„Wenn das Christentum nicht mehr liebenswürdig ist“…

Immanuel Kant deutet das „Ende aller Dinge“, also den „Untergang der Welt“.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Aktuell wird über die Zukunft der Kirchen in Europa heftiger als je zuvor nicht nur debattiert; es gibt Kirchenaustritte von mehreren hunderttausend Gläubigen seit vielen Jahren; es gibt sexuellen Missbrauch durch den Klerus; unverminderten Anspruch des katholischen Klerus, in allen relevanten Fragen herrschend und allbestimmend zu bleiben; nicht zu leugnen ist die Schwäche des Christentums, tatsächlich Frieden zu schaffen trotz der vielen „Friedenssprüche“; der theologische Fundamentalismus in weiten Kreisen aller Kirchen wird politisch immer gefährlicher, siehe USA usw.

2.
Ist das Ende der Kirchen in Europa und Nordamerika absehbar? Religionssoziologen schließen das nicht aus, und sie sehen, dass einstige Großkirchen langsam, aber sicher verschwinden: Man denke etwa an die Entwicklungen in den Niederlanden.

3.
Das Ende aller Dinge, also den Untergang der Welt und das End-Gericht Gottes, hat Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, mit dem Niedergang des Christentums, der Kirchen, verbunden. In seiner wenig beachteten Schrift von 1794 mit dem Titel „Das Ende aller Dinge“ kommt er zu dem Ergebnis: Der definitive Untergang der Welt kann bevorstehen, wenn das Christentum, wenn die Kirchen, aufhören, wenigstens noch Spuren des „Liebenswürdigen“ in sich zu haben.

4.
Mit anderen Worten: Hören die Kirchen auf, noch liebenswürdig zu sein, können und sollen die Menschen „eine Abneigung und Widersetzlichkeit
gegen das Christentum“ als ihre „herrschende Denkart“ praktizieren, d.h. sie könnten und sollten sich von diesem Christentum befreien. (I.K., „Zum ewigen Frieden“, Fischer-Taschenbuch, 2008, S. 150f.).

5.
Noch schimmert die Liebenswürdigkeit des Christentums durch, meint Kant (S. 150). Er versteht Liebenswürdigkeit nicht im populären Sinne etwa als Aufopferung eines Menschen für andere, sondern als menschliche Haltung, die sich ganz der Sittlichkeit verpflichtet weiß, als Resultat der freien Entscheidung, dem kategorischen Imperativ zu folgen. Der wahre Christ folgt – so Kant – nicht aus Angst vor göttlichen Strafen den ethischen Prinzipien des Christentums; er folgt den Weisungen des Christentums aus freier Einsicht, weil sie human, weil sie menschlich vernünftig sind und mit den vernünftigen ethischen Prinzipien identisch sein müssen.

6.
Ein „liebenswürdiges Christentum“ ist also ein Christentum der Freiheit, ohne Zwang, ohne entfremdenden Dogmen-Glauben, ohne „Befehlshaber“, wie Kant sagt (S. 149), ein Christentum also „des sanften Geistes“ „ohne gebieterische Autorität“ (S. 150). Und wenn dieses liebenswürdige Christentum aufhört lebendig zu sein, dann… ist das “Ende der Zeiten“ nahe, das schreibt Kant in einer seiner letzten Publikationen überhaupt. Dabei sollte man die Formel Kants „Ende der Zeiten“ nicht wortwörtlich verstehen, sondern als Hinweis darauf, dass dann die Welt, selbst wenn sie fortbesteht, flach, geistlos und eindimensional (ohne Spuren des Transzendieren) wird.

7.
Kant hat sich mit der Reflexion über das kirchliche Symbol „Ende der Zeiten“ noch einmal in seine bekannte Religions – und Kirchenkritik begeben. Sein Urteil fällt auch diesmal deutlich aus, wenn man seine Jahre langen, heftigen Auseinandersetzungen mit der sich orthodox, rechtgläubig, nennenden Theologie vor Augen hat: Dem kirchlichen Glauben, der auf die Macht der Dogmen und Gebote setzt, gab er keine Zukunft. Und eine gewisse Trauer bleibt bei einigen, dass das Christentum – trotz aller Sprüche – dann doch nicht liebenswürdig war…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das Massaker in Mellila (Spanien) am 24.Juni 2022

Lesen Sie bitte diesen Bericht von Alexander Kern (UNI Frankfurt/M.), veröffentlicht auf der website “Geschichte der Gegenwart” ,über das Massaker in Melilla am 24.6.2022, um den Umgang des “demokratischen” (“christlichen” ???…..) Europa mit Flüchtlingen aus Afrika zu verstehen. LINK

Sowie den Hinweis des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin vom 13.6.2022 auf die sehr “merkwürdige”, d.h. skandalöse Flüchtlingspolitik der EU, eine Buchbesprechung: LINK:

Katholische Theologie an deutschen Universitäten kann keine freie Wissenschaft sein

Zum neuen „Staatsvertrag Berlin – Katholische Kirche“

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Nun gibt es seit einigen Monaten ein so genanntes „Zentral-Institut für katholische Theologie“ an der Berliner Humboldt-Universität. Um den Lehrbetrieb rechtlich zu gestalten, haben das Land Berlin und die katholische Kirchenführung einen Vertrag geschlossen, der am 30.Juni 2022 ohne jeglichen Einwand vom Abgeordnetenhaus „zur Kenntnis“ genommen wurde.
Der nächste Schritt ist bedeutsam: Die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und der Apostolische Nuntius in Deutschland (also der Botschafter des Vatikanstaates) Bischof Nikola Eterovic können also den Vertrag dann unterzeichnen.

Es ist also der päpstliche Nuntius, der den Vertrag von katholischer Seite unterzeichnet, die Macht des Papstes greift bis nach Berlin in ein Institut der staatlichen Universität.

2.
Der Staatsvertrag, bezogen auf das Zentralinstitut für katholische Theologie sieht – wie sonst auch in Deutschland üblich – vor: Die Katholische Kirchenführung, also die Bischöfe, sind mit exklusiven Rechten ausgestattet: Bei der Berufung der Professoren können sie mitentscheiden, das gleiche gilt für die inhaltliche Gestaltung der Studiengänge usw. Vor allem: Ein katholischer Theologe kann nicht mehr in dem genannten Institut tätig sein, wenn er – in der entscheidenden Sicht der klerikalen Kirchenführung – gegen die offizielle Dogmatik (die die Kirchenführung formuliert und einzig kompetent beurteilt) verstößt oder einen Lebenswandel führt, der von der klerikalen Kirchenführung als „unkatholisch“ abqualifiziert wird. Man denke etwa daran, dass ein dort beschäftigter Priester abgesetzt werden muss, wenn er heiratet. Ähnliches gilt, wenn ein homosexueller katholischer Theologieprofessor mit seinem Mann den Ehevertrag schließt. Oder wenn eine katholische Theologin offen bekennt: ich habe abgetrieben….

3.
Unter diesen allseits schon seit Jahren bekannten Bedingungen für das Funktionieren katholischer Theologie an den deutschen staatlichen Universitäten kann man nur noch einmal betonen: Eine solche katholische Theologie, abhängig von der Leitungsstruktur einer Großorganisation, ist keine freie Wissenschaft und kann niemals eine freie Wissenschaft sein.

4.
Was würde die Öffentlichkeit sagen, wenn die Slawistik – Professoren mit dem Schwerpunkt Russische Sprache an deutschen Universitäten nur im Einvernehmen mit der russischen Staatsführung berufen werden könnten, wenn der russische Staat die Lehrpläne an deutschen Universitäten etc. mitbestimmen würde…
Der jetzt in Berlin lehrende katholische Theologe Georg Essen war am 19.10.2018 zu einem Interview im Deutschlandfunk eingeladen. Christoph Heinemann stellte diese Frage: „Könnte man nicht auch sagen, der Bundesverband der Deutschen Industrie muss bei der Berufung von Professorinnen und Professoren für Wirtschaftswissenschaft ein Wort mitreden?“ Darauf antwortete der katholische Theologe Essen: „Wenn man das so miteinander vergleichen könnte, dann hätten Sie recht. Man kann es aber nicht und das liegt daran, dass das Zueinander von Staat und Kirche das Selbstbestimmungsrecht der Kirche kennt, und das bedeutet auch dann rechtlich und staatskirchenrechtlich vereinbart dieses Mitspracherecht.“

Mit anderen Worten: Die katholische Kirche spielt als gesellschaftliche Gruppe eine exklusive Sonderrolle, ihr wird vom Staat ein „Selbstbestimmungsrecht“ zuerkannt, d.h. die Kirchenführung kann auch an einer katholisch – theologischen Fakultät einer staatlichen Universität prinzipiell schalten und walten, wie sie es will.

