Lässt sich Gott beleidigen? Über die Blasphemie und die Gotteslästerung

Lässt sich Gott beleidigen?
Sinn und Unsinn der Blasphemie
Von Christian Modehn. Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 5. Juli 2013, aus aktuellem Anlass noch einmal am 8. Januar 2015

Ein aktuelles Vorwort: Ein zentrales Motiv für die Ermordung der Journalisten und Künstler der Zeitschrift “Charlie Hebdo” am 7.1. 2015 war die totale, die tötende Ablehnung von öffentlicher Religionskritik und damit auch von “Gotteslästerung”.

Für mehr Klarheit und Unterscheidungskraft, also für “vernünftiges, aufgeklärtes Denken,  wollte ein Radio-Beitrag sorgen, der am 9. Juni 2013 auf NDR Kultur in der Reihe “Glaubenssachen” gesendet wurde.

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In zahllosen Gebeten und Gesängen rühmen Juden, Christen und Muslime ihren lieben und gerechten Gott. Sie verneigen sich vor dem Ewigen und Barmherzigen, dem Himmelsherrn und Vater. In grenzenloser Begeisterung werden alle nur denkbaren ehrenvollen Titel Gott zugesprochen. „99 Namen“ erwähnen muslimische Gelehrte, wenn sie Allah bezeichnen. Eigentlich könnte es unzählige Namen für Gott geben, so wunderbar ist sein Wesen.
Doch wehe, wenn Menschen die Lobeshymnen nicht anstimmen können, weil sie zu zweifeln beginnen, wie denn ein gerechter Gott gleichzeitig auch barmherzig sein kann. Oder warum ein liebender Gott – Vater sich auch als strenger Richter zeigt. Menschen werden wütend, wenn sie sich von dem Allmächtigen verlassen fühlen und nur das abweisende Schweigen des Ewigen spüren. Seit den ersten Tagen der Christenheit lästern auch Gläubige über Gott. Viele wagen es, ihn öffentlich zu verfluchen.
Wer seine Wut über Gott äußert, will alle Scheinheiligkeit vermeiden und nicht in stummer Wut ersticken. Vielleicht hofft er sogar, andere zum Nachdenken zu bringen: Ist Glaube nur eine Form von Sicherheit, lautet die Frage religionskritischer Literaten und Künstler. Der fast nackte Christus am Kreuz war im Mittelalter ein Schock für fromme Seelen, sie liebten den prächtigen Christus als thronenden König. Als Gotteslästerung wurde auch ein Gemälde aus dem 20. Jahrhundert empfunden, das die Gottesmutter Maria zeigt, wie sie ihren Sohn Jesus verdrischt.
„Achtung Gotteslästerung“ rufen empört die Frommen, wenn sie meinen, ihre fest gefügte Welt gerate ins Wanken. Und weil religiöse Menschen bis vor wenigen Jahren noch in Europa die Mehrheit bildeten, durften es sich die Herrscher mit ihnen nicht verderben. Blasphemie galt darum als Straftat. Dabei wurde der Begriff Gotteslästerung von Anfang an sehr weit gefasst: „Einfache“ Christen aus dem Volk galten genauso wie gebildete Theologen als Blasphemiker, wenn sie von der offiziellen Kirchenlehre abwichen. Wer an den orthodoxen Lehren rüttelte, beanspruchte auch, Gottes Wesen neu beschreiben zu können. So könnte eine Vielfalt der Gottesbilder entstehen; das aber störte die alles bestimmende Religion der Mehrheit.
Die Kirchen wehren sich seit Anbeginn gegen die Gotteslästerer. Schon der Kirchenvater Augustinus ließ sich im 4. Jahrhundert von der Überzeugung leiten: Wer Gott beleidigt, sollte mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden. Seit dem frühen Mittelalter bezeichnen Kirchenführer die Blasphemie als eine der schwersten Sünden. Sie erfanden den Begriff der „Zungen – Sünde“: Die bösen und spitzen Worte der Gotteslästerer wurden als Folter – Werkzeuge gedeutet, mit denen Christus erneut ans Kreuz genagelt wird. Bischöfe und Päpste erfanden eine ganze Liste von Strafen, berichtet der Theologe Jean – Pierre Wils in seiner Studie mit dem Titel „Gotteslästerung“:

„Für Zungensünder wurde öffentliches Bußestehen, Fastengebote und Wohltätigkeit als Strafe gefordert. Bei Verweigerung der Strafe kam es zur Aufhebung der Kirchenmitgliedschaft und zur Ablehnung einer kirchlichen Beerdigung im Todesfall“.
Brachten diese eher sanften „Maßnahmen“ nicht die gewünschte Sinnesänderung, wurde rabiat zugegriffen: Den Gotteslästern wurde von den staatlichen Behörden das verfluchte Organ beschädigt. In aller Öffentlichkeit wurde die Zunge verstümmelt, so dass die Lästerer für immer mundtot waren. Berühmt ist der Fall des Chevalier de la Barre. Ihm wurde das laute Singen angeblich antireligiöser Lieder in der Öffentlichkeit zur Last gelegt sowie die Lektüre des religionskritischen Wörterbuches von Voltaire: Schon diese Taten reichten aus, dass der Chevalier im Jahr 1766 der Blasphemie für schuldig befunden wurde: Der Henker schnitt ihm zuerst die Zunge heraus, bevor er ihn mit dem Beil tötete”.
Keineswegs galt nur in katholischen Ländern die Blasphemie als schwere Sünde. Der Reformator Martin Luther sprach immer wieder davon; er hielt schon die bloße Existenz des machtvollen und damals korrupten Papsttums für die übelste Gotteslästerung. Der Reformator Johannes Calvin sah in der Ablehnung der Heiligen Dreifaltigkeit eine so unverschämte Blasphemie, dass er den Theologen Michel Servet in Genf auf dem Scheiterhaufen hinrichten ließ. Der aus Spanien stammende Gelehrte konnte die offizielle Lehre von der einen Gottheit in drei Personen nicht akzeptieren.
Wer vom Glauben der Mehrheit abweicht, gefährdet als Häretiker die öffentliche Ordnung. Nur der eine und einzige Gott in der einen wahren Kirche kann das Reich zusammenhalten. Davon sind autokratische und absolutistische Systeme bis heute überzeugt.
In Moskau wurden am 17. August 2012 drei junge Frauen zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Sie hatten als Künstlerinnen der russischen Punk – Rockband Pussy Riot angeblich religionskritische Lieder in der prachtvollen „Christ – Erlöser –Kathedrale“ vorgetragen und dabei die enge Zusammenarbeit des Putin Regimes mit der russisch – orthodoxen Kirchenführung angeklagt. Deren oberster Führer, Patriarch Kyrill I., nannte die provozierende Aktion der feministischen Künstlerinnen sofort eine Gotteslästerung. Ohne auch nur den Versuch zu machen, mit den wütenden Künstlerinnen ins Gespräch zu kommen, bediente sich die Kirche des starken Arms des Staates: So kam es wie in einem Schauprozess zur Verurteilung der angeblichen Gotteslästerinnen. Dabei hatten sie sich positiv über das Christentum ausgesprochen, als sie betonten: Im Sinne Jesu ist die ständige Suche nach der Wahrheit verpflichtend.
Russland steht in seinem Kampf gegen die Blasphemie heute keineswegs allein da. Die Pariser Zeitschrift „Le Monde des Religions“ hat Ende November 2012 berichtet, dass fast die Hälfte aller Staaten Gotteslästerung und öffentliche Herabsetzung des Religionen bestraft. Vor allem in den Ländern Nordafrikas und des Mittleren Ostens ist das heute übliche Praxis. In muslimisch geprägten Staaten ist Gotteslästerung vor allem die Schändung des Korans sowie die Schmähung des Propheten Mohammed; wer dessen Gesicht künstlerisch darstellt, handelt ebenfalls blasphemisch.
Nur eine kritische Interpretation der religiösen Texte kann aus dieser Enge religiös – fundamentalistischen Denkens befreien. Aber auch in Europa hat sich erst vor dreihundert Jahren die Überzeugung durchgesetzt: Viele uralte Weisungen und Gebote der jüdisch – christlichen Überlieferung dürfen nicht wortwörtlich verstanden werden. Sie sind keine ewig gültigen Beschreibungen von Tatsachen, die heute noch unmittelbar gelten können. Kein gebildeter Gläubiger und kein aufrechter Demokrat kann den Vers aus dem alttestamentlichen Buch Leviticus heute noch wörtlich befolgen, der da heißt:

„Wer Gottes Namen lästert, der soll des Todes sterben. Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer: Wer den Namen Gottes lästert, soll sterben“.

Von diesen Weisungen sollten sich die jüdischen Priester vor 2.500 Jahren motivieren lassen, für die damals bedrohte jüdische Religion einzutreten. Diese Worte stammen aus einer Epoche, als der jüdische Glaube noch seine Identität suchte. Universale Geltung im wörtlichen Sinn können diese Worte heute nicht mehr haben.
Viele Christen haben sich inzwischen von alten Vorstellungen befreit: Bis vor 200 Jahren galt noch die Überzeugung: Wer Gott – Vater, den himmlischen Herrn, beleidigt, weckt in ihm nur den Wunsch nach Rache und Strafe. Denn, so glaube man, dieser Himmelsherr ist eine Person, zwar verschieden von menschlichen Personen, aber eben doch eben ein freies Wesen und voller Stolz. Und dieser personale Gott legt allen Wert auf den Respekt vor seiner Würde und Ehre. Von den Lästerern empört, sende Gott als Strafe schlimmstes Unheil in die Welt, Hungersnot, Pest, Erdbeben. Wollen die Menschen heil und glücklich leben, müssen sie also die Gotteslästerer bestrafen. Deswegen stellten sie bis ins 19. Jahrhundert Blasphemie unter Strafe. Noch 1851 wurde in Preußen Gotteslästerung als Verbrechen definiert.
Es waren Theologen und Philosophen, die gegen die Blasphemie Gesetze opponierten; aber erst Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich in Europa die Überzeugung durchgesetzt, dass Gott ausschließlich eine geistige, eine metaphysische Wirklichkeit für den Glaubenden sei. Gott kann als solcher niemals ein reales Rechtssubjekt sein, er kann gar nicht wie ein Kläger betrachtet werden. Das hat weit- reichende Konsequenzen: Hungersnot und Pest haben ihre Ursache nicht mehr in Gottes Zorn, sondern in weltlichen, irdischen Zusammenhängen.
Religiöse Menschen können Gott als den ganz anderen, den Unendlichen gelten lassen. Sie werden ihn nicht mit albern erscheinenden Argumenten in einen irdischen Rechtsstreit ziehen. So erhält auch das zweite der Zehn Gebote einen tieferen Sinn; es heißt in der Überlieferung:

„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht unnütz gebrauchen“.

Wer den Namen Gottes „unnütz“ gebraucht, macht Gott zu einem berechenbaren Ding unter anderen, und ein solches Verhalten stört die authentische Gottesbeziehung des Menschen. Dieser Mensch bleibt in der irdischen Welt befangen und ahnt nichts von Gottes unendlicher Größe. Genau darauf zielt das alte überlieferte Gebot, das sich eher mythologisch – bildlicher Sprache bedient:

„Denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht“.

Die hier erwähnte „Strafe Gottes“ muss wieder in menschliche Verhältnisse übersetzt werden: Wer den Namen Gottes missbraucht, schädigt sich selbst. Er sieht nicht, dass ehrenvolles Verhalten Gott gegenüber alles andere ist als Lobpreis und Jubel. Wer Gott die Ehre gibt, seinen Namen recht gebraucht, so lehrt die Bibel, bemüht sich, gerecht zu leben und die Gerechtigkeit zu fördern. Wer Gottes Namen tatsächlich ehren will, hat Teil der Gemeinschaft von Menschen, die sich um eine gerechtere Welt bemühen. Darin kann der Sinn des Lebens entdeckt werden. Die Bibelwissenschaftler Hermann Strack und Paul Billerbeck haben schon 1920 geschrieben:

„Die Heiligung des Namens Gottes besteht im praktischen Gehorsam gegenüber Gottes Willen“.

