferenz bescheinigt man der Mehrheit der Kirchenmitglieder und man schreibt sie erst recht denjenigen zu, die der Kirche nicht oder nicht mehr angehören. Von der Überlegung, dass die Men-schen sich von der Kirche abwenden, weil sie die kirchliche Religion nicht als lebensdienlich erfahren, ist die neue EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaftsentwicklung noch weiter entfernt als es ihre Vorgängerstudien auch schon waren. Dabei lässt sich das Interesse an einer Kirche, die die Menschen auf innerlich ergreifende Weise anzusprechen vermag, weil sie für die Rechtfertigung des Menschen eintritt, schon mit einiger Aufmerksamkeit auf literarische Zeitansagen feststellen.

 

Zum Beleg verweise ich zunächst auf das Buch des französischen Sozialphilosophen Bruno Latour: „Jubilieren. Über religiöse Rede“ (22). Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehle, wenn die Kirche sich nicht mehr auf eine die Menschen ansprechende religiöse Rede versteht. Was dann fehlt, sind „Worte, die wieder aufrichten“ (23), die „Leben spenden“ (24), Worte, die heilsam sind. Die Kirche, so meint Latour, hat diese Worte verlernt. „Die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an historisch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet“ (25).

Die Kirche hat, „die Worte, die Leben spenden“, davon zeigt sich der sich zu seinem Atheis-mus bekennende Philosoph überzeugt, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den rich-tigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Darauf, so Latour, käme es heute deshalb entschei-dend an, dass die Kirche „dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungsfreiheit verschaff(t), diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm heute so entsetzlich gehemmt vorkommt … nur eine Ausdrucksform aus ihrer Ver-kapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heilbringend, heute auf sei-ner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ihren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.“ (26)

Die Sprache der Religion zu finden, ist aber eben keine bloße Formsache. An der religiösen Rede hängt die Wahrheit der Religion. Und die Wahrheit der Religion ist, so Latour, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt ebenso unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Ge-nau dafür gilt es, „die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbrin-gend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden.“ (27) Würde sich die Kirche darum bemühen, „gut über die Gegenwart zu reden“, dann wäre sie heute nötiger denn je.

 

Meinen zweiten Beleg für das heutige Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen habe ich in dem Buch des Journalisten Jan Ross gefunden: „Von der Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird“ (28). Dass die Religion eine Angelegenheit des Menschen ist, die uns ganz wichtig sein sollte, macht Ross der Präsenz der biblischen Metapher von der Gottebenbildlichkeit des Menschen im heutigen Diskurs über die Unantastbarkeit der Menschenwürde deutlich. Solche Rede, so meint er, lässt sich „nüchtern gesprochen, in ein hermeneutisches Prinzip übersetzen, in einen Verständnisschlüssel, eine Suchrichtung für die Deutung des Menschen: in ihm im Zweifel eher mehr zu vermuten als zu wenig, etwas Unausgeschöpftes, einen Überschuss.“ (29) Jan Ross tritt für Gott ein, weil es ihm um die Verteidigung des Menschen geht, letztlich um seine Heiligung. Nur mit Gott, so meint er, sei ein ebenso realistischer wie universaler Humanismus möglich.

 

Der Mensch, so fährt Ross fort, gerät dort, wo ihm Gottes Ebenbildlichkeit zugeschrieben und Gottes unbedingte Rechtfertigung zugesprochen wird, unter den „Schutz des religiösen Tabus“ (30). Genau das, meint er, ist heute so wichtig. Denn „ohne den Schutz des religiösen Tabus wird der Mensch berechenbar für die Wissenschaft, kontrollierbar für die Macht, eine Funkti-on der biologischen, psychischen und sozialen Realität. Warum nicht versuchen, ihn zu dres-sieren, zu verbessern oder abzuschaffen? Der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch.“ (31) Und er fügt sogar noch hinzu: „Noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wird von der Heiligkeit der menschlichen Person als Grundlage der Mensch-rechte und der Menschenwürde geredet. Man kann offenbar kaum anderes, als für den letzten Schutz der Humanität auf ein religiöses Motiv zurückzugreifen. Das ist die Ausdrucksweise, in der die Kultur über die großen Fragen redet: Wenn sie ihren Mund auftut und das Aller-wichtigste sagt, spricht sie die Sprache des Glaubens“ (32)

Die Kultur spricht die Sprache des Glaubens, sagt der Journalist Jan Ross. Die Menschen in ihrer Alltagswelt sprechen die Sprache des Glaubens. Was ist ihre Sprache des Glaubens? Es ist die Sprache, mit der sie ihre elementaren Lebensinteressen äußern, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Sinnerfahrungen und Sehnsuchtsbilder. Die Sprache des Glaubens ist die Sprache, in der die Menschen selbst das aussprechen, was ihnen das Allerwichtigste ist. Die Sprache des Glaubens, so könnte man auch sagen, ja, so müsste die Theologie wieder zu sagen sich trauen, ist die Sprache der Menschenseele.

 

3. Von der Seele, durch die die Religion der Menschen ihre Sprache findet

 

Weil der Mensch eine Seele nicht nur hat, sondern ist, können wir von ihm reden als einem Wesen, das im bewussten Verhältnis zu sich steht. Als Seele ist der Menscheins mit seinem Leib und in der Einheit von Leib und Seele sich in seinem Lebensvollzug immer auch selbst gegenwärtig. Als Seele ist der der Mensch ein solcher, der sich selbst zu verstehen gegeben ist, auch und gerade in dem, was ihn auf unbedingte Weise angeht. Eine Theologie, die dem Menschen, seiner Verständigung über sich und seine elementaren Lebensinteressen, gilt, muss den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam wer-den für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen.

 

Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen. (33) Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenverhältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen.

Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Le-bens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ‚seelenlosen Betrieb‘, in den ich einge-spannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir: ‚Die Seele geht zu Fuß‘. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung  den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam werden für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen.

Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen.33 Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenver-hältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen.

Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Lebens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ‚seelenlosen Betrieb‘, in den ich einge-spannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir: ‚Die Seele geht zu Fuß‘. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung wahr, leben wir immer in einer gewissen Gestimmtheit, die uns gewissermaßen atmosphärisch ergreift und umgibt.

Dieses Präsenzgefühl aber, ist die die Präsenz des Religiösen, ist die Erschlossenheit der Zuständlichkeit unseres Daseins für uns selbst. Weil wir in der Einheit unseres Lebens eine Seele sind, empfinden wir, etwa wenn wir krank werden, auch nicht nur die Defekte im Organismus unseres Körpers, sondern es stellen sich uns zugleich die Sinnfragen, die letztlich wiederum religiöse Fragen sind, Fragen, die auf die Einheit, die Bestimmung und das Ziel des Ganzen unseres Daseins gehen.

Die Einheit unseres Selbstverhältnis aber ist genau von der Art, dass sie uns nicht gegenständlich gegeben wie eben die Seele selbst nicht gegenständlich gegeben ist. Wie sollte die Seele mir gegenständlich gegeben sein, so dass ich sie erkennen kann, wenn sie doch mein unmit-telbares Wissen mit ihr, davon, dass ich bin und dieses Leben habe, selbst umgreift. Ich kann mich gar nicht ohne sie denken. Daraus entspringen dann auch die Vorstellungen von der Un-sterblichkeit der Seele. Sie sind ein Resultat eben dessen, dass ich mein eigenes Nichtsein nicht denken kann. Die Seele, die ich bin, ist ein Gegenstand nicht des Wissens, sondern des Glaubens, so dann auch ihre Unsterblichkeit – aber kann es die Seele anders als in der Einheit ihres Leibes geben?

