Diderot Museum wird eingeweiht: Die Stadt Langres feiert die Aufklärungsphilosophie

Diderot Museum wird am 6. Oktober 2013 eingeweiht
Langres feiert die Aufklärungsphilosophie
Von Christian Modehn

Endlich wird ein bedeutendes „philosophisches Museum“ in Frankreich eröffnet. Am 6. Oktober 2013 ist es so weit: Als ein Geschenk zum 300. Geburtstag des Philosophen Denis Diderot wird in Langres, der hübschen kleinen Stadt in der Region „Champagne – Ardenne“, das Diderot Museum eingeweiht: In Langres wurde der Philosoph und Autor am 5. Oktober 1713 geboren, dort hat er seine Jugendzeit verbracht und später von Paris aus häufig diese Stadt besucht, In Paris ist er, wenige Jahre vor der Revolution, am 31. Juli 1784 gestorben.
Das neue Museum in Langres ist in einem repräsentativen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert untergebracht. Es hat den offiziellen Titel „Maison des Lumières Denis Diderot“: Damit wird von vornherein Diderot in die Zeit der Aufklärung hineingestellt. Er ist – zusammen mit d Alembert – als Herausgeber der berühmten „Enzyklopädie“ einer der großen anregenden Denker in der vielfältig orientierten Aufklärung. Für die “Enzyklopädie” hat er ca. 3.500 Artikel verfasst, allerdings ohne Namensnennung. Nach seiner Verhaftung durch das autoritäre Regime 1749 hatte er sich verpflichten müssen, kein philosophisches Werk zu veröffentlichen. In seinen “Philosophischen Gedanken” hatte Diderot noch 1746 geschrieben: “Gegenüber dem barbarischen Glaubenseifer bin ich für eine Religion, die die Menschen als vernünftige Wesen behandelt und ihnen nicht zumutet, etwas zu glauben, das über ihre Vernunft geht und dieser nicht gemäß ist”.
In dem “Philosophen – Salon” (rund um Baron Holbach) in der Rue des Moulins in Paris trafen sich viele maßgebliche Denker der Zeit, darunter auch – vorübergehend – J. J. Rousseau. Hegel fand bei Diderot wesentliche Anregungen, etwa zum Thema Herrschaft und Knechtschaft und zur Erfahrung des entfremdeten, “zerrissenen Bewußtseins”. Er hat erkannt, dass im Denken Diderots die Revolution vor – gedacht und vor- bereitet wurde in der Ausarbeitung einer rebellischen Mentalität. Diderot ist zudem als Schriftsteller auch Autor zahlreicher Theaterstücke; Dialoge, Träume, durchaus auch „Unterhaltung“, all das gehört auch zum geradezu “bunten” Werk Diderots. Er hat einen weiten Wirkungskreis, bis hin zu Katharina II. in Rußland; nach Preußen zu Friedrich II. hat er dann doch nicht reisen wollen, weil er selbst einem „aufgeklärten Absolutismus“ nicht vertrauen konnte.
Diderot hat seine Kindheit in Langres verbracht, die Stadt bietet zahlreiche entsprechende Erkundungen und Spaziergänge. Das neuen Museum wird zu aktuellen Fragen inspirieren: Was bedeute Aufklärung damals, was verdanken wir heute immer noch der Aufklärung, wie kann man mit den immer noch heftigen Gegnern der Aufklärung heute umgehen? Welchen Einfluss haben Diderot und die Aufklärungsphilosophie auf die Französische Revolution und die Formulierung der Menschenrechte?
Religionsphilosophisch ist Diderots Werk nach wie vor anregend; er versuchte, die Wirklichkeit Gottes (des Göttlichen) für den Verstand zu “retten” angesichts der radikalen materialistischen Kritik und der Problematik, die mit der historischen Bindung des Christentums an begrenzte historische Quellen gegeben ist. „Zu seinen Lebzeiten hat Diderot keinen antireligiösen Einfluss ausgeübt, außer durch die Enzykopädie…“ schreibt der Philosph Y.Beleval. Diderot kämpft gegen die kirchliche Obrigkeit, gegen den damals so selbstverständlichen Aberglauben im Volk, von seinem mutigen Protest gegen den Feudalismus einmal abgesehen. Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Enzyklopädie von Papst Clemens VII. 1759 auf die Liste der verbotenen Bücher, den Index, gesetzt. Erst nach Diderots Tod wurden seine Romane “Rameaus Neffe” und “Jacob, der Fatalist”, veröffentlicht.

Das Bürgermeisteramt von Langres fordert alle Interessierten auf, sich für weitere Fragen zu wenden an:
Mairie de Langres – Projet Diderot 2013
Place de l’Hôtel de Ville – BP 12, 52200 Langres. Tél. : 03 25 87 77 77.

Das Diderot Museum hat eine eigene website, klicken Sie hier.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist mit der Salon Kultur der Aufklärung verbunden, weil damals Philosophieren inmitten des Alltags, außerhalb der akademischen Institutionen stattfinden musste. Wir haben in unserem Salon mehrfach über Diderot gesprochen, zu zwei Beiträgen über “Die Nonne” und sein “revolutionäres Philosophieren” klicken Sie hier und noch mal hier.

Der Suhrkamp Verlag hat 2013 Diderots “Philosophische Schriften” veröffentlicht, herausgegeben von Alexander Becker.
Auch “Diderots Enzyklopädie” liegt jetzt in “Die andere Bibliothek”, Berlin 2013, vor.

Nebenbei:
Einer der wenigen katholischen Bischöfe, die den Geist der philosophischen Aufklärung nicht verachten und die Kritik an Gesellschaft und Kirchenverfassung offen und radikal aussprechen, ist Bischof Jacques Gaillot: Er wurde 1935 in St. Dizier geboren, einer kleinen Stadt, eine gute Stunde (im Auto) von Langres entfernt.
Er wurde im Jahr 1961 in Langres zum Priester geweiht, später wurde er sogar „Generalvikar“ in dem Bistum, also der zweite Mann nach dem dortigen Bischof. Dort hat er die Laien ausbilden und fördern wollen, eine „ecole des ministères“ sollte Laien befähigen, Verantwortung in den Gemeinden zu übernehmen. Dies war die erste Einrichtung dieser Art in Frankreich überhaupt.
Gaillot wurde 1982 zum Bischof von Evreux (Normandie) ernannt, dann aber von Papst Johannes Paul II. 1994 bestraft und abgesetzt, wegen allzu aufklärerischer Forderungen in Kirche und Gesellschaft. Im Gedenkjahr an die Revolution, also 1989, war Bischof Gaillot der einzige katholische Bischof, der an der feierlichen Beisetzung (Umbettung) des republikanischen Abbé Gregoire im Panthéon von Paris teilnahm. Abbé Grégoire wollte eine demokratisch verfasste Kirche inmitten der revolutionären Umbrüche von 1789 und später einrichten, er ist dabei – natugemäß im katholischen System – gescheitert.
Jedenfalls, so meinen wir, kann sich Langres über Diderot und Gaillot, zwei – unterschiedliche – bedeutende aufklärerische Geister, freuen.

copyright: Christian Modehn

Wer sind die Gotteslästerer? Zu einer Stellungnahme des Moskauer Patriarchats.

Wer sind die Gotteslästerer? Zu einer Stellungnahme des Moskauer Patriarchats
Von Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin

„Wenn Gott einen Menschen bestraft, dann ist dieser nicht zu beneiden, er verliert seine Gesundheit und manchmal das Leben”. Mit diesen Worten kommentiert der Sprecher der Russisch – Orthodoxen Kirche in Moskau einen Brief der Künstlerinnen der Gruppe Pussy Riot aus dem Straf – Lager des Putin Regimes. (Unter anderem dokumentiert in: Die ZEIT, Ausgabe vom 2. Okt. 2012, Seite 45).
Zur Erinnerung: Die jungen Musikerinnen von Pussy Riot hatten es gewagt, in der Moskauer „Christ – Erlöser – Kathedrale“ lautstark Religionskritik zu üben. Sie hatten ein Bittgebet vorgetragen und gesungen: „Jungfrau Mutter Gottes, vertreibe Putin“. Und weil sie wussten, wer das Regime in jeder Hinsicht ideologisch – religiös unterstützt, hatten sie hinzugefügt: „Der orthodoxe Patriarch glaubt an Putin, besser sollte der Schweinehund an Gott glauben“. Die Worte sind drastisch, aber nicht falsch. Jeder aufgeklärte Beobachter weiß, dass das Moskauer Patriarchat der orthodoxen Kirche vor allem an Macht und Geld und Einfluss interessiert ist. Auch der Religionsphilosophische Salon hat diese neue Form der Staatshörigkeit, d.h. Regimetreue, einer Kirche dokumentiert, klicken Sie hier.
Nun also befinden sich die Mitglieder der Pussy Riot für 2 Jahre im Straflager. Nadeschda Tolokonnikowa hat in einem Brief jetzt die Lagerbedingungen beschrieben: 16 Stunden werden sie zur Arbeit gezwungen, sie nähen bezeichnenderweise Militäruniformen, die Ernährung sei sehr miserabel; Schläge und Isolationshaft seien normal. Der „Archipel Gulag“ lebt also. Auch unter Putin, dem Demokraten, wie Gerhard Schröder sagt. Und die sich orthodox, also christlich – rechtgläubig nennende Kirche, applaudiert und findet es normal, wenn diese kritischen Künstler Gesundheit und leben verlieren. Schließlich, so meinen diese Ideologen, hätten sie ja Gott beleidigt.
Die philosophische und theologische Frage ist: Lässt sich Gott beleidigen? Oder ist jede so genannte Blasphemie nicht immer zuerst Religionskritik, also Kritik an sich religiös nennenden Institutionen? Und sind die wahren Gotteslästerer nicht jene Popen und Bischöfe, die den Frauen förmlich den Tod wünschen? Haben diese Herren jede Menschlichkeit verloren? Jeder halbwegs gebildete Mensch weiß, dass der Gott der Christen das Leben der Menschen, aller Menschen, will und nicht deren Tod. Das haben die ideologisch verblendeten Popen und Metropoliten in Moskau vergessen. Sie sind nichts als hörige Putin – Beamte geworden.
Die Frage ist: Wie kann man den Künstlerinnen helfen? Wie kann man von außen das Putin Regime kritisieren? Was hat Herr Gerhard Schröder SPD dazu zu sagen?
Dabei denken wir auch an die Verfolgung homosexueller Menschen in Russland, eine Verfolgung, die immer unterstützt wird von einer sich christlich nennenden „orthodoxen“ Kirche.
Die entscheidende Frage hier aber ist: Wann wachen die so genannten ökumenischen Gremien hier in Westeuropa, auch im Weltrat der Kirchen in Genf, auf und ziehen die sich christlich nennende russische Kirche in ein kritisches Gespräch? Was sagen die Theologischen Fakultäten in Deutschland zu diesen Maßlosigkeiten einer sich christlich nennenden Kirche? Muss diese Kirche wirklich noch Mitglied ökumenischer Vereinigungen hier in Europa sein?
In jedem Fall sorgt wohl diese Kirche von Moskau dafür, dass sich nachdenkliche und kritische Menschen von selbst von ihr abwenden. Wenn in 10 Jahren –vielleicht – das Putin Regime überwunden sein könnte, wird auch die Kirche dort erbärmlich dastehen, trotz aller prunkvoll restaurierter Kathedralen und machtvoller Bischofspaläste. Religionskritiker im Geiste Diderots (am 5. Okt. denken wir an seinen 300. Geburtstag) fänden diesen selbstverschuldeten Niedergang dieser Ideologen nicht einmal schlimm.
copyright: Christian Modehn