Darum gilt heute die theologische Erkenntnis: Wer die Grundlage einer gerechten Ordnung zerstört, der lästert Gott. Blasphemie hat also sehr viel mit Verachtung der Menschenrechte zu tun. Gotteslästerung heute sind Sklaverei, Frauenhandel, Unterdrückung der Armen, Verfolgung von Minderheiten.

Auch aus politischen Gründen wird Gotteslästerung als Straftat heute zurückgewiesen: Denn längst hat sich die religiöse Vielfalt in den meisten Staaten durchgesetzt. Wie könnte etwa in West – Europa der Gott einer bestimmten Religion vor Blasphemie geschützt werden, die Überzeugung der Atheisten aber nicht? Ungläubige sind froh, wenn Gott kritisiert wird, Fundamentalisten werden heftig erzürnt. Der Staat müsste sich also theologische Kompetenz anmaßen, wenn er in solchen Konflikten entscheiden soll, ob nur Allah beleidigt wurde, nicht aber auch der Vater – Gott der Christen und auch nicht die Götter Vishnu und Krishna der hier lebenden Hindus.

Unter dem Einsatz menschlicher Gesetze kann Gott gar nicht vor Beleidigungen bewahrt werden: Denn es gibt, schlicht und einfach, gar nicht mehr den einen und einzigen Gott in Europa. Das haben selbst ultra konservative Calvinisten in Holland eingesehen: Bisher konnten sie durchsetzen, dass der Gotteslästerung – Paragraph in dem liberalen Land Bestand hat. Nun soll Blasphemie aus dem niederländischen Strafgesetzbuch gestrichen werden.
Als man in der Bundesrepublik Deutschland Ende der neunzehnhundert sechziger Jahre die Reform des Strafgesetzbuches einleitete, wurde auch der Blasphemie -Paragraph 166 neu formuliert. Das Reichsstrafgesetzbuch hatte zuvor die Gotteslästerung noch unter Strafe gestellt sowie das Beschimpfen der christlichen Kirchen als Institutionen. Im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland ist von der Beleidigung Gottes keine Rede mehr: Hingegen ist das Beschimpfen und Beleidigen religiöser Menschen strafbar, und zwar immer dann, wenn dadurch der öffentliche Frieden gestört wird.
Die Vielfalt freier Meinungsäußerungen muss sich in der Weise gestalten, dass immer der öffentliche Friede gewahrt bleibt. Religiöse Menschen dürfen sich von religionskritischen Äußerungen nicht verletzt fühlen, andererseits müssen auch die Überzeugungen von Skeptikern und Atheisten vor beleidigender Polemik der fundamentalistisch Frommen geschützt werden.
Wenn es aber zu Streit und Konflikt kommt, wird genau abgewogen werden, ob das Grundrecht auf Meinungsfreiheit höher bewertet werden soll als das Grundrecht auf Religionsfreiheit: Denn erst die Meinungsfreiheit begründet und ermöglicht alle weiteren Freiheiten. Autokratische Regime sehen das anders: Sie deuten heute den Schutz ihrer Staatsreligion als Kampf für die Religionsfreiheit. Tatsächlich geht es ihnen aber nur um die eigene Macht. Deswegen unterdrücken sie dabei gleichzeitig Meinungsfreiheit. In einer demokratischen Kultur garantiert erst Meinungsfreiheit die Religionsfreiheit, jeder hat dann das Recht, seinen eigenen Glauben oder seinen eigenen Atheismus zu wählen.
Im Einzelfall wird auch in Europa immer wieder gestritten, ob eine Aussage in der Literatur oder die Arbeit eines Künstlers tatsächlich blasphemisch sind. Als sich ein deutsches Satire – Magazin kürzlich auf den umfassenden Geheimnisverrat im Vatikan bezog und viele verräterische, unkontrollierte Stellen dort andeutete, wurde auch Papst Benedikt XVI. ins Bild gerückt. Sofort meldete sich der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick zu Wort: Er erkannte in dem satirischen Bild Ansätze für eine Gotteslästerung. Er forderte die Anwendung des Paragraphen 166. Im August 2012 sagte Erzbischof Schick:

„Wer die Seele der Gläubigen mit Spott und Hohn verletzt, der muss in Schranken gewiesen und gegebenenfalls auch bestraft werden“.

Die Sache wurde dann nicht weiter verfolgt, weil ein so tiefes Wutpotential unter den Frommen doch nicht auszumachen war, von Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens gab es keine Spur. Aber konservative katholische Kreise in Deutschland lassen nicht locker: So forderte der katholische Schriftsteller Martin Mosebach grundsätzlich ein Eingreifen des Staates im Falle blasphemischer Äußerungen. Denn, so meinte er, die beleidigten Frommen könnten einmal voller Wut gewalttätig werden. Mosebach betonte:

„Das kann geschehen, wenn eine größere Gruppe von Gläubigen sich durch die Blasphemie in ihren religiösen Überzeugungen so verletzt fühlt, dass ihre Empörung zu einem öffentlichen Problem wird. Es wird das soziale Klima bei uns fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird“.

Durchgesetzt hat sich hingegen die Überzeugung: Wenn sich religiöse Menschen durch beleidigende Äußerungen verletzt fühlen, reicht der übliche strafrechtliche Schutz der Personenwürde aus. Eine pluralistische Demokratie ist stark genug, Menschen vor Beleidigungen zu verteidigen. Religiöse Menschen brauchen keine eigenen, nur sie behütenden Gesetze.
Die aktuellen Forderungen, Gotteslästerung auch in Europa wieder zu bestrafen, wurde als eine Form von „Neid – Reaktion“ beschrieben: Viele Muslime, so heißt es in christlichen Kreisen, kämpfen doch bis aufs Blut darum, Gott und seinen Propheten vor jeglicher Religionskritik freizuhalten. Sollten sich nicht Christen von dieser muslimischen Leidenschaft anstecken lassen? Der aus Ägypten stammende Politologe Hamed Abdel – Samat hat in dem Zusammenhang eine feine Unterscheidung formuliert:

„Ein normaler gläubiger Mensch geht davon aus, dass er selbst von Gott beschützt wird. Ein fundamentalistisch gläubiger Mensch meint, dass er als Mensch Gott beschützen will. Aber darin besteht die eigentliche Gotteslästerung, zu glauben: Gott muss von uns Menschen beschützt und verteidigt werden“.

Christliche Theologen sind heute dankbar, dass über Gotteslästerungen debattiert wird, weil man so auf die richtigen Spur kommt zu einem geläuterten Gottesbild, meint der protestantische Theologe Wilhelm Gräb von der Humboldt Universität zu Berlin:

„Die Gotteslästerung ist vor allem eine Form notwendiger Religionskritik! Sie gehört zum Wesen des christlichen Glaubens. Deswegen kann die christliche Religion sich gern den Vorwurf der Gotteslästerung gefallenlassen. Denn in der Religionskritik bemüht sie sich nur um die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Glauben. Ein Gott, dessen so genannte Ehre geschützt werden soll und der nur gehorsame Unterwerfung verlangt, gehört zu Recht gelästert und verspottet. Gotteslästerung als Form der Religionskritik erinnert daran: Unser Vertrauen gilt dem Gott, den kein menschliches Auge je gesehen hat. Er ist das Geheimnis der Welt. Wer das absolute Geheimnis zu einem verfügbaren Gegenstand macht, schafft einen Götzen“.
Darum können christliche Theologen in religionskritischen Arbeiten von Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern die Stimmen so genannter Fremdpropheten erkennen: Denn sie suchen sozusagen außerhalb der Glaubenswelt nach dem wahren, dem göttlichen Gott auf manchmal provozierende Weise. Aus diesem Grund ist auch der katholische Bischof Jacques Gaillot für den bis heute umstrittenen Film von Martin Scorsese „Die letzte Versuchung Christi“ öffentlich eingetreten. Der katholische Bischof betonte:

„Die Gläubigen werden in dem Film mit der Frage konfrontiert: Wie menschlich ist Jesus Christus tatsächlich für euch? Kann er auch Erotik erleben? Das ist nichts Gotteslästerliches! Wenn man die Freiheit der Meinungen garantieren will, dann akzeptieren wir doch auch das Recht auf Gotteslästerung. Verdient denn ein Filmemacher den Tod, wenn er einen „unfrommen“ Film dreht? Bewahren wir die Freiheit des kreativen Ausdrucks. Um diese Freiheit zu verteidigen, muss man auch bis zur Gotteslästerung gehen“.

In Zeiten zunehmender Radikalisierung religiöser Gruppen müssen neue Forderungen formuliert werden: Es gilt heute, die liberale und demokratische Öffentlichkeit zu schützen in ihrem friedlichen Miteinander. Es gilt die Attacken religiös motivierter, zerstörerischer Gewalttäter abzuwehren, die so oft angeblich Gotteslästerliches vernichten wollen, tatsächlich aber Feinde der Demokratie sind und der universal geltenden, für alle Menschen bestimmten Menschenrechte. In solchen Situationen braucht man keine neue Interpretation des Blasphemie Paragraphen. Was wir brauchen ist der Stolz der Demokraten auf die liberale und soziale Demokratie, auf das höchste Gut der Meinungsfreiheit, ohne die es, wie gezeigt, keine Religionsfreiheit, keine Pressefreiheit, keinen Kampf um einen Rechtsstaat geben kann.
Also: Nicht die Gotteslästerer bilden eine Gefahr für den Frieden in der Gesellschaft, sondern alle, die meinen, im Namen Gottes für die angeblich ewigen und reinen, aber undemokratischen Lehren bis aufs Blut kämpfen zu dürfen.

Es ist Zeit für die so genannten Führer aller Religionen ein einmütiges Bekenntnis abzulegen, ein Bekenntnis, das nicht willkürliche Meinung, sondern Ausdruck der allgemeinen Vernunft ist: Zuerst und vor allem kommen für religiöse Menschen, welcher Couleur auch immer, die universalen Menschenrechte (und damit eben auch das Recht auf Religionskritik) und erst dann, also in zweiter (!) Hinsicht, die so genannten Gotttesrechte. Diese Gottesrechte, sind wie alle gebildeten Menschen wissen, ja selbst Produkte von Menschen, sie wurden von religiösen Führern zu einer bestimmten Zeit als „heilig“ und „göttlich“ erklärt. Und diese Gottesgesetze sind deswegen immer an den ebenfalls weiterzuentwickelnden Menschenrechten zu messen.

Es ist also weltweit auch ein umfassendes Bildungsprogramm geboten: Ein deutliches Eintreten für die absolute Vorrangstellung der Menschenrechte vor allen religiösen Überzeugungen. Religiöse Schulen werden dieses Bildungsprogramm wahrscheinlich, wenn überhaupt, nur halbherzig realisieren. Die Franzosen haben schon recht, wenn sie laicité zum Grundprinzip des Staates und des gesellschaftlichen Miteinanders erklärten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wir empfehlen die Lektüre eines Interviews mit dem prot. Theologen Wilhelm Gräb zum Thema Gotteslästerung, das auf dieser website veröffentlicht kürzlich wurde. Zur Lektüre klicken Sie bitte HIER.

Literaturempfehlungen:

Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“ . Päpste und Gewalt im Hochmittelalter. Theiss Verlag, 2013.

Alain Cabantous, Geschichte der Blasphemie, Weimar 1999.

Jacques Gaillot, Ma liberté à l église, Verlag Albin Michel, Paris, 1989.

Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar 2000

Hamed Abdel – Samad, u.a. Mein Abschied vom Himmel, Fackelträger Verlag, Köln, 2009

Jean – Pierre Wils, Gotteslästerung. Verlag der Weltreligionen, 2007.

Anselm Grün wird 70: Mystiker und Finanzexperte

Pater Anselm Grün, der Benediktinermönch aus Münsterschwarzach, wird am 14. Januar 2015, 70 Jahre alt. Anselm Grün ist einer der erfolgreichsten spirituellen Schriftsteller, der klostereigene Vier Türme Verlag in Münsterschwarzach nennt eine Gesamtauflage von 18 Millionen Exemplaren in mehr als 30 Sprachen. Zu allen nur denkbaren Themen des christlichen Lebens hat sich Pater Grün geäußert, und er hat dabei eine weltweite Fan-Gemeinde gefunden. Als erfolgreicher spiritueller Autor interessiert er auch uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin, der sich selbstverständlich der Religions/Kirchenkritik verpflichtet weiß und sicher auch bald einmal das theologisch-psychologisches Konzept, den Grundtenor, der zahllosen Texte, Bücher und Vorträge etwas ausführlicher betrachten wird.

Nicht so sehr bekannt ist die Tatsache, dass der viel beschäftigte spirituelle Autor auch viele Jahre die oberste Verantwortung für alle finanziellen Belange seines Klosters hatte, zum Kloster gehören zahlreiche Betriebe mit mehr als 300 Angestellten, man kann also durchaus von einem “Unternehmen” sprechen. Und das scheint zu florieren, mit armen Mönchen als Bewohnern in einem reichen Kloster.

Der FAZ gewährte Pater Anselm Grün 2010 ein Interview über seine finanziellen Aktivitäten im Kloster und für das Kloster. Dieses Interview darf als Rarität angesehen werden, denn sonst äußern sich Ordensleute äußerst selten zu den Vermögen, Immobilien, Eigentumsverhältnissen usw. ihrer Ordensgemeinschaft bzw. ihres Klosters.

Das Interview mit dem Finanzexperten Pater Anselm Grün haben wir gekürzt, den ganzen Text sollte man bitte in der FAZ nachlesen, klicken Sie hier.

Pater Anselm Grün legt das Vermögen seiner Abtei an. Der Mönch glaubt an deutsche Einzelwerte. Und an eine Fluglinie in Hongkong.   22.12.2010 FAZ

Anselm Grün – Der Benediktiner Pater stellt sich im Kloster Münsterschwarzach den Fragen von Bettina Weiguny.

Pater Anselm Grün, wollen wir über Geld reden?

Gerne, Geld an sich ist nichts Schlechtes! Auch wenn es heikel für mich ist, darüber zu sprechen.

Als Mann Gottes sollten Sie das Geld verteufeln?

Das erwarten viele. Die reagieren sehr emotional, wenn ich erkläre, dass die Börse erst einmal ein lobenswertes Instrument ist. Dann schreiben sie mir böse Briefe, drohen, meine Bücher zu verbrennen.

Sie sind Bestseller-Autor und Finanzchef des Klosters Münsterschwarzach. Was macht mehr Spaß?

Das Schreiben natürlich. Und die Stunden, die mir für die Seelsorge bleiben. Aber um die Finanzen des Klosters muss sich jemand kümmern, seit 34 Jahren mache ich das.

Wie viele Millionen legen Sie an?

Mit Zahlen bin ich zurückhaltend. Ich habe mal erzählt, dass wir drei Millionen Euro mit argentinischen Staatsanleihen verloren haben. Da waren viele entsetzt. So viel Geld, jetzt ist er verrückt geworden! Aber bei einem Kloster mit 100 Glaubensbrüdern, zahlreichen Betrieben und 300 Angestellten geht es schnell um sehr hohe Summen.

Kürzung.

Sind Sie immer erfolgreich als Investor?

Es gab in all den Jahren nur zwei Ausreißer: 2002 und 2008. Natürlich habe auch ich in der Finanzkrise gelitten. Wegen verschiedener Bonuszertifikate hatte ich 30 Prozent Buchverlust. Das hat mich aufgewühlt. Wir brauchen das Geld für das Kloster, mussten Investitionen zurückstellen. Da habe ich schlecht geschlafen. Aber seit Anfang 2009 habe ich die Verluste fast wieder wettgemacht. Fünf Prozent fehlen mir noch, dann stehen wir wieder so gut da wie vor der Krise.

Was sind Ihre Hits im Depot?

Vor allem Nebenwerte, Firmen im MDax und TecDax. Aareal-Bank-Aktien habe ich Anfang 2009 zu 6 Euro gekauft, jetzt steht der Kurs bei 21 Euro. Auch Kuka-Aktien haben sich rentiert und Grammer, eine Maschinenbau-Firma.

Was stellen die her?

Das weiß ich nicht genau.

Das wissen Sie nicht?

Nein. So viel Zeit habe ich nicht. Ich widme jeden Tag höchstens fünfzehn Minuten der Geldanlage. Da gehe ich alle Kontoauszüge durch, lese Zeitung und einen Börsenbrief. Wenn mir dabei etwas auffällt, entscheide ich, ob ich etwas kaufe, verkaufe oder, und das ist mir am liebsten, alles so belasse. Man sollte nicht hektisch hin- und hertraden. Das können Investment-Banker machen. Privatanleger schaden sich damit meist.

Sie sind kein Daytrader?

Das halte ich für einen ganz falschen Ansatz. Natürlich gibt es Menschen, die denken: Morgens kaufe ich ein Wertpapier und abends verkaufe ich es mit 40 Prozent Gewinn. Das ist definitiv nicht mein Stil. Da hat das Geld den Menschen in Beschlag genommen. Er hat die gesunde Erdung verloren.

Das klingt jetzt spirituell.

Der Unterschied aber ist entscheidend. Die Bibel sagt, wenn der Reiche gedanklich nur noch um seinen Reichtum kreist, wird er innerlich leer. Es hilft nichts, sich tagelang den Kopf über seine Investments zu zerbrechen. Wenn man bei einem Wert ein gutes Gefühl hat, sollte man zugreifen – und sich dann sinnvollen Dingen zuwenden.

Allein dem Bauchgefühl zu folgen erscheint gewagt.

Zur Geldanlage gehört Mut, sonst sind Sie nie erfolgreich. Die Angst ist ein genauso schlechter Ratgeber wie die Gier. Die Angst macht kopflos, die Gier blind und leer.

Erliegen Sie nie dem Reiz der Börse, werden übermütig, gierig?

Nein. Man braucht eine innere Distanz zum Geld, sonst macht man Fehler. Das kann ich mir nicht erlauben. Allein von dem, was unsere Hände erwirtschaften – also Bäckerei, Schmuckatelier, Verlag und Landwirtschaft – können wir nicht leben. Wenn ich Fehler mache, prügeln hier alle auf mich ein: Wie konntest du bloß? Das schmerzt, ist aber in Ordnung.

Was sind Ihre Vorgaben für die Rendite?

Ich habe keine Vorgabe. Eine Rendite von sechs bis zehn Prozent sollte allerdings herausspringen.

—–KÜRZUNG

Wo investieren Sie derzeit?

Vor allem im deutschsprachigen Raum und einen Teil in den Bric-Staaten, Brasilien, Russland, China, Indien. Ich splitte – 60 Prozent Anleihen, 40 Prozent Unternehmensaktien, teils über Fonds. Zudem Rohstoffe jeglicher Art.

—- KÜRZUNG

Aber über Fonds investiere ich in Edelmetalle, in Agrarrohstoffe, Industriemetalle und Energie.

Erneuerbare Energien?

Da wäre ich vorsichtig. Viele Unternehmen gehen mit den Prädikaten hausieren, können aber nicht sinnvoll mit Geld umgehen, da werde ich fuchsig. Ich habe mit einem Klimawandel-Fonds viel Geld verloren. Auch bei den Ökofonds überzeugt mich vieles nicht.

—-KÜRZUNG:

Was springt Sie gerade an?

Qiagen. Der Pharmahersteller ist, glaube ich, sehr interessant.

Vermeintlich sichere Staatsanleihen meiden Sie, nach Ihrem Argentinien-Fiasko?

Generell ja, nur bei Griechenland bin ich kürzlich eingestiegen. Die Anleihe läuft bis 2013, bis dahin ist das Geld durch den Rettungsschirm garantiert.

„Sie Spekulant!“, werden jetzt einige rufen.

Vermutlich, ja. Aber ich spekuliere nicht auf den Bankrott des Landes. Das würde ich nie tun. Ich halte mich an ethische Standards, investiere nicht in Rüstungsanleihen. Aber Purist kann man angesichts der Verflechtungen, die es weltweit gibt, nicht sein. Natürlich habe ich Siemens im Portfolio, BASF und Daimler. Ebenso chinesische Firmen, obwohl ich sehe, dass dort in Sachen Menschenrechte Nachholbedarf besteht.

China ist auch für Sie spannend?

Sehr, ich setze allerdings nur auf Fonds. Einzelwerte traue ich mir in Asien nicht zu, dazu kenne ich mich nicht gut genug aus. Obwohl, es gibt eine Ausnahme: Ich habe Aktien einer Fluggesellschaft: Cathay Pacific in Hongkong.

—KÜRZUNG

P. Grün: Diese Aktie hat sich traumhaft entwickelt.

—KÜRZUNG:

Womit verdienen Sie mehr Geld: mit Geldanlage oder Büchern?

Ich sage es nur ungern: Natürlich mit der Geldanlage.

Ein Hinweis der FAZ:

Pater Anselm Grün wurde am 14. Januar 1945 geboren. Wilhelm Grün, so sein bürgerlicher Name, trat nach dem Abitur dem Benediktinerorden in der Abtei Münsterschwarzach bei. Der promovierte Theologe, der auch Philosophie und Wirtschaft studiert hat, führt seit 1977 die Betriebe des Klosters. Er hat 300 Bücher geschrieben und ist einer der meistgelesenen christlichen Autoren der Gegenwart.

Quelle:

http://www.faz.net/aktuell/finanzen/fonds-mehr/anselm-gruen-moench-und-vermoegensverwalter-zehn-prozent-rendite-sollten-schon-rausspringen-11085869-p2.html

Wir haben einen Vorschlag für ein weiteres Buch, das Pater Anselm Grün schreiben könnte und das sicher weltweit ein Bestseller wird: Wie ist es möglich, als armer Mönch, als arme Nonne, in einem offenbar reichen Kloster zu leben?

Die Kurie des Vatikans ist mental versteinert. Die Weihnachtsansprache von Papst Franziskus 2014.

Hinweise zur Rede des Papstes am 21. 12. 2014 vor Mitarbeitern der römischen Kurie, also Kardinälen, Erzbischöfen, Prälaten usw.

Von Christian Modehn am 24. Dezember 2014

1.

Die hochrangigen  Mitarbeiter der päpstlichen „Kurie“, sind schwer krank, sagt der Papst in seiner Weihnachtsansprache 2014 vor hochranigigen Mitarbeitern im Vatikan: Die noch harmloseren Krankheiten und Fehlverhalten (Sünden im klassischen katholischen Verständnis) sind  für den Papst: „Sich für unverzichtbar halten“ oder „exzessives Tätigsein“. Schwerwiegender und wahrscheinlich  kaum noch heilbar sind hingegen: „Geistliche Alzheimer Krankheit“, „mentale und spirituelle Versteinerung“, „existentielle Schizophrenie“, „Gleichgültigkeit gegenüber anderen“, „Vergöttlichung der Oberen“, „Anhäufung materieller Güter“, „Sucht nach weltlichem Profit“: Insgesamt sind es 15 schwerwiegende, eigentlich tödliche Gebrechen, die da bei genauer Analyse unter den Mitarbeitern der Kurie diagnostiziert werden. Der Text  ist in deutscher Sprache  am schnellsten auffindbar in einer Publikation von Radio Vatikan, klicken Sie bitte hier.