Die Psyche und der Körper sind differente Systeme im menschlichen Organismus, der sich wissenschaftlich analysieren und therapieren lässt. Der Mensch als Seele in der Einheit seines Leibes ist der ganze Mensch in seinem bewussten Selbstverhältnis. Als solcher ist er für sich das in seinem Selbstgefühl, auf dessen Basis er seine Einheit spüren und dann auch im Geiste denken, aber eben nicht erkennen kann. Wir können jedoch in der Seelsorge nicht auf den Begriff der Seele verzichten. Aber auch in unserer Alltagssprache im Grunde nicht. Inzwi-schen wird die Seele besonders in der Philosophie auch wieder Ernst genommen. Man erin-nert sich nicht nur daran, dass der Begriff der Seele bis in die Neuzeit einer der wichtigsten Begriff der Philosophie war, sondern auch heute durch Begriffe wie „Geist“, das „Subjekti-ve“, das „Mentale“ oder das „Psychische“ ersetzt werden soll und doch nicht ersetzt werden kann. Der Grund dürfte eben der sein, dass alle diese Begriffe konstitutive Funktionen menschlichen Lebens beschreiben, aber nie das integrative Ganze eines individuell selbstbe-wussten Lebens in der Einheit seines Fühlens, Denkens und Wollens erfassen. Wir brauchen aber einen Begriff für dasjenige, was alle Lebensfunktionen im Innersten zusammenhält und zugleich das personale Bewusstsein ihrer Einheit begründet. Der Begriff der „Seele“ kann dies leisten.

 

Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern sind, wissen wir um unsere Identität und sind uns doch zugleich immer um sie bemüht. Weil wir eine Seele sind, sind wir uns selbst zu-gleich ein Gegenstand der Sorge, brauchen wir ebenso andere, die unsere Sorgen zu teilen bereit sind. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt aufmerksam zu sein auf die tiefsten Ängste und mächtigsten Hoffnungen, auf das was das Sinnvertrauen eines Menschen erschüt-tert und ihn in die Verzweiflung treibt. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt wahr-zunehmen, was Menschen unbedingt angeht. In den Regungen der Seele stoßen wir auf die Religion, die eine Angelegenheit des Menschen ist. Eine Kirche, die die Regungen der Seele versteht und im Lichte des Evangeliums zu deuten unternimmt, wird zu einer Kirche für die Religion der Menschen.

 

4. Von einer Kirche, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird

Eine Kirche für die Religion der Menschen ist eine seelsorgliche Kirche, eine Kirche, die sich um die Seele der Menschen sorgt, damit um das, was sie in ihrem je eigenen Selbstverhältnis als sie unbedingt angehend betrifft. Sie redet die Menschen auf die Fragen des Lebens an, die ihnen in den Erfahrungen ihres Lebens entstehen.

Ist das wirklich so? Spricht die Kirche die Menschen als die Subjekte ihres Lebens an? Oder meinen die professionellen kirchlichen Religionsagenten doch wieder oder immer noch, sie müssten den Menschen sagen, wie sie zu leben und was sie zu glauben haben? Bevor die Theologie der Aufklärung den christlichen Glauben auf die Füße des sein Glück erstrebenden Menschen stellte und die Religion zu einer Angelegenheit des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen erklärte, hat die christliche Theologie ja doch eher ein negatives Menschenbild befördert. Sie tut es auch heute noch in kirchlichen Liturgien und der Moral frommer Gemeinschaften, nach denen Menschen sich allenfalls im Bewusstsein eigener Unwürdigkeit sich Gott zu nähern wagen dürfen. Schuld daran ist diese Sündentheologie, die behauptet, dass der Mensch wie er von Natur aus ist, gar nicht in die rechte Beziehung kommen kann, weder zu sich, noch zu seinem Nächsten und schon gar nicht zu Gott. Als der Sünder hat er immer schon die Beziehung verloren, zu sich, zu seinem Nächsten und zu Gott. Nur das göttliche Gnadenwunder kann ihn retten. Mit einem solchen Menschenbild im Kopf können kirchliche Religionsagenten nur mit Mühe zu der Auffassung gelangen, dass sie die christliche Rechtfertigungsbotschaft Menschen zu sagen haben, die selbst schon die Subjekte ihre Glaubens wie ihres Lebens sind, in einem bewussten Verhältnis zu sich stehen, auf die Sprache ihrer Seele hören, ein Empfinden dafür haben, was ihnen fehlt wie auch, dass ihr Leben gelingen könnte. Eine Kirche hingegen, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird, ist eine Kirche, die mit Liebe und freudig interessiert den Menschen begegnet. Sie sucht das Gespräch mit ihnen, auf Augenhöhe, über die Beziehungen, die ihr Leben sind, die ihr Glück bedeuten und unter denen sie leiden. Und jetzt eben in Kontakt mit ihnen als Personen, als den souveränen Subjekten ihre Lebens und ihres Glaubens. Jeder und jede einzelne ist dann als Subjekt in Bezie-hungen gefragt. Wer für die christliche Religion spricht, sollte jedoch die Menschen eben als die souveränen Subjekte ihres Lebens und Glaubens auch explizit anerkennen. D.h. nicht, sie als fertige Persönlichkeiten anzusehen, das bin ich ja selbst auch nicht, keiner ist je fertig , schon gar nicht fertig mit den Fragen, die die eigentlichen Lebensfragen und zugleich die zentralen Fragen der Religion sind.

Eine Kirche, die Kirche für die Religion der Menschen ist, sucht das Gespräch über die Lebensfragen, auf die sie genauso wenig eine einfache und abschließende Antwort weiß wie sie: Woher die Liebe, warum dieser Hass, diese Rivalität, aber auch diese wunderbare Freundschaft? Wie kann zerstörtes Vertrauen wieder erneuert werden? Warum tun Menschen einan-der so vieles Böses an, Leid und Zerstörung? Warum müssen manche Menschen so früh steren, warum muss das Sterben überhaupt sein. Sich in die Komplexität dieser Fragen zu verstricken, Fragen, bei denen die Antwort offen und der Ausgang ungewiss bleibt, das heißt, die Menschen als Subjekte ihres Lebens und Glaubens anzusehen. Wo das in der Kirche der Fall ist, dort werden Gottesdienst und Predigt Seelsorge und Unterricht als Beziehung, als offener Dialog realisiert. Da kommt es zum Hö-ren und Reden auf beiden Seiten, wozu dann auch die Stille und das Schweigen gehören wer-den.

Die Religion gehört zum Menschen. Sie ist die Dimension der Tiefe in allen Lebensfragen, die uns auf unbedingte Weise in unserer Existenz betreffen. Nur im religiösen Bezug kann überhaupt die Frage nach dem Sinn des Ganzen ernsthaft aufgenommen werden. Diese Frage führt uns ins die Unendlichkeit einer Welt, die uns als Ganze nie gegeben ist. Aber aus dem religiösen Glauben, der auf Gott sein Vertrauen setzt, kann die Gewissheit in der Seele entste-hen, dass wir aus dem unendlich Ganzen einer von uns nie fassbaren Welt auf uns selbst zu-rückkommen und somit nie verlorengehen.

 

5. Von der Rechtfertigung des Menschen

Das ist die zentrale Botschaft des Christentums an den Menschen: „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Die Rechtfertigungsbotschaft ist das befreiende Lebensdeutungsangebot des Christentums.

Aber gerade sie wird in Theologie und Kirche immer noch dem menschlichen Selbständigkeit- und Autonomiestreben entgegengesetzt. Immer noch gibt es eine Theologie, die das Evangelium so meint verstehen zu müssen, als würde es die Menschen vor die Alternative stellen, entweder zu Glauben oder ein freier Mensch zu sein. Das will ich exemplarisch an Wilfried Härles Aufstellungen „zur Gegenwartsbedeutung der ‚Rechtfertigungs‘-Lehre“ (34) zeigen.