Prof. Georg Essen hatte in dem genannten Interview dieses System zu verteidigen versucht, weil die staatlichen katholischen Fakultäten eben Mitarbeiter der Kirche ausbilden, Religionslehrer, Pastoralreferenten usw. Das stimmt: Aber müsste dann nicht auch der Justizminister ein Wort in den juridischen Fakultäten mitreden, weil doch dort eben Richter, Anwälte usw. ausgebildet werden, das Beispiel ließe sich auf die medizinischen Fakultäten usw. leicht übertragen.

5.
Noch einmal: Katholische Theologie an staatlichen Universitäten – auch in Berlin – kann aufgrund des Einflusses der Leitung der Organisation Kirche keine freie und eigenständige Wissenschaft sein.  Frei wäre katholische Theologie an einer staatlichen Universität erst, wenn die Kirchenführung keine Privilegien der Mitentscheidung an der Uni mehr hat. Das aber setzt eine Veränderung der Kirche-Staat-Gesetze in Deutschland voraus, also eine Trennung von Kirchen und Staat, die den Namen verdient. Aber: Die katholische Kirche könnte aus eigener Einsicht auf ihre Mitentscheidung an katholisch-theologischen Fakultäten offiziell verzichten… Dazu wird es bei den Machtinteressen der Kirchenführung aber sicher nicht kommen.

Über Religionen, Kirchen, Sekten usw. forschen in Deutschland (leider viel zu wenige) kirchlich unabhängige Religionswissenschaftler, Religionssoziologen, Religionsphilosophen.
Mitarbeiter der Kirche sollten an eigenen kirchlichen Hochschulen ausgebildet werden, die ganz von der Kirche finanziert werden. Dort können dann etwa so viele Opus-Dei-Professoren oder Mitglieder des “Neokatechumenalen Weges” etc… lehren und forschen, wie es der Kirchenführung gefällt. Also eine Hierarchie-hörige Theologie betreiben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Kirchenaustritte sind eine Erlösung für die Kirche”

Über steile Thesen aus offiziellem protestantischen Munde.
Ein Hinweis von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht am 3.7.2022, erneut veröffentlicht am 11.3.2023.

Der Ausgangspunkt:
Eine maßgebliche protestantische Theologin, Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, bewertet jetzt die zunehmenden Kirchenaustritte als „Erlösung“. Dabei versteht sie Erlösung als Befreiung vom System der Volkskirche. …hin zu einer Minderheitenkirche. Sehr optimistisch wird diese Minderheitenkirche „Freiwilligenkirche“ des „mündigen Bekennens“ genannt, Frau Jahn schreibt:. „Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens“, so Kristin Jahn am 30.6.2022 in Fulda. (Quelle: Pressemeldung des Ev. Kirchentages vom 1.7.2022)

Hinter dieser These der Theologin Kristin Jahn steht die (unausgesprochene) Überzeugung: Die gegenwärtige Kirche ist selbst reformunfähig, sie kann ihre eigenen Mitglieder nicht mehr in der Kirche „halten“, geschweige denn für die Kirche begeistern.
So bleibt also der irgendwie „gelähmten“ Kirchen – Führung und – Institution und – Bürokratie nichts anderes übrig, als sich über die Kirchenaustritte von hunderttausenden Christen pro Jahr zu freuen – als Erlösung sogar.

Erlösung gibt es für eine reformatorische, kritische Theologie nur dann, wenn sich nun die „Ausgetretenen“ von den vielen belastenden Dogmen und Kirchengesetzen, den veralteten Liedern und unverständlichen Gebeten befreien. Das sollten die verbliebenen Mitglieder auch tun.

Eine kritische Reflexion:
1. „Kirchenaustritt als Erlösung“
Die großen Kirchen in Deutschland schrumpfen und schrumpfen … und wahrscheinlich werden sie, hält dieser Trend an, in etwa 40 Jahren fast verschwunden sein, zahlenmäßig betrachtet. Die Zahl der Austritte aus diesen trotz allem noch machtvollen Organisationen, mit ihren Milliardenetats bis heute, nimmt zu. Und was tun Verantwortliche dieser schrumpfenden Großorganisation: Sie zeigen sich geradezu glücklich über diese Entwicklung: So sagte Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, am 30.6.2022 in Fulda auf einem Podium mit dem Titel “Wohin steuern die christlichen Kirchen?“: „Die evangelische Kirche steht sich aus meiner Sicht oft selbst im Weg mit ihrem Amtsverständnis und Kirchenordnungen, die noch aus einer Zeit resultieren, in der man durch Sitte und Tradition in Kirche war. Diese Zeiten sind vorbei. Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens.”

2.
Kirchenaustritte als Erlösungsprozess zu deuten: Eine steile These. Konservative, evangelikale Christen, zu denen ich absolut nicht gehöre, könnten einwenden: Erlösung im klassischen Sinne kann doch einzig durch Jesus Christus kommen und nicht durch Kirchenaustritte.

3. “Die  nicht immer jugendlichen Freiwilligen“
„Erlöst“, so denkt die Kirchentagsgeneralsekretärin, sollen sich aber nicht etwa die Millionen EX-Kirchenmitglieder fühlen, weil sie, „ausgetreten“, nun keine Kirchensteuer mehr zahlen müssen.
Nein, „erlöst“ soll sich die Institution Evangelische Kirche fühlen, das „System“, wie Frau Jahn sagt. Freude also darüber, dass sich die Kircheninstitution nun – endlich – auf dem Weg hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit befindet. Aber worin ist diese Hoffnung begründet? Die verbliebenen evangelischen Kirchenmitglieder sind, wenn sie öfter als am Heiligabend in die Kirche zum Gottesdienst gehen, eher „ältere Semester“. Wie lange kann man mit Senioren die „Kirche der Freiwilligkeit“ gestalten?
Diese Hoffnungen auf „Erlösung“ sind deswegen haltlos, weil man immer noch nicht im Detail weiß, welche Altersgruppen aus den Kirchen ausgetreten sind, man weiß nichts über deren ökonomischen Status, nichts über deren Bildungsniveau. Es gibt keine präzise soziologische Forschung der „Ausgetretenen“.

4.
Wer jetzt aus der katholischen Kirche in Deutschland austritt, hat sicher andere Gründe und Motive als die austretenden Protestanten. Es ist bereits ein Zeichen für die geringe Kenntnis der eigenen Konfessionalität, wenn Protestanten aus ihrer Kirche austreten, weil sie den Papst nicht hochschätzen oder den zölibatären Klerus….

5. „Wenn Kirchenleute sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen“
Auf der genannten Tagung konnte der protestantischen Erlösungsthese der katholische Theologe Prof. Thomas Söding zustimmen: “Wir werden eine Kirche der freiwilligen Entscheidung sein müssen.“ Ob es dann, bei den realistisch gesehen wenigen freiwillig Entschiedenen noch Kirchentage/Katholikentage und gut bezahlte Generalsekretärinnen oder gut bezahlte Domherren und bestens bezahlte TheologieprofessorInnen an staatlichen Universitäten geben wird, ist wohl eher ausgeschlossen. Man könnte also diese Ausführungen in Fulda deuten als „das begeisterte Sägen auf dem Ast“, auf dem es sich für Kirchenangestellte bisher materiell sehr gut leben ließ.