Diesen in dieser Deutlichkeit kaum erwartbaren Befund hat Papst Franziskus in seiner üblichen Ansprache zu Weihnachten am 22. 12. 2014 im Vatikan vor der versammelten Mannschaft der Kardinäle und Prälaten gehalten. Sie alle leiden unter den genannten Gebrechen/Sünden. Das üppige Weihnachtsessen wird ihnen wohl erst einmal vergangen sein.

2.

Über sofortige oder spätere Wutausbrüche der konservativen geistlichen Mitarbeiter – Schar, die sich in ihrer Macht und in ihrem Luxus als die Nachfolger des armen Jesus von Nazareth immer noch fühlen, ist naturgemäß nichts bekannt. Aber die Wut muss maßlos sein auf einen „Fürsten“, also den Papst, der seinen Hof (die Kurie) für ein dermaßen korruptes “Volk” hält und dies zur allergrößten Schande auch noch öffentlich sagt. Eigentlich hat sich der Fürst damit selbst entthront. Und diese Karriere hat Papst Franziskus begonnen, als er nicht im monströsen Palast, sondern im schlichten Gästehaus seine Wohnung bezog.

3.

Man greift wohl nicht zu hoch, wenn man diese Rede, die auch noch einen Tag danach in der deutschsprachigen Presse unseres Wissens nach nur in Auszügen vorliegt, also als eine historisch höchst relevante und höchst bedeutende Rede hält. Und die Kritik am Klerikalismus kehrt immer wieder in der päpstlicher Kritik, ergänzt am 28.9.2024, CM

Und man kann nur hoffen, dass Papst Franziskus diese Rede überlebt, nicht nur im engeren Sinne physisch überlebt, sondern auch seelisch halbwegs stabil bleiben kann. Denn man ahnt, in welcher perfiden Umgebung von Feindseligkeiten und in welchem verlogenen System sich der Papst im Vatikan aufhält. Und man ahnt, wie er leidet, diese Rede ist Ausdruck eines tiefen Schmerzes.

4.

In einer solchen Situation ist es paradox, dass ausgerechnet eine religionskritische Institution, wie unser „Religionsphilosophische Salon Berlin“,  Papst Franziskus explizit verteidigen und ausdrücklich loben muss. Religionskritiker freuen sich also  – etwas – über Papst Franziskus:

5.

Bei allem Lob: Uns erscheint doch problematisch, dass Papst Franziskus nicht die strukturellen Ursachen dieser 15 Perversionen/Krankheiten/Sünden im Vatikan selbst nennt. Er spitzt die Kritik zu auf die Personen allein, soweit wir bisher den Text gelesen haben.

Diese Perversionen/unheilbaren Krankheiten/Sünden entstehen aber in einem System, das ausschließlich zölibatären Männern die Macht total überlässt; die keine interne demokratische Kontrolle kennt; keine Beteiligung der Gläubigen, etwa in der Bestimmung des Chefs der Glaubensbehörde usw. Es ist nicht nur das System aus uralten Renaissance-Zeiten, es ist vor allem auch die fundamentalistische Interpretation der Lehre (der Bibel) selbst, die solche Missstände fördert und verursacht: Wenn sich etwa Kardinäle als Mitarbeiter der göttlichen Wahrheit sehen, wenn sie und nur sie meinen, richtig die Ehemoral auslegen zu dürfen usw., wenn diese Herren und nur sie vorgeben zu wissen, was katholisch ist usw. Dieser wahnhafte und totalitäre Machtanspruch, der keine Widerrede duldet (man lese nur einmal die Äußerungen von Kardinal Müller, Rom) ist letztlich theologisch-ideologisch erzeugt. Er ist für die Gemeinschaft der Glaubenden verletzend, wenn nicht (seelisch) tödlich.

Wenn sich die Kirche zum Evangelium und zur Menschlichkeit hin entwickeln will, muss dieser krankhafte Machtwahn, diese geistliche Alzheimer Krankheit wie der Papst sagt, gebrochen/geheilt, werden.

6.

Historiker können aus aktuellem Anlass noch einmal die Analyse Luthers studieren, als er sich über die Curie äußerte. Vermutlich werden da gleichlautende Analyse von Luther und Papst Franziskus auffallen. Oder man lese die Analyse über den Klerus, die der böhmische Reformator Jan Hus äußerte. Oder man lese das Buch des Theologen und Philosophen Antonio Rosmini über „Die 5 Wundmahle der heiligen Kirche“ (1849), ein Buch ähnlichen Inhalts wie die Rede des Papstes am 22. 12. 2014. Antonio Rosminis Buch (er ist einer der bedeutendsten Philosophen im Italien des 19. Jahrhunderts und Gründer von Ordensgemeinschaften) wurde selbstverständlich sofort auf den Index gesetzt. Gott sei Dank kann niemand die Rede des Papstes am 22. 12. 2014 auf den Index setzen.

7.

Aber aufgrund dieser durchaus reformatorischen Kirchen-Kritik könnte Papst Franziskus doch definitiv Ehrengast und Redner sein bei den Feiern rund um das Reformationsjubiläum. Man muss ja nicht bis 2017 warten. Dann könnten sich auch die anderen Kirchen, die Russisch – und Griechisch-Orthodoxen Popen und Patriarchen, die Protestanten, Pfingstler usw.  fragen, wie es denn mit ihrer eigenen “Kurie” (Bürokratie) bestellt ist. Und wo auch sie “Versteinerungen” “spirituelles Alzheimer” usw. zeigen.

8.

Die RP (“Rheinische Post”) berichtet am 24. 12. 2014, dass sich der deutsche Kurienkardinal Cordes, er ist eng mit der Neokatechumenalen Bewegung des Kiko verbunden, öffentlich von Papst Franziskus distanziert hat. Die RP schreibt: “Mit allen Würdenträgern und solchen, die sich dafür halten, pflegte Franziskus zum Abschiedsgruß (am 22. 12. 2014, CM) eine kurze herzliche Unterhaltung; nicht so mit dem emeritierten Kurienkardinal Paul Josef Cordes. Der hatte zum Entsetzen vieler seiner Mitbrüder neulich einem Besucher seine Abneigung gegen den Papst so offenbart: “Es hätte schlimmer kommen können.” Ein Vatikan-Intimus meinte dazu, Cordes sei wenigstens ehrlich, andere Traditionalisten in Purpur und Violett dächten genau abschätzig wie der Deutsche über den “Tango” – Theologen auf dem Stuhl Petri, sagten es jedoch nach vatikanischer Sitte nur hinter zwei vorgehaltenen Händen. (RP ONLINE am 26.Dez 2014 gelesen).

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Glauben ohne Gott: Begegnungen mit Atheisten. Zu einem Film der ARD

Glauben ohne Gott: So der Titel eines Films von Christian Modehn im Ersten (ARD) 2007.

Es werden immer häufiger Zeitungs-Berichte und Bücher publiziert, die der Frage nachgehen: Wie sieht eigentlich ein Glaube ohne Gott aus, d.h. wie sieht eine Spiritualität aus bei Menschen, die konfessionell nicht gebunden sind und/oder an eine göttliche “Wirklichkeit” nicht glauben können/wollen. Es gibt jetzt auch Versuche von Atheisten, in “Sunday Assemblies” sozusagen “Gottesdienste”, Feierstunden ohne Gott zu gestalten. TIP Berlin berichtet z.B. darüber in seiner Ausgabe vom 18.12.2014. Clemens Niedenthal, der Autor des Beitrags “Nicht zu glauben” über die Suday Assembly in Berlin, schreibt am Ende seiner Reportage die sehr bedenkenswerten Worte: Nachdem er die Sonntagsversammlung der Atheisten verlassen hat, “beschleicht einen das Gefühl, dass ein Phänomen wie die Sunday Assembly vielleicht gar nicht mal nur von der Krise des Religiösen erzählt. Sondern umgekehrt auch eine Krise des Atheismus beschreibt. Offensichtlich ist es doch gar nicht so einfach, auf Gott zu verzichten. Dafür braucht es zumindest eine pseudoreligiöse Choreographie. Eben einen Gottes-, Verzeihungs-, Gutesdienst” (S. 33 TIP, 18.12. 2014).

Der religionsphilosophische Salon Berlin hat zu dem Thema “Atheistische Spiritualität” in den letzten Jahren etliche Beiträge publiziert. Auch einige Salonabende haben sich mit dem Thema befasst. Wir halten es für dringend wichtig und inspirierend, der Frage einer atheistischen Spiritualität nachzugehen, selbst wenn die Initiatoren des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons sich als religiös sehr interessiert und mit christlichen (z.B. liberal-theologischen) Traditionen verbunden wissen. Christen können aus der Begegnung mit Atheisten durchaus lernen;  jegliche feindliche Abwehr oder gar bloß Desinteresse sollte ausgeschlossen sein. Da gibt es unserer Meinung nach in kirchlichen Kreisen Berlins noch einen enormen Nachholbedarf.

In dem Zusammenhang fragen jetzt einige Leser unserer website, ob das Interview mit Christian Modehn (Autor des Films 2007) und der Protagonistin Gita Neumann vom Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) noch einmal zum Nachlesen zur Verfügung gestellt werden kann. Wir stellen das Interview, veröffentlicht im Humanistischen Pressedienst im Jahr 2007, noch einmal zur Lektüre bereit:

Humanisten im Fernsehen – was für eine Überraschung! Am kommenden Sonntag, am 25. Februar 2007 um 17.30 Uhr, zeigt die ARD in ihrem Ersten Programm die Reportage „Glauben ohne Gott”. Der RBB-Autor Christian Modehn begleitete dafür Gita Neumann, Referentin für Lebenshilfe beim HVD Berlin, über mehrere Monate zu verschiedenen Wirkungsstätten ihrer <Arbeit>.

Christian Modehn ist in dem Stoff, von dem der Film handelt, sehr umtriebig und unterhält dazu eine eigene <Homepage> als „Denkbar” mit Themen wie „Was hat Mystik mit Atheismus zu tun?” und „Was hat Philosophie mit Religion zu tun?” Gita Neumann ist wegen ihres Engagements für <Patientenverfügungen und humanes Sterben> bekannt.

Frau Neumann, Herr Modehn, herzlichen Dank für die Zeit, die Sie diesem Interview widmen. Herr Modehn, die erste Frage geht an Sie.

hpd: Was hat Sie bewogen, einen Film über ein Projekt des Humanistischen Verbandes hier in Berlin zu drehen?

Modehn: Am Anfang des TV-Projekts stand die Frage: Welche Lebensphilosophie haben Menschen, die sich atheistisch, agnostisch oder weltlich-humanistisch nennen? Den Begriff Lebensphilosophie könnte man auch in einer religionswissenschaftlich orientierten Sprache “Spiritualität” nennen. Ich bin als Journalist lebhaft interessiert, die Spiritualität(en) von Atheisten, Skeptikern, Agnostikern und Humanisten zu dokumentieren. Denn “Spiritualität” betrachten ja auch die Kirchen und die anderen Religionen nicht mehr als ihr Monopol.
JEDER Mensch hat seine eigene Spiritualität, seinen persönlichen Lebenssinn, seine persönlichen Werte und Normen. Bei dieser journalistischen Frage bin ich auch wieder an den Humanistischen Verband erinnert worden.
Vom Format des Halbstundenfilms wurde redaktionell im RBB die Konzentrierung auf eine Person, eine Protagonistin, vorgegeben. In einem Programm, das um 17.30 am Sonntagnachmittag gesendet wird, wollen die Zuschauer eher Menschen begegnen als einem Sachthema. Darum bin ich sehr dankbar, dass sich Gita Neumann vom Humanistischen Verband zur Mitarbeit bereit erklärt hat.
Frau Neumann kannte ich von Ihren aktuellen Aktivitäten wie von einem früheren Film für den SFB schon. Die Zusammenarbeit habe ich wieder als sehr angenehm empfunden.

hpd:Wie sind Sie auf den Titel gekommen?