Härle geht genau so vor, dass er dem Menschen, so wie er sich selbst erlebt, nicht das Recht zugesteht, ein angemessenes Verständnis von sich zu gewinnen. Wie er sich in Wahrheit, d.h. vor Gott zu verstehen hat, das muss er sich auf alle Fälle von der Bibel sagen lassen. Die Rechtfertigungszusage des Paulus, so wird er belehrt, gilt dem Sünder, der der Rechtfertigung Gottes in Jesus Christus bedürftig ist. Dass es so ist, kann der Mensch von sich aus gar nicht wissen, denn zu seinem Sündersein gehört es ja gerade, dass er sich selbst nicht als solcher erkennt. Sein Selbstsein, sein Selbstbestimmungsstreben sind insofern die ultimativen Aus-drucksformen seiner Sünde. Nur im Lichte der göttlichen Rechtfertigung, kann er zu einem seiner wahren Situation angemessenen Selbstverständnis kommen.

Obwohl Härle sich dafür interessiert, worin die „Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre“ besteht, darf der gegenwärtige Mensch doch nicht sagen, wie er zu seiner Art zu leben gefunden hat und wie er sich darin versteht. Härle sieht zwar, dass die Theologie heute sich als Anthropologie zur Durchführung bringen muss, wenn sie überhaupt eine Chance haben soll, den heutigen Menschen zu erreichen. Aber die Anthropologie, die er entwickelt, geht nicht vom heutigen Menschen, seinem Erleben und seiner Selbstdeutung aus. Härle konstru-iert vielmehr, ausgehend von der paulinischen Rechtfertigungslehre und in deren weltbildhaf-tem Horizont, das christliche Wirklichkeits- und Menschenverständnis. In dieses muss der heutige Mensch sich einfügen. Nur dann kommt ihm zu, was der Mensch vor Gott ist, dass er sich als gerechtfertigt und in seiner Würde anerkannt wissen kann.

Heutige Menschen nehmen sich zumeist selbst als das Zentrum ihres Erlebens wahr. Sie suchen aus sich selbst heraus danach, wie sie eine ihnen zustimmungsfähige Art zu leben finden können. Sie entwickeln ihre Vorstellungen davon, was für sie ein gelingendes Leben wäre. Sie reflektieren darauf, was sie tun können, um mit sich und ihrem Wollen in Übereinstim-mung zu kommen Für alle diese Menschen ist in dem christlichen Wirklichkeitsverständnis, das Härle im Anschluss an Paulus als für christlich Glaubende normativ setzt, kein Platz. Die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre besteht dort vielmehr gerade darin, dass sie dem Menschen seinen trügerischen Selbstbestimmungswahn austreibt.

Es findet dabei natürlich auch keine Berücksichtigung, dass Menschen sich heute in viele Wirklichkeiten hineingestellt finden, in denen sich unterschiedliche Wirklichkeitsverständnis-se zur Durchsetzung bringen. Gibt es das überhaupt, das christliche Wirklichkeitsverständnis? Müssten, wenn es das gäbe, nicht die vielen Differenzierungen, die moderne Gesellschaften formieren, zurückgebaut werden? Ist aber eine christentumskulturell integrierte, auf dem christlichen Wirklichkeitsverständnis aufgebaute Gesellschaft überhaupt vorstellbar – und wünschenswert? Solche Fragen interessieren den Dogmatiker des christlichen Wirklichkeits-verständnisses nicht. Vor allem, und das ist das eigentlich Schlimme, lässt er sich nicht darauf ein, den gegenwärtigen Menschen als einen solches anzusehen, der immer schon sich selbst in seinem Erleben des Lebens wahrnimmt und darauf aus ist, sich in seinem Erleben auch zu verstehen, es ihm um ein Gelingen seines Lebens und deshalb auch die richtige Art zu leben geht. Einem solchen Menschen kann man nicht Bescheid geben wollen, wie er sich zu verste-hen hat, wenn ihm denn das Evangelium soll gelten können. Dem seiner Freiheit bewussten Menschen, sollte, so meine ich, auch das Evangelium als eine Möglichkeit in Aussicht gestellt werden, mit der er sich des Grundes seiner Freiheit gewiss werden kann, das ihm somit hilft, sein Leben selbstbestimmt zu führen.

 

6. Von einer kirchlichen Praxis, die Gutes über den Menschen sagt

Die Rechtfertigungsbotschaft eröffnet die Chance, über den Menschen, wer er auch sei und was immer er auch getan hat, Gutes zu sagen. Er ist der, auf den Gott seine Hand gelegt hat. Er kann sich auf alle Fälle mit Gott verbunden wissen, denn der Gott Jesu ist Liebe, Gnade, Vergebung, bedingungslos. Dies ist das Evangelium, dass nur Gutes über den Menschen ge-sagt wird. Die Rechtfertigungsbotschaft gibt ihm die Möglichkeit sich auch noch in dem, was er an sich selbst als unannehmbar erlebt oder auch von anderem ihm zu Vorwurf gemacht wird, sich dennoch als anerkannt und akzeptiert zu verstehen. Der aus der Rechtfertigungszu-sage lebende Mensch ist der Mensch, der zu sich stehen kann und aus einer unwahrscheinli-chen Freiheit zu leben vermag.

Dass ein Mensch diese Botschaft annehmen kann, sich vertrauensvoll auf sie einzulassen be-reit ist, also das tut, was die Theologie „glauben“ nennt, dazu gehört freilich, dass sie ihm nicht nur in dürren Worten und im Stil kerygmatischer Zusagen begegnet. Er muss die Erfah-rung dieser Zusage machen können. Für sie stehen die positiven Erfahrungen des Lebens. Worauf es daher in der Kirche ankäme, ihrer Predigt und ihren Gottesdiensten, ihrem Unter-richt und ihrer Seelsorge, ist, dazu beizutragen, dass Menschen dabei positive Erfahrungen machen. Positive Beziehungserfahrungen sind Erfahrungen des Beachtetwerdens, der Anerkennung, Erfahrungen eines liebevollen Interesses an der eigenen Person.

Eine Kultur der Anerkennung, der Liebe und der Freundschaft, das ist die Glaubenskultur des Christentums. Jeder Mensch kann merken, trotz allem, was er in seinen Beziehungskonflikten an Bösem erfährt und selbst anrichtet, dass er ein unendlich liebenswertes Geschöpf ist.

Die Glaubenskultur des Christentums ermöglicht einen unerschütterlich positiven, auch unge-heuer frustrationstoleranten Umgang der Menschen miteinander. Da kann Freiheitsluft geat-met werden. Da weht der Geist vorbehaltloser Anerkennung und wird göttliche Liebe emp-funden. In Räumen und Atmosphären, in denen Menschen das erleben können, gewinnen sie ein positives Selbstgefühl, Selbstvertrauen und oft auch neuen Lebensmut.

Da ist eine unbedingt gute Vorgabe, steht dann auch über der Kirchentür. Nenne sie Gott, Liebe, Geschenk des Daseins. Sein Leben von einer unbedingt guten Vorgabe her zu verste-hen, heißt christlich glauben. Glaubst du, dann lässt du diese Vorgabe unbedingt für dich selbst wahr sein. Dann lernst du, dass das Wichtigste im Leben sich nicht deinem eigenen Tun und Leisten verdankt. Es wird dir klar, dass du dir das Wichtigste im Leben schenken lassen musst. Das heißt aus Gottes Rechtfertigung leben. Es heißt einfach nur Mensch zu sein, dankbar, gelassen, heiter und frei.