Welttag der Philosophie: Atheisten und Christen: Was sie voneinander lernen können. Eine Veranstaltung der Urania

Eine Veranstaltung zum Welttag der Philosophie:
Das Thema: Atheisten und Christen, was sie voneinander lernen können.
An der Urania 17. Nahe U Bhf Wittenbergplatz oder Nollendorf Pl.

URANIA – LOFT, am Donnerstag, 21.11.2013 um 19.30 Uhr.
Atheisten und Christen: Was sie voneinander lernen können

In Zusammenarbeit mit dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin

Prof. Dr. Michael Bongardt, Vizepräsident der FU Berlin, Institut für vergleichende Ethik, FU Berlin
Prof. Dr. Lutz von Werder, Publizist und Philosoph, Berlin
Dr. Ingolf Ebel, Fachbereichsleiter Philosophie, Urania Berlin, war eigentlich als Moderator, also als Vermittler von kurzen und präzisen Fragen, vorgesehen…

Unwandelbare Überzeugungen sind zumeist wenig inspirierend. Dies gilt besonders auch für die Philosophie und für die Religionen, gilt für Atheisten und Gläubige. Wer meint, definitiv “die” Wahrheit gefunden zu haben, wird blind für neue Entwicklungen und neigt zu Starre und Intoleranz. Anhand von Fragen wie: “Warum kann sich ein Christ nicht auf die Fragwürdigkeit klassischer Gottesbilder einlassen?” oder “Warum kann nicht ein Atheist über die Erfahrung religiöser Musik und Kunst ein Gespür für Transzendenz entwickeln?” soll diskutiert werden, ob aus dem bisherigen Gegeneinander oder schlichtem Ignorieren ein Miteinander werden könnte – in Gleichberechtigung und ohne jede “missionarische” Absicht. Die Veranstaltung will anregen, einen eigenen Weg der Lebensphilosophie oder der eigenen Spiritualität zu suchen.

Eintritt: 8,00 €, ermäßigt: 7,00 €, Urania-Mitglieder: 5,00 €
Das LOFT der Urania ist über den Haupteingang zu erreichen.

Einen grundlegenden Beitrag von Christian Modehn zu dem Thema finden Sie auf dieser website, klicken Sie hier. Der Beitrag wurde am 24. 11. 2013 publiziert.

Zu weiteren Informationen zum Welttag der Philosophie 2013: Klicken Sie die UNESCO Seite bitte HIER an.

Wir empfehlen das Magazin Philosophie, das auch auf unsere Veranstaltung in der URANIA am 21. 11. 2013 hinweist. Zu weiteren Informationen über diese Zeitschrift klicken Sie hier.

Der nächste Salon am 4. Dezember 2013 wird sich noch einmal in kleinerem Rahmen mit dem Thema befassen unter dem – hoffentlich – provozierenden, Neues denkenden Thema “Der atheistische Christ – der religiöse Atheist”. Für weitere Informationen klicken Sie bitte hier.

Der Wunsch, ewig zu leben. Über den Transhumanismus

Der Wunsch, „ewig“ zu leben
Über den Transhumanismus
Von Christian Modehn

In unserem Salon am 6. 9. 2013 haben wir – mit 18 TeilnehmerInnen – einen ersten kritischen Blick auf die – in sich vielfältige – Bewegung des Transhumanismus geworfen. Darüber wird vor allem in den USA diskutiert, der Begriff (1988 eingeführt) stammt wohl von dem Philosophen Max More.
Alle, die sich philosophisch mit den verschiedenen Gestalten des Humanismus befassen, werden wohl kaum auf eine kritische Auseinandersetzung mit Transhumanismus verzichten können. Denn es geht dabei um eine grundlegend und radikal neue Art, mit der menschlichen Wirklichkeit umzugehen. Es geht um einen qualitativ neuen Zugriff auf den Menschen, um seine Veränderbarkeit, der Gedanke an Repaturen und Umbauten von Maschinen drängt sich auf. Vor allem geht es um eine Neubestimmung von Freiheit, Leben, Tod, Ewigkeit. Die radikalen Ziele („menschliches Leben bis zum Alter von 400 Jahren“, selbst von ewigem Leben in dieser weltlichen Zeitdauer ist die Rede) stammen nun wirklich nicht aus Science- Fiction – Romanen. Es sind Naturwissenschaftler, Ingenieure, Philosophen, die gemeinsam an dem neuen menschlich – technischen, sehr langlebigen Wesen „Cyborg“ arbeiten, einem Mischwesen aus lebendigem (Fleisch) Organismus und Maschine. Es sind ursprünglich leibhaftige Menschen, deren Körper nun auf Dauer durch künstliche Bauteile ersetzt werden. Die Transhumanisten haben u. a. eine eigene Universität in Kalifornien, eigene Internetauftritte, zahlreiche Kongresse werden organisiert und einige Publikationen (in den USA) liegen vor. In deutscher Sprache ist eine erste kritische Auseinandersetzung das Buch „Werden wir ewig leben ?“, Hg. von Tobias Hülswitt und Roman Brinzanik, Suhrkamp Verlag 2010.

Als Einstieg empfiehlt es sich zu sehen, dass das Thema uns so fremd ja nicht ist. D.h.: Wir sind alle längst – vor allem im reichen Europa/Amerika zumindest- technisch bearbeitete Wesen. Prothesen sind Teil unseres Wesens, Schönheitsoperationen verändern nicht nur das Aussehen. Die Humangenetik gehört hier hin, die Reproduktionsmedizin. Anti – Aging gehört zu dem Thema, die neue Lust am Sport und der Kult des “Body – Building”. Ein treffendes Wort! Wir sind also bereits immer schon veränderte Natur, wir sind längst nicht mehr „pure Natur“, als die wir als Babys auf die Welt kamen.
D.h. Wir sind immer schon auf dem Weg zur Überwindung des gegebenen Menschlichen, sind immer schon auf dem Weg der „Verbesserung“ des Menschen im Sinne der Überwindung von Krankheiten. Diese bisherigen Therapien haben aber nicht den totalen Anspruch, das Leben auf 400 Jahre zu verlängern in weitgehender totaler Schmerzfreiheit bis hin auf ein immer wieder von Transhumanisten genanntes „ewiges Leben“. Da kommt eine neue Qualität hinzu.

Einer der Wortführer des Transhumanismus ist Prof. Ray Kurzweil. 65 Jahre alt, stellt er sich gern vor als Erfinder, Ingenieur, Futurologe und Autor mit zahlreichen Ehrendoktortiteln.
Sein Schwerpunkt ist die Frage der künstlichen Intelligenz und der Gesundheit, vor allem im Blick auf die Verlängerung des Lebens im Sinne des Hinausschiebens des Todes auf ein Niveau von etwa 400 Jahren Lebensdauer. Von Bill Clinton wurde er 1999 für seine Leistungen ausgezeichnet. Er ist Kanzler der – darf man sagen bezeichnenderweise – von „google“ und der „NASA“ finanzierten „Singularity University“ im Silicon Valley. Mit dem Titel „Singularity“ wird schon das ganze Programm angedeutet, es geht um eine neue „Einzigartigkeit“ und „Einmaligkeit“, die geschaffen werden soll.
In unserem Salongespräch bezogen wir uns auf das Gespräch mit Ray Kurzweil von Tobias Hülswitt, aus dem Buch „Werden wir ewig leben?“.
Gleich am Anfang fällt auf, dass Kurzweil „unsere Persönlichkeit, unsere Erinnerungen, unsere Fähigkeiten“, ausdrücklich und wörtlich als „Informationsdateien“ betrachtet: „Wir tragen Verstandesdateien in unserem Gehirn“ Und diese Dateien machen unsere Persönlichkeit aus. (Seite 16)
Zentral ist für Kurzweil, den körperlichen Verfall und den Tod letztlich aufzuheben (Seite 17)
Er meint: Unser eigenes Bewusstsein kommt uns selbst gar nicht vergänglich vor. (Seite 17). Er weist darauf hin: Immer schon gab es Theorien, die unserem Wunsch entsprechen, doch ewig zu leben. (etwa: Himmel, Wiedergeburt…)
Daraus haben Religionen die – in seiner Sicht falsche – Konsequenz gezogen: Der Tod sei gut, weil er der Übergang in die Ewigkeit, das ewige Leben, in ein qualitativ anderes Leben bei Gott ermöglicht.
Kurzweil und die Transhumanisten arbeiten, so wörtlich, an einer Alternative (17), d.h. an einer Alternative zu den religiös fundierten Formen der Überwindung des Todes durch die Lehre vom ewigen Leben. Es geht um das ewige Leben in dieser weltlichen Zeitspanne. Ewigkeit wird also verstanden als lang gestreckte (irdische) Zukunft. Für Christen z.B. ist hingegeben Ewigkeit eine dauernde „Gegenwart“, eben gerade als Heraustritt aus der linearen weltlichen Zeitstruktur.