Modehn: Ich denke, das war ein längeres gemeinsames Suchen. Entscheidend war die Frage: Wie kann ein Dokumentarfilm mit dem Thema möglichst weite Zuschauerkreise erreichen und konstruktive Diskussionen in Gang setzen.

hpd: Frau Neumann, was hat Sie bewogen, in diesem Film „mitzuwirken”? Einer Aussage in „diesseits” entnehme ich, dass Sie Wert darauf legen, sozusagen „dienstverpflichtet” worden zu sein?

Neumann: Nun ja, ich wollte erstens den Eindruck vermeiden, meine Person in den Mittelpunkt gerückt zu haben, wo es doch um weltanschauliche Fragen geht, die den Humanistischen Verband betreffen.
Zweitens war mir schon im Vorgespräch klar, wie viel Arbeit und Zeit da auf mich zukommen, auch organisatorischer Art. Es ging ja nicht nur um die neun Drehtage, dafür bestimmte Szenen aus einem schier unerschöpflichen humanistischen Umfeld auszuwählen und mit den Betroffenen abzustimmen. Sondern, nur ein winziges Beispiel, musste für alle Bewohnerinnen unserer Demenz-WG eine offizielle Einverständniserklärung der jeweiligen Betreuerin eingeholt werden – hätte eine einzige gefehlt, hätten wir nicht drehen können.

hpd: Nun liegt der Film vor, wird er Ihnen und den Kolleginnen (es kommen ja sehr viele Frauen vor) gerecht?

Neumann: Denen, die gezeigt werden, denke ich schon. Schade ist natürlich immer, wer und was alles fehlt. Ja, die Beratungs-, Sozial- und Betreuungsarbeit „direkt an den Menschen” wird natürlich auch im HVD im Wesentlichen von Frauen geleistet.

hpd: Wie war die Arbeit mit Herrn Modehn? Meinen Sie, er hat Sie zu sehr „gelenkt”?

Neumann: Das Verhältnis war gut und angenehm – sonst wäre das ja auch gar nicht auszuhalten gewesen. Es musste oft mehrfach derselbe Gang in ein Haus o. ä. gedreht, dann sehr oft die gleiche oder ähnliche Frage beantwortet werden – v. a. zu den „humanistisch-seelsorgerischen” und „spirituellen” Aspekten, die ihm besonders am Herzen lagen. Da muss man einfach Vertrauen haben und authentisch sein können – sich verstellen, aufpassen oder jedes Wort auf die Goldwaage legen, das geht da einfach auf die Dauer nicht. Weniger das “Lenken” als später die Auswahl, der Schnitt macht dann den Film aus.

hpd: In diesem Film wird viel über Spiritualität gesprochen. Meinen Sie, es gibt eine humanistische Spiritualität oder eine Spiritualität der Humanisten. Ist das Identisch und vor allem: Was ist das?

Modehn: Ich vermute, dass jeder Humanist seine eigene Lebensphilosophie, also Spiritualität hat. Da gibt es dann aber auch wieder vieles Gemeinsames. Also dann doch eine Spiritualität “der” weltlichen Humanisten. Das Thema ist ziemlich neu, darum ist es nicht einfach, Genaues zu beschreiben. Sicher wird humanistische Spiritualität eine große Liebe zu den Menschen haben, vor allem zu denen, die leiden, die Unrecht erfahren, die ausgegrenzt werden. Humanistische Spiritualität wird sich gegen allen Missbrauch des Wortes Gott in der Öffentlichkeit wehren: Etwa, wenn Gott benutzt wird, um Gewalt, Kriege, Ausgrenzung und Intoleranz zu verbreiten. Humanistische Spiritualität hat diesen kritischen Charakter, hat aber auch eine “innere”, meinetwegen seelische Dimension: die Liebe zur Stille, zur Meditation, zur Poesie, zur Musik, zum Miteinander, zur Erotik, zur inneren Freiheit ohne Tabus und Ängste.

hpd: Gab es einhellige Freude in ihrem Team bei dem Thema „Glauben ohne Gott”? Hatten Sie auf das Thema Einfluss?

Neumann: Mein direktes kleines Team von einem halben Dutzend Kolleginnen macht bei diesem Thema fantastisch mit. Es ist ja so, dass die Krankenkassen bei den Qualitätskriterien für die Finanzierung der ambulanten Hospizarbeit als vierte Säule die “spirituellen Bedürfnisse” sterbender Menschen – zusammen mit den körperlichen, sozialen und psychischen – von uns befriedigt sehen wollen. Deshalb haben wir uns zwangsläufig schon immer fragen müssen, was das – etwa im Sinne von Epikur – für konfessions- oder religionsfreie Menschen eigentlich ausmacht.
Der Kern der Antwort: Es ist die Sinnfrage. Was wir für gut und richtig halten, daran kann man eben nur glauben (das hat rein gar nichts mit Gottesglauben oder Frömmigkeit zu tun), das entzieht sich dem rationalen Zugang. Der Film wurde von manchen Kolleginnen als “zu todeslastig” angesehen. Dabei wird m.E. nicht verstanden, dass die Sinnfrage im humanistischen Sinn für die gilt, die mitten im Leben stehen. Vielleicht nach dem Motto: Lebe so, wie du, wenn du sterben musst, wünschen wirst, gelebt zu haben.

hpd: Was halten Sie von dem Motto: “Glaubst du noch oder denkst du schon”?

Modehn: Hinter dieser etwas saloppen Formulierung verbirgt sich ein wichtiges Problem. Ich hätte fast Lust, mit Gegenfragen zu antworten: “Kann man vom Denken her zu einer vernünftigen Form des Glaubens kommen?” “Wer nichts glaubt, denkt der das oder glaubt er das?” “Wie weit und wie tief will das Denken selbst verstanden werden, damit nicht schon der technische Verstand als Höchstform des Denkens gedacht wird?”
Aber zurück zu Ihrer Frage – Sofern diese Frage unterstellt: Religiöser Glaube ist etwas Magisches, Irrationales, Spinöses, Wundersames, Bigottes, Hinterweltlerisches, Autoritäres (z.B. Frauen und Homosexuelle Ausgrenzendes) und gar Gewalttätiges usw., dann hat dieses Motto recht: Dieser “Glaube” muss angesichts des kritischen Denkens überwunden werden. Er hat menschlich und philosophisch gesehen keinen Wert, so sehr sich ein einzelner darin subjektiv wohlfühlen mag. Aber objektiv verdient ein solcher “Glaube” alle Religionskritik!
So halte ich dieses Motto auf den ersten Blick für vernünftig, weil sich ja tatsächlich alles Tun der Menschen vor dem Denken (und damit vor dem Argument) rechtfertigen muss. Wir haben kein anderes Maß für ein vernünftiges Miteinander in einer pluralen Gesellschaft als die Vernunft – eben das Denken – die in Gesprächen immer mehr geklärt wird.

Dennoch meine ich: Das Denken selbst weist immer wieder in Bereiche, die mit naturwissenschaftlichem Verstand nicht erreicht werden. Im Denken selbst (!) zeigt sich, dass wir Menschen mehr sind als „Denken”: Wir haben Emotionen, Triebe, Gefühle usw., die vom Denken gesteuert werden (können, sollten). Aber diese Emotionen, z. B. Vertrauen, haben eben auch einen eigenen Stellenwert. Darauf wollen und sollen wir nicht verzichten.
Wir “glauben” dem anderen Menschen, dass er sein Wort hält. Wir glauben dem Partner, der Partnerin, dass wir gemeinsam durchs Leben gehen wollen usw. Wir können innerlich bewegt sein von Musik, Natur, Kunst und glauben dann: Da wurde in mir eine neue Stimmung wachgerufen.
In einer solchen Erfahrung, die ich bereits Glauben nenne, wird Tiefes berührt. Manche sagen, da werden Erfahrungen gemacht, die über das Alltägliche hinausgehen. Manche sprechen vom Erstaunlichen, vom Erhabenen. Manche nennen es Göttliches, manche nennen es Gott. In diesen Erfahrungen, über die man selbstverständlich reden und deswegen auch bedenken muss, sehe ich die eigentliche und wahre Basis all dessen, was ich Glauben nennen würde. Die Konfessionen und Religionen haben der Pflege dieser individuell je verschiedenen Erfahrung des Erstaunlichen und meinetwegen Göttlichen zu dienen.

Ich sehe den Begriff Glauben in dem beschriebenen Sinne also sehr tief verbunden mit den Vollzügen menschlichen, geistigen Lebens. Ich könnte also begründet sozusagen als Alternative sagen: “Ich glaube, weil ich denke. Aber ich lasse meinen Glauben immer vom Denken kritisieren”.

hpd: Kommt der Film zu richtigen Zeit, vom Thema her gesehen?

Neumann: Ja, aber in einem andern Sinn, als Sie vielleicht meinen. Es ist die richtige Zeit sich die Frage zu stellen: Kann und will auch eine humanistische Lebensphilosophie der Selbstbestimmung versuchen, Antworten zu finden auf das menschliche Bedürfnis nach Spiritualität und Halt, den z. B. ritualisierte Umgangsformen zu bieten vermögen? Dabei sind wir in der glücklichen Lage, auf ein Spezifikum unserer Tradition, nämlich die feierliche Gestaltung von Namens-, Jugend-. Hochzeits- und Trauerfeiern anknüpfen zu können.
Wollen wir schließlich einen neuen humanistischen Lebensstil entwickeln, der Anerkennungsstreben, Kritik, Vernunft und Realismus versöhnt mit Glauben, Hoffnung, Achtsamkeit und Liebe? Ohne letztere Dimension kann heute leicht die Gefahr bestehen, dass Unsentimentalität in Zynismus oder Gleichgültigkeit abgleitet.

Ich halte es gern mit Erich Fromm, der sich auf Marx, Freud und Buddha gleichzeitig beruft. Er spricht von „Transzendenz” im Sinne des Heraustretens „aus dem Gefängnis” des Egozentrismus und des „Haben-Wollens” im Sinne von Überwindung des Waren- und Konsumfetischismus. Das heißt natürlich, dass wir für unsere Überzeugungen eintreten, auch in den politischen Diskurs, dass wir uns nicht lieb und nett auf den „großen Dialog” mit allen Gutwilligen beschränken. Der Kampf um Selbstbestimmung, die schonungslose Kritik von entmündigenden Verhältnissen war immer unverzichtbarer Bestandteil unserer humanistisch-freigeistigen Tradition.

hpd: Entdecken nun auch die Humanistinnen und Humanisten den Glauben?

Modehn: Könnte ja sein, dass sie einen Glauben längst entdeckt haben: Immer wenn Vertrauen, Solidarität, Hilfsbereitschaft gelebt werden, spielt ja, denke ich, der Glaube eine Rolle: Der engagierte Atheist glaubt eben auch, dass es gut und richtig ist, gut zu sein, solidarisch zu sein. Dass Gutsein eben gut und vernünftig ist, lässt sich doch nicht mathematisch demonstrieren! Die traditionelle (und historisch gesehen sehr verständliche) Abwehr des kirchlichen Glaubens durch die Atheisten und weltlichen Humanisten darf ja nicht blind machen. Ich denke deswegen manchmal: Auch Atheisten “glauben” in dem beschriebenen menschlichen Sinne wie alle anderen Menschen auch. Dass sie sich aber einem konfessionellen Glauben, etwa einer Kirche, nicht anschließen, ist ohne jede Frage ihr gutes Recht. Glauben ist an keine bestimmte Institution gebunden!

hpd: Haben Sie hier Unterschiede zu Christen in Ihren früheren Filmen festgestellt? Worin sehen Sie die?

Modehn: Ich denke, alle Menschen, die ernsthaft und authentisch humanistisch sind, also auch glaubende Humanisten, etwa Christen, leben von diesem Impuls, dem leidenden Menschen beizustehen.
Ich möchte aber an das Beispiel von Gita Neumann erinnern, an ihre Fürsorge für Menschen, die am Leben leiden und nicht vor Schmerzen krepieren wollen. Dieses Verständnis und Einfühlen, das habe ich sicher auch unter Christen gefunden. Nur: Sind die Christen nicht oft ängstlicher, irgendwie bei den kirchlichen Autoritäten anzuecken: Etwa, wenn es darum geht, über konsequente Selbstbestimmung zu sprechen auch gegenüber meinem eigenen Tod? Ich finde auch, der Einsatz für eine konsequente Durchsetzung der Patientenrechte durch Gita Neumann ist natürlich sehr anerkennenswert.

hpd: Sind Sie Christ, wenn man so was fragen darf?

Modehn: Darf man gelegentlich mal fragen. Nur haben es Christen schwerer als Atheisten, mit einem klaren Ja oder klaren Nein zu antworten. Denn Christentum ist eine äußerst vielfältige Bewegung. Ich persönlich fühle mich mit den katholischen mystischen Traditionen (z.B. Meister Eckart oder dem Karmel) sowie mit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung verbunden. Besonders nahe fühle ich mich als Theologe und Philosoph den Freisinnigen protestantischen Kirchen der Niederlande.
Sie sind übrigens gern gesehene Gesprächspartner der niederländischen Humanisten. Leider in Deutschland nahezu unbekannt!

hpd: Sie sind die „Bundesbeauftragte des HVD für Patientenverfügungen und humanes Sterben” und werden ganz persönlich, teilweise mit Ihrem Mann, dem Künstler Rudolf Valenta, porträtiert. Wo würden Sie, nachdem der Film fertig ist, wenigstens hier per Interview, Korrekturen, wenigstens leise, anmerken wollen?

Neumann: Das überlasse ich gern anderen, es gibt ja genug Kritiker/innen, die den Beitrag entweder als zu sentimental oder auch zu kulturell empfunden haben und sich mit ihrem Realismus hier gar nicht wiederfinden. Nun ja, Herr Modehn hat mir vielleicht ein wenig zuviel “Naturmystik” angedichtet – mir geht es eigentlich um das nicht erklärbare Wunder, wie überhaupt Leben entstanden ist – die Evolutionsgesetze können wir ja wissenschaftlich gut beschreiben.
Dann hätten einige Angaben bezüglich des Humanistischen Verbandes präziser sein können. Etwa, dass es sich bei der gezeigten Uraufführung der tschechischen Komponistin Sylvi Smejkalova um ein von einer unabhängigen Jury preisgekröntes Musikstück handelt, und zwar aus Anlass der 100jährigen Jubiläumsfeier des Humanistischen Verbandes (mit Eröffnungsrede des Berliner Regierenden Bürgermeisters). Also ein bisschen mehr (verbands-) politische Aspekte und ein Hinweis auf unsere bundesweiten Erfolge, z. B. mit der Patientenverfügung in den Verbrauchermagazinen an oberster Bewertungsstelle zu stehen, hätten dem Film gut getan. Auch fehlt auf meine Person bezogen vollständig das Aktivistische, z. B. im Bereich Patientenrechte, und das Intellektuelle, was mich eigentlich auch stark macht.

hpd: Nun handelt der Film viel von Sterbehilfe und Patientenverfügungen. Und Sie haben das Team (des HVD) beobachtet. Was würden Sie jetzt, rückblickend zu dem Thema sagen?

Modehn: In dem Film wird Sterbehilfe eigentlich nicht thematisiert! Frau Neumann begleitet einen schwerstkranken Menschen, der sich nach einem würdigen Abschied ohne Schmerzen sehnt. Humanistische Seelsorge, nicht Sterbehilfe, ist eines der Themen des Films!
Ich persönlich meine darüber hinaus und abgesehen von diesem Film, dass es doch viel Anerkennung verlangen sollte, wenn immer wieder laut Umfragen 80 Prozent der Bundesbürger aktive Sterbehilfe in Ausnahmesituationen richtig und ethisch akzeptabel finden. In den meisten “Fällen” sind Hospize das richtige Angebot.
Ich habe bisher leider nur in den Niederlanden Christen, Protestanten wie Katholiken, getroffen, die offen für eine aktive Sterbehilfe eintreten. Der neue Leiter des dortigen Verbandes NVVE (Verband für Freiwillige Euthanasie) in Amsterdam ist ein “praktizierender Katholik”. Diese Christen wissen von ihrem kirchlichen Glauben her: Der schwerstkranke leidende Mensch, der um aktive Sterbehilfe bittet und ein würdiges Ende im Kreise seiner Lieben will, der kehrt ja endlich – seinem Glauben gemäß – in seine himmlische Heimat, zu Gott, zurück. “Unsere wahre Heimat ist der Himmel”, sagt der Apostel Paulus. Was können kirchliche Instanzen eigentlich dagegen haben?

hpd: Bei dieser Gelegenheit eine Sachfrage: Wie viele Patientenverfügungen hat der HVD in den letzten Jahren abgeschlossen?

Neumann: Wir fassen in unserem interdisziplinären Team in Berlin täglich gut fünf individuelle Patientenverfügungen ab, im Jahr etwa 1250, und das seit Anfang der neunziger Jahre, allerdings waren es vor 1999 deutlich weniger. Dazu täglich unzählige Beratungen von Hilfesuchenden telefonischer, persönlicher oder auch elektronischer Art. Unsere Internetseite wird von über einer halben Millionen Menschen jährlich besucht und für Downloads genutzt. Darüber hinaus wurden im letzten Jahr etwa 35.000 Broschüren mit Vorsorgeformularen und Textbausteine für so genannte Standard-Patientenverfügungen postalisch bei uns bestellt oder abgeholt.

hpd: Was ist hier Ihre wichtigste Erfahrung?

Neumann: Selbstbestimmung und Fürsorge gehören eng zusammen, beides ist von Verantwortlichkeit getragen. Und: Aufklärung muss meist leider immer wieder bei Null anfangen.

hpd: Was würden Sie in der jetzigen Debatte um ein „Patientenverfügungsgesetz” Politikerinnen und Politikern unbedingt mit auf den Weg geben?

Neumann: Die Politik kann und soll kein generelles Misstrauen gegen die (Eigen-) Verantwortlichkeit der beteiligten Akteure, vor allem der Familien haben, diese nicht mit Überreglementierungen und überflüssigen amtsrichterlichen Kontrollverfahren drangsalieren. Lebensende, Sterben und die Einwilligung in körperinvasive Eingriffe müssen dem Bereich des Persönlichen überantwortet bleiben.
Die einfachste und praktikabelste Rahmenregelung ist die Beste. Und die lautet: Eine valide Patientenverfügung gilt – unabhängig von Krankheitsstadien oder gar Krankheitsarten – verbindlich, wenn sie nur hinreichend konkret auf die dann eingetretene Situation beziehbar ist. Alle anderen Detailüberlegungen schaden nur, weil sich der Einzelfall der gesetzlichen Normierung entzieht. Jeder Politiker und jede Politikerin sollte sich fragen: Wer bin ich denn, für einen anderen Menschen einen Katalog aufstellen zu wollen, ab wann dessen Leben nicht mehr oder immer noch lebenswert ist. Da ist die Tür zur aufgezwungenen Intensivmedizin oder auch zur Diskriminierung weit offen

hpd: Noch mal zur Eingangsfrage: Sie kennen den HVD seit einigen Jahren. Wie beurteilen Sie ihn gesellschaftspolitisch? Was würden Sie den Leuten im HVD unbedingt noch sagen wollen?

Modehn: Mir steht es nicht zu, als beobachtender Journalist als Lehrmeister aufzutreten. Aber, wenn die Frage schon gestellt wird: Ich denke, der HVD könnte noch mehr das Gespräch mit religiösen Humanisten suchen. Ich denke oft daran, dass der bekennende Atheist, der Publizist Alfred Grosser, Paris, seit vielen Jahren gern gesehener Kommentator der katholischen Tageszeitung LA CROIX (Paris) ist. Warum gibt es ähnliches nicht in Deutschland?
Der HVD könnte sich doch auch Menschen öffnen, die sich vom (fundamentalistischen Bereich) des Islam lösen. Warum gibt es kein Gespräch mit der philosophischen Tradition der Aleviten? Warum ist so wenig zu spüren von einem Gespräch mit Buddhisten, die ja eine gott-lose Religion praktizieren? Warum gibt es keine kleinen offenen Gesprächs- und Begegnungsorte der Humanisten mitten in der Stadt, wie diese “Zentren der Offenen Tür”, die etwa den Humanisten in Belgien so wichtig sind. Da könnten offene humanistische Seelsorge und philosophische Kurse angeboten werden und warum nicht auch humanistische Meditationen in Zusammenarbeit mit Buddhisten. Solche humanistischen Zentren könnten doch die Seelsorge der Kirche beleben.

Die Fragen stellte Gabriele Groschopp

 

 

 

Von der Lust am Weihnachtsoratorium. Einige Fragen.

Die „Weihnachts-Spiritualität“ wird immer beliebter: Das Weihnachtsoratorium als Gottesdienst.

Ein Hinweis

Von Christian Modehn

„Der Tagesspiegel“ berichtet am 14. Dezember 2014 unter dem Titel „Herzen in die Höhe“ über die Aufführungen des Weihnachtsoratoriums von J.S.Bach in Berlin zur Advents- und Weihnachtszeit. Der Artikel von Carsten Niemann nennt eine interessante Statistik: „Mit rund 50 Aufführungen pro Saison hat wohl keine andere Stadt der Welt eine solch hohe Dichte der Darbietungen der 1734 entstandenen sechs Kantaten aufzuweisen“ (S. 27). Und das Interesse des Publikums am Weihnachtsoratorium von Bach und die Bereitschaft der Sängerinnen und Sänger sowie der Orchestermitglieder (oft ebenfalls hoch qualifizierte „Laien“), das Werk immer wieder neu aufzuführen, sei ungebrochen groß. Wie viele Menschen hören in einem Jahr das Weihnachtsoratorium in der “gottlosen” Stadt Berlin? Einige tausend sind es gewiss.

Wer sich für Spiritualität in der Stadt und damit auch für die Relevanz der Kirchen und Gottesdienste in der Stadt Berlin interessiert, sollte sich auch soziologisch und religionswissenschaftlich mit der Beliebtheit des Weihnachtsoratoriums gründlich auseinandersetzen (und dann eben auch mit den sicher genauso beliebten Matthäus-Passion und Johannes Passion). Das Weihnachtsoratorium bestimmt das Bild von Weihnachten bei vielen tausend Menschen. Man bräuchte eine Statistik, die die Teilnehmerzahl an den Aufführungen deutlich macht, die Anzahl der Chormitglieder erforscht, deren Motive, alle Jahre wieder das Weihnachtsoratorium zu singen. Es wäre nach dem spirituellen Hintergrund der Hörer wie der Aufführenden zu fragen. Diese Informationen liegen nicht vor. Eine “Theologie für Berlin und über Berlin” hätte hier ein gutes Thema. Das bearbeitet bloß unseres Wissens niemand. Darum können nur Vermutungen und Fragen geäußert werden:

1.

Weihnachten ist und bleibt für viele Menschen immer noch ein „Grund“, eine christliche Kirche zu betreten und sei es wegen des Weihnachtsoratoriums. Musik berührt mehr die Herzen als das langatmige Wort?

2.

Auch wenn die Aufführungen in einem Konzertsaal geboten werden, haben sie doch keine säkulare, bloß ästhetisch interessante Bedeutung. Diese Aufführungen in weltlichen Räumen haben auch eine spirituelle Dimension. Sind die Gottesdienste in säkularen Räumen nicht auch Gottesdienste? Gewiss, wie die Weihnachtsoratorien, die in den Kirchen aufgeführt werden.

Wir meinen, Weihnachtsoratorien sind immer Gottesdienste, also meditative Stunden, wenn auch die sprachliche Gestalt des Oratoriums für viele befremdlich ist. Deswegen wird auch sozusagen der schönen Musik und der Gesamtstimmung wegen der Text oft „überhört“ (also ignoriert ?).

In jedem Fall sind es wohl viele tausend Berliner und ihre Gäste, die dem Weihnachtsoratorium still für sich hörend folgen, dabei in einer hörenden Gemeinschaft verweilend, und dabei auch bestimmte spirituelle Eindrücke „mit nach Hause“ nehmen. Dieser „Effekt“ entspricht genau der Wirkung einer guten Predigt. Nur kann man darüber leichter ins Gespräch kommen als etwa über das Lied „Vom Himmel hoch da, komm ich her, ich bring euch gute, neue Mär…“

3.

Wenn für viele Menschen im Laufe eines Jahres ganz zentral Weihnachten der spirituelle, auch musikalisch spirituelle Höhepunkt ist und vielleicht überhaupt das einzige spirituelle Ereignis im Jahr, dann könnte gefragt werden: Wird in dieser Präferenz von Weihnachten tatsächlich das Zentrum des christlichen Glaubens getroffen? Anders gefragt: Hat jemand das Christentum verstanden, wenn er beinahe nur Weihnachten kennt. Sicher nicht. Denn schon für die ersten Christen war die Geburt Jesu ein Randthema. Der erste christliche Schriftsteller, der Apostel Paulus, erwähnt Weihnachten gar nicht. Die Predigt Jesu, seine Bergpredigt, insgesamt das Leben Jesu, das zur Hinrichtung führt und zu einer Form der bleibenden Bedeutung (Auferstehung), ist  wichtiger als Weihnachten.

In unserer Sicht gibt es eine Bedingung, für ein adäquates Verstehen von Weihnachten, die der Berliner Theologe Prof. Wilhelm Gräb in verschiedenen Interviews für diese Website nennt: Die Menschen können zu Weihnachten erleben und begreifen, dass mit der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth (das ist Weihnachten) die Gottesverbundenheit EINES JEDEN Menschen greifbar wird, offen gelegt werden soll. Weihnachten ist also als das Fest der innigen Gottesnähe in JEDEM Menschen ohne jeglichen Ausschluss. Jeder Mensch ist absolut wichtig. Jeder Mensch hat Anspruch auf elementare Rechte (und Pflichten). Das ist eine radikale Aussage mit entsprechenden ethischen und politischen Konsequenzen.

Von da aus wäre dann weiter über die „Sakralität der Person“ (Hans Joas) zu sprechen und den Menschenrechten usw. Weihnachten wird so zur spirituellen Ermöglichung, dass Menschen eine gerechtere Welt für alle mitgestalten… Weihnachten wäre ein Fest der Menschenrechte.

Aber kann das Weihnachtsoratorium vor dem Kitsch und dem Konsum des Weihnachtsrummels bewahren, bietet es Widerstandskräfte dagegen? Wir wagen es zu bezweifeln. Den blinden Kaufrausch in der reichen Welt hat kein Weihnachtsoratorium – bis jetzt – gestoppt

4.

Darum – so unser Vorschlag – sollte mit der gleichen Intensität, mit der immer wieder das Weihnachtsoratorium aufgeführt wird, auch neue, zeitgemäße spirituelle Chormusik, auf höchstem Niveau, gerade zu Weihnachten aufgeführt werden. Vielleicht als 2. Teil zu Bach, als Kontrast, als musikalisches Fragezeichen für die Hörer. Sicher aber auch als eigene Veranstaltung. Der Eindruck herrscht doch vor: Weihnachten sind nette Geschichtchen, nette musikalische Erbauung, viele Kindheitserinnungen usw., alles unterstützt durch Weihnachtslieder, deren Inhalt sich niemandem mehr spontan erschließt, man singt Liedchen und weiß nicht, was sie bedeuten. Hat die inflationäre Aufführung des Weihnachtsoratoriums daran Anteil?

Wer etwas anderes wünscht, dem können wir nur dringend die Lieder des Dichters und Theologen Huub Oosterhuis (Amsterdam) empfehlen. Sie sind musikalisch von hohem Niveau und vom Text her alles andere als fromme oder gar banale Sprüche, denen man sonst in so vielen modernen Kirchensongs begegnet. Mit anderen Worten: Etwas weniger Bach, etwas weniger Weihnachtsoratorium, wäre für die Entwicklung einer  spirituellen und auch theologischen Vertiefung sicher förderlich. Wer geht denn in die Oper, um immer nur „Die Entführung“ zu hören?

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Für einen Glauben in der Alltagssprache. Zur Debatte um eine esoterische oder exoterische Religiosität und Theologie

Für einen Glauben, der sich in der Alltagssprache, argumentierend, ausspricht

Ein Beitrag von Christian Modehn

Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, Heft 21, 2014. (Probeexemplare etc.: http://www.publik-forum.de/ )

Vielen Menschen erscheint der christliche Glaube als mysteriöse Geheimlehre. Doch um »verborgene«, also esoterische Wahrheiten geht es dabei nicht. Nötig sind verständliche Argumente – sonst verspielen die Kirchen ihre Zukunf.t

Gott lässt sich nicht definieren. Er ist wesentlich Geheimnis. Darin sind sich Christen einig. Aber bei diesem kleinsten gemeinsamen Nenner halten sich die besonders Frommen nicht lange auf: Wer meint, nicht nur berufen, sondern auserwählt zu sein, glaubt dennoch, in die Tiefen der geheimnisvollen Gottheit schauen zu können. Andere empfangen Privatoffenbarungen und veröffentlichen Schriften für Eingeweihte. Auch Mystiker suchen, wie ihr Name sagt, die »verborgene«, die »innere« Wahrheit. Die Mystik hat privat ihr gutes Recht. Aber kann sie Sache aller sein? Schon seit der frühen Kirche gibt es Einzelne und Gruppen, die sich für besonders erleuchtet halten und von den anderen Christen abgrenzen. Sie werden in der Religionswissenschaft »Esoteriker« genannt oder Freunde des Okkulten, des Verborgenen. Sie »stoßen durch zum Kern des Wesentlichen«, wie sie gerne sagen. Wouter J. Hanegraaff, Professor für »hermetische, esoterische Philosophien« an der Universität von Amsterdam, erinnert daran, dass ältere esoterische, christlich inspirierte Gruppen bis heute neben den großen Konfessionen existieren, etwa die Rosenkreuzer oder die Kirche des Sehers Emanuel Swedenborg. Auch in den großen Kirchen sind Gruppen, die sich im Besitz esoterischer Weisheiten wähnen, bis heute vertreten, wie etwa das Engelwerk innerhalb des Katholizismus. Den Wissenden und Eingeweihten stehen die anderen, die »Exoteriker«, gegenüber. Sie bilden die große Masse der Glaubenden. Diese »normalen Frommen« halten sich an die vorgegebenen Riten und Gebote. Sie sprechen treu die kirchlichen Glaubensformeln nach, ohne dabei »verzückt« zu werden. Sie leben also in der Sicht der Esoteriker eine veräußerlichte, »flache« Frömmigkeit. Bewusste Exoteriker geben dem Verstand Raum in ihrem Glauben, respektieren die historisch-kritische Bibelforschung und fragen manchmal auch skeptisch nach, was denn genau ein Esoteriker in der »Tiefe« erlebe oder erlebt habe. Im Streit zwischen Esoterikern und Exoterikern geht es im Kern um die Frage, welche Bedeutung der Vernunft im Christentum zukommt: Lässt sich der christliche Glaube über Argumente erschließen, oder ist er eine mysteriöse Geheimlehre? Die Antwort wäre: Wer dem Christentum eine Zukunft wünscht, muss seinen exoterischen Charakter unterstützen. Denn ohne den Gebrauch der allen gemeinsamen Alltagssprache, verbunden mit theologischem Nachdenken, bleibt alles im Subjektiven und wird dann möglicherweise schnell suspekt

Das Problem ist nur: Exoteriker fühlten sich ihrer eigenen Sache nie ganz sicher. Sonst hätte die machtvolle kirchliche Hierarchie die Esoteriker nicht immer wieder ausgegrenzt oder gar ausgelöscht. So hat sich die frühe Kirche intensiv mit den von Geheimnissen »Wissenden«, den Gnostikern, auseinandergesetzt und sie als nicht authentisch jesuanisch abgelehnt. Seitdem eine populäre Esoterikwelle – auch »New Age« genannt – das kulturelle Klima mit bestimmt, sind die Kirchen verunsichert: Sie versuchen als Konkurrenz zu New Age aufzutreten und entdecken dabei etwa die »Strahlkraft der Engel«. Um den Anschluss an die spirituellen Wellness-Wellen nicht zu verpassen, bieten Klöster für teures Geld esoterische Aromatherapien oder Genesungsweisen nach Hildegard von Bingen an. Ganz selbstverständlich pflegen sie nun zuweilen die spirituellen Wurzeln der Astrologie und entdecken in den Tarot-Karten »spirituell inspirierende« Weisungen. Schnell wird man zum Irrlehrer Bei dieser eher taktischen und ökonomisch interessierten Übernahme gängiger esoterischer Praktiken verdrängen die exoterischen Christen und ihre Theologinnen und Theologen allerdings die Erkenntnis, dass ihre eigene klassisch-christliche Frömmigkeit ebenfalls immer schon esoterisch geprägt war und ist. Nur zwei von tausend Beispielen: »Im Kreuz Jesu Christi ist Heil«, heißt es. Oder: »Am dritten Tage geschah die Auferstehung Christi.« Das sind esoterische Aussagen, Aussagen über innere Erfahrungen also. Die Frage ist: Kann man diese existenziellen Erfahrungen auch exoterisch, also allgemein verständlich formulieren? Es könnte doch auch ein Christentum geben, das die überkommene esoterische Lehre nach den Grundsätzen der Vernunft reinigt und sich nur an wesentliche Einsichten hält, zum Beispiel: Gott ist Liebe; Gott ist Geheimnis; Jesus ist ein vorbildlicher Mensch … Aber wer solches sagt, gerät schnell in den Verdacht, ein Häretiker zu sein, ein Irrlehrer also. Eine moderne »liberale Theologie«, die an diesen Themen arbeitet, bleibt deswegen leider randständig. Und so sind die Kirchen hin- und hergerissen zwischen einer eher unverständlichen, esoterischen Lehre und der Aufgabe, sie vernünftig, in allgemein nachvollziehbarer Sprache auszusagen. Ein ungelöstes Problem! Es besteht seit den Anfängen der Christenheit: Zu den Erinnerungsfeiern an das letzte Abendmahl Jesu waren in der Urkirche nur Getaufte zugelassen; die anderen, die »Interessierten«, durften Bibellesung und Predigt hören, mussten dann aber den Raum verlassen. Eucharistiefeiern waren esoterische Veranstaltungen wie in einem Geheimbund. Erst als die Kirche als Staatsreligion für alle machtvoll auftrat, wurden die Eucharistiefeiern allgemein zugänglich. Die esoterische Sprache aber blieb. Auch frühchristliche Theologen bevorzugten die Zuwendung zu den »Eingeweihten«. Der Kirchenvater Cyrill von Jerusalem (313-386) schärfte seinen Gemeinden ein, nicht über alle Themen offen, also exoterisch, zu sprechen. Über die Dreifaltigkeit des einen Gottes sollte keine öffentliche Debatte stattfinden, »damit die unwissenden Heiden nicht darüber lachen«, wie der Theologe Athanasius von Alexandrien (295-373) betonte. Das Thema erschien zu anstößig. So viel Angst kannte Jesus von Nazareth nicht: In seinen sehr wahrscheinlich authentischen Gleichnisreden fällt die exoterische, die allgemein verständliche Sprache auf. Esoterisches Geheimwissen teilt er selten mit, meist nur dann, wenn er vom bevorstehenden Kommen des Reiches Gottes sprach. Jesus wollte die eigene Gotteserfahrung unter den Juden allgemein verständlich leben und aussagen – mit all den auch individuell und politisch unbequemen Konsequenzen. Sein Tod am Kreuz ist Beweis dessen, dass er sich sehr gut verständlich machte und damit den Hass der Traditionalisten und Mächtigen auf sich zog! Die schlichte, allgemein zugängliche und deswegen politisch wirksame Sprache Jesu lebt bis heute bei jenen Christen etwa in Lateinamerika fort, die das Evangelium als eine Botschaft der auch von Gott gutgeheißenen Menschenrechte verteidigen. Bischöfe wie Oscar Romero, Helder Camara oder Erwin Kräutler verkündeten und verkünden keine esoterische Geheimbotschaft, sondern ein allgemein-menschliches, ein argumentierendes Evangelium.