COPYRIGHT: WIlhelm Gräb, Berlin.

 

Zu den Fußnoten:

1 Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hrsg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Seitenangaben im Folgenden nach der Originalpaginie-rung)

 

2 A.a.O. 4

 

3 Spalding hat in der Einleitung zur 13. und letzten, insgesamt erheblich erweiterten Ausgabe seiner Schrift über „Die Bestimmung des Menschen” (so die neue Titelformulierung in der Ausgabe von 1794) hinzugefügt, dass die überkommenen, „gewöhnlichen Grundsätze der Sittlichkeit und Religion” (A.a.O. Ausgabe 1794, 1) in der neuen Zeit eines alles relativierenden Historismus und mit alternativen Lebensformen konfrontierenden Plura-lismus keine hinreichende Lebensorientierung mehr zu geben vermögen. Das neue Bild vom Menschen, seiner ethischen Autonomie und der damit verbundenen Würde, ist – so wollte er sagen – im beschleunigten Kultur-umbruch unumgänglich geworden, auch für Kirche und Christentum. Anders als im Versuch, ”von vorn anzu-fangen; nichts als wahr anzunehmen oder als Vorurteil zu verwerfen, was ihm nicht bei dieser neuen und strengen Prüfung in seiner eigentümlichen Gestalt erscheinen würde”, kann es dem neuzeitlichen Menschen nicht mehr gelingen, wie der alte Spalding sagte, ”ein System des Lebens bei sich festzusetzen, woran er sich zu allen Zeiten halten könne” (A.a.O. 4 f.).

 

Von vorn anfangen, alles Überkommene einer kritischen Prüfung unterziehen, „das, was er auf die Art unleug-bar findet, zu sammeln und zu verbinden” (A.a.O. 4), war und blieb Spaldings Devise. Es stellte dies gewisser-maßen die Aufforderung zu einem synkretistischen Verfahren beim Bau des „System(s) des Lebens” dar. Der eigene Lebensentwurf sollte möglich sein, auf der Basis eben derjenigen Evidenzen, die sich im jeweils eigenen Innern einstellen. Was Eingang finden kann in das symbolische Gefüge der eigenen Lebensorientierungen, muss in kritischer Prüfung persönlich einleuchten. Und das gilt nun auch und gerade für die Religion, die kirchlichen Überlieferungen, die theologischen Lehrsätze. Auch die überkommene Symbolwelt des Christentums muss der kritischen Prüfung unterzogen werden. Und Maßstab der Kritik muss die Frage nach ihrer Lebensdienlichkeit sein. Sind die großen Erzählungen des Christentums hilfreich bei der Klärung der existentiellen Sinn- und mora-lischen Orientierungsfragen? Schenkt die christliche Religion Lebenserfüllung, nicht aufgrund autoritärer Vor-gaben, was zu glauben ist und wie man sich verhalten sollte, sondern weil da in ihren heiligen Schriften subjek-tiv Evidentes überliefert ist, Erzählungen von Gott und seinem Handeln, die auf persönliche Resonanzen rech-nen können, Vertrauen auf Gott und sich selbst entstehen und Dank empfinden lassen für das wunderbare Geschenk des Lebens? Das waren die Fragen, die Spalding sich vorgelegt und die er mit seinen populartheologi-schen Schriften, im Interesse auch einer neuen kirchlichen Publizistik, bearbeitet hat.

 

 

 

4 Johann Gottlieb Tönners theologische Untersuchungen, Riga 1772

 

5 A.a.O. Erster Band, erstes Stück, 108-161

 

6 A.a.O. 110

 

7 A.a.O. 142 f.

 

8 A.a.O. 137

 

9 A.a.O. 142

 

10 ”Daher dazu lasset uns, Brüder im Herrn, unmittelbar handeln, und auch bei den lasterhaftesten Leuten han-deln, daß dieses und jenes in ihnen werde. Lasset uns sie überzeugen, daß Gott die Menschen liebt und auch sie liebt. Ich sage überzeugen: Also es ihnen nicht bloß sagen und versichern, sondern zeigen und erweisen. Auch es nicht bloß mit einem Spruche aus der Bibel sagen und versichern. Die in derselben aufgestellten göttli-chen Religionslehrer thun das selbst nicht bloß, sondern geben Beweise. Christus sagt nicht blos, daß Gott auch seine Feinde liebt; er beweiset es mit der Erfahrung.”(A.a.O. 142)

 

11 A.a.O. Erster Band, drittes Stück, 105-159

 

12 A.a.O. 159-200

 

13 Breslau 1783, 31788 (hier zitiert); erst am Ende der ”Zugabe” zur 3. Aufl. nennt sich Spalding als Verfasser

 

14 Berlin 1797, 41806

 

15 A.a.O. 3

 

16 Vertraute Briefe die Religion betreffend, 251 f.

 

17 Religion, eine Angelegenheit des Menschen, 10 f.

 

18 Es ist zwar richtig, Spalding und die übrigen Aufklärungstheologen wiesen der Religion keinen eigenen anth-ropologischen Ort zu, obwohl sie auch schon erstaunlich viel von der Bedeutung des Gefühls für die Religion zu sagen wußten. Sie exponierten es noch nicht im Sinne der Erschlossenheit des Selbst im Ganzen der Anschau-ung einer Welt, wie dann Schleiermacher in seiner von romantischem Geist und transzendentaler Philosophie durchprägten Religionsschrift. Anders war auch, daß die Aufklärungstheologen das religiöse Bewußtsein nicht von den irrationalen Kontingenzerfahrungen des menschlichen Lebens und ihrer handlungssinntranszendenten Bewältigung her plausibel zu machen versuchten. Für Schleiermacher waren Geburt und Tod religiös relevant, die Erfahrung des unableitbaren Gegebensein des endlichen, menschlichen Lebens, der Faktizität seiner Frei-heit. Da sah er die Unbedingtheitdimension der Wirklichkeit aufscheinen sah, ihren im Unendlichen zerfließen-den Horizont. Auf irrationale Kontingenzerfahrungen, durch die religiöse Anschauungen und Gefühle ausgelöst werden, hat er die Aufmerksamkeit gelenkt. Demgegenüber sahen die Aufklärungstheologen das religiöse Be-wußtsein aufs engste mit der dem Menschen natürlichen Treibfeder zum moralischen Handeln verknüpft.

 

19 Vgl. Albrecht Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797). In: Ders., Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 266-298.

 

20 Schleiermacher wollte zeigen, daß das religiöse Bewußtsein des Menschen die Wirklichkeit anders ansieht als das moralische. Der Religion geht um die Sinn erschließende Anschauung des Universums, um ein intuitives Erfassen des Ganzen der Wirklichkeit, dabei dann auch um die Stellung, sowie die Verfassung des individuellen, menschlichen Daseins in ihr. Die Religion schaut die Grundverfassung der Wirklichkeit. Die Moral weiß demge-genüber, daß sie zu bilden, vom Menschen Gutes getan werden muß. Der Moral geht es um die durch das Tun des Guten verbesserliche Welt. Deshalb braucht sie aber auch Religion, soll sie auch nach Schleiermacher zwar nicht aus Religion, aber mit Religion getan werden. Denn die Erkenntnis dessen was gut ist für Welt und Mensch, setzt deren Anschauung voraus. Die Moral braucht die Anschauung vom Ganzen der Wirklichkeit und ein Wissen um die Bestimmung des Menschen in ihr. Nur im Horizont einer letztinstanzlich religiösen, ganzheit-lichen Weltanschauung kann das moralische Handeln für Schleiermacher Orientierung und Sinn erfahren.