6. „Das Lämmelein (Jesus) will gern leiden“
Aber das ist nicht mein zentrales Thema. Wenn man schon das hochwertige Wort „Erlösung” im Zusammenhang der zunehmenden Kirchenaustritte verwenden will: Erlöst wird durch den erlösenden Kirchenaustritt die Menschheit, speziell die Christenheit, von der Macht eines dogmatischen und moralischen Glaubenssystems, das auf alle Fragen, die irgendwie mit Gott zu tun haben, umfassende Antworten hatte und hat.
Eine solche Befreiung vom Wahn der allwissenden Dogmen und tausend Kirchengesetzen ist tatsächlich eine Erlösung, von der allerdings keine Generalsekretärin, kein Bischof, kein Theologieprofessor zu sprechen wagt. Sie genieren sich, endlich das Wort „Zeitenwende“ auch auf die kirchliche dogmatische Verfasstheit ihrer Kirchensysteme anzuwenden.
Die globale Zeitenwende findet aber durch die Kirchenaustritte schon seit langem statt. Christen verabschieden sich nicht nur von den Dogmen, sondern, um nur ein nahe liegendes Beispiel aus den Gottesdiensten zu nennen, auch von den Kirchenliedern: Diese muten als Text dem heutigen Menschen Unsägliches an Gedankenwirrwarr zu, die tausend Beispiele kann ich hier nicht dokumentieren. Zu den katholischen immer noch üblichen Marienbildern habe ich das exemplarisch gezeigt. LINK.
Man lese bitte auch die theologisch befremdliche Theologie der evangelischen Passions – und Karfreitagslieder , etwa: „Ein Lämmlein (gemeint ist Jesus von Nazareth, CM) geht und trägt die Schuld der Welt und ergibt sich auf die Würgebank … und spricht ich wills gern leiden“ (Nr. 83 Ev. Gesangbuch, Text von Paul Gerhardt 1647!) Auch die heute irritierenden Texte von Bachs Kantaten wären ein eigenes Thema, schön ist da nur die Musik….

7. „Die Reihen fest geschlossen“
Man denke im katholischen Bereich auch daran, dass bis 1975, also bis zur Herausgabe eines neuen katholischen Gesangbuches, die 6. Strophe des sehr beliebten und oft in überfüllten Messen geschmetterten katholischen Liedes „Ein Haus voll Glorie schauet“ heißt:“ Viel tausend schon vergossen mit heilger Lust ihr Blut. Die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut, Gott wir loben dich, Gott wir preisen dich….“ usw.
Die 7. Strophe verstärkt dann den Charakter eines Kampfliedes „Auf eilen liebentzündet auch wir zum heilgen Streit, der Herr, ders Haus gegründet, uns ewigen Sieg verleiht“….
Fraglich ist, ob der Nazi Horst Wessel für seine Lied-Zeile „Die Reihen fest geschlossen“, Anregungen von diesem sehr oft gesungenen katholischen „Kampflied“ aus dem Jahr 1877 empfing. Für die katholische Kirche aber gilt nach wie vor: Die „Reihen sind fest geschlossen“ : Dies ist eine Art Ideal des herrschenden Klerus…Häretiker, Abweichler und Reformer wissen ihr trauriges Lied davon zu singen…Und die Laien, die Masse der Gehorchenden und Gehorsamen,  sollte sich sicher fühlen, abgeschottet von den Gefahren, den Gefährdern, den Irrlehrern, den Refomratorn. Die geschlossene katholische Welt als Burg – das war das Ideal.Und der Wahn, der krank machte als Snbgrenzung von allem Modernen … bis 1962, mit den minimalen Reformen des 2. Vatikanischen Konzils.
Und das ist vielleicht der größte Skandal bei diesem Sing-Sang: Die erste Strophe des Liedes (Gotteslob Nr. 639) darf immer noch gesungen werden, trotz aller Missbrauchsskandale durch Priester, trotz aller Macht des Klerus nach wie vor, trotz aller immer noch vorhandener Benachteiligung der Frauen in der Römischen Kirche: Da heißt es also: „Ein Haus VOLL GLORIE SCHAUET, weit über alle Land. Aus engem Stein erbauet, von Gottes Meisterhand…“ Theologisch zudem falsch: Hat Gott, der Ewige, höchstpersönlich diese römisch-katholische Kirche gegründet und, so wie sie ist, aufgebaut? Wer glaubt denn so etwas?

8.
Was bedeutet nun Erlösung für Christen, die durch ihren Kirchenaustritt spirituelle Freiheit erlangen:Sie werden von Lasten befreit, von einer Institution die „Steine statt Brot“ den Glaubenden reicht, ihnen das Leben schwer macht… Ich will das nur am Beispiel der katholischen Kirche zeigen: Da umfasst der Inhalt des zu Glaubenden tatsächlich 717 Seiten im offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche”, herausgegeben von der damaligen Ratzinger Behörde, der „Glaubenskongregation“, im Jahr 1993.

9. Der christliche Glaube ist einfach und undogmatisch
Erlösung inmitten der aktuellen theologischen Zeitenwende (Kirchenaustritte, Zusammenbruch kirchlicher Glaubwürdigkeit usw.) bedeutet: Der christliche Glaube als religiöse Lebenshaltung und Lebenspraxis kann auf einigen wenigen DINA4 Seite dargestellt werden als Anregung und Impuls. Wichtig ist: Der christliche Glaube ist in seiner Lehre einfach.
Konfessionelle Verschiedenheiten verschwinden bei einer kontemplativen Lebenshaltung: Sie wird der göttlichen Wirklichkeit im Menschen, in jedem Menschen, inne. Wenn von Gott die Rede sein soll, dann nur: Gott ist Geist, präsent in der Welt und in Menschen. Diese Erfahrung ist keine billige Vertröstung, sondern eine Einladung, geistvoll (d.h. vernünftig, den Menschenrechten praktisch folgend) in der Welt zu handeln, zugunsten des Gemeinwohls und immer unter dem Anspruch des Kategorischen Imperativs.
Dieses „einfache Christentum“ sieht Jesus von Nazareth als ein Vorbild der Lebendigkeit, die Bibel wird bei kritischer Lektüre als Buch von Weisheit empfohlen, neben anderen religiösen Texten. Und man kann sich als Christ mit anderen versammeln, um Jesu zu gedenken, in der Mediation, im Dialog, beim gemeinsamen Mahl der Solidarität. Und dieses einfache Christentum sucht das gleichberechtigte und lernbereite Gespräch mit anderen (nicht nur religiösen) Menschen.

10. Lektüre Empfehlungen
Die hier nur skizzierte These der Erlösung als Befreiung von der starren klerikalen Dogmenwelt könnte für die „Ausgetretenen“ inspirierend sein, selbständig zu suchen und neue spirituelle Dimensionen zu entdecken.
Dabei können Texte von Philosophen und Mystikern hilfreich sein. Unter anderem auch die Spiritualität des mittelalterlichen und zugleich modernen Meister Eckart, für den Einheit des Menschen mit der göttlichen Wirklichkeit im Zentrum des Glaubens steht. Mehr braucht der Mensch eigentlich nicht, meint Eckart!! Als Einstieg für Anfänger: „Vom Wunder Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten“, Reclam Verlag 2,60 Euro.
Wer die Mühe der Eckart-Lektüre jetzt noch nicht so will: Dem empfehle ich die kontemplativen und gleichzeitig politischen Texte des us-amerikanischen Mönchs Thomas Merton, etwa das leicht zugängliche Buch: „Sich für die Welt entscheiden“, Arbor Verlag, Freiburg, 2009.

Zu den Austrittszahlen

Für die katholische Kirche:
2012 haben 118.300 Katholiken die Mitgliedschaft in der Kirche gekündigt.
2021 waren es 359.200 Katholiken.

Weitere umfassende Informationen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4052/umfrage/kirchenaustritte-in-deutschland-nach-konfessionen/

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

Pfingsten – Fest der Philosophen? Ein Vorschlag von Hegel!

Ein Hinweis von Christian Modehn.
 Dieser Beitrag wurde im Mai 2021, mitErgänzungen im Juni 2022 und erneut im Juni 2025 publiziert.

1.
Der Beitrag versucht, Pfingsten, das Fest des Geistes, des heiligen, vernünftig zu erklären: Das heißt: Pfingsten ist nicht das Fest, das dem charismatischen Trallala von Charismatikern und Pfingstlern überlassen werden darf. Pfingsten ist ein Fest der absoluten Bedeutung und Würde eines jeden Menschen und deswegen auch ein Impuls, politisch Gerechtigkeit zu gestalten: Im Sinne der wesentlichen Gleichheit und Würde aller Menschen.