Kurzweil weiß, dass er für diese Alternative jetzt „noch nicht die nötigen Mittel“ hat, (wissenschaftliche) Mittel, um das faktische irdische Leben der Menschen auf die zunächst erwünschten 400 Jahre hin zu verlängern.
Die entscheidende Stufe dorthin ist für ihn dann gekommen, wenn es durch Nano Technologie und Nano Roboter gelingt, sozusagen technisch „unseren Körper zu befähigen „ewig zu leben“ (Seite 18). .
Kurzweil begreift also Gesundheit, Biologie, Altern und Krankheit als „Informationsprozesse“, (Seite 21).Gesundheit wird zur ausschließlichen Frage der Technologie. Diese macht, so wörtlich, „das Ende des Todes absehbar“ (Seite 21).
Das verändert unser Zeit-Bewußtsein: Wir erleben dann, dass unsere Lebens – Zeit nicht mehr rapide einem Ende entgegenläuft; wir haben dann viel Zeit, in der vielleicht immer nur Repaaruren an unserem technischen Körper nötig werden. Dann geht er an die Infragestellung der Grundlagen vielfältiger, bisheriger philosophischer Konzepte, die sagten: Der Mensch ist endlich, er ist sterblich, und in diesem Blick auf den unabweisbaren Tod muss sich der Sinn des Lebens erschließen. D.h. in dieser klassischen Sicht: Wir fragen, mit anderen Worten, in der klassischen Philosophie, vor allem deswegen nach dem Sinn des Lebens, weil wir nach dem Sinn des Todes fragen.
Dagegen betont Kurzweil: „Das Leben gibt dem Leben Sinn“ Seite 22). Damit wird der Sinnbegriff eigentlich nicht getroffen: Denn Sinn entsteht dadurch, dass ich etwas Bezweifeltes, Fragliches, auf ein anderes, möglicherweise Größeres beziehe. Beispiel: Warum ist es sinnvoll, regelmäßig etwas zu essen? Weil ich dadurch gesund bleibe. Der Sinn des Essens liegt in dem höheren Sinn der Gesundheit. Natürlich kann man dann weiter fragen; Was ist der Sinn der Gesundheit? Da gibt es viele Antworten: Weil Gesundheit die Bedingung ist für ein gewisses Glücksgefühl usw. Also in der Frage nach dem Sinn wird immer auf etwas anderes, Größeres, verwiesen. Sinn ist ein Beziehungsbegriff von einem auf anderes! Deswegen ist es nicht schlüssig mit Kurzweil zu sagen: Das Leben gibt dem Leben Sinn.
Transhumanisten sind völlig auf den Wert der vor allem quantitativen Steigerung fixiert: Sie wollen viele Lebensjahre, glauben gar nicht, dass wenige intensive Jahre auch glücklich machen, um es mal so auszudrücken. Sie wollen schönere Musik, kraftvollere Dichtung, eindrucksvollere Kunst (Seite 23).
Kurzweil sieht durchaus Probleme, die sich aus ethischen Fragen ergeben: Etwa, wenn Biotechnologien von Terroristen verwendet werden könnten (26). Er plädiert dann – ethisch ziemlich hilflos – für die richtige Verwendung dieser Technik weiterhin (27). Er will offizielle, offenbar staatliche „Richtlinien“ schaffen, die natürlich, so sagt er dann, nichts nutzen, wenn jemand diese Richtlinien nicht befolgt. Er plädiert dann aber nicht für ein ausgebildetes ethisches Bewusstsein, sondern – technisch wie er denkt –für, so wörtlich, „schnelle Abwehrtechnologien“. Die neuen langlebigen Menschen mit Roboterkörpern usw. sind also durchaus kriegsbereit durch Abwehrtechnologien. Diese werden wohl auch viel Profit bringen.
Von den Kosten der transhumanen Langlebigkeit/Ewigkeit ist keine Rede bei Kurzweil. Die Frage bleibt: Wer kann sich Ewigkeit leisten? Muss man erneut für den neuen ewigen Himmel auf dieser Erde hohe Eintrittsgebühren bezahlen, wie einst in der Ablassdiskussion für den Eintritt in den göttlichen Himmel? Wird es deswegen die wenigen technisch perfekten, langlebigen Herren geben und die vielen nur auf den Leib angewiesenen Untertanen und Sklaven?
Kurzweil kommt auch im Laufe des Interviews auf die Religion zu sprechen, von der er sagt, in seiner Arbeit ausdrücklich nicht inspiriert zu sein.
Er bietet aber eine merkwürdige Definition der Religion: Er meint, der Glaube an einen Himmel, also als einem Ort des ewigen Lebens, sei entstanden, damit wir so unsere Beschränkungen überwinden.
Kurzweil meint, den Religionen sei die Vorstellung, so wörtlich „inhärent“ (28), die Sterblichkeit zu überwinden. Darüber müsste intensiver diskutiert werden: Gründet Religion tatsächlich in der Sterblichkeit? Oder gründet sie in der – klassisch gesprochen – Endlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen? Weil der Geist immer ein transzendierender Geist ist und deswegen auf die Idee des Göttlichen kommt? Von daher lebt Religion inmitten des Lebens, der Lebensfreude, des Sinns, der Erotik, des Schöpferischen usw. Die Auferstehung Jesu (Überwindung des Todes) als Bild meint: Dieses Leben Jesu war sinnvoll, auch wenn es am Kreuz endete. Was mit dem toten Jesus weiter „passierte“, ist Ausdruck einer Hoffnung ist, dass dieser Tod Jesu nicht sinnlos ist. Damit will ich sagen: Das Christentum ist – authentisch verstanden – gerade nicht primär eine Lehre vom ewigen Leben, wie Kurzweil behauptet.
An der Stelle sollte weiter gefragt werden, was denn das Christentum alles falsch gemacht hat mit seiner Lehre von Ewigkeit und Himmel.
Der größte, überdimensionierte Anspruch wird wohl von Kurzweil formuliert, wenn er von der „Singularität“ spricht, also davon, wie die individuellen Gehirne sozusagen zu einem gesamten überindividuellen Großhirn, er spricht von SUPERHIRN (34), zusammengeschlossen werden. Er findet es offenbar erstrebenswert, wenn es so wörtlich, EIN (einziges) DENKEN gibt. „Die Masse kann also etwas wie eine Persönlichkeit, EINEN Verstand entwickeln. Jedes Ich soll sich also verschmelzen mit dem einen und einzigen Superhirn.

Einige TeilnehmerInnen unseres Gesprächs hielten diese Vorstellung für eher makaber, wenn nicht gar für einen Ausdruck totalitären Denkens.

Kritische Fragen müssen weiter vertieft werden:
Auch ein Körper von 400 Jahren wird einmal sterben, das Todesproblem bleibt also. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Sterbens bleibt also.
Kurzweil sieht nicht den Unterschied zwischen Leib und Körper.
Kurzweil sieht den Tod als etwas Krankhaftes und deswegen zu Heilendes im Sinne von „zu Besiegendes“. Er will, so wörtlich auf Seite 20, „Gesundheitsprobleme mit der richtigen Kombination von Ideen (also Erfindungen) besiegen“. Ist der Tod eine Krankheit oder eine Chance für ein intensives Leben in Freiheit?
Die entscheidende Frage ist: Gibt es Grenzen für einen toalen Umbau des Körpers?
Was ist der Unterschied dieses totalen Umbaus zu der medizinischen Hilfe? Ausgangspunkt für diese Überlegung könnte sein: In den medizinischen Hilfen bleibt ein Ich immer der Bezugspunkt: Ich werde geheilt, erinnere mich an meine Krankheit.
Aber bei einem Verbinden mit den Bewusstseinsformen anderer verschmelze ich da als Ich mit anderen zu einem neuen Wesen? Das heißt: Der Umbau durch transhumanistische Technik darf nicht so weit gehen, dass ich dann ein anderer werde, der sich selbst nicht mehr als Ich erkennt. Das ist ja das Problem der Drogen, wo man eine andere Persönlichkeit wird und pendelt zwischen zwei Ich Strukturen.
Weitere Frage bleiben offen: Wenn denn der einzelne als neuer „Mensch Roboter“ existiert: In welcher Umgebung wird er dann existieren, gibt es dann noch lebenswerte Natur? Gibt es dann noch Erotik und Sexualität?

Der Hintergrund dieser Ideologie des Transhumanismus ist klar: Es gilt bei der Forschung an der Maschine Mensch (nur so wird der Mensch gesehen) die erste führende Position zu erlangen, also die USA wieder einmal als Supermacht zu etablieren. Über den Menschen wird verfügt, es werden neue Klassenunterschiede geschaffen, es könnte zum Bürgerkrieg zwischen perfekten Reichen und hoffnungslos leiblichen Armen kommen.
Der typische, absolut zentrale Gedanke der Machbarkeit, das CREDO im Sillicon Vally, verdrängt andere zentrale Aspekte des Menschlichen: Etwa die Kontemplation, das Spielerische, das Verweilen in der Gegenwart als Form des Lebensgenusses gerade IN der Endlichkeit.
Der transhumanistische Philosoph Max More verkündet seine Heilslehre am 7.07.1996: „Die Zeit der Menschheit ist fast abgelaufen, nicht weil wir uns selbst zerstören, sondern weil wir unsere Menschlichkeit überschreiten werden“.

Es muss betont werden, dass in einer Welt von Millionen hungernder Menschen, die bei einer gerechten Verteilung der Güter nicht hungern müssten oder angesichts der ökologischen Problematik usw., es eigentlich viel dringendere Themen gebe:Um die Leiden heutiger Menschen etwas einzuschränken und zu besiegen, bräuchten man Milliarden Dollar Zuschuss für eine neue, eine gerechte menschliche Welt und nicht für einen herrschaftsorientierten Transhumanismus.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wenn Gott fehlt. Martin Walsers Klage über den abwesenden Gott.