 

21 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hanno-ver 2014.

 

22 Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, franz. Original: Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse, 2002.

 

23 A.a.O. 80.

 

24 A.a.O. 82.

 

25 A.a.O. 82.

 

26 A.a.O. 8f.

 

27 Ebd.

 

28 Jan Roß, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012.

 

29 A.a.O. 37.

 

30 A.a.O. 38.

 

31 A.a.O. 38f.

 

32 A.a.O. 39.f.

 

33 Vgl. Ulrich Barth, Selbstbewusstsein und Seele. Kant, Husserl und die moderne Emotionspsychologie, in: dersb., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 441-465.

 

34 Vgl. Wilfried Härle, Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: ZThK 95, Beiheft 10, 1998, 101-–139. Härles Beitrag steht im Zusammenhang einer breiten Debatte um die Stellung der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre im Ganzen der christlichen Lehre, die dann bald darauf durch die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) noch einmal enorm verstärkt worden ist. Auf Härles Text nehme ich im Folgenden als einen solchen Bezug, der nicht nur eine breite Debattenlage gut dar-stellt, sondern dabei auch selbst eine Position vertritt, die von vielen geteilt wird. Ich beziehe mich auf Härle, weil er eine in der systematischen Theologie dominant vertretene Postionen repräsentiert und ich an seinem Text zur Rechtfertigungslehre gut zeigen kann, dass eine systematisch-theologische Verhandlung der Gegen-wartsbedeutung der Rechtfertigungslehre, wie sie von ihm auf exemplarische Weise vorgenommen wird, zwar die Probleme richtig erkennt, dann aber, weil sie das praktisch-theologische bzw. homiletische Vermittlungs-problem doch gravierend unterschätzt, in eine Sackgasse läuft. Das gibt dann natürlich auch wieder zu kriti-schen systematisch-theologischen Rückfragen Anlass.

 

Im Hintergrund der in diesem Text von Härle vorgetragenen und auf die „prinzipielle“ Bedeutung der Rechtfer-tigungslehre für das Gesamtverständnis des christlichen Glaubens ausgehenden Argumentation steht die 20 Jahre früher, gemeinsam mit Eilert Herms verfasste Schrift W. Härle / Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirk-lichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, 1979. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer Aktualisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre im Kontext des neuzeitlich-modernen Wirklichkeitsver-ständnisses, in Verbindung mit einer Reflexion auf die Konsequenzen, die dieses Unternehmen in der kirchli-chen (Predigt-)Praxis hat bzw. haben könnte, habe ich damals bereits zusammen mit Dietrich Korsch vorge-nommen, in: Wilhelm Gräb /Dietrich Korsch, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985. Dort liegt auch ausführlicher diejenige subjektivitätstheoretische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre vor, an die hier mit knappen Bemerkungen angeschlossen wird.

 

 

Glauben ist einfach. Eine Ra­dio­sen­dung

Der hier vorliegende Text ist nur für die private Lektüre bestimmt. Er hat die Form, wie sie für Hörfunkproduktionen üblich ist.

HR Camino am 23. März 2014

Glauben ist einfach

Eine arme Kirche braucht keine mächtige Lehre

Von Christian Modehn

1. SPR.:

Schon drei Tage nach seiner Wahl zum Papst will der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio den Journalisten erläutern, aus welchen Motiven er sich gerade für den Namen Franziskus entschieden hat.

1. TON, Papst Franziskus, Vortrag vor Journalisten.

(1. SPR.:)

Der Papst rühmt Franziskus von Assisi als Kirchenreformer im Mittelalter, er spricht von dem armen Ordensgründer, dem Mann des Friedens und leidenschaftlichen Freund von Gottes guter Schöpfung. Und dann folgen die Worte, mit denen Papst Franziskus sein Herzensanliegen beschreibt.

1. O TON,  0 05“  Papst auf Italienisch, unmittelbar danach:

3. SPR.:

Ach, wie sehr möchte ich eine arme Kirche für die Armen.

1. O TON: Beifall ca. 0 04“ freistehend.

2. SPR.:

Eine arme Kirche für die Armen: Diese Worte, inmitten der Pracht vatikanischer Paläste formuliert, wirken wie eine Provokation: Möchte Papst Franziskus die Kirche radikal verändern? Will er Kardinäle und Bischöfe, ja die gesamte Kirche auf einen bescheidenen Lebensstil verpflichten? Im November 2013 äußert er sich in seinem apostolischen Schreiben „Freude am Evangelium“ ausführlicher zu diesen Fragen, ein Hinweis ist dabei von besonderer Bedeutung:

3. SPR.:

Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen, dass Er selbst arm wurde. Der ganze Weg unserer Erlösung ist von den Armen geprägt.

1. SPR.:

Der Papst erinnert dabei an die Geburt Jesu in einer Krippe, an sein bescheidenes Leben als Handwerker in Nazareth, er nennt die „Bergpredigt“, in der Jesus die Armen selig preist. Aus diesem Profil Jesu ergeben sich für Papst Franziskus  Konsequenzen für heute:

3. SPR.:

Die Armen haben uns vieles zu lehren. Sie kennen dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Wir sind aufgerufen, Christus in den Armen zu entdecken und die geheimnisvolle Weisheit anzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will.

1. Musikal. Zuspielung, ca. 0 10“ freistehend, beginnend nach 0 05“.

2. SPR.:

Der Papst aus Argentinien versucht im Vatikan bescheiden zu leben. Er wohnt nicht, wie bei seinen Vorgängern üblich, in einem Renaissance-Palast, sondern im Apartment eines modernen Gästehauses. Zum armen Lebensstil gehört aber auch, so meint er, die Pflege eines elementaren Glaubens; eine dringende Aufgabe, wenn  sich viele Menschen heute als religiöse Analphabeten betrachten und die schlichtesten Kenntnisse vom Christentum fehlen. Was der Papst unter dem einfachen Glauben versteht, beschreibt er in drei knappen Sätzen:

3. SPR.:

Jesus Christus liebt dich. Er hat sein Leben hingegeben, um dich zu retten, Und jetzt ist er lebendig an deiner Seite, um dich zu erleuchten, zu stärken und zu befreien.

1.SPR.:

Der einfache Glaube bedarf keiner barocken Fülle;  spekulative Systeme mit feinsinnigen Prinzipien bleiben Sache der Spezialisten.  Heute gilt es, den Sinn für die Unterscheidung von wesentlich und nebensächlich zu wecken, auch in Glaubensfragen! Daran erinnert der Papst in seinem apostolischen Schreiben, wenn er von der „Hierarchie, der Rangordnung der Glaubenswahrheiten“ spricht. Der Papst weiß, dass sich das Zweite Vatikanische Konzil dafür eingesetzt hat und dabei vor allem den Vorschläge von Karl Rahner folgte, einem weltweit geschätzten Mitbruder des Papstes im Jesuitenorden. 1984 ist Karl Rahner im Alter von 80 Jahren verstorben. Er legte allen Nachdruck auf  den einen, entscheidenden Mittelpunkt des Glaubens:

2. O TON RAHNER: 0 57“.

Weil wir alle Religionsunterricht gehabt haben, kann es vielleicht so aussehen, als ob das Christentum, gerade das katholisch- kirchliche Christentum eine ungeheure Menge von Dingen sagt, einen indoktriniert und zu glauben befiehlt. In Wirklichkeit sagt das Christentum das Selbstverständlichste, das gleichzeitig unbegreiflich ist: In deinem Leben ist immer schweigend,  umfassend bergend, liebend das namenlose Geheimnis am Werk, ein Christentum, das eigentlich sehr einfach ist.