2.
Für den Philosophen Hegel (1770 – 1831) ist Pfingsten als “Fest des Geistes” von höchster Bedeutung. In die Gegenwart übersetzt: Pfingsten kann im philosophischen Sinn ein Tag des geistvollen Gesprächs sein, ein Tag der Debatte, der Feier (für Hegel niemals ohne Wein !) und der Reflexion darüber, wie eine geistvolle, also menschenwürdige Gesellschaft in einem Rechtsstaat gestaltet werden kann. Pfingsten also: Ein Fest der universell geltenden Vernunft.

3.
Wer philosophisch an die Gabe des „heiligen Geistes“ an die Gemeinde – nach dem Tod und der von der Gemeinde erfahrenen Auferstehung Jesu von Nazareth  – erinnert, sollte sich auch an den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnern.
 Er ist der Philosoph des Geistes: Seine Philosophie hat den Geist als ihr zentrales Thema. Diese Erfahrung der alles gründenden Bedeutung des Geistes könnte man auch „Voraussetzung“ des Denkens Hegels nennen. Dabei ist es selbstverständlich: Eine reflektierte und kritisch betrachtete Voraussetzung als Philosoph zu haben ist an und für sich jeder Philosophie eigen, auch für die „Materialisten“.

Die hier nur angedeutete Voraussetzung für Hegels Philosophie: Philosophische Erkenntnis verdankt sich der geschichtlichen Entwicklung; die Welt – Geschichte versteht Hegel als Fortschritt im “Bewusstsein (!) der Freiheit.” Dieses Bewusstsein der Freiheit zeigt sich auch in der Weisheit der Religionen, vor allem in der – welthistorisch spät – erscheinenden Kirche der Reformation. Deren religiöses Freiheitsbewusstsin philosophisch in die Sprache der allgemeinen Vernunft zu übersetzen, war Hegels wichtiges philosophisches (und politisches) Programm. Insofern gilt für Hegel: Was sich im Laufe der Geschichte immer deutlicher als Bewusstsein der Freiheit artikuliert, ist sozusagen das vom Geist (er gestaltet die Geschichte!) vorgelegte Thema der Philosophie. Man möchte sagen: Hegel lässt sich seine Themen also von der Geschichte und ihrer Entwicklung (und ihres Fortschritts als Bewusstsein (!) der Freiheit) vorgeben. Es sind also nicht irgendwelche abstrakten Kategorien, die er philosophisch bearbeitet, sondern es die Weltgeschichte in ihrer durch den Geist bedingten Vielfalt. Das zeichnet  diese Philosophie so “besonders” aus… 

4.
Um gleich den Kern der Hegelschen Geist – Philosophie anzudeuten: Die Philosophie hat im Hegelschen Selbstverständnis „keinen anderen Inhalt als die christliche Religion.” Aber die Philosophie (Hegels) gestaltet den christlichen Inhalt in der FORM DES DENKENS. Die Philosophie stellt sich so nur über die Form des Glaubens, der Inhalt ist derselbe“ (vgl. „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, II., Suhrkamp, S. 341).
 Mit anderen Worten: In der Philosophie wird der christliche Glaube in die Klarheit und Systematik des Denkens und des Gedankens geführt, der Glaube wird in eine gedankliche, begriffliche Form verwandelt und so „aufgehoben“, also bewahrt und auf eine neue Ebene gehoben. Unter dieser Bedingung schaut Hegel die überlieferten Begriffe und Ereignisse der christlichen Religion an. Dabei wird der Begriff, das Denken, zum Kriterium in der „philosophischen Übersetzung“ christlicher Ereignisse: Hegel schreibt: „Das Denken ist der absolute Richter, vor dem der Inhalt (auch der Religionen) sich bewähren und beglaubigen soll“ (ebd., S. 341).

5.
In seiner „Philosophie der Religion“, in Berlin als Vorlesung mehrfach vorgetragen, spielt deswegen auch das philosophisch zu verstehende Pfingst–Ereignis eine zentrale Rolle. Hegel erörtert dieses Thema ausführlich im Kapitel „Die Idee im Element der Gemeinde: Das Reich des Geistes“, in dem es – theologisch formuliert – um die Wirklichkeit der Kirche, der Gemeinde, geht. Das heißt: Nach der unmittelbaren Erfahrung der historischen Gestalt Jesu ereignet sich also mit dem Pfingstfest der Übergang des Verstehens weg vom äußeren, historischen Ereignis hin zu einem „geistigen Element“, wie Hegel schreibt (ebd., S. 301). Indem das Neue Testament lehrt, der Geist sei „ausgegossen“ in die Gemeinde und letztlich über alle Menschen, übersetzt der Philosoph diese Erfahrung in die Worte: “Die Subjektivität erfasst nun ihren unendlichen Wert: Vor Gott sind alle Menschen gleich“: Damit werden auch politische Perspektiven der freien Gestaltung von Staat und Gesellschaft eröffnet, die Hegel ausführlich entwickelt. Die vernünftige Freiheit muss die Welt bestimmen, wahre Versöhnung, also „Erlösung“ im christlichen Sinne, „besteht in dem sittlichen und rechtlichen Staatsleben“ (S. 332).
Aber entscheidend bleibt: Pfingsten ist das Symbol dafür, dass Gott und Mensch, Gott und die Menschheit, sich nicht mehr als Fremde und Ferne entfremdet und unversöhnt gegenüberstehen. Pfingsten ist das Symbol für die innerste Einheit von Göttlichem und Menschlichen, von Gott und Welt. Dies allein könnte man sagen ist der Focus, auf den sich Hegels Philosophie ALS Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie konzentriert.

6.
Uns interessiert hier im Zusammenhang des Pfingstfestes Hegels deutlicher Hinweis auf die in den Menschen „gegenwärtige Göttlichkeit“ (durch den Heiligen Geist) (S. 305). In der Gemeinde (Kirche) sammeln sich diese nun mit dem göttlichen Geist beschenkten Menschen.
 Man muss als philosophischer Leser den anspruchsvollen philosophischen Aussagen tatsächlich standhalten, etwa wenn Hegel sagt: „Dies ist der Glaube der Gemeinde: Der einzelne Mensch wird gewusst als Gott und (d.h. präziser:, CM) mit der Bestimmung, dass er der Sohn Gottes sei, mit all dem Endlichen befasst, das der Subjektivität als solcher in ihrer Entwicklung angehört“ (S. 312). Der Mensch ist als endlicher Mensch zugleich Sohn Gottes, ein gewaltiger Anspruch, der schon im Neuen Testament grundgelegt ist. Und den Hegel nur philosophisch reflektiert.

7.
Im Gedenken an Pfingsten wird der Mensch, jeder Mensch, zu einem mit Gott verbundenen Wesen erhoben. So ist, wie Hegel schreibt, „die Versöhnung an und für sich vollbracht“ (S. 318). Gott und Mensch sind nicht länger Fremdes. Sie sind – in gewisser Hinsicht – eins.

8.
Aber Versöhnung ist für Hegel stets praktisch-politisch, es geht entschieden um die Gestaltung der Freiheit in der Welt (Staat, Gesellschaft). Pfingsten ist insofern ein politisches Fest der Freiheit. Dabei traut Hegel diese Leistung, den Rechtsstaat mit zu gestalten, der protestantischen der lutherischen Kirche  zu. Der römische Katholizismus ist für ihn nach wie vor zu stark in der mittelalterlichen Welt befangen und in seinem Glauben zu veräußerlicht (Wunderglauben, Reliquien…) und als klerikale Organisation auch korrupt. Das heißt nicht, dass Hegel nicht auch die Engstirnigkeit des zeitgenössischen Protestantismus kritisiert hätte oder gar am Katholizismus wichtige erfreuliche Elemente gesehen hätte, wie etwa eine gewisse Vorliebe fürs philosophische Denken im Mittelalter. Zu Hegel und der Katholizismus: LINK .