Wenn Gott fehlt
Martin Walsers Klage über den abwesenden Gott
Von Christian Modehn

Über neue Arbeiten von Martin Walser wird jetzt auch theologisch debattiert. In „Muttersohn“ und „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ gesteht Walser seine eigene Ohnmacht, „nicht glauben zu können“.
Zum Hintergrund: Schon seit seinen frühen literarischen Äußerungen lässt ihn die Frage nach Gott und Religion nicht los (schon in „Halbzeit“, 1960).Jetzt wird der Ton deutlicher, fordernder. Walser möchte so dringend an Gott glauben, aber er kann es nicht. Ihm fehle die Gnade, sagte er. Ein erfolgreiches menschliches Bemühen, die Nähe des göttlichen Geheimnisses zu erreichen, schließt er aus. Denn Walser liebt Augustin, die Reformatoren Luther und Calvin, Kierkegaard und den frühen Karl Barth („er ist für mich eine Erweckung“) über alles. Diese Herren – immer noch sehr einflussreich in den Kirchen – erklärt er zu seinen ausschließlichen Meistern, nicht etwa Theologen, die die Freiheit des Menschen noch hochschätzen. Und die durchaus zeigen könnten, dass der Mensch von sich aus in seinem Geist, in seinem Leben und Lieben, Gott nahe ist: Man denke etwa an die Beiträge Karl Rahners oder Paul Tillichs. Die ganze furchtbare Last der Erbsünde, des völlig zerstörten und „gefallenen“ Menschen, schlägt bei Walser durch. Liberale Theologie könnte hilfreich sein, aber Paul Tillich nennt er „ein abschreckendes Beispiel“. So ist Walser also förmlich eingezwängt in die klassische Gnadentheologie (des frühen Barth zumal), da wird es eine Last, wenn nicht eine Qual, überhaupt die Nähe Gottes zu spüren.
In dem neu erschienen Buch „Was fehlt, wenn Gott fehlt“ setzen sich neun Theologen, darunter eine einzige Frau, die katholische Theologin Elke Pahud de Mortagnes (Freiburg i. Br.), mit Walsers neuestem religiösen Leiden auseinander. Zu Recht schreiben sie, dass die Fixierung auf den frühen Barth des Römerbriefes in gewisser Weise eine Begrenzung ist, hat doch der spätere Barth seine radikale Dialektik selbst aufgeben müssen. Da sind die Ausführungen des Wiener Theologen Ulrich H.J. Körtner aufschlussreich. Er weist zudem darauf hin, dass Walser offenbar die theologischen Werke nicht als Theologie, sondern „als Romane liest“ (S. 131).
Natürlich muss man Walsers Weg respektieren. Aber in meiner Sicht sollte der Leser gewarnt sein: Die dialektische Theologie ist keineswegs das non plus ultra, im Gegenteil. Walser selbst springt in meiner Sicht einmal aus seiner Bindung an den absolut gnadenvoll erwählenden Gott heraus, wenn er die Erfahrung der Schönheit über alles lobt: „Darin ist die Abwesenheit von Rechtfertigung weniger spürbar“. Walser schreibt aber weiter: „Etwas schön zu finden, ist mehr als ein Ersatz für das, was fehlt. Es ist eine mich übersteigende (!) Fähigkeit, dass ich etwas schön finden kann“. Also hat der Mensch diese ihn übersteigende Fähigkeit gar nicht von sich aus? Ist etwa jede ästhetische Erfahrung schon wieder ein Gnadengeschenk, das dem einen versagt, dem anderen erschlossen ist. Ist die ganze Kunst – und Kulturwelt dann etwa ein Gnadengeschehen? Wer würde im Ernst solches behaupten! Man spürt nur, dass Walser selbst unschlüssig ist und seine absolute Bindung an Gnade irgendwie nicht „durchhalten“ kann. Diese Bindung ist ohnehin – in meiner Sicht – ein kaum auszuhaltendes schweres und trauriges Schicksal. Walser sollte fragen: Will Gott, dass wir traurig und völlig unfähig sind „ihm“ gegenüber? Will er den Menschen wertlos machen, damit ER um so mehr glänzen kann? Wenn sich dagegen Atheisten auflehnen, haben sie wohl recht. Aber es gibt (liberale) christliche Positionen, die den Menschen als Menschen hochschätzen und ehren und von permanenter Trauer befreien.
Davon ist in dem Buch „Was fehlt, wenn Gott fehlt“ nicht so deutlich die Rede. Die Autoren folgen eng den Walserschen Gedanken, bis dahin, dass etwa der Wiener Theologe Jan – Heiner Tück (S. 8) fragt, ob nicht die Theologie neu bestimmen sei, nicht nur Rede von Gott, sondern auch Rede zu Gott und Rede mit Gott zu sein. Ich frage: Theologen können ja – privat – große Beter sein, wie gefordert wird. Aber falls Theologie in Deutschland und Österreich an den Universitäten bleiben möchte, ist sie doch wohl Wissenschaft, als distanzierende, um Objektivität bemühte Wissenschaft. Sie wird in der nötigen kritischen Distanz auch zur Kirche betrieben. Wie kann an diesem Ort der Universität Theologie noch kniend und betend betrieben werden? In privaten Klosterschulen wurde und wird vor den theologischen Vorlesungen gebetet, geht das an Universitäten?
Walser versteht sich – gerade als ein nicht Begnadeter – doch immer weiter als Suchender. Er kritisiert von da aus einen in sich verschlossenen Atheismus, der a priori meint, absolut recht zu haben und sozusagen auf der Spitze der Weltevolution sich zu bewegen. Walser hält dagegen: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazu sagen kann, dass Gott fehlt, und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es“, schreibt er in „Über Rechtfertigung“.
Interessant auch wieder dieses Eingeständnis. Wenn er meint, diese „Ahnung“ gehöre offenbar zum Menschen als Menschen, dann sollte man doch meinen, dass diese Ahnung „wesentlich“ den (immer transzendierenden) Geist ausmacht. Walser möchte wohl fragen: Kann denn ein Atheist ernsthaft Gott ablehnen, wenn er nicht wenigstens ahnungsweise wüsste, wer oder was Gott ist. Aber genau da beginnen die Probleme: Welchen Gott haben dann die Atheisten“ ahnungsweise“ vor Augen? Den abweisenden Gott der dialektischen Theologie, den moralischen Gott der katholischen Ethik, den manchmal so lächerlichen, manipulierbaren Gott der (katholischen) Volksreligionen? Darüber wäre ein Disput sinnvoll. Es gibt bekanntlich in der christlichen Glaubenswelt (auch in den Theologien) viele verschiedene christliche „Götter“.
Im übrigen empfehle ich dringend den auch sprachlich schönen Text der Theologin Elke Pahud de Mortagnes „Einfach nur lieben. Briefe an Martin Walser“ (S. 39 – 45). Der Beitrag führt aus den rationalen Verklammerungen heraus. Darin heißt es u.a. in poetischen Formulierungen:
“Es gibt Menschen, die auf meinen Weg gestellt sind. Die sind keine Romanfiguren.
Die sind…
Die sind einfach. Was sie sind.
Diese Menschen auf meinem Weg sind mein Gericht. Und Gottes Rechtfertigung“ (S. 44).
Das sind Menschen, die „einfach nur lieben“.
Man würde sich gern weitere ähnliche Texte von dieser Theologin wünschen. Da kommen ein neuer Ton und eine neue Aussage in das ansonsten manchmal so ängstliche, deswegen oft auch langweilige theologische „Geschäft“.

Jan-Heiner Tück (Hg.): Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung –theologische Erwiderungen. Herder.144 Seiten. 16, 99 €

Copyright: Christian Modehn und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Eine große Weite des Denkens: Liberale Theologie als Impuls, vernünftig zu glauben

Große Weite des Denkens
Die liberale Theologie ermutigt die Menschen, sich die eigene religiöse Erfahrung von niemandem nehmen zu lassen, auch nicht von den Kirchen. Den Abschied von alten Dogmen eingeschlossen
Von Christian Modehn

In der empfehlenswerten Zeitschrift “Publik – Forum” erschien im Juli 2013 ein kleiner Essay, der auf die lange Zeit eher selten beachtete liberale Theologie aufmerksam machte. Dieser Beitrag ist keine theologiegeschichtliche Studie. Sondern der Versuch, angesichts der tief greifenden Umbrüche im religiösen Bewusstsein sehr vieler, vor allem nachdenklicher und kritischer Menschen darauf hinzuweisen: Es gibt eine Form der Spiritualität und des christlichen Glaubens, die sich von belastenden Vorgaben der Dogmatik, der rigiden Morallehre von Dogmatikern und Herren der Kirche befreien kann. Es gibt also eine christliche Spiritualität, die wieder das Elementare pflegt und den Glaubenden wirklich alle Freiheit zutraut, die je eigene Gestalt des Glaubens zu suchen und zu leben. Nur der je – eigene Glaube, kritsich reflektiert und verantwortet, kann “authentisch” sein.
Dieser Beitrag hat unter dogmatisch orientierten (katholischen) Theologen etliche Kritik hervorgerufen, es wurde mir sogar „Beliebigkeit“ unterstellt, wobei dann der Beitrag selbst offenbar gar nicht gelesen wurde. Es gibt aber auch sehr viele ermunternde Stellungnahmen, sie machen deutlich: Die Sehnsucht nach einer liberalen Glaubensform ist auch in Deutschland da, die Glaubenden wollen nicht länger alte Formeln nachsprechen, sie wollen argumentativ verstehen, wie das Göttliche sich in ihnen selbst zeigt, sie wollen auch im Denken und Fühlen frei sein, wenn sie glauben.
Leider ist es so, dass dieser Sehnsucht nach liberal – theologischen Überzeugungen und liberal – christlichen Glaubensgemeinschaften und Kirchen in Deutschland keine kirchliche Realität entspricht. Die Kirchen sind hierzulande immer noch offiziell darauf bedacht, lieber die Dogmen von Chalzedon und Ephesus ( 4. bzw 5. Jh. ) hoch zu halten und einzuschärfen und einzupauken (nur Platoniker verstehen sie), als das Wesentliche des christlichen Glaubens freizulegen und es modern, in neuen Worten gewagt und experimentell und vielleicht auch in neuen Bekenntnissen zu formulieren. Dass diese rigide dogmatische Haltung Menschen aus den Kirchen treibt, hat sich inzwischen wohl etwas herumgesprochen.

Ich biete hier zum Nachlesen den TEXT Liberale Theologie als Glaubenshilfe:

Nicht Gehorsam, schon gar nicht Unterwürfigkeit, sondern Freiheit und Selbstbestimmung – das sind wichtige Tugenden heutiger Christen. Kein kirchenamtlicher Eingriff, keine inhaltlichen Vorgaben von oben werden diesen Wandel der Mentalität beseitigen können. Die Religiosität hat sich heute individualisiert. Damit verändert sich zugleich die gesamte religiöse Landschaft.

Wenn Christen heute ihren subjektiven Glauben absolut wichtig nehmen, dann verdanken sie diese Einsicht einer theologischen Grundhaltung, von der öffentlich bislang eher wenig die Rede ist: der liberalen Theologie. Sie inspiriert die Geister, ohne viel von sich zu reden. »Die liberale Theologie ist eine Emanzipationsbewegung, die sich gleichermaßen auf kirchliches Dogma wie auf kirchliche Institutionen bezieht. Beide werden als Machtinstrumente wahrgenommen, die die religiöse Autonomie des Einzelnen behindern«, schreibt Miriam Rose, evangelische Theologieprofessorin an der Universität Jena.

Im 19. Jahrhundert prägten dogmatisch-strenge Obrigkeiten und ihre Hof-Theologen den eher diffamierend gemeinten Titel »liberale Theologie«, um die religiöse Selbstbestimmung des Einzelnen anzuprangern. Für den unendlichen Wert der Religiosität eines jeden Menschen setzten sich im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die »Gründerväter« dieser theologischen Haltung ein: Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack oder Ernst Troeltsch.

Heute ist liberale Theologie »ein offener Begriff«, wie Miriam Rose sagt, nicht etwa eine verbrämte Ideologie à la FDP oder sogenannter neoliberaler Bewegungen. Das theologische Projekt ist eindeutig: Jeder Mensch soll sich auf dem richtigen Weg wissen, wenn er seine eigene Spiritualität entwickelt und lebt. In dieser großen Weite des Denkens kommt es nicht infrage, auf festgefügten Identitäten zu bestehen und feste Grenzen zu ziehen; denn das führt letzten Endes nur zur Gewalttätigkeit.

Für den Durchbruch liberal-theologischen Denkens sorgte ein kleines Buch, es wurde vor genau fünfzig Jahren veröffentlicht: »Honest to God« (»Gott ist anders«), so sein Titel. Es wurde millionenfach verbreitet und – wie die Diskussionen zeigten – auch gelesen. Verfasst hat es der anglikanische Bischof John A. T. Robinson (1919-1983). Er löste damit eine Art religiöses Erdbeben aus. Traditionelle Gottesbilder brachen zusammen. Es wurde Raum frei für eine neue, eine ehrliche Sprache über den Unendlichen und Ewigen.
Anzeige

John A. T. Robinson zeigte im Anschluss an die Theologen Paul Tillich und Rudolf Bultmann, dass Gott nicht im Jenseits zu suchen ist. Der Ewige sei vielmehr in uns Menschen als »die Tiefe der Existenz« lebendig. Viele Menschen waren davon in ihrem eigenen religiösen Gefühl längst überzeugt; sie hatten nur nicht den Mut, es auszusprechen.

In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich immer mehr die Einsicht verbreitet: Das dogmatisch vorgestellte Gottesbild der Kirchen darf meinem eigenen nicht widersprechen. Die religionssoziologischen Untersuchungen sind deutlich: Selbst »treue« Kirchgänger können dem Dogma von der Dreifaltigkeit Gottes oder der Lehre, Jesus sei eine Person mit zwei Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen, nicht mehr zustimmen. Nur im Falle einer Überprüfung ihres Glaubens durch kirchliche Behörden sprechen die Verdächtigten die offiziellen Bekenntnisformeln aus dem 4. Jahrhundert brav nach.

Führt die liberale Theologie zu einem Glaubensabbruch? Zu einem Zerfall kirchlicher Glaubensgemeinschaft? Nein. Die liberale Theologie kann den christlichen Glauben als elementare Religiosität sogar retten in einer Welt untergehender Kirchlichkeit. Denn an ein Ende der Kirchenaustritte ist in Deutschland wohl nicht zu denken. In Frankreich, Spanien und Portugal »vergreist« die katholische Kirche. In Skandinavien geht fast niemand mehr sonntags zum lutherischen Gottesdienst. Trotzdem gibt es die gemeinsame spirituelle Überzeugung, dass das Göttliche – wie es die Mystik aufzeigt – eine Art »Seelenfunke« in jedem Menschen ist. Der eine erlebt Gott als inspirierende Kraft, die andere fühlt, wie die Göttin ihr nahe ist; ein anderer mit Zen-Praxis bekennt: Eigentlich sei Gott namenlos, vielleicht sogar ein »Nichts«. Und alle haben recht.

Liberale Theologinnen und Theologen unterstützen die Menschen, wenn sie sagen: »Lasst euch diese Erfahrung von niemandem nehmen, aber sprecht gemeinsam darüber.« Darum bleiben Gemeinden wichtig: als »Orte des geselligen religiösen Austauschs«, wie es Friedrich Schleiermacher ausdrückte. »Liberale Theologie drängt immer darauf, dass sich die individuelle Freiheit weder mit Beliebigkeit noch mit egoistischer Selbstverwirklichung verwechseln darf. Die Freiheit kann, wo sie sich selbst richtig versteht, nur als verantwortliche und kommunikative Freiheit gelebt werden«, sagt der Berliner liberale evangelische Theologe Wilhelm Gräb. Aber in einer »liberalen Gemeinde« kann jeder und jede gleichberechtigt den eigenen Glauben darlegen in der Gewissheit, respektiert zu werden.

In einer Gemeinde der liberal-theologischen »Remonstranten-Kirche« in Holland sprach zum Beispiel kürzlich ein neues Mitglied sein persönliches Bekenntnis aus: »Ich glaube zwar nicht an Gott, aber Jesus von Nazareth ist sehr wichtig für mich.« Die Gemeinde applaudierte und erklärte: »So wie du bist, bist du willkommen.«

Natürlich können liberale Gemeinden nicht unkritisch jegliche Überzeugung gutheißen. Zurückgewiesen werden Ansichten, die die Menschenrechte verletzen. Gefordert wird Offenheit fürs (Streit-)Gespräch. Aber wenn es zum Konflikt kommt zwischen offizieller kirchlicher Lehre und persönlicher Glaubensüberzeugung, gibt die liberale Theologie der persönlichen Einsicht den Vorzug. Darin zeigt sich ihr rebellischer Geist. Die Menschenrechtserklärungen betonen, dass die Würde der Person »unantastbar und heilig« sei. Liberale Theologinnen und Theologen übertragen diese Sicht auch auf den einzelnen Glaubenden mit seiner persönlichen Religiosität.

Der liberale Theologe Wilhelm Gräb betont: »Wenn die Menschen der Gegenwart sich in den Lebensproblemen der Alten, also der Christen von einst, nicht mehr wiedererkennen, etwa in bestimmten altkirchlichen Dogmen wie der Trinitätslehre oder der Zweinaturenlehre über Jesus Christus, dann sollten Theologie und Kirche den Glauben an diese Dogmen auch nicht mehr lehren und predigen.«

Mit anderen Worten: Haben Dogmen und Lehrsätze nicht mehr die ursprüngliche Kraft, Lebensorientierung zu bieten und wirksam mit dem Göttlichen zu verbinden, dann lassen wir sie beiseite und vertrauen auf unsere eigene religiöse Erfahrung.

Diese liberale Haltung ist keine Arroganz »wild gewordener Subjektivisten«, wie die Hüter der alten Lehre polemisieren. Es wird lediglich ernst gemacht mit der Überzeugung, dass nur das, was ich vor meinem intellektuellen Gewissen vertreten kann, mir wirklich auch im Glauben weiterhilft. Alles andere wäre ideologische Indoktrinierung.
Anzeige

In den offenen Gesellschaften Europas und Amerikas folgen viele Christen einer liberal-theologischen Haltung. Sie lassen sich nicht irritieren, wenn sich in Zeiten sogenannter pastoraler Neuorientierungen und »Strukturanpassungen« die Kirchen zu bürokratischen Organisationen entwickeln und mehr auf die Techniken der Managementberatung vertrauen als auf die Freiheit des Geistes. Als selbstständig Glaubende gehen sie ihren eigenen Weg.

Die Wirklichkeit Gottes können sie auch außerhalb der Gottesdienste erfahren, zumal, wenn die Liturgie sprachlich aus der mittelalterlichen Welt stammt und rituell erstarrt ist. Musik können sie als eine Sprache Gottes erleben; längst sind in vielen Gemeinden die Kantoreien beliebter als Bibelkreise. Genauso kann das Geschenk der Gnade sich auch in der achtsamen Betrachtung von Kunst ereignen. Ein Gespräch über ein Picasso-Gemälde oder eines von Casper David Friedrich kann spirituell hilfreicher sein als eine Sonntagspredigt.

Liberale Christen, die ihre eigene Glaubenserfahrung ernst nehmen, deuten die Institution Kirche mehr als eine offene Bewegung denn als eine starre Organisation. Christ kann man auf viele Weisen sein. Wer sich zum Beispiel für die Begleitung einsamer oder kranker Menschen entscheidet, aber nicht (mehr) »zur Kirche« geht, ist selbstverständlich ein vollwertiger Christ –, wobei liberale Theologinnen und Theologen freilich an solchen Wertungen keinerlei Interesse haben.

Leider sind liberale Theologinnen und Theologen sowie liberal-theologische Gemeinden eher bescheiden organisiert. Neben den Remonstranten sind in Holland auch die Mennoniten eine ausdrücklich »freisinnige« Kirche. In Frankreich hat der liberale Protestantismus eine lange Tradition, die Gemeinde L’Oratoire du Louvre in Paris ist eines seiner Zentren. In Deutschland haben es Gemeinden schwer, sich angesichts starker Kirchenbehörden ausdrücklich zur liberalen Theologie zu bekennen. Die Remberti-Gemeinde in Bremen ist eine der wenigen.