2. SPR.:

Wenn Karl Rahner auf das namenlose Geheimnis hinweist, denkt er an den schöpferischen Grund allen Lebens. Dabei hat er jenen Gott vor Augen, den Jesus von Nazareth bezeugte, als er Gott den liebenden Vater nannte. In dieser Gottesbeziehung, so meint Rahner, können die Gläubigen das Wichtigste finden, den  Sinn ihres Lebens, die Fülle des Daseins.

1. SPR.:

Christen, die sich um das einfache Wesen des Glaubens bemühen, wissen genau, welcher Kontrast sich dann auftut zum offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche“, er umfasst 816 Seiten mit insgesamt 2.885 Paragraphen. Der Erwachsenenkatechismus der Deutschen Bischofskonferenz hat nur 462 Seiten. Dafür aber ist das offizielle kirchliche Rechtsbuch, der „Codex Juris Canonici“,  wieder so dickleibig wie der römische Katechismus. Angesichts dieser voluminösen Bücher entsteht der Eindruck, der Glaube sei etwas für Spezialisten und Menschen, die ausdauernd viel lesen und auf alle Fragen eine definitive Antwort erhalten wollen. Und gerade diese Haltung ist von einem einfachen Glauben weit entfernt, meint auch Papst Franziskus mit vielen anderen Theologen.

1. MUSIKAL. ZUSP. 0 08“ freistehend. Dieselbe Sequenz wie in 1. Musik.

2. SPR.:

Das Projekt, auf neue Art einen einfachen, insofern armen Glauben zu formulieren, weckt viel Interesse. Etwa bei Pater Heiner Wilmer; er ist in Bonn als Provinzial für seinen  Orden, die „Herz Jesu-Priester“, verantwortlich, eine internationale, theologisch aufgeschlossene Gemeinschaft.

3. O TON, Pater Wilmer, 0 27“.

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Glaube der Zukunft nur ein armer Glaube sein kann in einer armen Kirche. Und arm verstehe ich hier als Selbstbescheidung, als Konzentration auf das Wesentliche, und ich verstehe darunter ein Zurückdrängen von Nebensächlichkeiten. Auch nebensächlichen Schauplätzen, auf die wir uns immer zu sehr getummelt haben.

1. SPR.:

So können nebensächliche Lehren und wenig inspirierende Traditionen „zurückdrängt“ werden, wie Pater Wilmer sagt: Diese eher radikal anmutenden Vorstellungen sind der katholischen Kirche  gar nicht fremd. Im 20. Jahrhundert hat sie sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von vielen Traditionen befreit. Zum Beispiel war es bis 1960 in der katholischen Kirche streng verboten, die Messe in der Landessprache zu feiern. Durch die Beschlüsse des 2. Vatikanischen Konzils wurden aber die Priestern verpflichtet,  die lateinische Sprache nur noch in Ausnahmefällen in der Messe zu gebrauchen. Einst gab es eine lange Liste der verbotenen Bücher, den Index. Seit 50 Jahren ist diese Einschränkung geistiger Freiheit aufgehoben und Katholiken können guten Gewissens verbotene Autoren wie Descartes und Kant, Heinrich Heine und Alexandre Dumas lesen. Erst seit etwa 50 Jahren ist die Feuerbestattung erlaubt. Zuvor wurde heftig gegen die Kremierung polemisiert. Schließlich hat Papst Benedikt XVI. sogar die alte Lehre aufgegeben, ungetaufte Säuglinge kämen nicht in den Himmel, sondern eine Art Vorhölle. Diese Hölle der unschuldigen Babys, der sogenannte Limbus, wurde abgeschafft.

2. SPR.:

Eine Glaubenslehre, die sich auf das Wesentliche besinnt,  kann gerade für skeptische und zweifelnde Menschen einladend sein. Auch deswegen fühlt sich Pater Heiner Wilmer ermuntert, in knappen Sätzen das Wesen des Glaubens zu umschreiben:

4. O TON, Pater Wilmer.

Also Glaube ist Vertrauen. Und der Gegenbegriff von Glaube ist nicht Unglaube, sondern Angst. Der gläubige Mensch ist jemand, der ein tiefes Vertrauen hat ins Leben, das Geheimnis seines eigenen Lebens.

1. SPR.:

Diese Vorstellung ist alles andere als ein frommer Wunsch, Christen leben aus der tiefen Erfahrung der Verbundenheit mit Gott. Das war zum Beispiel für den brasilianischen Theologen Paulo Evaristo Arns maßgeblich;  er hat daraus seine Lebensenergie gewonnen, als in den neunzehnhundertsiebziger Jahren die Militärs folternd und mordend jegliche demokratische Opposition ausschalteten. Als Mitglied im Franziskaner Orden leitete er viele Jahre auch das Erzbistum Sao Paulo, vorrangig kümmere er sich um die Opfer staatlicher Gewalt. Paulo Evaristo Arns hat auch als Kardinal bei vielen Gelegenheiten betont, was ihm der einfache Glaube bedeutet.

5. O TON, Kardinal Arns 0 35“.

Menschenrechte sind der Kern des Evangeliums. Also sie kommen aus dem Herzen des Evangeliums heraus. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen zu retten, also dass er Mensch werde, dass er Mensch bleiben kann, dass er wirklich alle seine Möglichkeiten als Mensch verwirklichen kann für die anderen. Und wenn er das nicht kann, dann ist Christus umsonst auf die Welt gekommen und Gott hat den Menschen umsonst geschaffen.

2. SPR.:

Dieser Weisung folgt heute der Jesuitenpater Frido Pflüger. Er hat viele Jahre in Uganda und Kenia gearbeitet. Im Rahmen des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes hat er dort für ein menschenwürdiges Leben ausgehungerter, sterbenskranker Flüchtlinge aus den benachbarten Krisengebieten gekämpft. Inzwischen leitet Pater Pflüger den Jesuitenflüchtlingsdienst in Berlin. Inmitten eines aufreibenden politischen Engagements hat er das Grundlegende, das Wesentliche des christlichen Glaubens vor Augen:

6. O TON, P. Pflüger.  0 51“.

Das erste Wesentliche ist für mich in meinem eigenen Leben,  dass ich diese Grundüberzeugung habe, dass mein Leben sinnvoll ist, dass mein Leben getragen oder gegründet ist auf einen Ursprung, der hält. Und das ist das Wesentlichste am christlichen Glauben, dass ich davon auch Sicherheit für mein eigenes Leben verspüre. Das heißt, das ist die Basis dafür, dass ich auch ausgreifen kann, dass ich was tun kann, dass ich einfach keine Angst haben muss um mein Leben. Egal, was ich mache. Ich sag es mal einfach so: Ich kann mein Leben auch in die Pfanne hauen für andere. Ich mach mir auch nicht viel Gedanken über das Spätere. Ich hab einfach so große Zuversicht, dass mein Leben nicht scheitern wird, dass mir das eine große Lebensgewissheit ist und Sicherheit für jetzt gibt.  Was mir diese Sicherheit dann gibt, ist mein Glaube an die Auferstehung, ja.

1. SPR.:

Wer andere Menschen, vor allem Leidende und Ausgegrenzte, so wichtig nimmt wie sich selbst, wird auch spirituell verändert und erlebt dabei eine Art spiritueller Überraschung: Es gelingen ihm eigene, persönliche Worte beim Beten:

7. O TON,   Frido Pflüger, 0 44“.

Auf der einen Seite kommt natürlich durch die Erfahrung von Leid und Not, auch Tod, andere Dimension ins Gebet. Weil das einfach Anliegen meines Gebets wird, Ja.  Dass ich die Menschen, die ich kenne und die in diesen Situationen leben, dass ich die automatisch einfach in mein Gebetsleben einschließe. Also, wie man so schön sagt, dass ich für sie bete. Das heißt: Dass sie in meinem Herzen sind, in meinem Herzen mit Gott ja. Und auf der anderen Seite gibt das Gebet natürlich trotzdem dann auch für mich Bestärkung, meinen Weg weiterzugehen. Und den Sinn für mein Leben zu bestärken, dass ich diese Dinge tun kann. Denn manchmal ist man auch einfach müde, und da brauche ich diese Kraft, dass ich mein Herz öffne für die Leute, ja.

1. MUSIK, ca. 0 08“  freistehend.

2. SPR.:

Manchmal wird das Sprechen vom einfachen Glaube poetisch und mystisch. Denn es gilt, ein besonderes Erlebnis zu Wort zu bringen: Menschen können das göttliche Geheimnis berühren und die Gegenwart des Unendlichen und Ewigen erfahren. Mystiker unterschiedlicher Traditionen haben vom göttlichen Seelenfunken gesprochen. Wenn christliche Theologen heute vom einfachen Glauben sprechen, können sie auf diese Einsicht der Mystiker kaum noch verzichten. Darin zeigt sich bereits eine ökumenische Übereinstimmung. Der protestantische Theologe Wilhelm Gräb von der Berliner Humboldt Universität betont:

8. O TON, Wilhelm Gräb:  0 31“.

Das Wesen des christlichen Glaubens ist, dass das Christentum die Menschwerdung Gottes behauptet, in dem Sinne, dass wir die Entgrenzung dieser Aussage verstehen: Nicht nur in dem einen Individuum des Jesus von Nazareth ist Gott Mensch geworden. Er wird es in jedem Menschen. Jedem Menschen wohnt eine göttliche Dimension inne, dass jeder Mensch in sich selbst unendlich wichtig ist, das ist das Wesen des Christlichen.

1. SPR.:

In alltäglichen Erfahrungen erleben Menschen diese göttliche Dimension, in der Liebe, der Solidarität, der Hingabe, der Treue. Diese Erfahrungen haben einen göttlichen Kern, meint Karl Rahner, deswegen sind sie die lebendige Mitte eines einfachen Glaubens.

9.  O TON, Rahner 0 37“

Alle subtile Theologie, alles Dogma, alles Kirchenrecht, alle Institution, alles Amt und alle seine Vollmacht; alle heiligen Liturgie und alle mutige Mission, haben nur das einzige Ziel: Glaube und Hoffnung und Liebe zu Gott und dem Menschen. Alle anderen Pläne und Taten der Kirche aber würden absurd und pervers, wollten sie sich dieser Aufgabe entziehen und allein sich selbst suchen.

2. SPR.:

Und Karl Rahner hat sich dieser Aufgabe nicht entzogen. Er hat gezeigt, wie es tatsächlich möglich ist, in wenigen Worten Glaube, Liebe, Hoffnung für die Menschen wachzurufen. Er sprach dabei von den „Kurzformeln des Glaubens“. Für den Theologen Heiner Wilmer sind diese Vorschläge Karl Rahners bis heute inspirierend:

10. O TON, Pater Heiner Wilmer, 1 28“  

Er meinte damit, kurze prägnante und zeitgemäß formulierte Texte, die den christlichen Glauben in kurzer, konzentrierter Weise auf den Punkt bringen. Und er hat einmal gesagt: Wichtig ist, dass wir das Nebensächliche und die Nebenthemen zur Seite schieben und uns auf die Hauptthemen konzentrieren. Und dann hat er gesagt: Was die Kurzformeln betrifft, so wäre es wichtig, dass eine Kurzformel unterschiedlich sein kann. Also: Für einen 16 Jährigen lautet eine Kurzformel des Glaubens vielleicht doch anders als für die 80 jährige Frau, die ein reiches Leben hinter sich hat. Oder eine Kurzformel des Glaubens lautet für jemanden, der in tiefer Not ist, anders, als für jemanden, dem es gerade in seiner jetzigen Lebensphase besser geht.  

Es kann nicht sein, dass wir nur noch in der Lage sind, in abstrakten philosophisch-theologischen Begriffen den Kern des Glaubens auszudrücken. Das ist unmöglich, sondern wir müssen neue Wörter finden, wir brauchen eine neue Sprache, die so ist, dass sie der Mensch, der heute lebt, es versteht.

1. Musikal. Zusp., maximal 0 08“ freistehend.

1. SPR.:

Der einfache Glaube entdeckt die geschwisterliche Gemeinschaft;  der Austausch wird wichtig, der Respekt vor der Gleichberechtigung aller Gläubigen: Für den Münchner Theologen Otto Hermann Pesch ergeben sich daraus klare Konsequenzen:

11. O TON, Otto Hermann Pesch, 0 45“.

Egal, wie man das Wort Hierarchie versteht: Herrschaft kann und darf es nicht bedeuten. Wenn es das tut, ist es Missverständnis und Missbrauch. Dass die Fakten oft anders sind, wird in diesem Sinne also dann als Defekt bezeichnet werden müssen, als ein Missbrauch, der geändert werden muss. Wenn sich eins im Vergleich zur Zeit vor dem Konzil bleibend im Bewusstsein der katholischen Gläubigen festgesetzt hat, dann ist es das Bewusstsein: Wir sind die Kirche. Und nicht wie früher: Wir haben an ihr Teil, während die Kirche die Hierarchie eben ist. Wir sind die Kirche!

2. SPR.:

Wenn aber alle Katholiken gleichberechtigt sind in der Kirche, sollte das auch Konsequenzen haben für den praktischen Alltag der Gemeinden, meint Pater Heiner Willmer. Kirchengebäude sollten nicht vorschnell aufgegeben und kleine Gemeinden nicht um jeden Preis mit anderen vereint werden. Pater Wilmer:

12. O TON Pater Wilmer, 0 42“.

Was wir bräuchten, wäre eine viel größere Ermutigung der Menschen: Hört zu: Ihr könnt auch Gottesdienst feiern, ihr könnt Liturgie gestalten ohne eine  Priester, ohne eine Pater, ohne eine Mönch. Auch sonntags. Und es findet immer am Sonntag, und auch in der Woche, eine Liturgie statt, immer, in jeder Kirche, die Kirchen bleiben auf. Die Messe ist ja nur eine Form, aber es gibt viele Formen, die gestaltet und gefeiert werden von Laien, von Männern, von Frauen, Kindern, Jugendlichen.

1. SPR.:

Diese Vision einer geschwisterlichen Kirche hat einige französische Katholiken inspiriert, in einer gänzlich neuen Form einen Katechismus zu veröffentlichen, kein abstraktes Lehrbuch, das von A bis Z alle nur erdenklichen Themen abhandelt. Sondern ein Buch, das zum Gespräch einlädt. Ein Team um Bischof Jacques Gaillot hat schon vor 20 Jahren einen „Katechismus der Freiheit“ herausgegeben. Gaillot kümmert sich als Bischof von Partenia besonders um Menschen am Rande der Kirche und der Gesellschaft.

13. O TON, Gaillot, 0 26“.

3. SPR.:

Wir haben uns gesagt, es sei doch wichtig einen Katechismus zu gestalten, der nicht dem üblichen Schema von Fragen und Antworten folgt. Sondern der Wert legt auf den Austausch. Wir haben also eine kleine Arbeitsgruppe gebildet aus Männern und Frauen und wir sagen den Lesern: Wir laden euch ein, mit uns gemeinsam zu suchen und nachzudenken. Wir geben nicht eine definitive Antwort. Wir wollen einen Blick auf die Zukunft öffnen.