9.
Trotz der Erkenntnis, dass „an sich“ die Versöhnung, also die innere Einheit von Gott und Mensch, geschehen ist, bleibt doch die Tatsache: Dass in der weltlichen, der politischen Wirklichkeit (auch zur Zeit der Vorlesungen Hegels in Berlin) noch Verwirrung, Zwiespalt und Entfremdung fortbestehen. „Diese Versöhnung ist selbst nur eine partielle, ohne äußere Allgemeinheit“ (S. 343, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II.). Dies muss Hegel am Ende seiner Vorlesungen mit Melancholie, wenn nicht Hilflosigkeit eingestehen. Mit anderen Worten: Der Geist von Pfingsten als Geist der Versöhnung und Freiheit muss sich noch umfassend durchsetzen und greifbare, soziale Gestalt werden!

10.
Uns interessiert noch ein Aspekt, der bisher in der Hegel-Forschung nicht so starke Berücksichtigung findet: Die eher versteckt, implizit anwesende mystische Dimension seines Denkens. 1830 sagte Hegel in einer Rede anlässlich der „Erinnerung an die Augsburgische Konfession von 1530“: „Gott wollte den Menschen zu seinem Ebenbild und seinen Geist, der ein Funke des ewiges Lichts ist, diesem (göttlichen) Licht zugänglich machen“. (S. 33, in den „Berliner Schriften“, Ausgabe Meiner, S 33).
 Der menschliche Geist als „Funke des ewigen Lichtes“: Diese Formulierung erinnert an den mittelalterlichen Philosophen und „Mystiker“ Meister Eckhart, für den sich die geistige Verbindung des Menschen mit Gott in dem Begriff “göttlicher Funke“ ausdrückt. In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ erwähnt Hegel Meister Eckart ausdrücklich als Vorbild im Verstehen der christlichen Religion als einer Lehre, die die Einheit von Göttlichem und Menschlichen entfaltet. Diese Einheit ist „das Innerste“ des Christentums. „Meister Eckart, ein Dominikanermönch, sagt unter anderem in einer seiner Predigten über dies Innerste: Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe…“ (S. 209). Und Hegel legt allen Wert darauf zu betonen, dass diese Einheit von Gott und Mensch alles andere als „Pantheismus“ sei.
 In seinen Vorlesungen zur „Geschichte der Philosophie“ bietet Hegel nach der Darstellung der in seiner Sicht oberflächlichen und verstandesmäßig abstrakt argumentierenden mittelalterlichen Scholastik auch ein knappes Kapitel zur „Mystik“ (in der Suhrkamp Werkausgabe II, S. 583 ff.) Dabei nennt er Meister Eckart nicht, hingegen z.B. ausführlicher Raimundus Lullus. Im Unterschied zur Scholastik sieht Hegel in den Mystikern „edle Männer, die der scholastischen Sucht nach Verendlichung aller Begriffe „gegenüberstanden“ (S. 583). Er nennt Mystiker „fromme, geistreiche Männer“, die „echtes Philosophieren betrieben haben”.
Dieser „göttliche Funke“ führt, so Hegel in seinem Vortrag im Jahr 1830, nicht nur in eine höhere Erkenntnis, sondern vor allem in die Liebe zu Gott.
Die mystische Erfahrung bleibt für Hegel immer bedenkenswert.

11.
Eine Zusammenfassung: Hegel hat also zu Pfingsten einen vernünftigen Vorschlag zu unterbreiten: „Pfingsten ist das Fest der Anwesenheit des Göttlichen, des Ewigen, modern formuliert: der tragenden Sinnerfahrung, in jedem Menschen“. Pfingsten ist das Fest des Ewigen, anwesend in einem jeden. Das Ewige als das Göttliche überdauert das Endliche, auch der Geist des endlichen Menschen hat dadurch „ewige Dauer“.
 Aber diese geisterfüllte Lebensform muss der Mensch sich „erarbeiten“: „Ich soll mich dem gemäß machen, dass der Geist in mir wohne, das ich geistig sei. Die ist meine, die menschliche Arbeit. Dieselbe ist Gottes von seiner Seite. Er bewegt sich zu dem Menschen und ist in ihm durch Aufhebung des Menschen. Was als mein Tun erscheint, ist alsdann Gottes Tun. Und ebenso auch umgekehrt“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, I, Suhrkamp Verlag, S. 219).

12.
Nebenbei: Es ist bemerkenswert, dass Voltaire, wahrlich alles andere als ein Verteidiger der alten kirchlichen Dogmatik, in seinem „Philosophisches Wörterbuch“ (1764) schreibt: „Möglicherweise gibt es in uns etwas UNZERSTÖRBARES, das empfindet und denkt, ohne dass wir die geringste Vorstellung davon haben, wie dieses Etwas beschaffen ist“ (Reclam, Leipzig, 1967, S. 82). Hegel hat diese Vorstellung erklärt und auf den Begriff gebracht.

Wir haben vor einigen Jahren (2016) eine “politische Pfingstpredigt”, durchaus auch von Hegel inspiriert, veröffentlicht. LINK:

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Buddhismus und Christentum: Was beide Religionen miteinander verbindet. Ein neues Buch von Perry Schmidt-Leukel.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Bestimmte populäre Klischeevorstellungen (auch „Generalisierungen“ genannt) über das angebliche „Wesen“ „der“ Religionen haben sich leider durchgesetzt: Zum Beispiel: „Der“ Buddhismus sei eigentliche eine atheistische Weltanschauung, die „Erlösung des Menschen“ werde für Buddhisten in einem „Nichts“ enden. Hingegen sei das Christentum gebunden an den „personalen“ Gott, der als Heil und Erlösung ein Leben im Himmel verspricht.

2.
Gegen diese Klischee-Vorstellungen hat der Religionswissenschaftler Prof. Perry Schmidt-Leukel (Universität Münster) vielfach schon wichtige Publikationen vorgelegt. Sein neues Buch hat den Titel „Das himmlische Geflecht“, ein vielleicht auch leicht ironisch zu verstehender Titel, der andeuten soll: Wenn man den Blick in die himmlische, göttliche und alles gründende Sphäre lenkt, dann sind die verschiedenen Religionen viel stärker miteinander verbunden, als man populär annimmt. Darum der Untertitel: „Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. In dem Buch geht es um überraschende, durchaus der Sache angemessen anspruchsvolle Überlegungen, die vom Leser hohe Konzentration erfordern.

3.
„Anders“ ist dieser Religionsvergleich, weil er die innere Pluralität der jeweiligen Religionen stark herausstellt. Und dabei entdeckt: Zwischen einzelnen Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und einzelnen Lehren bestimmter christlicher Traditionen besteht (trotz der kulturell und sprachlich bedingten Distanz) doch eine Nähe, eine überraschende Verbundenheit, wenn nicht Gleichheit der Überzeugungen! Dabei ist dem Autor klar: Traditionell bestimmte und begrenzte Interpretationen der jeweiligen Religion können auch zur Einsicht „unversöhnlicher Gegensätze“ führen. Aber Schmidt-Leukel ist es wichtiger, Komplementaritäten in den lehrmäßigen Überzeugungen beider Religionen herauszuarbeiten!

4.
Das neue Buch Schmidt-Leukels ist also ein neuer Vergleich zwischen Christentum und Buddhismus, der sich allerdings auf die objektiv greifbare Ebene der Lehren und Schriften begrenzt. Und da präsentiert der Autor eine große Fülle und Vielfalt. Es geht ihm also nicht um den von konkreten Menschen gelebten Glauben, der sich als je eigener Glaube oft als eine sehr persönliche „Synthese“ von Christentum und Buddhismus versteht. Also etwa: „Ich bin katholisch und gleichzeitig Zen-Buddhist“. Diese religiöse bzw. spirituelle „Doppel-Identität“ (ein „persönliches Oszillieren zwischen den Unterschieden“, S. 355) ist eines der seit langem schon diskutierten Themen Schmidt-Leukels.

5.
Das Buch zeigt also ausführlich: „Es steckt immer irgendein Stück Christentum im Buddhismus und irgendein Stück Buddhismus im Christentum“ (S. 350).

6.
Diese Forschungslinie nennt Schmidt-Leukel mit einem eher ungewöhnlichen, schwierigen, aus der Mathematik stammenden Begriff „fraktal“. Aber die mit diesem schwierigen Begriff gemeinte Sache erschließt sich auch, wenn man sich nicht auf den Begriff fixiert und die einführenden, sehr anspruchsvollen methodischen oder „Meta“-Überlegungen (S. 18-89) den Spezialisten erst mal überlässt.