In der römisch-katholischen Kirche ist es nahezu unmöglich, offiziell und öffentlich liberaltheologische Positionen zu vertreten. Dem Theologen Karl Rahner und seiner »transzendentalen Theologie« waren liberale Gedanken nicht fremd, etwa wenn er immer wieder betonte, die Dogmen sollten als Äußerungen der subjektiven Glaubenswelt verstanden werden. Die Chancen, als Katholik zugleich liberal zu sein, steigen, je weiter die geografische Entfernung zum Vatikan ist. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie und ihre Spiritualität etwa kann man durchaus als Ausdruck einer liberalen Theologie bezeichnen. Denn dort sind subjektive oder regionale Äußerungsformen des Glaubens akzeptiert. So ließ der Dichterpriester Ernesto Cardenal in den 1980er-Jahren die Bauern von Solentiname in Nicaragua frei aussprechen, wie sie ihren eigenen Glauben erleben: Ostern als »Aufstand« oder die Geburt des göttlichen Kindes als Erfahrung im Heute.

Die liberale Theologie und ihre Spiritualität wird an Bedeutung gewinnen. Einfach deshalb, weil sich die Kirchen in ihren angeblich ewigen Wahrheiten immer mehr einschließen und den Glauben zu einer Frage von Moral, Macht und Herrschaft verformen. Demgegenüber, sagt der Theologe Wilhelm Gräb, atmeten die Menschen auf, wenn sie hörten: »Allein schon dein Grundvertrauen, deine Lebenszuversicht ist ein Zeichen deiner Verbundenheit mit Gott.«
Copyright:christian modehn und publik – forum.

Wer zweifelt wird selig. Warum Skepsis dem Glauben hilft

Viele Interessierte, auch HörerInnen, fragen nach dem Manuskript einer Ra­dio­sen­dung mit dem Titel “Wer zweifelt wird selig”. Der Beitrag wurde im HR2 am 24. Februar 2013 und im Kulturradio des RBB am 11.August 2013 gesendet. Ich biete hier zum Nachlesen den noch ungekürzten Text; die für Hörfunkproduktionen übliche Form wurde beibehalten.

Wer zweifelt wird selig
Warum Skepsis dem Glauben hilft
Von Christian Modehn

1. musikal. Zusp., bleibt 0 07“ freistehen

1. O TON: Michael Braun, 0 20“
Fragen ist Bewegung, Antwort ist Stillstand. Das ist das ganz Entscheidende. Wenn wir aber die Antworten als Fragen verstehen, dann sind wir immer wieder auf dem Weg, Neues zu entdecken und damit auch neue Wege zu beschreiten.
1. SPR.:
Für Michael Braun kann menschliches Leben nur gelingen, wenn dem Fragen keine Grenzen gesetzt werden und zweifelnde Unruhe den Geist bestimmt. Als Philosoph meint er nicht das eher banale, alltägliche Fragen, etwa nach der Uhrzeit oder dem Wetter. Wer philosophisch fragt, geht in die Tiefe, immer auf der Suche nach seiner Wahrheit, die seinem Leben einen Sinn geben kann. Als praktischer Philosoph in Berlin begleitet Michael Braun Menschen, die sich aus ihrer alltäglichen Routine befreien wollen und eine neue, eine geistvolle Lebendigkeit wünschen. Der philosophische Fragen, der Zweifel, kann sie dorthin führen:
2. O TON, Michael Braun, 0 29“
Das Fragen selbst ist auch eine Form der Orientierung: zu wissen dass, der Boden, den man gewonnen hat, kein Boden ist, auf dem man sich immer absolut sicher sein kann, sondern den man auch neu hinterfragen muss. Denn wir sind nun einmal Menschen und es ist eine irrige Vorstellung, wenn wir glauben, wir könnten über das, was uns umgibt, wie wir leben, klare Antworten, unumstößliche Antworten finden.
2. SPR.:
Viele Menschen sind schon froh, wenn sie eine geistige Basis oder einen inneren Halt finden, der sie für ein paar Jahre glücklich leben lässt. Aber diese Antworten zeigen sich nicht „blitzartig“ und unmittelbar, sondern erst nach einem langen Prozess des beständigen Prüfens. Es ist das Pro und Contra, das Hin und Her, in dem sich die Gewissheiten zeigen, die das Leben ermöglichen und letztlich „tragen“. Diese existentielle Sicherheit muss vom einzelnen mit langem Atem und viel Geduld förmlich „erarbeitet“ werden, betont der Philosoph Michael Braun: ,
3. O TON, Michael Braun, 0 49“
Skepsis meint nichts anderes, wie das immer wieder neue Betrachten einer Sache von allen Seiten. Also ständig die Perspektiven auf etwas zu wechseln. Und das ist, glaube ich, etwas ganz Zentrales, was man sehen muss, dass wir immer in unserer Sicht auf die Dinge eine Richtung haben. Und
wenn wir diese eine Richtung immer verfolgen, dann lernen wir eine Sache niemals von einem anderen Standpunkt aus kennen. Also sind wir, wenn wir der Welt näher kommen wollen, eigentlich aufgerufen, eine Sache von so vielen wie möglichen Seiten zu betrachten und zu sehen, wie sie sich dort für uns darstellen, ohne sie festzustellen. Insofern würde ich sagen, dass die skeptische Haltung eine ganz zentrale Lebenshaltung ist.
1. musikal. Zusp., noch einmal 0 07“ freistehen lassen.
1.SPR.:
Erst seit dem 16. Jahrhundert wird Skepsis als eine individuelle Lebenshaltung weiterer Kreise betrachtet. Im antiken Griechenland bildeten Skeptiker nur eine kleine Gruppe radikaler Denker: Sie zweifelten an jeglicher Erkenntnis und fühlten sich deswegen auch von jeder Entscheidung befreit, weil ja „alles gleichgültig“ erscheint. Auf diese Weise glaubten sie, gleichsam über allen Erkenntnissen schwebend, ihre seelische Ruhe, die Ataraxía, zu erlangen.
2.SPR.:
In der Neuzeit mussten skeptische Denker um ihr Leben bangen, wenn sie öffentlich ihre Meinung äußerten. Descartes, der aus Frankreich stammende Philosoph, konnte erst im liberalen Holland seine Einsicht publizieren, dass erst der methodische Zweifel an allen Traditionen zur letzten Gewissheit führt. Immanuel Kant wollte Ende des 18. Jahrhunderts den Autoritäten in Staat und Religion nicht länger zugestehen, für alle bedeutsamen Fragen über die einzig mögliche Antwort zu verfügen. Als Philosoph der Aufklärung zweifelt Kant auch an der religiösen Begründung ethischer Gebote, berichtet der katholische Theologe und Philosoph Professor Michael Bongardt:
4. O TON, Michael Bongardt, 0 38“,
Für Kant ist es keine Begründung einer Regel zu sagen: Die hat Gott gesetzt. Ein göttliches Gebot können wir ohnehin nicht als solches erkennen. Wer kann uns mit Sicherheit sagen, dass ein Gebot von Gott kommt und nicht von Menschen erfunden ist, die dann halten sagen: Es kommt von Gott. Aber, so sagt Kant sehr selbst bewusst: Selbst wenn es ein göttliches Gebot wäre, wären wir verpflichtet, nur das zu tun, was wir selber kraft eigener Vernunft für gut halten.
1.SPR..
Kant hat die Menschen gelehrt, voller Stolz der eigenen Vernunft zu folgen. Denn sie zeigt im Fragen und Zweifeln ihre belebende und durchaus reinigende Kraft. Sie löst das naive Denken auf, befreit vom „Kinderglauben“. Prüfe die Dogmen und gehe dann deinen Weg, lehrte Kant. In dieser Haltung können heute skeptische Philosophen Jesus von Nazareth schätzen lernen und als ein Vorbild anerkennen, betont Michael Braun:
5. O TON, Michael Braun, 0 30“.
…weil Jesus eigentlich auch auf eine gewisse Art und Weise nichts anderes getan hat als skeptisch zu sein gegenüber dem, was ihm in seiner Welt begegnet ist; ob es für die Lebensvollzüge der Menschen Sinn macht. Und der dann seinen eigenen Stil gefunden hat. Aber eben nicht so gefunden hat, dass er absolut festgeschrieben ist, sondern dass er eine Möglichkeit des immer wieder neuen Betrachtens alter Gesetze eröffnet hat.
1. SPR.:
Aber Zweifel und Skepsis konnten und wollten die Kirchenführer nicht als Tugenden anerkennen. Sie forderten schon seit Jahrhunderten die Gläubigen auf, das „Opfer des Verstandes“ zu bringen, wenn sie fromm sein wollten. Alle Gestirne drehten sich um unsere Erde, behaupteten die religiösen Führer und verbrannten eher Wissenschaftler auf dem Scheiterhaufen als selber kritisch zu fragen und zu forschen. Die Bücher von Descartes wurden auf den Index verbotener Texte gesetzt.
2. SPR.:
Bis ins 18. Jahrhundert war es untersagt, die einzelnen Bücher der Bibel als literarische Zeugnisse einer vergangenen Kultur zu lesen und mit wissenschaftlichen Methoden kritisch zu befragen. Dabei hatte es sich längst herumgesprochen: Nicht alle so genannten Paulusbriefe des Neuen Testaments hat der Apostel Paulus selbst verfasst. Und wenn Maria, die Mutter Jesu, Jungfrau genannt wird, muss man nicht an eine biologische Jungfräulichkeit denken. Theologen wollten seit dem 19. Jahrhundert als Wissenschafter an den Universitäten respektiert werden. Deswegen mussten sie die stets fragende, die skeptische Haltung des Forschers übernehmen. Ein naives und wortwörtliches Ernstnehmen eines Bibelverses ist nicht mehr möglich, betont Jens Schröter von der evangelisch – theologischen Fakultät der Berliner Humboldt Universität:
6. O TON, Jens Schröter, 0 56“.
Ich denke, dass es fundamental ist für jede Art von Überzeugung philosophischer oder religiöser Überzeugung, dass sie sich selber hinterfragt, dass sie ihre Grundlagen auf den Prüfstand stellt, um eine wirklich fundierte intellektuell und ethisch auch belastbare Position zu gewinnen. Und das ist für die Theologie sehr wichtig. Deshalb ist auch die akademische Theologie für die Kirche so wichtig, weil sie genau dieses tut: Sie stellt immer wieder die entscheidenden Fragen, wie der christliche Glaube sich in einer bestimmten Zeit so äußern kann, dass es überzeugend ist und dazu muss er auch immer die Fragen nach seinem eigenen Fundament in uneingeschränkter Weise zulassen. Deswegen kommt der Frage und der Skepsis in der Theologie eine ganz grundlegende Funktion zu.
1. SPR.:
Was heute selbstverständlich klingt, ist tatsächlich eine Revolution des Denkens: Der Vernunft in ihrem Prüfen und Fragen wird zugetraut, die Bedeutung religiöser Texte verständlich zu machen. Aber es klingt bei vielen frommen Leuten doch noch immer wie eine unerträgliche Provokation, wenn Theologen sagen: Die menschliche Vernunft des Wissenschaftlers ist imstande, den religiösen Bereich erschließen. Heftige Vorbehalte dagegen gibt es vor allem in der Orthodoxie und im Katholizismus. Und evangelikale Kreise in Amerika lehren auch heute: „Die Welt wurde in 6 Tagen erschaffen“. Viele Gläubige fühlen sich in Gott nur geborgen, wenn sie sich fraglos an die amtlich vorgegebenen Lehren klammern, wie Bruno Caldera, ein „Laien – Missionar“ der katholischen „Neokatechumenalen Gemeinschaft“, freimütig bekennt:
7. O TON, Bruno Caldera., 0 14“
Unsere Theologie ist der Katechismus der katholischen Kirche. Gott ist derjenige, der uns lehrt, derjenige, der uns Antwort gibt. Ich bin der Meinung, dass Gott da ist, um uns Antworten zu geben.
2. SPR.:
Die Neokatechumenalen gehören zu den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“; sie sind stolz darauf, ihren Glauben von skeptischen Fragen möglichst freizuhalten. Darum binden sie ihr Denken gern an eine Institution, die ihnen unwiderruflich klar „die“ Wahrheit vorgibt, betont Pater Klaus Einsle vom Orden der „Legionäre Christi“:
8. O TON, Klaus Einsle, 0 30“.
Wir wissen, dass Christus die Kirche gegründet hat mit einer bestimmten Struktur, mit einer bestimmten Hierarchie und diese Hierarchie ihre Funktion hat. Und in dem Sinn haben wir ein ganz krampfloses und positives Verhältnis zum Papst, den Christus bewusst eingesetzt hat. Und die Kirche ist für uns das Lehramt und die Bischöfe, die in Einheit mit dem Lehramt sind. Da würde ich sagen, dass unsere Denkart sehr die des Lehramtes ist.
1. SPR.:
Die Kirchenführung ist stolz auf diese Gemeinschaften, hat der katholische Theologe Ferdinand Kerstiens beobachtet:
21. O TON, Ferdinand Kerstiens, 0 18“
Solche Gruppierungen sind immer bei der Hierarchie beliebt, weil sie keine Schwierigkeiten machen, weil sie keine kirchlichen Strukturen in Frage stellen, weil sie keine kirchlichen Gesetze in Frage stellen, weil Sachen wie Zölibat und Priestertum der Frau und solche Fragen bei ihnen nicht diskutiert werden.
2. musikal. Zusp., 0 07“ freistehen lassen.
1. SPR.:
Aber sind Zweifel und Gottesglaube einander tatsächlich so fremd? Kann es denn der Würde des Menschen entsprechen, die eigene Vernunft zu verabschieden, wenn man religiös sein will? Heute gehen weltweit glaubende Menschen ihren eigenen Weg: Sie fühlen sich dabei in guter Gesellschaft und berufen sich auf einzelne Aussagen der Tradition, etwa auf den Apostel Paulus. Er hat seine Gemeinde in Thessaloniki ausdrücklich ermahnt:
2. SPR.:
„Prüfet alles, das Gute behaltet“.
1.SPR.:
Und manche Theologen sehen sogar in dem Mönch und Wüstenbewohner Evagrius Ponticus aus dem 4. Jahrhundert einen Bundesgenossen, er lehrte:
2.SPR.:
„Sei ein Türhüter deines Herzens und lass keine Gedanken ohne eigene Befragung herein.“
1. SPR.:
Es ist ein Trend in der weiten christlichen Ökumene, wenn heute Gläubige den Zweifel und die Skepsis als spirituelle Tugenden entdecken. Diese Christen wissen: Nur konsequentes Fragen und Suchen führt zum Kern, zum Mittelpunkt, des religiösen Glaubens. Der katholische Theologe Paul Michael Zulehner aus Wien betont:
9. O TON, Paul Zulehner, 1 07“.
Wir müssen weg von unseren alten, bekannten abgedroschenen Aussagen und von dem, was wir für richtig gehalten haben, auch weg von der Macht versessenen Kirche, als wären wir diejenigen, die das Heil der Menschen in der Hand haben. Die Dogmen sind im Grund genommen wie die Laternen, die uns auf dem Weg durch die dunkle Nacht leuchten und nur Betrunkene halten sich daran fest, hat Karl Rahner mal ein bisschen salopp über die Dogmen gesagt. Also, sie sind gut, aber sie sind kein Ersatz des Glaubens und für das Leben.
Und Glaubenlernen heißt Fragen lernen, sich selber in Frage zu stellen. Ich hab einmal gesagt, wenn wir mal Zeit haben, machen wir einen Katechismus, der nur aus Fragen besteht. Und das Eigentliche der Evangelisierung heute ist nicht das Drucken von Weltkatechismen. Im Grunde genommen müsste es so sein, dass die Menschen wieder die richtigen Fragen zu stellen lernen. Und ich glaube: Das geht nur, wenn der Mensch radikal frei ist, also im Zustand des Risikos lebt, das ist der Akt des Zweifels.
1.SPR.:
Skeptiker stellen Fragen, die in die Tiefe gehen und dabei Wichtiges von Zweitrangigem trennen. Nur als Skeptiker können Gläubige prüfen, ob sie tatsächlich den Unendlichen und Ewigen meinen, wenn sie von ihrem „lieben Gott – Vater“ sprechen. Sie distanzieren sich also von ihren frommen Vorstellungen und bloß erbaulichen Bildern, die sie im Laufe des Lebens wie eine Selbstverständlichkeit herausgebildet haben. Darauf weist der evangelische Theologe und Psychotherapeut Günter Funke aus Berlin hin:
10. O TON, Günter Funke, 0 23
Ich glaube: Halte nicht zu sehr an deinen Vorstellungen fest, denn viele Menschen haben sehr viel Lebendigkeit ihren Vorstellungen geopfert. Und natürlich, wenn ich irgendwo mal beginne, Lebendigstes für Vorstellungen zu opfern: Dann werden die Vorstellungen damit überhöht, sie bekommen einen Stellenwert, den die biblische Tradition Götzen nennt.
2. SPR.:
Mit methodischem, konsequenten Fragen und Zweifeln können die „Götzen“ vertrieben werden: Die naive Überzeugung etwa, dass Gott immer auf meiner Seite steht und mir zu Diensten ist oder das Gefühl, dass er gerade mir Erfolg, Macht und Einfluss garantiert; dass Gott mich eigens erwählt hat, in diesem wohlhabenden Teil der Erde zu leben und so weiter: Im kritischen Zweifel kann „der liebe Gott“ nicht länger der „himmlische Garant“ aller meiner Wünsche bleiben:
11. O TON, Günter Funke, 0 35“
Eine Gotteserfahrung ist immer auch eine Erschütterung. Was wird erschüttert? Es wird zunächst einmal erschüttert mein bisheriges Wissen oder, wir können es auch so sagen, meine bisherigen Vorstellungen von etwas, was ich für Gott gehalten habe. D.h.: Eine elementare Gotteserfahrung führt immer zu einem Nullpunkt. Im Grunde wird mir ein Halt in der Welt genommen. Und eine Gotteserfahrung ist ein innerer Bildersturm. Also: Dieses nicht mehr wissen, wer Gott ist, ist Glaube.
2. musikal. Zusp., 0 07“ freistehend.
1. SPR.:
Erst wenn im Bildersturm die selbst gemachten Gottesvorstellungen verschwinden, kann der Glaube des einzelnen authentisch werden. Aber lässt sich in dieser skeptisch – frommen Haltung auch Gemeinde bilden? Können sich suchende Menschen mit ihren Zweifeln sonntags zum gemeinsamen Gottesdienst versammeln?
2. SPR.:
Eine protestantische Kirche in Holland hat sich für diesen Weg entschieden: Seit 400 Jahren treffen sich Zweifler und Skeptiker in der Kirche der Remonstranten, sie ist Mitglied im Ökumenischen Weltrat der Kirchen. Remonstrance bedeutet Einspruch, auch Widerspruch: Remonstrantische Protestanten widersprechen der Vorherrschaft uralter Dogmen! Sie wollen zuerst der Menschlichkeit Jesu von Nazareth entsprechen, betont der aus Deutschland stammende Pfarrer Reinhold Philipp von der Remonstranten – Gemeinde in Den Haag:
12. O TON, Reinhold Philipp, 0 49“
Jeder ist willkommen. Und ich denke, dass bei uns nicht einer sagt: So ist es! Ich denke, dass wir miteinander auf der Suche sind. So erfahre ich die Gottesdienste, die Gesprächsgruppen. Niemand weiß genau: Das ist der Weg, so müssen wir gehen. Sondern im Gespräch, im Austausch der Gedanken, lernen wir voneinander und gehen wir miteinander den Weg. Wir haben neulich noch ein neues Mitglied begrüßt. Inzwischen hat sie eine wichtige Funktion sogar im Kirchenrat, und sie hat ihr Glaubensbekenntnis in einem Gottesdienst ausgesprochen. Und fängt damit an: Ich glaube eigentlich nicht an Gott, aber: Jesus spielt mir eine wichtige Rolle als Vorbild. Aber es wurde akzeptiert, da ist viel Offenheit.
1. SPR.:
Auch im Katholizismus bilden sich Gemeinden der Skeptiker und Zweifler: Eine entsprechende Pfarrei leitet der Theologe Tomás Halík in Prag. Er ist auch in Deutschland als theologischer Autor hoch geschätzt, etwa wegen seines Buches „Nachtgedanken eines Beichtvaters“. Haliks Publikationen sind von seiner Gemeindepraxis in der Prager „Salvatorkirche“ inspiriert.
13. O TON, Tomas Halik, 0 31“.
Ich möchte diese Leute begleiten auch als ein Suchender; auch mein Glaube ist immer ein Weg. Und ich versuche, immer tiefer und tiefer zu gehen. Aber Christentum, das ist keine billige Sicherheitslehre. Das ist eine Herausforderung, mit dem Geheimnis zu leben, das ist nicht leicht. Und auch durch die Krisen und Nächte durchgehen, das ist immer ein Weg zur Reife.
1. SPR.:
Wer im Einklang mit seiner Vernunft, also „reif“, glauben will, entwickelt die Kraft der Unterscheidung. Für Tomas Halik ist einzig und allein entscheidend das göttliche Geheimnis, das alles Gründende, die letzte Dimension, die von den Menschen nur berührt, niemals aber gefasst oder definiert werden kann. Von diesem „abgründigen Grund“ allen Lebens sind viele Menschen bewegt, selbst wenn sie sich ungläubig oder atheistisch nennen, hat Tomas Halik beobachtet:
14. O TON: Tomas Halik, 0 38“
Ich kann mit einigen so genannten Ungläubigen sehr gut verstehen und mit einigen Gläubigen nicht. Also Glaube ist etwas tiefer als eine Überzeugung, eine Ideologie. Und es mag so sein, dass für einige ihr Glaube sitzt nur in diesem Bewusstsein! Wenn sie Menschen besser kennen, sie spüren, dass sie haben ein verschlossenes Herz und ihr Glaube ist nur oberflächlich.
1. SPR.:
Tomas Halík liebt deutliche Worte: Suchen und Zweifeln ist für ihn nichts Geringeres als ein göttliches Gebot! Er beruft sich dabei auf eine Weisung des Apostels Paulus. Von ihm überliefert die Apostelgeschichte diese Worte:
2. SPR.:
Gott ist derjenige, der allen Menschen das Leben und den Atem und alles gibt. Er, der Schöpfer, will, dass die Menschen Gott suchen, ob sie ihn ertasten oder finden könnten.
1.SPR.:
Für Tomas Halik ist dieser Text so entscheidend, dass er in seinem Buch „Geduld mit Gott“ mit einem dicken Ausrufezeichen noch hinzufügt:
2. SPR.
Das ist eine starke Behauptung: Der Sinn der Schöpfung ist das religiöse Suchen!
1. SPR.:
Fragen, Suchen und Zweifeln werden heute als ein göttliches Geschenk, ein „Charisma“, erlebt. Denn sie halten den Geist lebendig halten und damit dem Menschen die nötige Vitalität schenken. Diesen bewegenden, Unruhe stiftenden Geist entdeckt Halik auch außerhalb der christlichen Konfessionen:
15. O TON, Tomas Halik, 0 33“
Ich bin überzeugt, dass heute die Grenze ist nicht zwischen den Gläubigen und Nichtgläubigen. Aber zwischen Suchenden und Verbleibenden. Es gibt die Gläubigen, die sind ganz zufrieden mit ihrer Situation und Weg. Es gibt auch die Atheisten, die sind ganz zufrieden. Es gibt auch die Zweifelnden, die sind mit den Zweifeln zufrieden, und die sind nicht imstande, über ihre Zweifel zu zweifeln.
1. SPR.:
Am Zweifel zweifeln können: In diesem merk –würdigen Satz hat die skeptische Spiritualität ihren Mittelpunkt. Denn die Einsicht drängt sich auf: Mit dem Zweifeln wird das Denken gerade nicht beendet! Zweifeln führt gerade nicht in die Verzweiflung! Der Zweifel ist nicht der Schlusspunkt geistigen Lebens, weil sich die Menschen ihre Skepsis noch einmal gedanklich beziehen können und dabei entdecken: Es ist ja der Geist selbst, der unseren Zweifel trägt und erst ermöglicht. Es wird erlebt, dass der Geist größer und umfassender ist als Zweifel und Skepsis. Fragen, Suchen und Zweifeln sind also nichts als die Lebensformen des Geistes. Auf diese Erkenntnis bezieht sich der Berliner protestantische Theologe Professor Wilhelm Gräb:
16. O TON, Wilhelm Gräb, 1 05“
Der Zweifel, der in Wahrheit auf den Glauben geht, das sind diese Erfahrungen, in denen mein Lebenssinn sich mir verdunkelt, wo ich unsicher darüber werde, ob ich auf dem richtigen Weg bin, wo sich mir Erfahrungen der Verlorenheit und eben einer tiefen Selbstverunsicherung einstellen, wo ich revoltiere: Das sind die Situationen also existentiellen Zweifels. Das sind die Kämpfe, in die es einzutreten gilt, gewissermaßen zu einer Erneuerung derjenigen Lebensgewissheit zu finden, die mich ja nicht gänzlich verlassen hat. Also ich mich dessen zu erinnern beginne, was doch auch gut war in meinem Leben und auch jetzt noch mir Freude zu machen in der Lage ist. Also das Positive dann auch wieder zu sehen. Da kann auch die biblische Tradition wichtig werden als ermutigende Ansprache, als Zusage.
1. SPR.:
Denn Christus hat seiner Gemeinde zugesagt, dass der heilige Geist alle in die Wahrheit einführt, wobei einführen oder einweisen als ein Prozess, als ein Geschehen zu begreifen sind:
17. O TON, Wilhelm Gräb, 0 45“.
Die Rede vom Hl. Geist legt sich theologisch immer genau dann nahe, wenn wir eben in die Beschreibung solcher Erfahrung einzutreten versuchen, die an uns geschehen; für die wir uns zwar vorbereiten, auf die wir uns einstellen können, aber deren Gelingen wir nicht in der Hand haben.
Das alles sind alles Auslegungen, dieses uns tragenden dieses Grundvertrauens, dieser Gewissheit, aus Quellen unserer Lebenskraft zu schöpfen, die uns ohne all unser Zutun und Leisten immer schon zu fließen. das ist das selige Leben.
3. musikal. Zusp., 0 07“ freistehend.
1. SPR.:
Im Zweifel wird also eine letzte, unverfügbare geistige Basis erreicht: Unser menschliches Dasein verdankt sich einer absoluten schöpferischen Wirklichkeit, dem alles gründenden Geheimnis des Lebens. Das ist durchaus ein Konsens unter skeptischen Theologen. Günter Funke, Theologe und Therapeut, betont:
18. O TON, Günter Funke, 0 36“.
Dieses Leben, das uns in diesem Augenblick in sich selbst hält, haben wir uns selber nicht gegeben und nicht gemacht. Das ist doch jedem vernünftigen Menschen irgendwo zu vermitteln: Das Leben habe ich nicht gemacht. Wir können nicht einmal Leben im Reagenzleben machen, weil das Leben immer schon da ist. D.H. Wir können im Reagenzglas, so sage ich es immer, dem Leben eine Chance geben, auch dort noch zu erscheinen. Aber der Mensch kann kein Leben schaffen. Weil er in allem Leben – Schaffen immer schon wieder schon auf dieses Leben zurückgreifen muss, um etwas zu schaffen.
1. SPR.:
Gläubige Menschen fühlen sich gerade wegen des Zweifels oder auch durch den Zweifel in Gott, dem Geheimnis, geborgen. Sie haben erfahren: Gott und nur Er ist größer als alles Denken. Kann dann noch ein einzelner Mensch meinen, persönlich im Besitz endgültiger und für alle geltender Wahrheiten zu sein? Der glaubende Mensch, zum Skeptiker geworden, lernt die Grenzen seines Daseins zu akzeptieren und auch die Begrenztheiten seines Erkennens. Er wird also genötigt, seine eigene Position immer zu relativieren. Aber gerade das sei doch eine enorme Chance, meint der Tübinger Theologe Hermann Haering:
19. O TON, Hermann Häring, 1 03“.
Ich bin Relativist, man so will, weil ich weiß, ich hab nicht die ganze Wahrheit. Und nicht, weil ich die andere Meinung als Bedrohung, sondern als Ergänzung, als Erweiterung, als eine andere Perspektivierung meiner eigenen erfahre. Deshalb verstehe ich nicht, dass manche Leute Relativismus so schlimm finden. Jeder, der die Wahrheit in einer Organisation sieht, der kann keine Abweichung dulden, für den ist die Wahrheit in der Sprachregelung. Aber das Problem, dass man eben meint, diese Organisation sei die Wahrheit. Ich halte bei Gott viel von der katholischen Kirche oder von den christlichen Kirchen. Aber sie sind nicht die Wahrheit, sondern sie haben sie weiter zu tragen. Es gibt ein rabbinischen Spruch, der sagt: Ein Schriftwort, das nicht 99 Auslegungen zulässt, hat die Wahrheit Gottes nicht.
1. SPR.:
Und alle verschiedenen Auslegungen haben ihr gutes Recht. Erst sie zusammen genommen spiegeln in etwa die Fülle göttlicher Wahrheit; und die drückt sich in einem vielstimmigen Chor aus! Das Erleben von vielen individuellen Stimmen belebt das kirchliche Miteinander. So wächst aus dem Geist des Fragens und Suchens, des Zweifelns und der Skepsis, eine neue, eine ökumenische Bewegung, vielleicht auch eine neue Kirche, betont der Wiener Theologe Paul Michael Zulehner:
20. O TON, Paul Zulehner, 0 35“.
Und wir müssten öffentlich sagen, was wird da aus dem Alten neu geboren in diese neue Zeit, in die Gott uns hinweggeführt hat. Da braucht es so etwas wie einen ekklesialen Ultraschall. Was kommt da auf uns zu? Es kommt sicher auf uns zu eine Kirche, die ganz nahe an den Fragen der Menschen ist. Ich glaube, das ist der Beginn dessen. Wenn nicht die Urfragen der Menschheit, wie eben auch jene, ob der Tod stärker ist als die Liebe, auf der Tagesordnung der Kirche stehen, dann werden wir, auch wenn wir uns noch so modernisieren, strukturell aus sein.
3. musikal. Zusp., zum Ausklang noch einmal freistehend.

…………………………………………………………………………………………………………

Buchhinweise:
Tomas Halik, Nachtgedanken eines Beichtvaters. Glauben in Zeiten der Ungewissheit. Herder Verlag, 2012, 320 Seiten.

Wilhelm Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Gütersloher Verlagshaus, 2006, 208 Seiten.

Paul Michael Zulehner, Eine Antwort des Glaubens. Martin Kolosz im Gespräch mit Paul M. Zulehner und Petra Steinmair-Pösel, Studien Verlag, Innsbruck, 2011, 108 Seiten