Aber bestimmend sind im Frömmigkeitsleben der Kirchen nach wie vor esoterische Inhalte und Praktiken. Nur so ist die offizielle Unterstützung für jene »heiligen Orte« zu verstehen, an denen Maria, die Mutter Gottes, erschienen sein soll; oder der Kult um uralte Gebeine, Reliquien genannt. In den (öffentlichen) Gottesdiensten werden noch heute Lieder gesungen, deren Inhalt sich nur eingefleischten Esoterikern erschließt, wie etwa ein Passionslied von Paul Gerhardt, in dem es in der ersten Strophe heißt: »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.« Der esoterische Glaube einer frommen protestantischen Seele aus dem Jahre 1647 kann in der privaten Frömmigkeit durchaus einen Platz haben, nicht aber in der Öffentlichkeit eines Gottesdienstes, an dem vielleicht auch Skeptiker oder Atheisten teilnehmen. Innige Gefühle in verständlicher Sprache Insgesamt dominiert in den christlichen Gottesdiensten bis heute die esoterische Geheimsprache. Wer versteht im offiziellen Glaubensbekenntnis die Worte über Jesus von Nazareth, Logos genannt, er sei »vom Vater gezeugt, aber nicht geschaffen«? Wer versteht im Moment des Sprechens, dass der gestorbene Jesus »in das Reich des Todes hinabgestiegen« sei? Die offizielle Theologie, die sich im Römischen Katechismus ausdrückt, ist voller esoterischer Überzeugungen, die einer historisch-kritischen Prüfung oft nicht standhalten. Die Zurückweisung des Priestertums für Frauen (»der Herr hat nur Männer zu Aposteln berufen«) ist bester Ausdruck für eine esoterische Bibeldeutung, die für den Machterhalt instrumentalisiert wird. Geheimnisvolle esoterische Lehren können als die besten Stützen der Macht gelten. Darum grenzt die Kirchenführung vielfach auch Theologinnen und Theologen aus, die den Versuch machen, die christliche Botschaft in eine exoterische Sprache, also in allgemein verständliche Begriffe und nachvollziehbare Bilder zu übersetzen. So ist zum Beispiel das umfangreiche Werk des Theologen Hans Küng zwar von seinem persönlichen Glauben getragen, aber es ist doch weitgehend exoterisch, das heißt allgemein zugänglich formuliert. Küngs Werk aber gilt in Rom weithin als suspekt, immer noch. Eine zentrale Frage lautet: Wie kann man in einer allgemein verständlichen Sprache dennoch durchaus innige, also »esoterische« Gefühle wachrufen? An dieser Aufgabe wird theologisch viel zu wenig gearbeitet. Dem niederländischen Poeten und Theologen Huub Oosterhuis ist diese Verknüpfung gelungen. Er pflegt in seinen vielen schönen Liedern die Alltagssprache, vermag aber gerade so bei modernen Menschen eine durchaus tiefe religiöse Innerlichkeit zu wecken. Man meditiere nur einmal das Lied »Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr.«

Auch der Exoteriker also kann mit seiner Spiritualität suchende, fragende, verzweifelte Menschen erreichen und in ein offenes, argumentierendes Gespräch ziehen. Nur dieser Mut, das Christliche allgemein nachvollziehbar und deswegen auch kritisierbar zu sagen, befreit die Kirchen aus der Nische der Ewiggestrigen und dem Eingeschlossensein in eine enge »unverständliche« Welt.

PS.: Dieser Beitrag in PUBIK FORUM ist ein weiterer Schritt des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“, die Zusammenhänge zwischen esoterischer UND exoterischer Religiosität zu studieren und zu diskutieren.

Dass wir in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entschieden für eine exoterische Gestalt des Christlichen und der Kirchen plädieren, hat der vorliegende Beitrag klar gemacht.

Christian Modehn.

Ein Religionsphilosoph als Politiker. Erinnerung an Jean Jaurès

jeanjauresEin Religionsphilosoph als Politiker: Erinnerung an Jean Jaurès

Von Christian Modehn

Selbst deutsche Touristen kennen seinen Namen. In vielen Städten Frankreichs ist mindestens eine Straße oder eine Schule nach ihm benannt: Jean Jaurès. Manche Autoren nennen ihn den am meisten geliebten Politiker Frankreichs. Sarkozy, Chirac, Hollande und die anderen wirken dagegen klein und, Verzeihung, (auch intellektuell) recht begrenzt… Ob sich die französischen Sozialisten umfassend an ihn erinnern? Und von ihm lernen? Man hat nicht den Eindruck.

Die SPD erwähnt 2014 in einem Artikel anlässlich seiner Ermordung am 31. Juli 1914 lediglich mit einem Wort, nebenbei, dass Jaurès Philosoph gewesen sei. Aber die Bedeutung dieses Philosophen wird mit keinem Wort verdeutlicht. Man kann Jean Jaurès nur verstehen kann, wenn man ihn als (Religions-) Philosophen deutet.

Zum 100. Todestag dieses bedeutenden, weil religiös-humanistisch gesinnten sozialistischen französischen Politikers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wurde weithin vor allem an dessen Leidenschaft für den Frieden erinnert: „Man macht nicht den Krieg, um den Krieg zu vermeiden.“. Jaurès versuchte noch kraft seiner Autorität mit aller Macht der Worte den Ersten Weltkrieg zu verhindern; am 31. Juli 1914 wurde er von einem verwirrten fanatischen Nationalisten ermordet. 1924 wurde sein Sarg ins Pantheon zu Paris aufgenommen.

Uns interessiert der – in Deutschland – bislang wenig beachtete Jaurés, der Philosoph und der „théologien laique“, wie der Spezialist Eric Vinson jetzt schreibt, also der „weltliche Theologe“, der niemals – auch als Sozialist – darauf verzichtete, die göttliche Wirklichkeit zu denken, zu benennen und zu verteidigen. Die göttliche Wirklichkeit war für den Philosophen Jaurès keine Illusion, sondern eine Wirklichkeit des Lebens. Das ist schon vom Ansatz her eine mutige Leistung, wenn man bedenkt, mit welchem Hass damals linke Politiker, Philosophen und Schriftsteller jegliche göttliche Wirklichkeit bekämpften.

Der Historiker Eric Vinson hat zusammen mit Sophie Viguier-Vinson jetzt das wichtige Buch vorgelegt „Jaurés le prophète: Mystique et politique d un combattant républicain“, erschienen 2014 bei Albin Michel, Paris. Dies ist sicher ein Standardwerk zum Thema und es wird helfen, ein umfassendes Bild dieses Sozialisten zu verbreiten.

1859 in einer katholischen, aber republikanisch gesinnten Familie im Tarn, Südfrankreich, geboren, studierte Jaurès in Paris Philosophie mit den entsprechenden akademischen Abschlüssen, er lehrte dieses Fach zuerst als Gymnasiallehrer in Albi, 1886 folgte die Berufung zum Universitätsprofessor in Toulouse. Aber schon 1885 begann die Zeit seines „militanten Kämpfens“ als Politiker, er wurde schließlich zur Stimme der Sozialisten Frankreichs.

Unbeachtet ist bis heute, dass für Jaurès das politische Handeln unmittelbar aus der philosophischen Konzeption der göttlichen Wirklichkeit entspringt. „Gott ist gleichzeitig immanent und transzendent“, „Gott ist das Ich in allen andern Ich“. Jaurès hat die Überzeugung, dass alles Weltliche, also auch jeglicher Mensch, in der göttlichen Wirklichkeit aufgehoben ist und von Gott nicht getrennt ist. Die Menschen sind absolut wertvoll, weil sie von der göttlichen Wirklichkeit nicht getrennt sind. Aber diese Überzeugung hat Jaurès niemals als Leitlinie gesehen für sein politisches Handeln auch als Gesetzgeber; er hat niemals eine klerikale, kirchenfreundliche und hierarchie-ergebene Gesetzgebung betrieben; seine ethische Haltung war gewiss von seiner religiösen Bindung geprägt, aber sie war sozusagen seine innere Gestaltungskraft (Spiritualität). Jaurès hat die Trennung von Kirchen und Staat entschieden unterstützt (siehe den Hinweis weiter unten).

Seine Philosophie ist nicht an die Dogmen der Kirche gebunden, sie ist ein freies religiöses Konzept, eine Haltung, die unter Intellektuellen Frankreichs damals, im 19. Jahrhundert, üblich war. In seiner Überzeugung, dass die getrennte und verfeindete Menschheit doch eins werden kann in einer universalen Brüderlichkeit, hat sich Jaurès die Kämpfe der Arbeiter unterstützt, er hat die Todesstrafe verurteilt, ist für die Rechte des schuldlos verurteilten Hauptmanns Alfred Dreyfus eingetreten. Dabei hatte sich Jaurès, der freie religiöse Denker, oft gegen die Herren der Kirchen zu wenden, wenn sie etwa die Todesstrafe verteidigten und kirchliche Weisungen im Staat durchsetzen wollten.

Wie oben angedeutet: Jaurès setzte sich für die Trennung der Kirchen vom Staat ein, was dann 1905 gesetzlich geregelt wurde. Der Staat ist weltlich, da haben die Kirchen nicht reinzureden, und die Kirchen sind religiöse Organisationen, die unabhängig von staatlichen Einflüssen existieren. Diese „laicité“, die nichts mit Laizismus zu tun hat, wie man in Deutschland oft behauptet, war die wichtigste Überzeugung des überzeugten Demokraten Jean Jaurès. Ohne diese laicité war Demokratie, war Republik, für ihn nicht denkbar.

Es ist kein Wunder, dass katholische Kreise, bis 1960 eigentlich in breiten Kreisen immer noch gegen die Republik und die laicité, diesen Religions-Philosophen und Politiker Jean Jaurès eher verdrängten und verachteten.

Léon Blum hat später bei Jaurès dessen Reinheit des Gedankens, die Lauterkeit gepriesen, ja auch dies: in gewisser Weise seine „weltliche Heiligkeit“. Auch Vinson nennt Jaurès einen „Archetypen“ einer „weltlichen Heiligkeit“: Integer, gütig, intelligent.

Man hat den Eindruck, die Auseinandersetzung über diesen Politiker, der als Religionsphilosoph lebte, hat erst richtig begonnen. Einen Politiker mit diesem geistigen Format kann im Europa von heute sehr lange suchen. Ob man ihn findet? Vaclav Havel ist schon etliche Jahre tot….

Vgl. auch: Jean Jaurès, Ecrits et discours théologico-politiques, Editions Vent Terral, 440 pages, 35€. Herausgegeben von Jordi Blanc.