7.
Es bleibt also interessant, wie diese Linie (siehe Nr. 5) an sechs zentralen Lehren beider Religionen konkretisiert wird, also: „Weltflucht oder Weltzuwendung?“, „Impersonales Absolutem oder personaler Gott?“, „Verblendung oder Sünde?“, „Erwachter Lehrer oder inkarnierter Gottessohn?“, Selbsterlösung oder Fremderlösung?, „Glückseliges Entwerden oder glückselige Gemeinschaft?“.

8.
Nur auf eines dieser Kapitel soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden: Gibt es Gemeinsamkeiten in der buddhistischen Lehre von Buddha als dem erwachten Lehrer und der christlichen Überzeugung von Jesus als dem inkarnierten Gottessohn?
Schmidt-Leukel weiß: Bisher wurde zwischen dieser genannten populären Deutung Buddhas und Jesus Christus „ein Gegensatz“ (S. 225) gesehen. Der manchmal noch gelesene katholische Theologe Romano Guardini habe in seinem Werk „Der Herr“ (veröffentlicht in der Nazi-Zeit 1937) ein gewisses Verständnis für Buddha gehabt, erläutert Schmidt-Leukel. Aber, so Guardini, Buddhas „Wert“ stehe doch hinter Christus zurück. Buddha sei bestenfalls wie Johannes der Täufer als ein Vorläufer Christi zu verstehen (S. 227). Schmidt-Leukel zeigt hingegen, dass Gautama (der Buddha) häufig als Lehrer, großer Lehrer bezeichnet wird und dabei eine „autoritative Verkündigung der Wahrheit“ (S. 237) gelebt hat, wie in einem Akt der Offenbarung“ (ebd.). Jesus wird in den vier Evangelien „41 mal Lehrer genannt wird, kein anderer Titel wird ihm häufiger beigelegt, Jesus ist der Lehrer der Wahrheit (S. 235). Wenn beide, der Buddha und Jesus, also Lehrer sind und als Lehrer verehrt werden, ist Jesus Christus dann noch einmalig, wie Christen oft behaupten? Man muss wohl die sehr deutliche Aussage des großen Zen-Meisters Thich Nat Hanh respektieren: Er sagte: „Natürlich ist Christus einmalig, aber wer ist nicht einmalig? Sokrates, Mohammed, der Buddha, Sie und ich, wir alle sind einmalig“ (S. 245)

9.
Das neue Buch Schmidt-Leukels „Das himmlische Geflecht“ bietet ausführlich neue Erkenntnisse für ein neues Verständnis des Miteinanders von Buddhismus und Christentum. Schmidt-Leukel befreit also von dem Eindruck, beide Religionen würden sich fremd oder gar feindlich oder als Konkurrenten gegenüberstehen.
Beide Religionen stehen einander nahe, sie sind viel ähnlicher als oft angenommen, sie haben eine interne Vielfalt, bei der sich gerade die beiden Religionen gemeinsamen Lehren zeigen. Eine solche Religions-Theologie kann auch politische Wirkungen haben und eher das friedliche Miteinander fördern.

10.
Die Verbundenheit von Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und bestimmter christlicher Traditionen ließe sich auch auf andere Religionen ausweiten, etwa auf den Islam oder bestimmte Formen des Hinduismus. Und wie sieht es im Verhältnis der vielen christlichen Kirchen untereinander aus? Da ist es längst erwiesen, dass ein so genannter Reform-Katholik (des „synodalen Weges“) einem progressiven Lutheraner oder Reformierten näher steht als etwa einem Katholiken des Opus Dei oder der Legionäre Christi. Und ein liberal-theologischer Remonstrant kann einem Humanisten oder einem Unitarier (Anti-Trinitarier) näher stehen als einem „rechtgläubigen“ Calvinisten.
Aber da spielen dann doch normative Kategorien eine Rolle: Bisher ist offensichtlich niemand auf den Gedanken kommen, etwa gemeinsame Glaubensinhalte etwa zwischen den Zeugen Jehovas und den Pfingstgemeinden oder dem Katholizismus herauszuarbeiten? Oder gemeinsame Glaubensinhalte von Mormonen und Anglikanern? Offenbar haben im allgemeinen religionswissenschaftlichen und theologischen Bewusstsein etwa die „Zeugen Jehovas“ oder die „Mormonen“ a priori gar nicht den „Wert“, in einen interreligiösen Vergleich gezogen zu werden. Ist dieses Urteil gerecht, spielen da die Definitionen von „Sekte“ eine Rolle? Aber können nicht auch Teile, oft maßgebliche Teile einer Großkirche eine „Sekte“ sein? Ist etwa das Selbstverständnis des Papstes und des vatikanischen Klerus (auch in der totalen Ablehnung des Priestertums für Frauen) nicht auch Ausdruck einer Sekten-Mentalität? Aber dieses Faktum wird im Interreligiöser Disput nicht benannt. Warum? Weil eben die Institution römische Kirche oder auch orthodoxe Kirche so alt ist und als so „ehrwürdig“ propagiert wird. Da kann nichts von einer Sekte sein…

11.
Noch einmal zu den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten im Buddhismus und Christentum. Man müsste philosophisch nach dem einen gemeinsamen Geist der Menschen fragen, der über alle verschiedenen Kulturen und Sprachen hinaus sich im Laufe der Geschichte Ausdruck schafft in verschiedenen Religionen und religiösen Lehren. Wenn das so ist: Dann stehen die sich aufgrund des „letztlich“ einen schöpferischen Geistes sehr nahe, trotz aller sprachlichen Differenzen und zeitlichen „Abstände“.

12.
Die vielen Religionen als Ausdruck des EINEN, allen Menschen gemeinsamen Geistes zu verstehen, war die Leistung Hegels. An ihn wäre in dem Zusammenhang zu erinnern. Und Hegels Thema, dass es einen gedanklichen Fortschritt in der Geschichte der (Lehren der) Religionen gibt, wäre neu zu stellen. Fortschritt war ja für Hegel immer ein Fortschritt im Bewusstsein (!), also im Wissen, der Freiheit. Er meinte, es gebe auch in der Religionsgeschichte (des einen Geistes) einen Fortschritt hinsichtlich des Erkennens und Wissens der göttlichen Wirklichkeit.
Kriterium war für ihn: Stiftet und fördert eine Religion die Freiheit und Würde des religiösen Menschen? Ich halte dieses Kriterium der Unterscheidung in der pluralen religiösen Welt für sehr wichtig. Falls nicht, dann möchte man auf jede Religionskritik verzichten. Das aber wäre eine Form einer post-modernen Religionstheorie, einer Theorie, für die alle Religionen gleich gut, gleich hübsch, gleich human sind. Dass dies faktisch nicht der Fall ist, dürfte klar sein. Wer also faktische Religionen kritisiert, verurteilt sie nicht, will sie nicht bekämpfen. Er will nur für ein differenziertes Denken sorgen. Und hoffentlich für die ständige Reform, „Weiter-Entwiocklung“ dieser Religionen.
Dies sind Fragen, die sich mir nach der Lektüre des sehr empfehlenswerten, höchst anspruchsvollen Buches von Perry Schmidt-Leukel ergeben.

Perry Schmidt-Leukel, „Das himmlische Geflecht. Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. Gütersloher Verlagshaus, 2022, 415 Seiten, viele Literaturangaben auch zu vielen lesenswerten Arbeiten des Autors, ein Personenregister, 26 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Putin – der Faschist. Und die neue Form eines totalen Krieges.

Der Diktator und seine Ideologie.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.5.2022.