2. SPR.:

Dieser Katechismus lebt vom Suchen der Menschen nach neuen Lebensformen. Viele Katholiken fragen sich: Was ist gilt, wenn ich mich um eine zeitgemäße, dem Evangelium entsprechende Ethik bemühe? In jedem Fall wünschen diese Menschen, dass die Sexualmoral den einzelnen in seiner Lebensgeschichte respektiert. Bischof Gaillot nennt ein Beispiel:

14. O TON Gaillot,  französisch: 0 28″

3. SPR.:

Wir müssen Frauen und Männer akzeptieren und verstehen, die homosexuell sind. Unter  meinen Freunden und auch in meiner Familie sind Homosexuelle. Wir müssen diese Menschen in ihrem Recht anerkennen. Mitleid allein zählt nicht. Es geht um die Gleichheit vor dem Recht! Darum erörtern wir auch die Zivilehe der Homosexuellen. Warum soll es das nicht geben? Eine demokratische Gesellschaft, die auf der Gleichheit vor dem Gesetz beruht, sollte das respektieren.

1. SPR.:

Ein Beispiel, wie ein einfacher Glaube mit schwierigen Themen der Sexualmoral umgehen kann. Aber, bei allem Respekt, meint Pater Wilmer, wir dürfen in der christlichen Moral nicht die anderen Schwerpunkte vergessen:

15. O TON, Pater Wilmer, 0 41“.

Wir haben leider in der Katholischen Kirche die Sexualmoral viel zu sehr in den Vordergrund gerückt und die anderen großmoralischen Themen, die Hauptthemen, sind ins Abseits gerückt, wie zum Beispiel die Frage nach der Gerechtigkeit unter den Völkern, nach einer fairen Verteilung der Güter, wie die Frage: Wo stehen wir auf und proben den Aufstand gegen einen Staat, der in überdimensionaler Weise von den Erträgen der Rüstungsindustrie lebt. Das wären wichtige Fragen der Moral, die in den Mittelpunkt gehören.

2. SPR.:

Ein armer, ein bescheidener und deswegen einfacher Glaube ist in ethischen Fragen alles andere als ärmlich oder dürftig. Er vermag ethische Weisungen nicht als Einschränkungen oder gar als Hindernisse für menschliches Glück darstellen, sondern als Einladung, zu wachsen und seelisch zu reifen.

16. O TON, Pater Wilmer, 0 28“

Wenn du dich um andere kümmerst, wirst du selbst groß. Wenn du auf andere zugehst, wächst du innerlich. Wenn du deinen eigenen Horizont sprengst und die Welt offen siehst, und auch auf Unbekanntes mutig zugehst, wirst du selbst in ungeahnter Weise wachsen und zu einer erstaunlichen Größe gelangen, die dich selbst verblüfft.

1. SPR.:

Eine arme Kirche fördert die persönliche Freiheit. Und damit bezieht sie sich auf die ersten christlichen Jahrhunderte. Da nahmen sich die unterschiedlichen Gemeinden die Freiheit, das Wesen des Christentums sehr unterschiedlich auszudrücken. Eine arme Theologie ist ja nichts Monotones, sagten sie, Theologie verbreitet keine Langeweile, sondern liebt die Vielfalt. Von dieser Pluralität sind wir weit entfernt, meint der katholische Theologe Michael Bongardt von der Freien Universität Berlin:

17. O TON, Bongardt, 0 42“.

Die ersten Tradition der Kirche in den frühen Konzilien  in der Formulierung des Glaubensbekenntnisses war eigentlich davon geprägt, dass man sich gerade nicht auf eine bestimmte Sichtweise festlegte. Es gab auch damals schon konkurrierende theologische Vorstellungen und in aller Regel hat die frühe Kirche sich nicht mit einer dieser Vorstellungen identifiziert und alle anderen für falsch gehalten. Sondern einen Rahmen gesetzt. Und gesagt: Innerhalb des Rahmens, den wir setzen, gibt es ganz viele Möglichkeiten, die in der Kirche erlaubt und erwünscht sind.

2 .SPR.

Nach grundsätzlicher Offenheit in wesentlichen Glaubensfragen sehnen sich heute Katholiken weltweit. Indische Katholiken z. B. lernen ihren Glauben mit Gespräch mit anderen Religionen deutlicher zu sehen. Wenn Gottes Wesen Liebe ist, dann sollte, so meinen sie, auch das Verhältnis zu den Hindus von einer großen Weite des Wohlwollens bestimmt sein. Daran erinnert der Jesuitenpater Sebastian Painadath , er leitet in Südindien einen Ashram, ein Haus der Begegnung von Christen und Hindus:

18. O TON Pater Painadath., 0 35″:

Liebe heißt, dass ich den anderen mit seiner Andersartigkeit annehme und bejahe und seine Freiheit respektiere, auch im religiösen Bereich. Ich darf nicht einen Muslim als potentiellen Christen betrachten, damit respektiere ich ihn überhaupt nicht. Der Muslim ist Muslim, Hindu ist Hindu. Und ich bin überzeugt, dass die Vielfalt der Religionen zum Heilsplan Gottes gehört. Wir dürfen nicht meinen, dass Gott es will, dass am Ende alle Menschen römisch katholisch werden oder so.

1. SPR.:

Glauben ist einfach, er ist bescheiden und arm, weil er das Wesentliche liebt: Papst Franziskus hat vieles angestoßen, als er gleich zu Beginn seines Pontifikates von der armen Kirche für die Armen sprach. In einem viel beachteten Interview mit den Redakteuren der Jesuitenzeitschriften Europas sagte er in aller Deutlichkeit:

2. SPR.:

Es gibt zweitrangige kirchliche Normen und Vorschriften, die früher einmal effizient waren, die aber jetzt ihren Wert und ihre Bedeutung verloren haben. Die Sicht der Kirche als Monolith, der ohne jeden Abstrich verteidigt werden muss, ist ein Irrtum.

1.SPR.:

Wer den Katholizismus heute beobachtet, ist erfreut über die neue Freiheit der Debatte, die Papst Franziskus zulässt. Aber man ist auch besorgt, über die Zukunft des Reformprojektes des Papstes. Darauf weist der katholische Theologe Professor Michael Bongardt von der Freien Universität Berlin hin:

19. O TON, Bongardt,  0 52“.

Gelingt es ihm auch über die persönliche Ebene hinaus, auch in den Strukturen der Kirche etwas so zu ändern, dass von diesem Stil, der bisher ein persönlicher Stil ist, auch etwas in der Kirche als Institution ankommt. Er hat da einiges in Gang gesetzt, aber am Ziel ist er da noch lange nicht. Und man wird auch sagen dürfen: Angesichts seines Alters und des Alters der Institution Kirche und ihrer eingefahrenen Gewohnheiten wird dieser Papst das Ziel auch nicht vollständig erreichen können. Es bleibt zu hoffen, dass er eine Bewegung in Gang setzt, die auch über seine konkrete Lebens- und Amtszeit hinaus etwas bewirkt.

 

 

2. Musik, als freistehend kurz und als Hintergrund für den Abspann.

…………….

Der deutsche Text des apostolischen Schreibens „Evangelii gaudium“ von Papst Franziskus ist im St. Benno Verlag Leipzig erschienen.

Die Musik wurde entnommen der CD:

„Musik für Horn und Orgel“, Manfred Dippmann und Reinhard Seeliger. An der Sonnenorgel der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Görlitz. Sie spielen das Stück Nr. 6 „Andante“ auf der CD,  von Camille Saint-Saens. LC 5736.