1.
Eine allgemeine philosophische Erinnerung: Jegliches politisches Tun, also auch jede Untat, also ein Krieg, hat den Ursprung in einer geistigen Haltung, in einer Option bzw. Präferenz für bestimmte Werte und Unwerte. Diese „fügen“ Politiker in reflektierter und freier Entscheidung in die Wirklichkeit „ein“, wie Hegel sagte. Diese Werte bzw. Unwerte werden also politisch bzw. auch kriegerisch verwirklicht.
Diese Einstellungen und Überzeugungen kann man Ideologien nennen. Dabei ist in der demokratischen Welt der Begriff „Ideologie“ eher negativ geprägt, von einer „demokratischen Ideologie“ würde kein Demokrat sprechen, hingegen von einer kommunistischen oder einer faschistischen Ideologie. Kommunisten oder Faschisten würden ihre eigene inhaltliche Überzeugung nicht Ideologie nennen, sondern „Wissenschaft“ bzw. „Weltanschauung“; die Nazis wehrten sich etwa gegen den Einbeziehung ihrer eigenen Ideologie in den allgemeinen Ideologiebegriff. Sie haben deswegen „ideologisch“ durch „theoretisch“ zu neutralisieren versucht.

Hier soll der Begriff Ideologie erneut darauf aufmerksam machen, dass alles Handeln der Politiker und Kriegsherren, von geistigen Konzepten bestimmt ist. Also auch der Krieg Putins gegen die Ukraine oder eben auch die westliche Demokratie und universal geltenden Menschenrechte.

2.
Putin ist von einer Ideologie bzw. von einem Gemisch verschiedener ideologischer Elemente beherrscht. Selbst wenn es in seinem Russland noch eingeschränkt Wahlen gab und bis vor kurzem eine gewisse scheinbare und begrenzte Pressefreiheit, war sein Regime nie eine Demokratie im emphatischen Sinne. Putins alles bestimmende Werte-Ordnung (bzw. Unwerte-Ordnung) als Ideologie formuliert, heißt Faschismus. Ich habe früher schon von Putins Nihilismus gesprochen, LINK, aber Nihilismus ist wohl eher ein zentraler Teilaspekt der umfassenden faschistischen Haltung und Praxis Putins.

3.
Putin – der Faschist: Diesem Urteil stimmen längst viele Politologen und Russland-Kenner (wie etwa der deutsche Politiker und Russland-Kenner Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, siehe „Phoenix“ am 20.5. 2022 um 18.00 bis 18.30) zu. Der us-amerikanische Historiker Prof. Timothy Snyder spricht in der ZEIT (vom 19. Mai 2022, Seite 10) eine deutliche Sprache: Auf die Frage, inwiefern und seit wann das russische Regime faschistisch sei, antwortet Snyder: „Seit Februar dieses Jahres 2022 führt Russland einen Zerstörungskrieg mit dem Ziel der Vernichtung eines anderen Volkes. Zudem gibt es immer stärkere Unterdrückung im Innern und einen Kult des Anführers, des Sieges, des Todes…. Putin sprach seit 2010 von kulturellem Raum, Russland müsse andere Räume absorbieren.“ Damit werden wichtige Elemente faschistischen Denkens und Handelns genannt.
Putin ist für Snyder aber mehr als ein „einfacher Faschist“. Vielmehr: Putin denkt und handelt in einer extremeren Form, als „Schizofaschist“. Das heißt: Er handelt selbst nach den Maximen des Faschismus, nennt aber seine nicht-faschistischen Feinde Faschisten, um von seinem eigenen Faschismus abzulenken. Um die Kriegsbegeisterung der Russen gegen die Ukraine zu entfachen und zu stärken, war es für ihn naheliegend, den Feind Ukraine (und sogar den jüdischen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj), faschistisch zu nennen. Eine solche Zuweisung beeindruckt immer in Russland: „Antifaschist“ zu sein, war im Sowjetkommunismus (auch in der DDR) die höchste Tugend.

“Der Spiegel” berichtet  am 22.5.2022, dass zahlreiche Neo-Nazis für Russland und für Putin in der russischen Armee gegen die Ukraine kämpfen. LINK.

In seinem Buch “Über Tyrannen” (C.H.Beck Verlag München, 8. Auflage 2022) betont Timothy Snijder, wie Putin 2015 dem verängstigten Frankreich ein “Cyberkalifat” vorgaugelte, “damit die Franzosen den Terror noch mehr fürchteten, als sie es ohnehin berteits taten. Ziel war es vermutlich, dem rechten (rechtsextremen !, CM) Front National Wähler in die Arme zu treiben, einer Partei, die von Russland finanziell unterstützt wird” (S. 107). Putin hat also als Faschist das ideolohgisch naheliegende Ziel,”ein demokratisches System zu destabilisieren und der extremen Rechten (also seinen Freunden, CM) Rückenwind zu verschaffen” (S. 108).

4.
Weitere Kennzeichnen des Faschismus: Sie nennt der vielfach ausgezeichnete britische Journalist Paul Mason in seinem Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ (Suhrkamp, Berlin, 2022) etwa S. 322 ff. „Da die Entmenschlichung den Kern seiner Ideologie darstellt, beginnt der Faschismus im Verlauf seiner Radikalisierung und Mobilisierung für den Krieg, über einen Genozid nachzudenken…“ (S. 324). Das trifft auf Putin zu…Wer als Faschist denkt und handelt, betont Mason, hat vor allem „Angst vor der Freiheit, die durch eine Ahnung von Freiheit geweckt wird“.Das heißt: Auch der Faschist spürt ansatzweise, was Freiheit (demokratische Freiheit etwa) für ihn bedeuten könnte: Aber davor hat er Angst und schließt sich in einem repressiven und totalitären System ein. Hinweise, die an Putins Angst erinnern vor der demokratischen Freiheit, wie sie die Ukraine und die westliche Welt lebt. Diese demokratischen Werte sollen niemals Russland bestimmen! Das steht für Putin fest, dafür kämpft er. Paul Mason schließt sich der Definition des Faschismus des Historikers Robert Paxton an: „Man muss nicht zusammenfassen, was der Faschismus ist, sondern was er tut“ (S. 326).
Putin als Faschist – diese Erkenntnis wird, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auch von der Internetzeitung „Infosperber“ aus der Schweiz unterstützt. LINK

Dort wird Jason Stanley zitiert, Professor für Philosophie an der Yale-Universität, USA. Auch er „bezeichnet Putin als faschistischen Autokraten und anerkannten Anführer der weltweiten extremen Rechten“.
Weitere Beispiele: Der „russische Ökonom Wladislaw Inosemzew, Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau, sagt in der NZZ: Putin ist «ein lupenreiner Faschist». LINK

Wikipedia berichtet: Im Frühjahr 2022 erklärte Inosemzew, Putin erfülle „mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht“ und nannte in diesem Zusammenhang vier Säulen: „Militarisierung als Kernstück der Ideologie; eine fortschreitende Etatisieren der russischen Wirtschaft im Sinne einer durch Bürokraten beherrschten Wirtschaft; eine Umstrukturierung der Verwaltung hin zu einem absoluten hierarchischen Durchgriff von Macht und Gewalt sowieSymbolik und Propaganda“.
Und weiter: Der Historiker Zee Sternhell hat mehrere Studien zum Faschismus veröffentlicht. In der Zeitschrift „Philosophie Magazine“ (Paris) sagte Sternhell schon im Mai 2014: „Der Faschismus will die Welt verändern, (d.h. die Demokratie abschaffen, CM), eine moralische Revolution bewerkstelligen, eine Nation errichten mit Hilfe der Mythen, dabei aber will der Faschismus die ökonomischen Strukturen intakt lassen. Es geht nicht mehr darum, die Bourgeoisie niederzuschlagen, sondern sie in den Dienst der Nation zu stellen“ (S. 44). Sternhell fährt fort: „Die faschistische Ideologie lebt bis heute weiter. Es gibt keinen Grund zu denken, der Faschismus sei mit den Trümmern in Berlin 1945 begraben worden“ (S. 45).

5.
Für den Faschismus (bzw. der Schizo-Faschismus) Putins ist auch auch eine religiöse Überzeugung und eine philosophische Ideologie wichtig: Die Bindung an die zwanghafte Vorstellung, dass allein Russland noch die Welt retten könne angesichts der angeblich moralisch verkommenen westlichen demokratischen Gesellschaften. Diese Überzeugung bindet Putin auch an die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihren gleiches denkenden Patriarchen Kyrill I. von Moskau. „Eine der Haupt­quellen Putins sind auch faschistische Denker der russischen Gegenrevolution, insbesondere die Schriften des Philosophen Iwan Iljin. Er war ein adliger russischer Emigrant, der in den Zwanziger- und Dreissiger­jahren in Berlin und danach bis zu seinem Tod 1954 in der Schweiz lebte. Er war ein glühender Verehrer von Mussolini und Hitler und pflegte auch in der Schweiz Verbindungen zu prominenten Nazis.»
„In wichtigen, programmatischen Reden hat sich Putin immer wieder auf Iljin berufen“ (Infosperber).
Iljin (1883-1954) ist sozusagen der beliebte und viel zitierte „Hausphilosoph“ Putins, Iljin hat von Russlands Unschuld geträumt, das von westlichen Herrschern missbraucht wird, er fantasierte, dass Russland ohne die Erbsünde belastet ist usw. Er kann das Trauma Putins überwinden helfen, das er mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches – in Dresden – erlebte. Siehe dazu den instruktiven Beitrag von Norbert Matern: LINK
Timothy Sneijder sagt in der „Zeit“ vom 19.5.2022: „Putins Lieblingsautor Iwan Iljin beschreibt eine verworrene und zerbrochene Welt, die Russland mit Gewalt heilen müsse, und zwar mithilfe eines starken Führers, der die Demokratie zum reinen Ritual macht. Das Projekt heißt: Die Welt ist nicht sie selbst, solange sie nicht russische Werte lebt.“
Das ist interessant und wird viel zu wenig beobachtet: Etliche Bücher von Iljin sind in der Edition „Hagia Sophia“ in Wachtendonk erschienen, ein Verlag, der sich auf der Linie der christlichen Orthodoxie befinden will: Gregor Fernbach Verlag Hagia Sophia in 47669 Wachtendonk, dort erscheinen auch Titel unter der bekannten Putinschen Ideologie „Eurasia“. Das Buch von Georg Redete aus dem Verlag Hagia Sophia wird auch in dem rechtsextremen Antaios Verlag vertrieben. Der Leiter des Verlages „Hagia Sophia“ ,Gregor Fernbach, war ein Referent einer Tagung über Russland, organisiert von der neurechten Zeitschrift „Eigentümlich frei“ am 15. Nov. 2014 in Zinnowitz/Ostsee.

6.
Warum ist es wichtig, Putin als einen Faschisten eigener Prägung zu wissen? Dadurch werden Illusionen endgültig zerstört, die lange Jahre das Denken westlicher Politiker und Bürger bestimmten: Putin sei nur eine Art Nachfolger Jelzins und damit befasst aus dem großen russischen „Reich“ ein demokratisches System zu schaffen. Anders lassen sich auch die in heutiger Sicht total naiven Beifallsstürme im Deutschen Bundestag nach der auf Deutsch gesprochenen, sich demokratisch gebenden Rede Putins nicht bewerten (am 25.9.2001). Später haben westliche Politiker eine Art Putin – Blindheit praktiziert – allein weil sie sich ökonomische Vorteile von guten Beziehungen zu dem „guten Putin“ erhofften. Jetzt sollte Klarheit herrschen: Putin ist ein Faschist, sein Regime ist faschistisch. Entsprechend deutlich und heftig muss er bekämpft werden auch als Kriegstreiber gegen die Ukraine. Die Frage ist also: Wie können demokratische Staaten eine faschistischen Diktator besiegen, der über all die Jahre Krieg in Tschechenien, Georgien, Syrien, Krim, Donbas) führte? Wie kann ein die Ukraine und die ganze westliche Welt bedrohender „infamer“ (sagt Bundeskanzler Olaf Scholz) Diktator besiegt werden? Putin muss immer als KGB Mann verstanden werden, zu den obersten indoktrinierten Untugenden des KGB und seiner Nachfolge-Organisation gehört die Lüge.

7.
Die demokratische Welt erkennt: Dieser Krieg Putins gegen die Ukraine ist nicht regional begrenzt! Dieser Krieg Putins ist ein totaler Krieg, der die ganze Welt durcheinander wirbelt, ökonomisch, ruinös für die Volkswirtschaften mit immer höheren Ausgaben für Waffen, mögliches Ansteigen eines Rechtsradikalismus, Sehnsucht nach dem starken Führer allerorten. Die Hungersnöte in Afrika wegen fehlender Weizenlieferungen werden hoffentlich auch diese bislang sich neutral gegen Putin verhaltenden Staaten zu Putin-Kritikern werden lassen! Sicher aber ist: Putin will in seinem eigenen Krieg, der nur als auf neue Weise totaler Krieg genannt werden kann, Hunger-Flüchtlinge aus Afrika in die westlichen Länder treiben. Auf diese Weise, durch Hungersnöte, von Putin inszeniert, sollen die westlichen Gesellschaften, selbst in finanzieller Bedrängnis wegen der enormen Rüstungsausgaben und der Inflationen, verunsichert werden, d.h. Putin will den Rechtspopulismus und den Rechtsextremismus und den Faschismus in Europa fördern. Und Demokratie auf diese Weise zerstören. In den USA sind faschistische Tendenzen schon jetzt mächtig, bekanntlich auch in Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Österreich, Brasilien … und Deutschland usw…

8.
Für die eher explizit philosophischen Debatten ist wichtig: Paul Mason nennt in seinem genannten Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ als einen philosophischen „Ursprung“ des Faschismus auch die Haltung des „Irrationalismus“ (S. 170 f.) und er denkt dabei vor allem auch an den Philosophen Friedrich Nietzsche. „Nietzsches Werk stellt das umfassendste Bekenntnis zum Irrationalismus dar, das je verfasst wurde“ (S. 173). Irrationalismus bedeutet bei Nietzsches: Es gibt keine allgemeine, universale und kategorisch geltende Wahrheit, es gibt keinen Fortschritt, keinen Sinn in der Geschichte, keine Begründung für die Gleichberechtigung der Frauen, keine Begründung für einen Widerstand gegen den Kolonialismus. „Nietzsche gelangt wieder und wieder zu dem Ergebnis: Die Gewalt der Elite ist gerechtfertigt“ (ebd.) Aber Mason betont: „Wir können Nietzsche – und anderen Philosophen wie Spengler oder Bergson – nicht die Schuld am Faschismus geben… Aber diese philosophische Bewegung des Irrationalismus gab der reaktionären Politik einen modischen, rebellischen Anstrich“. (183).
Diese Interpretation Paul Masons, Nietzsche könne als ein Wegbereiter des Faschismus verstanden werden, wird übrigens von Philosophen unterstützt, etwa von Prof. Vittorio Hösle (Indiana, USA). In seinem Buch „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (C.H. Beck Verlag München, 2013) ist ein Kapitel Nietzsche gewidmet mit dem Titel „Die Revolte gegen die universalistische Moral: Friedrich Nietzsche“ (S. 185-207). Hösle schreibt: „Warum Nietzsche ein langes Kapitel widmen? Weil dieser Mensch wirklich Dynamit war. Kein anderer Denker hat so viel zerstört wie dieser philosophische Terrorist“ (S. 186). „Ein Widerwillen gegen Demokratie und soziales Denken ist eine der wenigen Konstanten Nietzsches“ (S. 189). „Es liegt nahe, den Nationalsozialismus als Versuch des Heroismus im Bösen zu deuten, von dem Nietzsche auch inhaltlich einige Ideen vorwegnimmt“ (S. 199).

9.
Anstelle eine vorläufigen Schlusswortes: Was können wir gegen den Faschismus (Putins) tun? „Es braucht eine wehrhafte Demokratie mit Gesetzen, die es erlauben, faschistischen Bestrebungen Grenzen zu setzen. Außerdem brauchen wir eine neue Version der Volksfront – ein Bündnis zwischen der Mitte und der Linken ist Erfolg versprechender, als wenn diese einzeln kämpfen. Und es braucht ein antifaschistisches Ethos aller Kräfte. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Den Linken, die Olaf Scholz und Emmanuel Macron als ihre größten Feinde sehen, will ich sagen: Wacht auf! Der Feind steht schon vor der Tür. Der Feind sind die Leute, die unsere Demokratie zerstören wollen“. Das sagt der Faschismus-Forscher Paul Mason in einem Interview mit der TAZ vom 21.5.2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin