Neue Religionen und Kirchen werden gegründet.

Ein unbekanntes Phänomen im 19.Jahrhundert – noch aktuell?
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.2.2022.

1.
„Ich gründe meine Religion, meine Kirche“: Dies könnte als Motto für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert gelten.
Die Gründe dafür nennt der Mentalitäts – Historiker Georges Minois:
„Das 19.Jahrhundert ist reich an Beispielen von Menschen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der (katholischen) Kirche und ihrer intellektuellen Unbeweglichkeit den (katholischen) Glauben verloren haben“, (Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar, 2000, S. 531).
Eine Erkenntnis, die der Historiker Michel Vovelle weiterführt: „Die Originalität Frankreichs in der Geschichte des westeuropäischen Christentums der Moderne ist: Es wurden weltliche Religionen entwickelt, die transzendente Wahrheiten ersetzten durch einen Kult des Vaterlandes oder der Werte Freiheit und Vernunft“ (in „Histoire de la France Religieuse”, Paris 1991, S. 510.)
Und der Kulturphilosoph Wolf Lepenies ergänzt, in seiner umfangreichen Studie über den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869):
“In der modernen Welt des 19. Jahrhunderts an der herkömmlichen Religion festzuhalten, war Byzantinismus – der Fortschritt verlangte auch nach der Ausbildung einer zeitangepassten Moral, die zugleich das überzeitliche Bedürfnis des Menschen, sich an Werten zu orientieren und von Vorbildern leiten zu lassen, befriedigte“ (S. 333 in: „Sainte-Beuve“, 2006).

2.
Diese Mentalität weckt förmlich die Bereitschaft, die persönlichen weltanschaulichen Überzeugungen in eigenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gestalten. Als Kirchengründer oder als Religionsgründer gefahrlos aufzutreten, war erst durch die Revolution von 1789 möglich geworden, sie hatte die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Es waren oft Laien, also nicht immer Theologen oder Priester, die sich als Kirchengründer betätigten. Sie suchten dadurch für sich und ihre Freunde Auswege aus einem dogmatisch erstarrten Katholizismus: Gleichzeitig wollten sie eine Religion/Kirche gestalten, die die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung respektierte und in einem politisch pluralen Staat den notwendigen ideologischen Zusammenhalt stiftete.

3.
Diesem Impuls zu Neugründungen von Religionen steht um 1800 das Erstarken eines katholischen Volksglauben, zumal in ländlichen Regionen, gegenüber, den selbst manche Priester als Aberglauben deuteten… Aber weil die Kirchenbindung dieser Frommen wichtiger erschien, tolerierten und unterstützten die Kleriker diese Form des zum Teil magisch geprägten Volkskatholizismus. Es waren vor allem Frauen, die sich daran klammerten, wie etwa die exzessive Heiligenverehrung, der Marien-Kult, der aus der Mutter Jesu eine weibliche Gottheit und eine Miterlöserin machte, die Verehrung bestimmter Landpfarrer (wie den Pfarrer von Ars). (Siehe dazu. „Histoire de la France Religieuse“, III, 1991, S. 528.)

4.
Diese Bemühungen um Kirchengründungen sind im Rückblick nicht erfolgreich gewesen, was die Mitgliederzahlen und die Lebensdauer dieser Gemeinden betrifft. Aber in ihrer Vielfalt zeigen diese Gründungen doch, wie umfassend die Unzufriedenheit mit dem Katholizismus war. Der Katholizismus im 19. Jahrhundert war institutionell – unter dem Schutz des Stellvertreters Christi auf Erden – so mächtig, dass er weiterhin den Wissenschaften feindlich eingestellt bleiben konnte, dass er die Werte der Philosophie der Aufklärung, auch die Menschenrechte, als gottlos verurteilte … und dadurch die Einheit von katholischem Glauben und Anti-Moderne zementierte.

5.
Das Thema Kirchengründungen in Frankreich und in einem zweiten Kapitel auch in Deutschland ist sicherlich in einer breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut und bekannt ist. Es hat aber durchaus aktuelle Bedeutung, angesichts der tief greifenden Krise der katholischen Kirche in Europa und Amerika am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Diese Krise ist begründet unter anderem auch in dem freigelegten sexuellen Missbrauchs durch tausende Priester über viele Jahrzehnte. Viele hunderttausend Katholiken distanzieren sich vom Katholizismus, „treten aus“, die meisten suchen nun individuell den eigenen spirituellen Weg, vielleicht aber auch im Zusammenhang neuer Gemeinschaften oder in progressiven protestantischen Kirchen.
Unabhängige Gemeindegründungen im Katholizismus gibt es im 20.Jahrhundert in den Niederlanden: Seit 1970 wurden neue ökumenische Gemeinden von Katholiken gegründet, oft Basisgemeinden genannt, die sich explizit aus dem System des Katholizismus (d.h. des Bistums) verabschiedeten und zum Teil bis heute bestehen: Wie die inzwischen weltweit bekannte „Ecclesia“, inszeniert vor allem von dem ehemaligen Jesuiten und bedeutenden Poeten Huub Oosterhuis (Liturgie im Kulturzentrum de rode hoed). Oder die „Dominicus-Gemeinde“, ebenfalls in Amsterdam. Die Dominicus-Gemeinde wurde ursprünglich (bis ca. 1970) von Dominikaner-Paters geleitet, dann haben Laien als Team die Leitung übernommen und schließlich hat die Gemeinde, nun ökumenisch, das schöne Kirchengebäude gekauft. Diese Gemeinden sind nicht mehr konfessionell, sondern ökumenisch, sie führen unterschiedliche Theologien zusammen. Auch die ökumenische Gemeinde „de Duif“ in Amsterdam muss in dem Zusammenhang erwähnt werden! Die website der Gemeinde de duif bietet auch etliche links zu ähnlichen Versuchen freier Gemeinden.
(Zu den Kirchengründungen in der frühen Kirchengeschichte siehe Fußnote 1, unten)

Das erste Kapitel: Gründungen von Kirchen/Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert in Frankreich.

6.
Das Thema ist im katholisch geprägten Milieu ausschlaggebend.
Die protestantische Kirche in Frankreich (vorwiegend Calvinisten und einige Lutheraner) war damals zahlenmäßig zu klein, um Neugründungen oder Abspaltungen innerhalb der Konfession Raum zu geben. Die protestantischen Kirchen waren dank der Revolution von 1789 den grausamen Verfolgungen gerade erst entkommen und konnten frei sein. Es gab hingegen ab 1840 bis ca. 1880 bei etlichen, vorwiegend intellektuellen Katholiken eine Begeisterung für protestantische Ideen, die der Historiker Yves Hivert-Messeca als Philoprotestantismus bezeichnet: (siehe: https://yveshivertmesseca.wordpress.com/2014/05/24/du-philoprotestantisme-dans-la-france-des-annees-1840-1880/)
Hivert-Messeca erinnert dabei an eine wichtigen Vortrag von Sainte-Beuve am 19. Mai 1868 im Senat von Paris: Darin deutet er die religiöse Situation Frankreichs im Bild einer „neuen, großen Diözese“, die „Tausende von Gläubigen aller ideologischer Couleur umfasste …außerhalb des Katholizismus. Zu dieser „großen Diözese“ gehören etwa Katholiken, die sich dem Protestantismus nahe fühlen und z.B. nach der staatlichen Hochzeitszeremonie noch in einer protestantischen Kirche eine religiöse Feier wünschen. Diese Praxis wird vom Historiker als entschieden anti-katholische Haltung gedeutet. (Zu den Neugründungen in den USA und im Katholizismus des 20.Jahrhunderts siehe Fußnote 2)

7.
Seit der Französischen Revolution ist die Bereitschaft groß, neue Religionen für die Franzosen zu inszenieren. Der Gründung der Republik als Ergebnis einer Revolution, also eines tiefgreifenden Umsturzes des Ancien Regime, entsprach bei vielen Revolutionären die Überzeugung, nun auch die einzige Kirche aus dem Ancien Régime, eben die katholische, zu überwinden.
Während der Revolution wurde der „Kult der Göttin Vernunft“ zelebriert, etwa am 10.August 1793 mit der Statue der „Göttin Vernunft“ auf der Place de la Bastille, am 10. November 1793 dann die feierliche „Messe“ in der Kathedrale Notre Dame de Paris mit einer leibhaftigen Göttin der Vernunft.
Robespierre hingegen praktizierte seinen deistischen „Kult des höchsten Wesens“ seit dem 8. Juni 1794. Dieser Kult sollte Staatsreligion werden, um den Katholizismus, DIE Kirche des „Ancien Regime“, zu ersetzen. Nach der Hinrichtung Robespierres wurde auch der „Kult des höchsten Wesens“ beendet.
Nach 1795 versuchte die religiös -humanistische Gemeinschaft der „Theophilanthropen“ (bis 1803) einen rationalen deistischen Kult zu etablieren, der in zahlreichen katholischen Kirchengebäuden parallel zu den Messen gefeiert wurde. (LINK:

8.
Nach 1825 werden Texte veröffentlicht, die sich für ein neues Christentum stark machen. „Nouveau Christianisme“ heißt das schon vom Titel viel sagende Buch des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), kurz vor seinem Tod 1825 publiziert. Im „neuen Christentum“ sollten nicht mehr die katholischen Dogmen gelten, der Glaube sollte auf die Wissenschaften und die Entwicklung der modernen Technik gegründet sein! Praktische „Hauptaufgabe“ dieses neuen Christentums war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, Brüderlichkeit sollte die wichtigste Tugend werden, schließlich, so Saint-Simon, habe auch Jesus Christus das ewige Leben nur denen versprochen, die den Armen wirksam helfen. Eine Idee, die wohl typisch ist für einige der „Frühsozialisten“…Später haben sich Katholiken in ihren sozialpolitischen Erklärungen auch auf Saint Simon bezogen, sie kritisierten die begrenzte christliche Mildtätigkeit und forderten die umfassende Solidarität unter allen Menschen.

9.
Diese Ideen fanden eine weite Verbreitung. Vor allem der Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) ließ sich von ihnen inspirieren. Er war persönlicher Sekretär Saint -Simons von 1817-1824. Comte ging noch weiter als sein Lehrer, er wurde zum Gründer der Religion des Positivismus. Die Ablehnung der kirchlichen Dogmen ist für Comte nicht zufällig, sondern sie basiert auf dem Gang der Weltgeschichte, den er sich dachte: Von der Religion über die Philosophie als Metaphysik hin zur dritten Stufe, dem Positivismus, als der Form der objektiven Wissenschaften. Die kritischen Zeitgenossen sollen die wissenschaftlichen Erkenntnissen als Wahrheiten respektieren und die alten Dogmen beiseite tun. (Vgl. die Studie des Philosophen Bernard Jolibert: „Science et Religion chez Auguste Comte: https://inspe.univ-reunion.fr//fileadmin/Fichiers/ESPE/bibliotheque/expression/23/Comte.pdf).
Comte plädierte dafür, Religion vom Gottesbegriff und vom Glauben an Gott zu trennen. Er stiftete eine Religion, die sich von den überlieferten christlichen Dogmen absetzte, und sich „positivistisch“ nannte, im Sinne von den „Wissenschaften folgend und mit ihnen verbunden“.
Comte stammte aus einem frommen katholischen Elternhaus, hat sich aber schon bald zum Atheismus bekannt. Trotzdem sah er durchaus die bedeutende, die soziale Rolle der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 1852 veröffentlichte er für seine Kirche einen „catechisme positiviste“, in dem auch die Gestaltungen seines Kultes, seiner Sakramente (!), die Rolle seiner Priester, usw. definiert wurden. Auf bestimmte Elemente der katholischen Kirche konnte Comte nicht verzichten.

10.
Comtes wissenschaftliche Religion ohne Gott sollte als „Religion der Menschheit“ angesichts der Krise des Katholizismus Hilfen bieten für ein besseres Miteinander in der pluralen Gesellschaft. Religion wurde also im Sinne von Comte funktional gebraucht fürs Wohlergehen einer friedlichen Gesellschaft. Der Kult fand zu Beginn durchaus Zustimmung, d.h. Mitglieder. Nach Comtes Tod 1857 wurden die Vorschläge seiner Religion aufgegriffen von Politikern, die sich für die Trennung von Kirchen und Staat einsetzen. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche etwa unter Napoleon III. wurde kritisiert und z. T. überwunden, anstelle der Theologie wurde die Religionswissenschaft an staatlichen Universitäten gelehrt und gefördert. Schon 1880 wurde am „Collège de France“ ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte eingerichtet, sicher auch Wirkungen der Publikationen von Auguste Comte und seines maßgeblichen Schülers Pierre Laffitte (1823-1903).
Übrigens: Der Schriftsteller Michel Houellebecq bezieht sich in seinen Romanen und Essays oft auf Ideen von Auguste Comte, darauf weist Jérome Grévy hin: In seinem Essay „La Religion positiviste“, in dem Sammelband „Misère de l Homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi“ (Paris 2022, S.23-44).
Comte, der Kirchengründer, verstand sich selbst als „Erzpriester“, seine Kirche
hatte eigene Kapellen für ihre Gottesdienste, sogar ein neuer Kalender wurde ausgearbeitet. In Paris, in der Rue Payenne, Nr. 5, steht noch ein „Tempel“ der Religion von Comte, die „Chapelle de l Humanité“. Das „Haus von Auguste Comte befindet sich in der Rue Monsieur le Prince, Nr. 10 in Paris.

11.
Diese Kirche besteht als religiöse Institution heute in Frankreich nicht mehr, in Brasilien ist hingegen Comtes Einfluß auch heute noch bedeutend, „Ordem e progresso“ steht auf denFlaggen Brasiliens als Wahlspruch, Worte, die bezogen sind auf das Motto von Comte: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. Die Gründerväter Brasiliens waren mit der Philosophie Comtes eng verbunden. Die „positivistische Kirche“ dort wurde 1881 gegründet, sie hat noch heute Tempel in mehrere Städten Brasiliens. Die Ausstattung des Tempels in Rio de Janeiro erinnert an eine christlichen Kirche. (siehe:https://www.degruyter.com/document/doi/10.31819/9783964566690-012/pdf).
Inspirationen für seine neue Religion fand Comte auch bei der von ihm hoch geschätzten katholischen (!) Schriftstellerin Clotilde de Vaux (1815-1846), in dem neuen positivistisch – religiösen Kalender war der 6. April stets „Clotilde Tag“. So wurden Frauen insgesamt in dieser neuen Kirche hoch geschätzt.

12.
Einige Kirchengründungen wurden auch von katholischen Priestern inszeniert, die mit der offiziellen Lehre nicht mehr übereinstimmten. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts gaben viele ihr Priesteramt auf, sie hatten nur Mühe, außerhalb der Kirche für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Viele katholische Priester wurden protestantische Pfarrer, der Ex-Priester Bourrier gründete für diese Konvertiten sogar eine eigene Zeitschrift „Le Chrétien Francas“. (Siehe Jacqueline Lalouette, „La Republique anticléricale“ , Paris, 2002, S. 118)
Zu den Freidenkern wandte sich Abbé Jules Claraz oder die Priester Duhamel, Harren, Blains, Salle, Bertrand usw…( Siehe J. Lalouette, S. 95 f). Auch ehemalige katholische Nonnen wurden militante FreidenkerInnen (S. 118 f. Bei J. Lalouette).
Der Priester Ferdinand Francois Chatel (1795-1857) ist im Jahr 1831 der Gründer der Kirche „Eglise Catholique Francaise“, er nannte sich jetzt „Primas von Gallien“. Diese Kirche feiert die Messe in französischer Sprache, als Gottesdienstzentrum diente ein ehemaliges Ladenlokal in Montmartre. Chatel hob das Zölibats-Gesetz für Priester auf, es wurde die Kelchkommunion auch für Laien gepflegt usw., von Rom frustrierte Katholiken fanden in dieser Kirche Zuflucht. Es kam zu Konflikten mit der Regierung, die Kirche wurde verboten. Über Chatels Tod hinaus bestand seine Kirche nicht mehr. Aber sie ist ein Beispiel, wie schon Jahrzehnte vor der Gründung der „Alt-katholischen Kirche“ (1870) diese Reform – Theologie virulent war.
Chatel war mit Bernard-Raymond Fabre-Palaprat (ein Priester aus Cahors) verbunden, er hatte eine esoterische Kirche, die sich Johanniter-Kirche nannte. Er hat unter anderem eine gnostische Version des Johannes-Evangeliums verfasst.

Der Priester Victor Charbonnel (1860 – 1926) setzte sich schon vor der „Weltausstellung“ in Paris im Jahr 1900 dafür ein, dass dort ein „Interreligiöses Parlament der Religionen“ stattfinden sollte. Denn, so war er überzeugt, „entstammen alle Religionen dem gleichen Prinzip, und dieses erzeugt unter den Religionen mehr gemeinsame als entgegengesetzte Lehren“. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten seien nichts anderes als eine Art „Schnickschnack der Konfessionen“, sie seien nur „armselige Motive für Stolz und Rivalitäten“. Der Priester Charbonnel ahnte sehr genau, dass seine Vorschläge Widerstand finden im Katholizismus, zwei Jahre hielt er es noch aus, Priester in einem extrem konservativen theologischen Milieu zu bleiben, dann gab wer sein Priesteramt auf.

13.
Der Historiker Frank Paul Bowman, (1927-2006), einst Professor an der Pennsylvania University, hat in seinem Buch „Le Christ des barricades 1789-1848“, Paris 1987, ein ganzes Kapitel den „neuen Christentümern, den neuen Messiassen“, wie er sagt, gewidmet (S-231- 246). Bowmans Buch zeigt einen Trend auf: Die Kirchengründungen sind nicht nur ein Ausdruck für den Abschied vom offiziellen römischen Katholizismus, genauso wichtig ist: Im 19.Jahrhundert wird eine Fülle von Deutungen zur Gestalt Jesu Christi publiziert: „Die Theoretiker eines sozialistischen Jesus“, heißt bezeichnenderweise ein Kapitel in dem Buch von Bowman (S.167-230), Beziehungen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts müssten eigens dokumentiert werden.

14.
Auch Literaten bemühten sich um ihr persönliches, also gegenüber der Amtskirche „häretischen“ Christus-Bild, etliche dachten auch an die Gründung einer eigenen Kirche.
Hier soll nur George Sand genannt werden. „Manchmal plant sie eine mögliche Erneuerung des Katholizismus, aber dann, ist sie eher überzeugt, eine neue soziale Religion zu gründen, als Modell könnten die Kulte von 1789 dienen,“ schreibt Bowman (S. 265). „George Sand beschreibt eine Religion der brüderlichen Gleichheit und des gemeinsamen Besitzes…“ Sie ist bewegt von den Hussiten wie von Franz von Assisi, Joachim von Fiore und dem Philosophen Lamennais… Sie glaubt, der Mensch könne seinen Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen“, und zwar aufgrund seines Willensentschlusses. (S. 267).
Von Victor Hugo muss man in dem Zusammenhang sprechen, und dabei nicht so sehr an die Phase seiner Begeisterung für spiritistische Sitzungen erinnern. Sondern vielmehr zeigen, wie er außerhalb der Bindung an die katholische Kirche seinen eigenen Glauben an Gott und an die persönliche Auferstehung entwickelte. Politisch wurde die Freiheit und Gleichberechtigung in der Republik Hugos wichtigstes Programm. Das Volk, das sich nach gesetzlich garantierter Freiheit in der Republik sehnt, ist für Hugo „das heilige Volk“, schreibt Alain Decaux in seinem Aufsatz „Victor Hugo et Dieu“ (2002).
Im Klerikalismus sah Hugo den größten Feind, zumal für die Errichtung der staatlichen Schulen für alle. Hugo sagte 1850. „Ihr Kleriker seid die Parasiten der Kirche, ihr seid die Krankheit der Kirche, ihr seid Sektierer einer Religion, die ihr gar nicht versteht. Mischt nicht die Kirche in eure Affären, in eure Strategien, in eure Lehren und eure Ambitionen“. (Quelle: Ein Beitrag von „France Culture“ am 8.12.2020; https://www.franceculture.fr/emissions/ils-ont-pense-la-laicite/hugo-limprecateur)
Noch kurz vor seinem Tod bekannte er: „Je crois en Dieu“. … und er glaubte nicht an die katholische Kirche.

15.
Unter den Komponisten soll nur Eric Satie (1866-1925) erwähnt werden. Er komponierte eine „Messe der Armen“, die allerdings ein Fragment blieb. Und er gründete seine eigene Kirche, mit dem irritierenden Titel: „Eglise Metropolitaine d` Art de Jésus Conducteur“, „Metropolitane Kunst- Kirche von Jesus dem Führer“.
Satie gab sogar eine Art Gemeindeblatt heraus, als Kirchengründer verurteilte er auch bestimmte Sünder, und er genierte sich nicht, tatsächlich als das einzige Mitglied seiner Kirche aufzutreten, was wohl den Tatsachen entsprach. Eine gewisse individualistische Verschrobenheit ist dieser Kirchengründung gewiss nicht abzusprechen. Satie stand auch in Verbindung mit dem Schriftsteller und Esoteriker Josephin Péladan, der eine Symbiose suchte zwischen Rosenkreuzertum und katholischem Glauben.

Zweites Kapitel: Kurze Hinweise zu Deutschland

16.
Ein wichtiges Beispiel im 19. Jahrhundert für die Idee einer Gründung einer neuen Religion bietet Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber er will es in seiner ursprünglichen Gestalt, gemäß den Zeugnissen des Neuen Testamentes. Die „orthodoxen“ Kirchen – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus- Gestalt schenkte ihm eine innere prägende Erfahrung. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung setzen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Christus wird, so der Philosoph Heinrich Rombach, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt. Es gibt dann eigentlich keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ ( S. 66 in: „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“, Rombachs Aufsatz in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985).
Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Nur als konkreter Geist ist Gott lebendig! Und dem entspricht auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder: Gemeinde ist für Hölderlin vor allem ein eher kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: Dies ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (Rombach, S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens. Das sind die Ideen Hölderlins, als Wirklichkeit kann er sie nicht erleben…

17.
Der Autor der Romantik, Friedrich Schlegel, schreibt Ende Dezember 1798: „Ich denke daran eine neue Religion zu stiften, dass dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden“, (Zitat bei Rüdiger Safrans, „Romantik“, München 2007, S. 136).
Allerdings zweifelt Friedrich Schlegel dann doch an seinem Mut und begibt sich als Konvertit 10 Jahre später in den sicher erscheinenden Hafen des Katholizismus. Er schreibt: „Die ästhetische Träumerei (von 1798), dieser unmännliche pantheistische Schwindel müssen aufhören, sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen“ (S. 137).

Auch an Novalis (also Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) muss erinnert werden, er will eine neue, neu-geborene universale Christenheit hervorrufen. Dabei helfen ihm Erkenntnisse, die Privatoffenbarungen genannt werden können. Die historische Gestalt des üblichen Christentums wird verblassen und vergehen, das ist seine Überzeugung, ein neues Zeitalter einer universalen Religion werde beginnen. So Novalis in „Die Christenheit oder Europa“, 1799 verfasst, 1802 in Auszügen veröffentlicht.
Bei aller pauschalen Kritik von Novalis an der Aufklärung und hier Philosophie ist seine Idee einer künftigen Religion der Diskussion wert: Ich zitiere eine Würdigung dieser von Novalis neu erdachten Religion aus dem Novalis-Beitrag von wikipedia (gelesen am 2 1.2.2022): „Die neue, dauerhafte und von konfessionellen Schranken befreite Kirche, eine Verbindung von Christentum und Naturphilosophie, soll an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten. Hiermit ist jedoch nicht so sehr ein institutionelles Gebilde gemeint, sondern eine Friedensgemeinschaft. Diese europäische Friedensgemeinschaft wäre der erste Schritt zu einer Weltgemeinschaft. Novalis fordert „echte Freiheit“, das heißt einen freieren und poetischeren Umgang mit den biblischen Schriften. Somit soll das Christentum ausgeweitet werden. Mit der Auflösung der Abgrenzung von den übrigen Religionen nähert sich das von Novalis erdachte neue Christentum immer weiter einer allgemeinen Weltreligion an. Diese visionäre Zukunftsreligion sollte im Alltag erfahrbar sein und soziale Gemeinschaft schaffen, aber dennoch nicht die Freiheit einschränken…In der neuen goldenen Zeit soll dagegen die Freiheit in der Religion vorherrschen. Das Ende dieser angestrebten Entwicklung ist jedoch noch nicht gekommen, aber der Sprecher in der Rede vertröstet den Hörer und betont, dass diese Zeit sicher kommen wird. Nur ein wenig Geduld ist notwendig“. Siehe Fußnote 3, unten.

18.
Auch an Richard Wagner muss bei unserem Thema erinnert werden. Er war überzeugt: Die religiöse und theologische Krise der Kirchen hat viele Menschen in eine Art Leere und Sinnlosigkeit geführt: Wagners Musik, seine Opern insbesondere, „sollten ein Gemeinschaftserlebnis, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, wie es sonst nur religiösen Veranstaltungen eigen war“, so Herfried Münkler in seiner Studie „Marx, Wagner, Nietzsche“, Berlin 2021, S. 213. Wagners Festspiele, so Münkler, sollten – wie die Kirchen und Religionen es versprachen – einen neuen Menschen schaffen. „Nicht von ungefähr sprach man von einer Bayreuther Theologie, die Sektencharakter hatte…Erst in den 1950er Jahren kam ein Prozess der Deskralisierung in Gang..“ (S. 214).

3. Kapitel: Jeder gründet seine eigene Religion?

19.
Die Überzeugung setzt sich durch: Religionen und Kirchen werden nicht mehr von göttlich berufenen Propheten, Aposteln oder Evangelisten oder gar von Gott selbst gegründet, wie die katholische Kirche von sich selbst überzeugt ist. Religionen und Kirchen können auch von Laien oder einfachen Priestern und Theologen, auch von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern ins Leben gerufen werden. Sie sind als Institutionen zwar oft nur von kurzer Lebensdauer, weil die Gründer nicht den militanten missionarischen Elan und die finanziellen Mittel haben, wie etwa die Gründer neuer Religionsgemeinschaften in den USA. Und diese neuen Religionen konnten gegenüber den Jahrhunderte alten Institutionen (Papst im Vatikan, und Könige/Kaiser als protestantische Kirchenchefs) nicht konkurrieren.

20.
Jeder Mensch, der irgendwie seine persönliche Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit oder einem „absolut geltenden Sinn“ auf seine Weise denkt und auf die eigene, persönliche Weise lebt, gründet oft unbewusst und wenig reflektiert, seine eigene ganz individuelle – persönliche Religion. Jeder Mensch wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot spiritueller Weisheit das ihm Passende. Wichtig ist, dass dann die subjektive, die eigene Religion das Gespräch mit anderen sucht, nicht nur um der Informationen willen, sondern auch um die eigene Position zu erweitern und zu korrigieren. Ob auf diese Weise noch einmal neue Gemeinschaften entstehen, ist offen, wahrscheinlicher ist, dass Christen, die etwa in Deutschland aus den Kirchen ausgetreten sind, in der individuellen Position der Vereinzelung verbleiben. Das kann man aus sozialen – kommunikativen Gründen wie aus theologischen und philosophischen Einsichten bedauern.

…………………….

Fußnote 1:
Abspaltungen von den offiziellen sich „orthodox“, rechtgläubig nennenden Kirchen gab es seit Etablierung der offiziellen (Staats-) Kirchen im 4. Jahrhundert und auch schon vorher. Aber diese Spaltungen waren meist nur Varianten, Zuspitzungen, der sich als rechtgläubig definierenden Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Diese „Varianten“ des Katholischen wurden dann Sekten genannt und als Häretiker entsprechend verfolgt und oft ausgelöscht, man denke nur Hus und die Hussiten oder den breiten Strom der Reformatoren seit dem 16. Jahrhundert.

Fußnote 2:
Bekanntlich gab es im 19. Jahrhundert in den USA viele Abspaltungen von den dort etabliert traditionellen protestantischen Kirchen. Einige religiöse, christlich inspirierte Gemeinschaften wurden gegründet, wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Christliche Wissenschafter usw. Diese Gemeinschaften gehen auf Erleuchtungen bzw. neue Erkenntnisse einzelner zurück. Sie sind, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, durchaus erfolgreich.
Auch auch innerhalb der etablierten „mainstream“ Kirchen, wie den Anglikanern oder Reformierten, gab es und gibt es dann Abspaltungen. Dies ist ein durchaus typisches protestantisches Phänomen.
Wer sich von der katholischen Kirche löst und eine neue Gemeinschaft gründet, wie etwa Alterzbischof Marcel Lefèbvre, wird automatisch exkommuniziert, als er im Jahr 1988 eigenmächtig vier seiner Priester zu Bischöfen weihte, um das Überdauern seiner Gemeinschaft sozusagen kirchenrechtlich korrekt abzusichern. Darum sind Lefèbvres Bischöfe zwar unerlaubt (vom Papst), aber gültig (von einem gültig geweihten Erzbischof) geweiht…Das macht die Sache so kompliziert in diesem Römischen Rechts – Denken. Die Exkommunikation Lefèbvres und der vier von ihm geweihten Bischöfe wurde durch Papst Benedikt XVI. am 21.1.2009 aufgehoben! Übersehen wurde dabei, dass einer der vier Bischöfe sich kurz zuvor extrem antisemitisch öffentlich geäußert hatte.
Im 20.Jahrhundert wurden weltweit viele neue religiöse Gemeinschaften gegründet, manche beziehen sich auch auf das Christentum, aber auch auf andere spirituelle Quellen. Die religiösen Umbrüche in Afrika,. Lateinamerika oder Asien konnten hier nicht berücksichtigt werden.

………………………
Fußnote 3 zu Novalis: Aus einer Ausgabe von 1826:
„Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.
Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden“.  S. 208 in: Novalis Schriften Bd I, Berlin 1826. Hg. von Tieck und Schlegel, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_christenheit_1826?p=30

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Eine total katholische Welt… in Pfarrgemeinden in West-Berlin

Gegen das Vergessen: Ein Zeitzeuge aus den Jahren 1958-1965 erinnert sich.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 14.2.2022

Dieser Hinweis ist ein theologisch – historischer Forschungsbeitrag. Das heißt: Er wird durch weitere Erkenntnisse und Erinnerungen regelmäßig ergänzt, und in einer noch unsystematischen Form werden diese neuen Erkenntnisse etc. erst einmal gesammelt und vor dem Vergessen bewahrt. C.M. am 13.1.2025.

BEISPIEL 1:  Die reduzierte Sprache in katholischen Familien war damals üblich. Hier wird nicht an das absolute Schweigen über Sexualität und Erotik erinnert. Hier geht es um anderes: C. fragt die Mutter am Sonntagsmorgen: “War meine Schwester M. schon”? Damit ist in in eingeweihten katholischen Kreisen nicht etwa der übliche Gang zur Toilette gemeint. Sondern: “War M. schon in der Sonntagsmesse?” Und die Mutter antwortet: “Nein, sie geht abends.” Das heißt: “Sie geht zur Abendmesse.” Und dann noch diese Formel: “Aber Vater musste schon um 7.” Soll heißen: Er musste schon zur Frühmesse gehen um 7 Uhr aus beruflichen Gründen.

Beispiel 2: Als ich längst aus der katholischen Kirche ausgetreten war (dies tat ich im Jahr 2010),  traf ich eines Tages den von früheren Interviews mir bekannten Franziskanerpater Josef in einem Buchladen in Berlin – Schöneberg. Er sah mich und ihm fiel als erstes ein, mich zu fragen: “Na, wo gehören Sie denn jetzt hin?” Er wusste von meinem Umzug aus “seinem Gemeindebezirk”. Und er meinte: Zu welcher katholischen Pfarrei ich denn nun “gehöre”. Welch ein administratives Denken… An meine Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, am liebsten hätte ich gesagt: Ich gehöre zu meinem Partner, aber das wäre wohl eine Überforderung für den Pater gewesen.

Beispiel 3: Wenn sich zwischen 1955 und 1975 Katholiken in  Berlin trafen, kam sehr schnell die Frage auf. “Na, wo gehören Sie denn hin?”,  gemeint war: Zu welcher katholischen Gemeinde man “gehört”. Offenbar erlebten diese Katholiken die Gemeinde/Pfarrei noch als Ort der Zugehörigkeit, wenn nicht der “Heimat”. Tante Lieschen antwortetet gern treuherzig: “Ich gehöre zwar zu Josef, gehe aber nach Herz Jesu”… (So die Titel der Kirchen)…Eine ferne Welt. Von diesem Gefühl der Beheimtung lebten die Pfarreien damals mit ihren Pfarrern und Kaplänen, denen Katholiken treu ergeben waren und denen man damals nur Bestes unterstellte. Sie waren ja die “Hochwürden”. Sexueller Missbrauch oder finanzielle Gier galten als Einzelfälle, oft von den Feinden der Kirche verbreitet. Mein Vater sagte dann gern: “Es menschelt bis zu Gott”, also bis in die höchsten Höhen der an Gott reichenden Klerus – Pyramide.

Beispiel 4: Die Verbundenheit der Katholiken in der einen überschaubaren Gemeinde war wohl für viele “Praktizierende” der wichtigste Grund, an den Gottesdiensten etc. teilzunehmen: Die Menschen suchten das Gespräch nach den Gottesdiensten, versprachen, einander zu besuchen, sich um einander zu kümmern… trotz aller immer halblaut vorgebrachten Kritik am Klerus (“an den unverständlichen Predigten zumal”, unverständlich nicht nur wegen der dogmatischen und moralischen Belehrungen, auch wegen der akustisch nicht verständlichen Sprache plötzlich eingesetzter etwa japanischer Priester, die einfach erst mal die deutsche Sprache hätten lernen sollen etc..).

Beispiel 5: Der Verlust der Gemeinde – (Bindung) ist nicht nur ein internes theologisches Problem. Soziologen erforschen längst, was der seit mindestens 50 Jahren anhaltende Verlust der Bindungen an Gemeinschaften, Gruppen, Vereine, “intermediäre Assoziationen” etc. für den einzelnen bedeutet. Es ist der (neoliberale, kpitalistische) Markt, der als Referenzgröße für alle Lebensbereiche jetzt gilt: Der vereinzelte, sich allein fühlende, “individualisierte” Mensch zählt nur noch als “Verbraucher”, “Konsument”, als “Nummer auf dem Arbeitsmarkt”: Der neoliberalen Marktideologie entsprechend zählt nur die marktkonforme Individualität. Siehe dazu etwa den Aufsatz von Oliver Nachtwey: “Entzivilisierung. Über regressive Tendenzen der westlichen Gesellschaften”, in: “Die grosse Regression”, Suhrkamp, 2017, dort S. 215 ff.

…………Der Beitrag von 2022: ………..

1.
Gegen das Vergessen: Das gilt auch für die „katholische Welt“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts in West-Berlin. Wie diese Welt aussah, wie sie die Katholiken bestimmte und prägte, ist heute, zumal für die Jüngeren, nahezu unbekannt. Viele kennen heute bestenfalls den etwas „reformierten“ Katholizismus seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965). Diese alte katholische Welt in den Pfarrgemeinden hatte für die intensiver Beteiligten und „Engagierten“ (Laien) durchaus etwas Totales, Abgeschottetes, Rund-um Betreutes…
Aus anderen Regionen Deutschlands, die zudem katholischer geprägt waren als die Diaspora-Situation in West-Berlin, könnten zweifellos viele Ergänzungen genannt werden.

Aber diese hier dokumentierte, umfassend prägende, also durchaus totale katholische Welt der  Jahre 1958 -1968, ist letztlich gescheitert, sofern man unter Scheitern die Nicht – Akzeptanz dieser religiösen Welt durch die betroffenen Katholiken (Laien) versteht. Diese Akzeptanz schwindet immer mehr, jetzt zumal, wegen der (sehr zögerlich) freigelegten “Fälle” von sexuellem Missbrauch durch Priester. Also von “Geistlichen”, “Hochwürden”, “Monsignores”, “Exzellenzen” (Bischöfe), “Patres” (also “Väter”) usw…

Diese totale katholische Welt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwindet also in Europa, um das Verschwinden zu verstehen, sollte man sich an diese “Welt” erinnern.

2.
Die folgende Liste katholischen Lebens in den Jahren 1958 bis 1968 bezieht sich auf die West – Berliner Gemeinden St. Carl Borromäus, Grunewald, und St. Ansgar, Tiergarten, vor allem.
Die meisten der hier genannten religiösen katholischen Veranstaltungen kenne ich aus eigenem Erleben, geboren wurde ich 1948 in Berlin (Ost) -Friedrichshagen. Als Kind lernte ich dort die St. Martins -Pfarrei in Berlin – Karlsdorf kennen.
Viele Informationen wurden aus familiärem Umfeld, etwa der Eltern, mitgeteilt.

Dabei wäre es noch ein eigenes Thema, an die Erfahrungen der katholischen Eltern in Berlin zu erinnern, da drehte sich auch die gesamte Freizeit (etwa in den Jahren 1920-1933) um die Teilnahme in der Gemeinde (etwa St. Sebastian, Berlin – Gesundbrunnen.)

3.
Es steht zudem fest, dass die hier mitgeteilten Informationen noch weitere inhaltliche Vertiefungen brauchen. Dies wäre eigentlich ein weites Feld für interessante kirchenhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen.

4.
Aber die LeserInnen im Jahr 2022 bemerken schon bei dieser ziemlich umfangreichen Liste, dass diese katholische Welt bis vor kurzem noch die Katholiken bestimmen, prägen, wenn nicht beherrschen wollte. Die Betroffenen (Laien) merkten oft gar nicht, wie ihnen dadurch viel Lebenszeit, viel Lebensfreude, viel Interesse an weltlicher, politischer Kultur geraubt wurde, wie ein mögliches Engagement für politische und soziale Projekte dadurch zweitrangig wurde.

5.
Ob die Katholiken, die Laien wie die vielen Priester, die es damals noch gab, durch diese unglaubliche Fülle von religiösen Angeboten damals wirklich zu einer reifen Spiritualität fanden, ist eine offene Frage. Ich würde sie eher mit Nein beantworten. Spiritualität war nur Kirchenbindung, “Liebe zur Kirche“, wie heute noch manche ungeniert sagen. Wie kann man „die“ Kirche lieben? Christen sollen zuerst Gott lieben UND den Nächsten und sich selbst.

6.
Die folgenden Beispiele sind bewusst nicht systematisch sortiert, dadurch wird die bunte Fülle dieser katholischen Welt deutlich.

Gottesdienste und Gebetsstunden, also Veranstaltungen in der Kirche (hier vor allem die St. Ansgar Gemeinde im Bezirk Berlin – Tiergarten):

Frühmessen, bis ca. 1968 war es üblich, in vielen Berliner Kirchen sonntags die erste Messe schon um 6 Uhr anzubieten, werktags ebenso. Ich war als Ministrant oft sogar vor Schulbeginn in der Messe um 6.45 Uhr in St. Ansgar engagiert. Man stelle sich vor: Ein verschlafener Junge, 15 Jahre alt, auch die Mutter musste um 6 Uhr aufstehen, muss lateinische Verse mit dem Priester beten: Etwa: “Ad Deum qui laetificat juventum meam”, “Zu Gott (gehe ich), der meine Jugend erfreut”. Nach 20 Minuten war der Zauber vorbei: Während des 2. Vatikanischen Konzils musste ich die Lesungen auf deutach mit müder Stimme der Gemeinde vortragen, (nicht die Evangelientexte der Messe, das war Sache des Priesters). Dann das  “Ite Missa est”… 5 Personen feierten die Messe mit, manchmal 6…Und ich eilte zur Schule, fuhr mit der U Bahn mit Menschen aus einer anderen Welt…

Stille Messen, vor dem 2. Vatikanischen Konzil üblich; sie wurden in lateinischer Sprache vom Priester am Altar in ca. 20 Minuten „absolviert“. Die Messdiener mussten auf Latein den Gebeten des Pfarrers antworten, Wein und Wasser reichen für ein „Lavabo“ etc. Mit dem 2. Vatikanischen Konzil wurden diese „stillen“ , d.h. leise „brubbelnd gesprochenen oder gehauchten“ lateinischen Messen abgeschafft, die Traditionalisten (die Freunde Bischof Lefèbvres) pflegen sie bis heute.

Die Sonntagspflicht: Jeder Katholik ist laut Kirchenrecht verpflichtet, „Sonntags die Messe mit Andacht zu hören“, wie es offiziell heißt. Die Sonntagspflicht wird im offiziellen Katechismus aus dem Vatikan bis heute vorgeschrieben (§ 2180).

Die Osterbeichte, vor Ostern muss ein Katholik zur Beichte gehen. Als Beleg erhält er vom Pfarrer ein Bildchen, das die Teilnahme bestätigt. Auch die Teilnahme an der Kommunion zu Ostern wird durch ein Heiligen-Bildchen bestätigt.

Nüchternheitsgebote als Bedingung zur Teilnahme an der Kommunion in der Messe. Bis zu zwei Stunden vor Beginn der Messe hat der Priester und der Laie, der an der Kommunion teilnehmen will, nüchtern zu sein: Also keine Nahrung zu sich nehmen, nur etwas Wasser war erlaubt. Warum bloß? Der Leib Christi, in der Hostie, sollte offenbar auf einen „makellosen“ Magen stoßen…Das galt auch für Erstkommunion-Kinder bis etwa 1962, viele dieser „nüchternen“ Kinder (auch die Messdiener) wurden dann mangels Nahrung während der Messe ohnmächtig.

Heilige Stunde, eine Andachtsform, oft mit Anbetung der Hostie. Immer am Donnerstagabend vor dem Herz-Jesu-Freitag.

Herz Jesu Freitag, dies ist der 1. Freitag eines jeden Monats, mit einer besonders feierlichen Messe und der Zusage eines guten Todes bei regelmäßigem Besuch dieser Messe, meist am Abend gelesen. Nach dem Bau der Mauer durch die DDR wurde freitags in West-Berliner Kirchen die “Bistumsmesse” gefeiert, so sollte im Gebet die Einheit des Bistums Berlin real werden, sagten die Priester.

Complet, Abendgebet, oft von der „Pfarrjugend“ am Samstag-Abend gestaltet, meist sogar in lateinischer Sprache, mit werkwürdigen Bitten auf Lateinisch: Dass man gut schlafe und, so wörtlich,„nec polluantur corpora“. Diese Gebets-Bitte haben die wenigsten Jugendlichen beim Gesang verstanden: „Dass die Körper nicht durch nächtliche Pollution (Samenerguss) befleckt werden“ (war offenbar auch ein Anliegen der täglich diese Komplet singenden Mönche in den Klöstern, auch in Frauenklöstern? Das weiß ich nicht).

Novene, Gebete an neun aufeinanderfolgenden Tagen, um besondere Gnadengaben zu erbitten.

Ewiges Gebet, ein Tages – oder Wochen-Programm, rund um die Uhr sollte mindestens eine Person in der Kirche anwesend sein, um vor der Monstranz still zu beten.

Ablass Erwerben (etwa am 2.November für die Verstorbenen), trotz Luthers Kritik bis heute völlig eine selbstverständliche, auch von Papst Franziskus empfohlene Praxis in der katholischen Kirche.

Ein Triduum, drei Tage der Vorbereitung auf ein Hochfest, wie Pfingsten. Aber auch drei Tage „besondere Predigten.“ Ein Pflichtprogramm für „gute Katholiken“. „Gute Katholiken“ waren praktizierende Katholiken. Und praktizieren hieß in einem sehr begrenzten Verständnis von Praxis: An den Messen regelmäßig teilnehmen, zur Beichte gehen etc…

Volksmission „Motto: „Rette deine Seele“, Ordenspriester besuchen die Pfarrgemeinde zwei Wochen lang und predigen täglich mehrfach, meist getrennt für Männer, Frauen, Jugendliche. Dringendste Aufforderung zur Beichte (bei dem Volksmissionar).

Beichten beim fremden Beichtvater, wenn man nicht bei dem bekannten Gemeindepfarrer beichten will, der alles Private von der Familie kennt, kommt gelegentlich ein unbekannter fremder Beichtvater. An dessen „Beichtstuhl“ bilden sich dann lange Warteschlangen…Unvorstellbar, heute 2022, solche Bilder von vielen reumütigen Sündern in Deutschland noch in den Kirchen zu erleben.

Levitenamt mit feierlichem Einzug, Pfarrer, Diakon und Subdiakon zelebrieren gemeinsam das Hochamt, die wichtigste Messe am Sonntag.

Diese Levitenämter wurden oft beendet mit dem – in überfüllter Kirche – laut geschmetterten Bekenner – Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ (gemeint ist die römische Kirche). In der 6.Strophe dieses Liedes, in der alten Fassung bis 1975 gesungen, heißt es: „Viel tausend schon vergossen mit Heilger Lust ihr Blut, die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut…“ Dieser Text stammt von einem J. Mohr 1877, in dem Gesangbuch für das Bistum Berlin „Ehre sei Gott“, die Nr.197. ” Die Reihen fest geschlossen“ …diesen Vers haben dann auch Nazis gegrölt.

Diese genannte 6. Strophe ist in dem neuen katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ von 1975 (dort Nr. 639) nicht mehr enthalten, wie überhaupt der Text des Herrn Mohr revidiert wurde

Katholische Identität:

Das Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ möchte ich als katholisches „Kampflied“ bezeichnen, der Text definiert die Liebe zur Kirche als dem Haus voller Glorie. Es wurde bewusst eingesetzt gegen das protestantische „Kampflied“ „Ein feste Burg ist unser Gott“. Man beachte nur den Unterschied. In dem protestantischen Lied geht es im Text um Gottes Macht; im katholischen Lied um die römisch-katholische Kirche. Es ist diese totale Kirchenfixierung, die den Katholizismus bestimmt(e) und ihn oft in die Nähe zu einer umfassenden Ideologie rückt: Zuerst die Kirche, dann der liebe Gott.

Segensandachten, oft sonntags am Nachmittag oder am Abend gefeiert. Beten nach den Vorlagen des Gebetbuches und singen, gelegentlich werden vom Pfarrer auch fromme Texte verlesen: Das ist dann die „Christenlehre am Sonntagabend“. In jedem Fall sind Ministranten anwesend, die große Freude haben, Weihrauch zu schwenken und davon mit Freude viel zu verbrauchen.

Kreuzweg-Andachten, in den 6 Wochen vor Ostern, Betrachten der Kreuzwegbilder in der Kirche mit entsprechenden Gebeten, geleitet vom Pfarrer.

Ölbergstunden, das stille Beten am Gründonnerstag vom ca. 20 Uhr bis Mitternacht.

Rosenkranzandachten, immer möglichst täglich im Oktober, am Abend; aber auch während des Jahres oft einmal wöchentlich. Bei den stillen Messen (s.oben) beteten die TeilnehmerInnen der Messe gern den Rosenkranz, weil sie das leise gesprochene Lateinische, also die Messe selbst, nicht verstanden.

Maiandachten, Marien-Andachten oft täglich im Monat Mai, mit den merkwürdigsten und theologisch hochproblematischen Marien-Liedern. Man denke an das Lied „Maria Maienkönigin, dich will der Mai begrüßen“. Oder „Die Schönste von allen, von fürstlichem Stand“ oder „Mein Zuflucht alleine, Maria die reine, zu beten an“ (sic), „Über die Berge schallt s , lieblich durch Flur und Wald, Glöckchen dein Klang….“ (Siehe auch: „Mythos Maria“, von Hermann Kurze, München, 2014).

Müttermessen“, spezielle Werktagsmessen für Frauen und Mütter, selbst zu Wort gekommen sind sie in der Müttermesse natürlich nicht, sie waren passive ZuhörerINNEN.

Fastenpredigten, in den Wochen vor Ostern, der Fastenzeit, kamen mehr oder weniger begabte „auswärtige“ Prediger (oft Ordenspriester) in die Pfarreien und predigten intensiver und länger als gewöhnlich. Fragte ich die Leute, was denn der Inhalt der Predigt war, die Antwort: “War doch großartig.

Primizsegen, der frisch geweihte Neupriester segnet die einzelnen Gläubigen, weil ihm offenbar ganz „besondere geistliche Macht oder frische Segnungs-Energie“ zugetraut wird. Katholiken sagten mir: Für einen Primizsegen laufe ich mir die Schuhe kaputt”. Offenbar glaubte man, ein frischer Segen eines jungen Priesters sei wirkungsvoller… Katholischer Aberglaube halt.

Priestersamstag, an dem Tag werden Messen gehalten, um für Priesterberufe zu beten. Diese Gebete wurden vom lieben Gott seit ca. 1970 nicht mehr erhört: Kein junger Berliner wollte noch Priester werden, heute stammen sehr viele Priester in Berlin aus Polen, Spanien, Afrika, Indien, den Philippinen usw. Wenn von dort in absehbarer Zeit auch kein Priester mehr „aushilft“, kann „man den Laden (Katholizismus in Berlin) zumachen“, wie ein Pfarrer mir kürzlich (2021) sagte.

Nachtanbetung für Männer, sie trafen sich in Kirchen und Kapellen West-Berlin, um in der Fastenzeit von Freitagabend 22 Uhr bis Samstag 6 Uhr zu beten, zu beichten, Predigten zu hören.

Roratemessen, in der Adventszeit frühmorgens um 5 Uhr gelesene Messen, oft speziell für Jugendliche, die danach gemeinsam frühstückten bevor sie zur Schule usw. gingen.

Versehgänge: Der Priester bringt, oft begleitet von einem Ministranten, die Kommunion einem Schwerkranken und Sterbenden, der Priester „versieht“ ihn mit der Kommunion. Wer auf der Straße einen solchen Priester bei seinem „Versehgang“ traf, durfte ihn nicht ansprechen: „Er hatte den lieben Gott bei sich“, hießt die populäre Erklärung. In manchen bayerischen Kirchen war der Altar mit einem Tuch geschmückt, darauf stand: „Stille, hier wohnt Gott“. In Katholischen Kirchen dürfen die Gläubigen untereinander nur leise flüstern.

Gebotene Fast – und Abstinenztage: Ein Tag vor kirchlichen Hochfesten sollte der Katholik fasten und keinen Alkohol trinken, zu den Hochfesten zählte auch der 8. Dezember, das fest Martens Unbefleckte Empfängnis, also war der 7. Dezember einer der Fast – und Abstinenz Tage.

Der Kirchenchor: Er hält seine Proben einmal wöchentlich, in St. Ansgar wurden viele schlesische Lieder und schlichteste Messen (von Max Filke aus Schlesien) geprobt und aufgeführt an hohen Festtagen.

Der Organist (in St. Ansgar) zieht bei der Begleitung der Lieder oft alle Register, er erschlägt beinahe den Gesang der Gemeinde. Orgel als Herrschafts-Instrument. In evangelischen Kirchen versteht man trotz Orgelbegleitung meist noch den Gesang der Gemeinde.

Aushilfen durch Priester: Es gab bis ca. 1968 sehr viele Priester in Berlin, zum Teil pensioniert, zum Teil früh-pensioniert aus welchen ungenannten Gründen auch immer.Diese Priester wollten gern mal in einer Gemeinde die Messe lesen und predigen. Die Gemeindepfarrer waren also „entlastet“. In der Verwaltungszentrale, dem Ordinariat, war für jedes „Ressort“ selbstverständlich ein Priester, meist ein „Monsignore“ oder „Geistlicher Rat“ tätig. Sie wohnten oft in dem – von Laien – so genannten „Priesterpalais“, einer riesigen Villa in der Winklerstr. im eleganten Stadtteil Grunewald.Es gab in West-Berlin auch viele Ordenshäuser, das Dominikanerkloster St.Paulus in Berlin-Moabit war zeitweise geradezu überfüllt, auch mit jungen Priestern, die dann in St. Ansgar zur Messfeuer auftauchten und nach einigen Wochen wieder verschwanden (wegen eigener Eheschließungen etc.).

Veranstaltungen in den Gemeinderäumen

Beichtunterricht, Kommunionunterricht, Firm-Unterricht: Diese Unterrichtsstunden waren verpflichtend für alle, die an der Ersten Beichte mit ca. 8 Jahren, der Erstkommunion mit ca. 10 Jahren und mit ca. 12 Jahren an der Firmung durch den Bischof teilnehmen wollten. Ich erlebte diese Stunden, die sich oft über mehrere Wochen hinzogen, als Form der Indoktrination. Meine einzige als Achtjähriger: Was soll ich denn bloß dem Pfarrer im dunklen Beichtstuhl sagen? Da gab es Vorlagen, welche Sünden man denn begangen haben könnte… Man wählte aus.

Kirchenvorstand, Laien werden vom Pfarrer berufen, nach dem Konzil gewählt, um über die finanzielle Situation der Gemeinde zu wachen.

Pfarrgemeinderat, nach dem 2. Vatikanischen Konzil eingerichtetes Beratungsgremium von Laien, darunter auch Jugendlichen, die Mitglieder werden von anderen Gottesdienstteilnehmern gewählt. Erster Vorsitzender ist der Pfarrer, ohne seine Zustimmung geht gar nichts, es sei denn der Pfarrgemeinderat beschließt, eher gelbe Tulpen als roter Tulpen für den Altar zu verwenden…

Ministrantenrunde, damals nur männliche Minstranten, einmal wöchentlich eine Stunde mit dem Pfarrer, Festlegung der Ministranten-Einsätze, Liedersingen etwa: „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht“, Quiz. Für jedes Ministrieren erhielt der Ministrant 10 Pfennig, wurde durch eine Strichliste dokumentiert. Solange noch lateinische Messen gefeiert wurden, mussten die 10-12 Jährigen die vielen lateinischen Gebete auswendig lernen, dies wurde geübt etwa aus dem „Stufengebet“: „Ad deum, qui laetificat iuventutem meam“. Der Pfarrer brüllte dann in der Ministrantenstunde, wenn ein Junge versehentlich iuventutum sagte statt iuventutem… Welch eine eingepaukte Gebets-Entfremdung für Kinder, die in fremder Sprache des römischen Altertums beten sollten.

Katholische Pfarrbibliothek: Jede Gemeinde hatte eine eigene kleine, so genannte öffentliche Bibliothek, sie war aber nur sonntags nach den Messen geöffnet. In St. Ansgar gab es ihn der Pfarrbibliothek etwa 300 Bücher, vor allem Romane und katholische Jugendliteratur, ich konnte als einer der wenigen Leser Vorschläge zur Anschaffung von Neuerscheinungen machen.

Seelsorgestunde, zusätzlich zum Religionsunterricht in der Schule, katholische Unterweisungen imm Gemeindehaus am Nachmittag. Die Trinität würde erklärt oder die Jungfrau Maria beschworen. Über Sexualität würde kein Wort gesprochen. Auch nicht darüber, wie man sich als Kind/Jugendlicher bei Auseinandersetzungen mit den Eltern oder den Lehrern verhalten sollte.

Diese Gemeinden waren – im Rückblick – keine angenehmen „Orte“ des Lebens, des lebendigen Lebens. Manchmal dachte ich als 16 Jähriger, diese Gemeinden sind eigentlich Partei-Büros einer bestimmten Partei, Ost-Berlin war nahe für uns im Westen Berlins…

Männer – und Frauenrunde, einmal monatlich, oft Vorträge des Pfarrers zu theologischen/ideologischen Fragen.

Kolpingfamilie, Treffen für Ehepaare, die „Kolpingsfamilie“ hatte eine eigene Flagge, die etwa bei Prozessionen außen vorgeführt wurde. Gemütlichkeit war das Motto. Es gab auch katholische Arbeiutervereine, oder Katholisch-kaufmännische Vereine oder eine katholische Ärzte Gilde selbst für die katholischen Philatelisten gab es eine Gruppe in West-Berlin.

Vinzenz – und Elisabeth-Konferenz: Männer und Frauen treffen sich regelmäßig, um zu planen, welche Bedürftigen besucht und finanziell unterstützt werden sollen. Dabei handelte es sich um fast immer um „arme Katholiken“. Dies war eine Form des sozialen Engagements.

Bewegung für eine bessere Welt (gegründet von P.Lombardi SJ), Diskutieren über den Zustand der Welt. Ich erinnere mich: Eine Frau stpürzt ins Gemeindehaus von St. Ansgar, fragt: Ist hier die bessere Welt? Nein, sagt der Pfarrer, die ist in St. Canisius, bei den Jesuiten.

Weltmissionssonntag: Immer Ende Oktober gedachten die Gemeinden der katholischen Weltmission. Ich fand diesen Tag wegen des „internationalen Geistes“ als Schüler immer besonders wichtig!

Action Pater Leppich, Kreis von Aktivisten, die überall katholische Schaukästen aufstellen wollten.

Tanztee für katholische Jugendliche, damit die Jugendlichen nicht in säkulare Discos „abdriften“, sie sollen katholische PartnerInnen kennenlernen. Haben sie dann auch, manchmal schnell wieder geschieden…Aber der Pfarrer, Bernhard Schwerdtfeger, saß hinten im Raum und “passte auf”.  Um 22 Uhr war Schluss

Kreuzweg in der Stadt, katholische Männer ziehen mit einem Kreuz durch die Stadt. Vor Ostern, an einem Samstagnachmittag.

Fronleichnams Prozessionen, intensiv vorbereitet, mit Altären in den Straßen, Plätzen auch im Bezirk Tiergarten.

Autosegnungen, in Berlin, in der St. Christophorus Kirche, Neukölln. (Nebenbei: heute werden auch Handys etc. gesegnet, der Segen für homosexuelle Paare ist vom Vatikan verboten).

Die katholische Welt: Katholische Friedhöfe, katholische Krankenhäuser, katholische Schulen, katholische Gymnasien, katholische Kindergärten, katholische Buchhandlungen (Morus-Buchhandlungen in vielen Stadtteilen Berlins), katholische Ärzte für Katholiken, katholische Briefmarkengilde…: Die Totalität wird sichtbar. Es war schwer, sich dem nicht zu entziehen…

Caritas-Sammlungen: Ich beteiligte mich als Jugendlicher an der so genannten Straßensammlung, zog als den ganzen Samstag nachmittag und Abend mit einer Sammelbüchse aus Metall auch über den Ku-Damm und bettelte alle mir entgegen kommenden Passanten an. Ich war stolz, wenn dann am Sonntag aus der Büchse etwa 150 D Mark in Münzen hervorkamen.

Nicht erwähnt sind: Der “Bund Neudeutschland” (ND), die “katholischen Pfadfinder St. Georg”, der “Katholiscche Frauenbund”, der Dritte Orden des heiligen Dominikus, der Verein vom heiligen Land, der Fatima-Sühnekreuzzug, der Bund des deutschen katholischen Jugend BDKJ, das Kindermissionswerk, die Sternsinger, die Sommerausflüge der Gemeinde, der Gemeinde (Tanz) -Abend im Herbst (in der “Kongreßhalle” in Tiergarten, die “Informationsabende” über die Weltmission,  die Gespräche mit dem Pfarrer vor der krichlichen Trauung, “dem Ehesakrament”, und so weiter…

Es gab keine speziellen Bibelstunden, also keine Kreise, die sich nur mit der Lektüre und der Interpretation der Bibel befassten! Dazu waren die katholischen Pfarrer oft gar nicht in der Lage, schließlich war die historisch-kritische Bibelforschung bis ca. 1960 verboten bzw. Übel angesehen. In West – Berlin gab es EINEN speziell für Bibelfragen und das „Bibel-Werk“ zuständigen Pfarrer.

Es gab in den Jahren keine offiziellen ökumenischen Begegnungen mit den evangelischen Gemeinden in der Nachbarschaft.

Sonntags um 9.50 läuteten die Glocken der St. Ansgar Kirche und die Glocken der ca 100 Meter entfernten Evangelischen Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche gleichzeitig für die Gottesdienste um 10 Uhr. Und kein Christ kam auf die Idee, einfach mal den Gottesdienst der anderen Konfession zu besuchen.

Am Schriftenstand am Eingang der Kirche: Unglaubliche Presseerzeugnisse:
Broschüren, zum Beispiel: „Katholik, das musst du wissen“, vom Johannes
-Bund Leutesdorf. Zeitschriften: „Maria siegt“. „Hoffnung“, „Der Feuerreiter“, „Mann in der Zeit“, „Echo der Zeit“, „Petrusblatt“, „Der Jesusknabe“, „Stadt Gottes“ und so weiter

Die Anreden: Hochwürden, Herr Pfarrer XY, Herr Kaplan, Eminenz, Seine Durchlaucht (für den Vorsitzenden des ZK der Katholiken), Monsignore, Domherr, Domvikar, Geistlicher Rat, Erzpriester, Defensor Vinculi, Frauenseelsorger, Männerseelsorger.
Die Nonnen wurden als „ehrwürdige Schwestern“ genannt oder „Mutter Oberin“.

Wenn ein Kaplan sein Priesteramt aufgab und meistens dann heiratete, nannte man ihn im katholischen Milieu „einen Abgesprungenen“ oder „Abgefallenen“. Diese Abgesprungenen mussten das alte Wohngebiet verlassen, sie sollten kein „Ärgernis“ geben. Wer sich als Priester verliebt, erregt für Katholiken ein „Ärgernis“…

Ansätze zu einer Bewertung
Bis ça. 1968 nahmen von den 1.600 Mitgliedern der St. Ansgar Gemeinde in Berlin-Tiergarten ca. 500 Menschen an der Sonntagsmesse teil, dreimal wurde sonntags die Messe gefeiert. Diese Teilnahme entsprach auch kirchlichem Druck: der Sonntagspflicht!
Aber die Gemeinde bot auch Raum für allgemein menschliche, oft freundschaftliche Kommunikation. Manche nahmen wohl den Messbesuch bloß „in Kauf“, um danach noch lange Zeit mit anderen plaudern zu können, sich zu verabreden etc..

Diese starke Kirchenbindung damals hat sicher auch kulturell-soziale Gründe: Man denke an das Freizeit Verhalten damals; Gemeinde war auch ein Ort von kontrollierter, behüteter Freizeit, allerdings nicht immer, wenn man an die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester denkt. Darüber sprach damals niemand, auch wenn in der „weltlichen“ Presse, wie dem Tagesspiegel, gelegentlich Notizen des Missbrauchs veröffentlicht wurden. Ich erinnere mich an entsprechende kurze Meldungen aus dem Don-Bosco-Jugendheim in Berlin Wannsee (Leitung: der Salesianer-Orden, SDB), Pater von …XY wurde um 1965 aus dem Don-Bosco-Heim „versetzt wegen Unregelmäßigkeiten“, hieß es dann knapp im Tagesspiegel. Die katholische Kirchenzeitung berichtete selbstverständlich NICHT darüber…„Na ja, es menschelt halt bis zu Gott“, war die Standard – Antwort vieler Katholiken, und keiner wagte nachzufragen. Erst 2010 wurde aus diesem Don – Bosco – Jugendheim sexueller Missbrauch durch die dortigen Patres gemeldet: https://www.morgenpost.de/berlin/article103989118/Patres-sollen-Jungen-vergewaltigt-haben.html

Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken endlich und zurecht ein Gefühl von individueller Freiheit und religiöser Wahl: Warum muss ich mich jeden Sonntag in die Kirche zur Messe setzen mit immer denselben Riten und fast schon zu Floskeln gewordenen Gebeten und den schlechten Predigten? Diese Frage stellten sich viele und entschieden sich individuell.

Heute hat die Kirche auch in Berlin die meisten Katholiken, als aktive Mitglieder, „verloren“. Die Gemeinden schrumpfen, sie werden „zusammengelegt“, kaum noch ein Pfarrer ist erreichbar, es werden Messen gelesen von den wenigen gestressten Priestern und alle wissen: In zehn Jahren bricht auch dieses System der Versorgung zusammen: Die Kirchenführer und die Laien sprechen öffentlich nicht differenziert und mit allem Wissen darüber, weil momentan der sexuelle Missbrauch durch Priester alle Debatten und Reflexionen beherrscht.

Das heutige Sterben der katholischen Gemeinden ist vor allem als ein Verlust an menschlicher Kommunikation zu beklagen. Und die Bischöfe lassen das alles zu, ohne endlich das totale Klerus-System zu beenden: Das da heißt: Nur ein Priester kann Messe feiern. Nur die Messe ist der Höhepunkt des Gemeindelebens. Solange die Kirche an diesen vom Evangelium unbegründeten Überzeugungen festhält, kann man alle Hoffnung für die katholische Kirche in Deutschland z.B. fahren lassen. Viele katholische Kirchen wurden in den letzten Jahren geschlossen, abgerissen, verkauft. Warum? Weil die Priester als “Gemeindelieter” fehlten! Oder weil die Priester zuvor nichts Vernünftiges, d.h Menschliches, Freundliches,  für die Gemeinde taten. So dass die Mitglieder halt “austraten”.  Das Ende der Kirchen – auch in Berlin – ist vor allem bedingt durch den Klerikalismus oder: protestantisch: durch den Bürokratismus. “Die Kirchen stehen die ganze Woche über leer und sind selbstverständlich bverschlossene. “Die verschlossene Kirche” wäre ein hübsches Thema für kritische Journalisten.

Die Zahl der LaientheologInnen in Berlin, die keine Arbeit in dieser Kirche fanden oder finden wollten, ist groß. Warum hätten sie nicht auch katholische Gemeinden „leiten“ können? Weil der allherrschende Klerus das nicht wollte und auch heute nicht will. Der Klerus will herrschen, allein und immer. Da hilft nur eine weitere Reformation, also NICHT etwa eine „Reform“ oder ein „Reförmchen“.

Am 2.9.2024: Ich lese, in er kathol.Zeitung “Tag des Herren” vom 1.9.2024 , dass der Erfurter katholische Bischof einem kathol.Diakon die Gemeindeleitung anvertraut hat, aber: Er darf nicht die Messe feiern! Und: Keinem Kranken das Krankensakrament reichen. usw. Das darf nur ein Priester, der aus Indien extra nach Erfurt eingeflogen wurde. Welche ein Wahn, darf man wohl sagen, oder genauso deutlich: Wie lächerlich diese Haltung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Die notwendige Verweltlichung des Christentums.

Eine aktuelle Erkenntnis des Philosophen G. W. F. Hegel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt:
Das Christentum nur als spirituelle Religion, unter Führung des Klerus, zu verstehen und zu gestalten, ist für Hegel nur das „halbe Christentum“. Für ihn steht fest: Die zentrale der Idee der universalen christlichen Freiheit (modern: der Menschenrechte) muss sich in Staat und Gesellschaft realisieren, dies ist genauso wichtig wie alles Innerliche, Spirituelle, Kirchliche.
Die drängende Frage ist: Hat das Christentum Frieden und Gerechtigkeit gebracht in seiner 2000 Jahre dauernden Geschichte? Global beantwortet: Eher nicht. Denn das Christentum ist meist eine Ansammlung spiritueller, dogmatischer, moralischer Gemeinden geblieben. Die Idee der universalen Freiheit und Gerechtigkeit hat sich nicht durchgesetzt. Um so dringender, an einen Vorschlag Hegels zu erinnern. Es geht ihm um die notwendigen„Verweltlichung des Christentums“.

Dazu einige Vorbemerkungen:

1. Zunächst eine Erinnerung an die gegenwärtige Krise des Katholizismus in Europa, den USA und Lateinamerika. Die Statistiken der Religionssoziologen sind eindeutig: Der dortige Katholizismus wird alsbald nur noch als ein institutionell bestehendes Gerüst, man könnte sagen, Skelett vorhanden sein, wenn auch finanziell noch sehr gut ausgestattet. Der tausendfache und noch längst nicht umfassend erforschte sexuelle Missbrauch durch Priester, Ordensleute und verantwortliche Laien erdrückt wie eine riesige Lawine das Leben und Überleben dieser Kirche. Auch deswegen steigt die Zahl der „Unkirchlichen“ und „aus der Kirche Ausgetretenen“ kontinuierlich. Diese „ehemaligen“ (?) Katholiken verstehen sich wahrscheinlich nicht immer als Atheisten. Sie wurden vielmehr von der Kirchenleitung aus der Kirche vertrieben. Manche sagen, sie sind religiös heimatlos geworden. Gibt es neue Möglichkeiten eines spirituellen, eines umfassend christlichen Engagements? Hegels Antwort: Es ist die Teilnahme an der „Einfügung“ der Idee universaler Freiheit in die Welt…

2. Zu diesem Niedergang des Katholizismus gehört, dass in einigen Ländern noch so genannte „synodale Wege oder synodale Prozessen“ unternommen wurden, um Reformen in der Lehre und den Kirchengesetzen einzuklagen, im Vatikan, beim Papst natürlich, also oft bei Kleriker-Bürokraten, die sich traditionell gegen Reformvorschläge einer Kirche eines Landes wehren. Dass diese so genannten „Synoden“ (sie beraten nur, dürfen aber nichts entscheiden!) in den letzten Jahren in vielen Ländern, wie Holland, der Schweiz, der Bundesrepublik, also seit 1967, nichts an tiefgreifenden Reformen für die Kirche dieser Länder bewirkt haben, ist eine Tatsache. Insofern sind die heutigen Sitzungen und Debatten in synodalen Prozessen wie damals schon eher eine Art Freizeitbeschäftigung oder auch Beschäftigungstherapie für frustrierte Laien und Priester der Basis. Und Rom freut sich, dass noch Leben da ist…

3. Wie kann in der Situation noch das Wesentliche des Christentums im Rahmen der katholischen Kirche gerettet werden? Mit dieser Frage sind wir genau bei Hegel, dessen gesamte Philosophie vom religionsphilosophischen Thema geprägt ist. Darin stimmen wesentliche Hegel-Forscher überein, wie Michael Theunissen oder Walter Jaeschke. Hegel wollte zu seiner Zeit begrifflich klare Aussagen zu dem Thema machen, weil ein Christentum bloß des Gefühls sich im Protestantismus breit machte und im Katholizismus eine Ende der autoritären Klerus-Herrschaft nicht absehbar war. Hegel zeigt in seinem Werk, dass er als Philosoph das Christentum sehr gut verstanden hatte: Seine Erkenntnisse entwickelt er ausführlich in seinen vier, unterschiedlich akzentuierten Berliner „Vorlesungen über die „Philosophie der Religion“ (1821, wichtig dann: 1824, 1827 und 1831).

4. Zum Wesen des Christentums gehört für Hegel: Gott ist Geist. Und der Mensch ist Teilhaber dieses einen göttlichen Geistes, er bezieht sich auf Gott in einem Verhältnis der Freiheit, d.h. der Mensch ist in der Beziehung zu Gott auch bei sich selbst! Und diese Überwindung des „Fremden“ und Entfremdenden auch Gott gegenüber ist wesentlich Freiheit.
Diese Erkenntnis von der Freiheit ist die Grundlehre des Christentums, sie muss um der Freiheit der Menschen will auch als gesetzlich gefasste Freiheit in Gesellschaft und Staat greifbar werden.

5. Diese Freiheit ist Zentrum der Botschaft Jesu Christi vom Reich Gottes: Und es ist der Philosoph Hegel, der diese zentrale Botschaft der Religion in die Begriffe der Philosophie, also ins Denken, überführt, Hegel sagt „aufhebt“.
Das Reich Gottes wird repräsentiert in der Gestalt Jesu Christi, dessen zentrale Lehre sich in den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit zusammenfassen lässt. Und Hegel zeigt in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen: „In der Religion des Christentums an sich ist das (nur) Herz versöhnt“, (S. 330 in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band II, Suhrkamp 1969). Es gibt also, in der Geschichte Jesu Christi sichtbar, bereits eine spirituelle, geistige Versöhnung von Gott und Welt/Mensch, also die spirituelle „Erlösung“. Sie ist „an sich“ schon Gegenwart, sie muss nur noch gestaltet, „hineingebildet werden in die Welt“, wie Hegel sagt.
Diese Erlösung ist dann die Gegenwart des Reiches Gottes in Staat und Gesellschaft, eigentlich haben dafür die Gemeinde, die Kirchen, einzutreten. Aber aufgrund der Begrenztheit ihrer Theologien können Kirchen diese Vermittlung nicht leisten, also die „Hineinbildung“ der Ideen des Reiches Gottes in die Welt. Die Gemeinde/Kirche würde zudem der Versuchung unterliegen, sich gegenüber Staat und Gesellschaft als „Herrscherin“ zu etablieren, wie einst im Mittelalter. Weil die Kirchengemeinde in der Begrenztheit theologischer Begriffe lebt, wird die Philosophie wichtig: Sie kann als Philosophie, die die Wirklichkeit in allgemeine und für alle nachvollziehbare Begriffe fasst, auch diese Lehren vom Reich Gottes der Welt vermitteln. Sie kann in weltlicher Sprache helfen, diese Lehren sozusagen zu säkularisieren und in Gesetze zu überführen.
Anders gesagt: Die politische Wirklichkeit in Staaten und Gesellschaft muss von den sich stets weiter entwickelnden Weisungen der universalen Menschenrechte bestimmt sein, und dabei ist die an keine Konfession gebundene Philosophie behilflich, wenn sie säkular die Lehre der christlichen Freiheit darstellt.

6. Das Reich Gottes muss also aus dem Herzen in die Gesellschaft/den Staat treten und dessen Struktur und Gesetze bestimmen. Die Gemeinde als Ort der Frömmigkeit und der Gottesdienste (Kultus sagt Hegel) bleibt aber bestehen. Die Kirche muss aber anerkennen: Das aktive Gestalten der Freiheit in der Welt in Staat und Gesellschaft, ist genauso wie das Spirituelle der zentraler Auftrag der Kirche. Mit der Verwirklichung der Grundideen des Reiches Gottes als humaner Freiheit, kann man auch von einem Ende der (alten, bloß innerlich-frommen) Religion des Christentums sprechen.
(Siehe auch in Fußnote 1 eine etwas ausführlichere Vertiefung).

7. Hegel kann also von einem Ende der bloß spirituellen christlichen Religion sprechen, weil seine Philosophie in der Lage ist, die wesentlichen Inhalte dieser Religion begrifflich für alle Menschen nachvollziehbar zu bewahren und denken.
Der in der Philosophie bewahrte, „aufgehobene“ Geist des Christentums darf sich für Hegel nicht in der Philosophie „verstecken“. Er muss sich äußern, d.h.für Hegel: Ent-äußern in die Welt. Der Hegel-Spezialist Prof. Walter Jaeschke schreibt in seinem empfehlenswerten „Hegel Handbuch“ (Metzler-Verlag, 2016, S. 436): In Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen in Berlin „tritt seit dem zweiten Kolleg der Entwurf einer progressiven Realisierung des geistigen Gehalts der Religion, also seiner Ein-Bildung (d.i. Verwirklichung, CM) in die Weltlichkeit“.
Der geistige „Gehalt“, die „Substanz“ des Christentums, muss in die Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft hineingestaltet, Hegel sagt „eingebildet“, werden. Hegels Schüler C.L. Michelet übersetzt diesen Begriff der „Einbildung“ treffend mit „Verweltlichung“, also als Welt – Werdung des Christentums. Und der Hegelianer R.Rothe nennt dann 1837 diese Verweltlichung im Sinne von Welt-Werdung die „Säkularisierung“ des Christentums. „Säkularisierung ist allerdings hier nicht als Entfremdung oder als Entwendung religiöser Substanz gedacht, sondern als ihr Eingehen in die Weltlichkeit und ihr Aufgehen in dieser Weltlichkeit“( Jaeschke, a.a.O, S. 437).

8. Folgt man diesen Erkenntnissen Hegels, dann bleibt für die Kirchen heute auch der wichtigste Auftrag, die Idee der universalen Freiheit und damit die Idee der Menschenrechte in der Welt, der Gesellschaft, dem Staat zu fördern. Das allein ist der zentrale Auftrag der Kirche in der Moderne: Die Menschenrechte in der Welt, in den Gesellschaften, den Staaten, zu pflegen, zu fördern, zum Ausdruck zu bringen. Auf die aktuelle Situation 2022 bezogen: Vielleicht könnten sich in diesem Projekt auch Menschen wiederfinden, die aus der Kirche ausgetreten sind, um sozusagen eine weite säkulare Ökumene zu bilden. Dies ist schon ein Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Erkenntnisse Hegels.

9. Der Impuls, die universale Freiheit, die Geltung der Menschenrechte, in der Welt durchzusetzen, hat leider keinen Vorrang unter den religiösen und kirchlichen Aktivitäten. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat diesem „Politischwerden“ des Christentums entsprechen wollen, sie wurde aber weitgehend von konservativen Kirchenführern unterdrückt, gerade weil die Befreiungstheologie angeblich nicht dogmatisch korrekt und fromm genug sei…Dabei ist allen kritisch gebildeten Theologen klar: Wer nach dem Kern des Evangeliums fragt, lese in dem Zusammenhang die Bergpredigt Jesu oder seine „Endzeitreden“. Mit anderen Worten: Schon Jesus von Nazareth war ein heftiger Kritiker der Religion, wenn sie nur den Kultus liebt, aber nicht die Humanität an die erste Stelle stellt. Feierliche Gottesdienste, Kultus usw., klerikale Gesetze haben im Sinne Jesu von Nazareth nur Sinn in ihrer Hinordnung auf das auch politisch zu verstehende Reich Gottes.

10. Verweltlichung des Christentums und Bonhoeffer.
In seinen Briefen aus dem Gefängnis Tegel (unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ post mortem veröffentlicht) hat der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (geboren am 4.2.1906 in Breslau, als expliziter Feind der Nazis hingerichtet im KZ Flossenbürg am 9.4.1945) einige Einsichten mitgeteilt zur Zukunft des Christentums. Ich sehe darin gewisse Verbindungen zu Hegels Einsicht von der Verweltlichung des Christentums.
Dietrich Bonhoeffer sah schon um 1943 deutlich, wie die alte, vertraute dogmatisch geprägte Gestalt der Kirche in Europa zusammenbricht, verschwindet, weil sie in ihrer Sprache und frommen Praxis die Menschen nicht (mehr) bewegt. Bonhoeffer sprach deswegen davon, ein religionsloses Christentum zu denken und zu entwerfen. Und dieses Projekt berührt die Erkenntnis Hegels zur „Verweltlichung“ bzw. „Säkularisierung“ des Christentums.
Bonhoeffer schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ,religiöses‘ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ,Dasein-für-andere’“ („Widerstand und Ergebung“, DBW8, Gütersloh 1998, 558). „Worauf es im letzten ankommt: Es ist das Beten und TUN DES GERECHTEN“ (WE 157). Noch einmal: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“. Bonhoeffer lobt die Weisheit des Alten Testaments „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem ? (WE 144).
Mit dem „Tun des Gerechten“ ist genau die Forderung Hegels gemeint: Die universale Freiheit und die Menschenrechte in der Welt durchzusetzen. Und was könnte man als Hegelianer unter Beten verstehen? Dieses ist ein Geschehen der inneren geistigen Verbindung mit der Weisheit der Bibel.

11. Franz Rosenzweig und das Ende der Religion.
„Religionsloses Christentum“: Mit dieser These nähert sich Bonhoeffer auch einem Gedanken des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig: „Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und (…) wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden“ (Rosenzweig: Das neue Denken, Gesammelte Schriften III, Den Haag 1984, 154).

12.
Das Christentum und die Kirchen können in Europa überleben…… wenn sie religionslos werden.
Das ist Hegels Überzeugung: Wenn das Christentum also das klare begriffliche Verstehen (und nicht nur die Liturgien, Gebete etc.) pflegt und Philosophie respektiert, um die gesellschaftliche Freiheits-Praxis zu fördern, hat es noch eine Chance, auch heute inspirierend zu sein. Dann könnten viele Energien frei gesetzt werden, um Krieg und Nationalismus zu überwinden und das Hungersterben von Millionen Mitmenschen weltweit zu beenden…

Fussnote 1:
Hegels Rede vom „Ende der Religion“ ist eingebunden in seine Philosophie. Und diese ist bestimmt von der dialektischen Entwicklung des absoluten Geistes, also dessen, was Hegel der christlichen Tradition folgend, Gott nennt, Und dieser eine Geist (in Gott wie auf eigene Weise in den Menschen) drückt sich in Hegels Philosophie aus: Der absolute Geist wird erkennbar, besser „erkennt sich selbst“ in der Kunst, dann in der Religion und als Höhepunkt am deutlichsten und begrifflich im Denken der Philosophie. Sie ist die „Spitze“ in der Entwicklung des absoluten Geistes. Die Rede vom Ende der Religion ist also darauf bezogen, dass die Religion, sozusagen als noch unreife Stufe des absoluten Geistes, selbst nicht zu den klaren Begriffen findet, die in der Philosophie (Hegels) erreicht werden. Das bedeutet für Hegel aber nicht, dass Kunst und Religion faktisch nicht mehr weiter bestehen. Sie leben weiter, auch im Umgang der Menschen mit den Künsten und Religionen. Aber, und dieses Aber ist entscheidend: Die Religion bzw. das Christentum, also die Kirchen in Europa, sind nicht auf der Höhe der Entwicklung des sich selbst verstehenden absoluten Geistes, wenn sie die kritische Philosophie scheuen oder verachten (wie Muther). Denn Gott wird für Hegel treffend und “adäquat“ nur in der Philosophie, (seiner) Philosophie, begrifflich im Denken erschlossen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Pressefreiheit in der katholischen Kirche? Überlegungen anlässlich von 50 Jahre „PUBLIK FORUM“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.

Von Pressefreiheit spricht auch das „Zweite Vatikanische (Reform-)Konzil“, aber nur ganz kurz. (Siehe Fußnote 1: Über die absolute Ablehnung der Pressefreiheit durch Papst Gregor XVI. 1832). In dem offiziellen Konzils-Dekret „Über die sozialen Kommunikationsmittel“, am 4. 12. 1963 feierlich verkündet, heißt es in §12: „Die öffentliche Gewalt … hat die wahre und rechte (sic!, CM)) Freiheit der Information zu verteidigen und zu schützen… das gilt besonders für die Pressefreiheit“.

Das ist alles, was von katholischer Seite zur Pressefreiheit vom angeblich bahnbrechenden 2. Vatikanischen Konzil offiziell gesagt wird. Dieses magere Bekenntnis zur staatlichen, also auch gesetzlich geschützten Pressefreiheit, kommentieren die beiden katholischen Theologen Karl Rahner und Herbert Vorgrimler: „Aber das Recht auf Information in der Kirche wird mit Schweigen übergangen“ („Kleines Konzilskompendium“, Freiburg i.Br., 1966, S. 92).

2.

Damit wird bereits das Thema „PUBLIK -FORUM“ angesprochen. Dies ist eine Zeitschrift, deren Gründung als Widerstand begriffen werden muss gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit im Katholizismus schon kurz nach Ende des Konzils. Deswegen ist es wichtig, an Publik-Forums „50.Geburtstag“ zu erinnern. Die deutschen „Oberhirten“ hatten so viel Mut, 1968 eine freie katholische Wochenzeitung zuzulassen und auch zu finanzieren: Die vom theologischen Anspruch, von dem Niveau wie auch vom Format her große Wochenzeitung erschien dann im September 1968, wurde aber schnell wieder eingestellt, im November 1971 erschien die letzte Ausgabe. Die relativ umfassende Freiheit der Information, die PUBLIK leistete, missfiel den allermeisten Bischöfen: Sie verweigerten dann die weitere finanzielle Unterstützung für dieses für katholische Verhältnisse ungewöhnliche Projekt (95.000 verkaufte Exemplare) … und bereiten so sein Ende. Finanzielle Unterstützung hatten die Bischöfe nach einiger Zeit plötzlich wieder für die stramm mit der CDU sehr verbundene Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“. Ein Beispiel mehr für die klerikale Verlogenheit, „kein Geld zu haben“. Die Lehre kann nur heißen: Bischöfe wollen nicht freie Diskussionen, Pluralität der Meinungen, sondern sie wollen Propaganda, Mission, in der kirchlich finanzierten Presse.

Das wurde in der expliziten „Parteien-Presse“ in der BRD so nicht praktiziert. Der SPD – „Vorwärts“ zeigte immerhin die Pluralität der Meinungen in der Partei. Lediglich die kommunistische Presse in westlichen Demokratien, wie „L Humanité“ (PCF) in Paris oder „Unsere Zeit“ (DKP) oder „Die Wahrheit“ (SED-Westberlin) waren, genauso wie die katholische Presse, Verlautbarungsbarungsorgane des ZK der Partei.

3.

Harald Pawlowski, Redakteur bei PUBLIK, leistete Widerstand und schuf aus eigener Initiative und mit viel Mühe und Einsatz die alle 14 Tage erscheinende, vom Format her viel kleinere Zeitschrift PUBLIK – Forum. Die erste Ausgabe erschien am 28. Januar 1972. Ich lebte damals im Kloster und in der Hochschule der „Gesellschaft vom göttlichen Wort“ (SVD in St. Augustin bei Bonn und spürte auch bei einigen anderen jüngeren Ordensmitgliedern die Begeisterung: „Es geht weiter“.

Und es geht weiter. Die Zeitschrift hat jetzt eine Auflage von ca. 36.000 Exemplaren. Es handelt sich um Abonnenten, am Kiosk oder in Buchhandlungen wurde Publik- Forum nie verkauft, „Publik-Forum“ war und ist insofern nur „halb-öffentlich“. Das hat mich, etliche Jahre „ständiger Mitarbeiter“, immer verwundert. Den ursprünglichen, besseren Titel „PUBLIK“ hat die VERDI Gewerkschaft für ihre Mitgliederzeitschrift übernommen.

Dass Publik-Forum nach dem Beitritt der DDR zur BRD die Redaktionszentrale nicht in Berlin finden konnte und wollte, sondern im angestammten Oberursel (in der „Krebsmühle“) verblieb, ist mir ebenfalls nicht nachvollziehbar. Selbst das ZdK (die offizielle Vertretung katholischer Laien) hat sich nun doch nach 33 Jahren deutscher Einheit, 2022, für Berlin als „Sitz“ entschieden, für Berlin, als den Ort, wo nun zweifelsfrei „die politische und kulturelle Musik gespielt wird“. Aber das sind andere Themen, über die kaum diskutiert wird.

4.

„Publik Forum“ lebt selbst die Pressefreiheit in der katholischen Kirche. PUBLIK FORUM ist keine Kirchenzeitung (diese sind von Kirchensteuer – Geldern finanziert), befindet sich nicht in der kontrollierenden Obhut der Bischöfe bzw. der Ordensoberen.

Das ist das Schockierende: Bischöfe verstehen die katholische Presse auch heute heute (2022) als „Apostolat“, also als Medium für missionarische Aktivitäten.

Nur ein Beispiel: Mit diesem klerikalen Anspruch haben die Bischöfe im Osten Deutschlands den Tod des Kirchenzeitungsjournalisten Matthias Holluba bedauert. Holluba war Redakteur der Bistumszeitung „Tag des Herrn“. „Welches Herrn?“ , fragte mich kürzlich ein nicht- religiöser Kollege in Pankow. Dazu gehört schon etwas, in der traditionell-katholischen Ecke zu verharren, indem man noch heute ein Blatt mit dem Titel „Tag des Herrn“ herausgibt. Es war ja in den sechziger Jahren angeblich schon das Lieblingsblatt der katholischen Eichsfelder und Lausitzer, DDR.) In der Erklärung der Bischöfe also heißt es u.a.: „Matthias Holluba hat seine Arbeit auch immer als Übersetzung und – wichtiger noch – als Verkündigung verstanden. In dem Päpstlichen Dekret Inter Mirifica (gemeint ist das oben genannte Konzils-Dekret, CM) heißt es über die Sozialen Kommunikationsmittel: Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Erholung und Bildung des Geistes; sie dienen ebenso auch der Ausbreitung und Festigung des Gottesreiches“.

Da kehrt die alte Abwehr der Pressefreiheit in der Kirche wieder: Die katholischen Medien werden als Instrumente der Kirchenführung verstanden, sie dienen „Ausbreitung des Gottesreiches“, also nicht zuerst der umfassenden und damit immer kritischen Information. Wer den Konzilstext genau anschaut, stellt fest: Diese bischöfliche Überzeugung, im Jahr 2022 formuliert, entspricht ganz dem oben erwähnten Konzilstext: Dieses Dokument hat bekanntlich der Klerus und er allein damals im Vatikan verfasst. Schon in § 3 des Konzilstextes heißt es: „Die Katholische Kirche ist von Christus, dem Herrn, gegründet, um allen Menschen das Heil zu bringen, und darum der Verkündigung des Evangeliums unbedingt verpflichtet. Deshalb hält sie es für ihre Pflicht, die Heilsbotschaft auch mit Hilfe der Sozialen Kommunikationsmittel zu verkündigen und Grundsätze über deren richtige Anwendung aufzustellen.“

Die Katholischen Medien: Nichts anderes als Varianten von Predigten, deren korrekten Inhalt selbstverständlich einzig der Klerus festgelegt.

5.

Umfassende kritische Analysen zum vielfältigen Leben der Kirche und des Klerus sind in dieser „Kirchenpresse“ ausgeschlossen. Wie viel mehr Klarheit und Betroffenheit angesichts des sexuellen Missbrauchs durch Priester hätten bewirkt werden können, wenn schon seit 1970 über den Klerus umfassend kritisch berichtet worden wäre und man nicht nur von Hochwürden und Eminenzen und Heiligen Vätern lobeshymnenmäßig gesprochen hätte. Die lange Liste der Journalisten, die von den Bischöfen aus ihren Ämtern innerhalb der „Kirchenpresse“ rausgeworfen wurden, ist kaum zu überschauen. Ich erinnere als Berliner nur an Pfarrer Günter Renner, den Redakteur der Bistumszeitung für West-Berlin, mit dem hübschen Titel „Petrusblatt“ für eine Metropole wie West-Berlin… Pfarrer Renner hatte es gewagt, kritische Fragen im Blatt zu publizieren, Leserbriefe zu veröffentlichen….Er wurde deswegen seines Amtes von dem reaktionären Berliner Kardinal Alfred Bengsch enthoben. Viele weitere Beispiele der klerikalen Repression ließen sich nennen. In Italien wurden Redakteure der weit verbreiteten Zeitschrift „Famiglia Cristiana“ entfernt, in der Jesuitenzeitschrift Etudes wurde der Chefredakteur Pater Valadier entfernt, ähnliches gilt für die spanische Zeitschrift „Vida nueva“ und so weiter. Mir sagte der damalige Chefredakteur der „Stimmen der Zeit“ (bis 2009), Pater Martin Meier SJ, wie stark er unter der Kontrolle und den Drohungen vonseiten Kardinal Ratzingers in Rom leide.

6.

Es gibt also keine Pressefreiheit in der katholischen Kirche. Und wenn es sie da und dort gibt, ist sie mit Mühe und Leiden erkämpft, siehe „Publik Forum“. Jetzt, in Zeiten des totalen Schwindens des Vertrauens in diese institutionelle klerikale Kirche, können die Bischöfe öffentliche Kritik in ihren Blättern nicht mehr unterdrücken, insofern hat – paradoxerweise – der sexuelle Missbrauch durch Priester in den letzten 3-4 Jahren den Missbrauch der freien Meinung in der Kirche etwas reduziert.

Andererseits gibt es die militante „kirchentreue“ Presse als Minderheiten-Presse nach wie vor, überall in Europa, auch n Deutschland, man denke an die „Tagespost“ und den „Fels“ und ähnliche Blätter, die aber im Vatikan bei den Glaubenshütern viel Beachtung finden. Für die katholische Presse aber interessieren sich jetzt immer weniger Menschen. Die Auflagen sinken, die Bistumsblätter werden stapelweise verschenkt, weil sie keiner mehr kauft.

7.

In einer Zeit, in der die Bindung an eine insgesamt korrupte bischöfliche Kirchenführung immer schwächer wird, die Menschen wenig Vertrauen in die katholische Kirche haben, also ein tiefgreifender religiöser Umbruch Tatsache ist, kann man die Frage stellen: Wie geht es weiter mit den Print-Medien, die sich auf die Themen Religionen, Kirchen, Atheismus, Sinnfragen usw. spezialisieren wollen.

8.

Ich empfinde es als großen Verlust, dass es nicht eine große kirchenunabhängige Monats-Zeitschrift gibt etwa mit dem Titel “Religionen heute“. Eine solche objektive, immer religionskritische, aber religionswissenschaftliche und religionsphilosophische Monats-Zeitschrift für „breite Leserschichten“, hätte, falls gut gemacht, mit einem weiten Netz von Korrespondenten, eine Chance. „Religion heute“ könnte dem heutigen globalen religiösen Bewusstseinswandel (und der „Entkirchlichung“) entsprechen… Man bedenke: Selbst kleinere philosophische Blätter, wie „Hohe Luft“ oder Philosophie Magazin“, haben sich inzwischen doch etwas etaliert. Und die Monatszeitschrift „Psychologie heute“, im 1974 gegründet, hat heute eine Auflage von 47.000 Exemplaren pro Monat…und ist in Zeitschriftenläden zu haben. Für eine Zeitschrift „Religionen heute“ fehlt es vielleicht nur an Mut. Und es wird schwierig sein, die völlige Unabhängigkeit von jeglicher Religion zu wahren…

9.

Die offizielle, bischöflich kontrollierte Kirchenpresse geht dem Ende entgegen. Die Auflagen sinken und sinken. Unvorstellbar ist heute für viele diese katholische Welt, die sich in den esoterischen Titeln spiegelt. Von 1960 bis ca. 1980 ist von diesen katholischen Zeitschriften zu berichten, es  waren meist Monatszeitschriften, die im Abonnement bestellt wurden, und damals noch mit Erfolg gekauft wurden.

Ich nenne als Kostprobe und Studienobjekt für Mentalitätsgeschichtler nur einige Titel:

„Im Dienste der Königin“, Montfortaner

„Gottesfreund“, Dominikaner

„Maria vom guten Rat“, Augustiner.

„Maria siegt“, Johannesbund

„Hoffnung“, Johannesbund

„Weinberg“, Oblaten

„Jesusknabe“, Steyler Missionare

„Stadt Gottes“, Steyler Missionare,

„Franziskusglocken“, Minoriten

„Hiltruper Monatshefte“, Herz Jesu Missionare

Und so weiter…. Den „Altöttinger Liebfrauenboten“ will ich nur noch erwähnen oder die ominöse „Neue Bildpost“ oder „Herz voran“ oder den „Volksmissionar“, „Nach der Schicht“ war für Arbeiter in den Gruben im Saarland bestimmt.

„Wort und Wahrheit“ war eine sehr lesenswerte katholische intellektuelle Monatszeitschrift, Mitarbeiter waru.a. Friedrich Heer, gegründet wurde sie von Otto Mauer (Wien). Das Ende von „Wort Und Wahrheit“ (Wien) wie das Ende der Jesuitenzeitschrift „Orientierung“ (Zürich) sind nur zwei Beispiele für das Ende des intellektuellen Katholizismus in deutschsprachigen Ländern. Die katholische Kirche hat definitiv Intellektuelle auch publizistisch nicht „binden“ können. Die katholische Kirche in deutschsprachigen Ländern ist auch intellektuell sehr arm, natürlich, es gibt noch TheologInnen an den Unis, aber sie sind als TheologInnen nur ein kleiner „Sektor“ von Intellektualität.  Ein Thema, das kaum debattiert wird.

10.

Viele dieser oben genannten Blätter konnten keine neuen Leser mehr gewinnen, sie waren zu dröge, zu traditionell-katholisch und abergläubisch und intellektuell meist zu anspruchslos. Die AbonnenTinnen sind allmählich verstorben … oder einige Orden geben sich alle Mühe und führen ihre Zeitschriften in neuem Gewand und Titel noch mal weiter, mit wesentlich kleinerer Auflage… bis zum baldigen Ende?

Fußnote 1:  Papst Gregor XVI. hat in seinem Lehrschreiben „Mirari Vos“ (1832) u.a. im 8. Kapitel geschrieben:
„Die Erfahrung bezeugt es und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen, nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht. Hierher gehört auch jene nie genug zu verurteilende und zu verabscheuende Freiheit der Presse, alle möglichen Schriften unter das Volk zu werfen, eine Freiheit, die viele mit äußerst verbrecherischem Eifer fordern und fördern. Mit Schaudern stellen Wir fest, ehrwürdige Brüder, mit welchen Ungeheuern von Lehren oder besser Ausgeburten von Irrtümern wir erdrückt werden, die überall verbreitet werden durch eine gewaltige Menge von Büchern, durch Broschüren und Schriften, an Gewicht zwar klein aber übergroß an Bosheit, aus denen Wir mit Schmerz den Fluch über die Erde ziehen sehen. Leider aber gibt es Leute, die in ihrer Vermessenheit so weit gehen, dass sie hartnäckig behaupten, diese aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut von Irrtümern würde übergenug wettgemacht durch irgendein Buch, das inmitten dieses großen Sturmes von Schlechtigkeiten zur Verteidigung von Religion und Wahrheit herausgegeben wird. Es ist unrecht, es ist wider alles Recht, absichtlich eine offenkundige und größere Untat zu begehen, weil zu hoffen ist, dass daraus etwas Gutes entsteht. Welcher vernünftige Mensch wird je sagen, es dürfe Gift frei ausgestreut, öffentlich verkauft, mit sich getragen, ja, gebraucht werden, weil es wohl irgendein Heilmittel gibt, durch dessen Gebrauch man vor dem Tode bewahrt wird?“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Impfaktivitäten in Kirchen: Alles andere als eine „Profanisierung des Sakralen“.

Über die Humanisierung des „Sakralen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. In einigen Kirchen, auch in einigen katholischen Kirchen, in Wien sogar im Stephansdom, wird gegen das tödliche Virus geimpft. Man muss kein Theologe sein, um diesen Impf-Initiativen aus ganzem Herzen und mit ganzer Vernunft zuzustimmen.

Ich erlebe es ständig vor der eigenen Haustür: Da stehen bei Wind und Wetter Menschen, die auf die Impfung beim Hausarzt warten und oft nur im Schein der Straßenlaternen mit Mühe Dokumente auf der Straße ausfüllen. Zur großen und mächtigen katholischen Kirche St. Matthias am Winterfeldt-Platz in Berlin-Schöneberg sind es nur 50 Schritte. Aber diese große Kirche mit ihren (fürs Impfen geeigneten) kleinen Seitenkapellen am Eingang bleibt geschlossen…

Darum meine volle Zustimmung, dass durch die vernünftige Entscheidung des Wiener Dompfarrers Toni Faber das Impfen in dieser, so sagen manche, „heiligen, sakralen Halle“, möglich wurde. An einem Wochenende allein wurden in St. Stephan 734 Menschen gegen Covid geimpft. Bravo!

2. Damit könnte ich meinen Hinweis eigentlich beenden, weil er nur von einer selbstverständlichen humanen Hilfe berichtet… und von der Selbstverständlichkeit, dass ein sogenanntes “Gottes-Haus” nur sinnvoll ist, wenn es auch Haus für die Menschen ist…

Aber diese Hilfsbereitschaft eines Pfarrers und seiner Gemeinde in Wien hat eine theologische Problematik erzeugt: Denn, man glaubt es kaum: Da gibt es einen katholischen Theologieprofessor, Jan-Heiner Tück, an der Wiener Uni, einen Theologen, der sich offiziell „Dogmatiker“ nennt: Und der diese Impfinitiative im Stephansdom eine, so wörtlich, „Profanisierung des Sakralen“ nennt. Menschliches Helfen, mehr noch: Rettung von Leben in einem “Gotteshaus”, das sich auf Jesus von Nazareth bezieht, wird als Profanisierung des Sakralen abgewertet. Ich halte diese Verurteilung dieser großartigen humanen Hilfe IM Stephansdom für eine Schande. Und es ist eine Blamage für einen Dogmatiker und katholischen Theologen, solches ernsthaft öffentlich zu sagen. Dieses unsägliche Urteil: „Profanisierung des Sakralen“ wegen Impfens in der Kirche ist kürzlich in der Grazer Tageszeitung „Kleine Zeitung“ veröffentlicht worden. Diese Nachricht wurde dann über viele Medien auch in Deutschland verbreitet. Ob der Dogmatiker Tück sein Urteil inzwischen zurückgezogen hat und sich für den Unsinn entschuldigt hat, ist bisher nicht bekannt geworden.

3. Darum der kritische Hinweis: Im Christentum, sogar im Katholizismus, sind Kirchen und Dome nicht nur Stätten der Andacht und des Gebets, der Gottesdienste und Musik-Aufführungen und Kunst-Ausstellungen. Aber diese Veranstaltungen sind kein Selbstzweck, sie sollen eigentlich den Glaubenden Orientierung bieten, also Lebenshilfe leisten, und eine hoffentlich heilende, die Seele heilende Wirkung haben, was bekanntlich nicht immer der Fall ist angesichts der vielen Dogmen und kirchenrechtlichen Ausschlüsse und Verbote.

4. Wenn nun in Kirchen gegen das Corona-Virus, in höchster Not, geimpft wird, ist dies, theologisch gesehen, nur die Fortsetzung des selbstverständlichen kirchlichen Anspruchs, heilend in diesen Kirchen-Räumen tätig zu sein. Diese theologische Aussage mag den Menschen, die sich im Stephansdom impfen lassen, auch ziemlich egal sein, Hauptsache ist: Sie werden geimpft. So wie es den Veranstaltern von Haydn und Mozartmessen auch egal ist, was sich die Zuhörer dabei so alles denken. Hauptsache: Sie erfreuen sich an der Musik und lassen sich je auf ihre Art seelisch, wie auch immer, „berühren“.

5. Eine theologische Schande bleibt aber der Satz von der „Profanisierung des Sakralen“ (Jan-Heiner Tück) durch das Impfen in einer Kirche, also in einem so genannten Gotteshaus. Impfen gegen das Virus aber ist heilendes Handeln für die Menschen, es rettet Leben. Ist dieses Geschehen theologisch betrachtet etwa “bloß” „profan“? Wenn Menschen wieder eine bessere, d.h. sehr wahrscheinlich gesunde Zukunft vor Augen haben, wenn ihnen also neuer Lebensmut und Lebenssinn erschlossen wird, dann wird Dankbarkeit geweckt, Dankbarkeit, dass die Wissenschaften diese Impfstoffe zur Verfügung stellen können. Dankbarkeit, dass man selbst, medizinisch gut versorgt ist, in einem Staat, der, zwar mit Mühe, Impfstoffe für alle zur Verfügung stellt. Im Unterschied zum “armen Süden” dieser Welt, der die reichen Staaten die Gratis-Impfstoffe vorenthalten, aus ökonomischen Gründen…. An wen soll ich aber meinen Dank für ein „gutes medizinisches Versorgtsein“ adressieren? Manche tun dies, indem sie sich auf das Göttliche, Gott, die Göttin, Jesus, beziehen oder einem guten „Schicksal“. Auch diese Haltung der Dankbarkeit ist alles andere als profan, wie der Dogmatiker Tück von der Wiener Uni behauptet.

Als Nebeneffekt, aber nur als Nebeneffekt, kann sich bei einigen Geimpften IM  Stephansdom die Idee durchsetzen: Eigentlich sollte ich als privilegierter Geimpfter alles tun, auch politisch tun, dass auch die Menschen im armen Süden dieser Welt endlich geimpft werden!

6. Heilendes Handeln, also auch Impfen gegen die Pandemie, hat in den Kirchen seinen richtigen Platz. Das Wichtige bei dieser Impfaktion in Kirchen ist: Dort wird eine heilende Wirkung durch ÄrztInnen und KrankenpflegeInnen bewirkt. Es ist nicht mehr der Priester, der da – als Kleriker – sakramental “heilend” handelt. Mit den Impfaktionen in den Kirchen wird dem männlichen Klerus die Allmacht des heilenden Handelns entzogen. Noch einmal, dies ist Stand der heutigen Theologie: Auch ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen wirken heilend- auch im christlichen Sinne. Kleriker allein sind niemals „Heilsvermittler“. Die Zeiten, als man das machtvoll behauptete, sind vorbei!

7. Noch eine theologische Entdeckung: Heilung im christlichen Sinne, auch im katholischen Sinne, kann niemals nur eine geistige, geistliche, also sakramentale Heilung sein. Das wurde oft selbst im Vatikan behauptet, ist aber falsch: Wenn die Menschen Wesen aus Geist, Seele und Leib sind, ist auch die Rettung des Leibes, also etwa die Bewahrung vor Krankheiten, etwas Heiliges, etwas Sakramentales, das eben selbstverständlich nicht vom Klerus allein initiiert wird!

8. Falls der Dogmatiker Tück schon von der Befreiungstheologie in Lateinamerika gehört hat: Die zentrale Aussage ist: Befreiung als christliche Erlösung hat immer einen leiblichen und gesellschaftlichen und politischen Aspekt. Die menschenfreundliche, deswegen „heilende“ Gemeinde der gleichberechtigten ChristInnen kann ein Vorzeichen sein des Ewigen. Bekanntlich sprechen Befreiungstheologen zurecht von den gesellschaftlich verfassten Strukturen der Sünde: Da hat sich sozusagen das leibliche und gesellschaftliche Elend in Strukturen und Gesetzen „versteinert“. Diese Strukturen als sündige aufzulösen ist der Kern christlichen Botschaft. Materielles Wohlergehen für die Ärmsten, also auch Gesundheit in einem demokratischen Staat der Menschenrechte, ist eine (!) Gestalt dessen, was Christen hochtrabend Erlösung nennen (gerade im Umfeld zu Weihnachten).

9. Und man möchte dem Dogmatiker mal vorschlagen, die Geschichte der Kathedralen und anderer großer Kirchen zu studieren: Diese wurden im Mittelalter und der frühen Neuzeit selbstverständlich als Treffpunkte der Menschen genutzt, als Orte des Gesprächs, der Beratung, auch des Handels. Und es wäre lohnend auf die Lebensbedingungen der alten (leider von deutschen und ukrainischen Nazis zerstörten) Synagogen etwa in Galizien zu achten: Sie waren Lehrhäuser und Unterkünfte, eben Orte der Menschlichkeit. Solche “Profanisierung” gilt auch für christliche Kirchen: Nicht-profan, also heilig, ist allein Gott bzw. das Göttliche. Alles und alle anderen n dieser Welt sind in je unterschiedlicher Weise profan. Auch ein Kleriker ist profan, auch ein Papst ist profan, selbst wenn er immer noch von einigen Unentwegten “Heiliger Vater” angesprochen wird.

10. Wer die Impfaktionen in den Kirchen als Profanisierung bezeichnet, sollte ehrlich sein: Er behauptet auch implizit, dass diese angeblich “sakralen” Räume dann naturgemäß schmutzig werden, dass es mit vielen unbekannten Menschen etwas lauter zugeht, und auch dies: Dass die Menschen vielleicht Toiletten suchen, die innerhalb der katholischen Kirchen so gut wie nie vorhanden sind. Toiletten könnte man – mit einigem Organisationstalent- neben dem Eingang platzieren. Das nur nebenbei.

11. Gegen die These der „Profanisierung des Sakralen“ (Tück) möchte ich unterstreichen: Wer solches sagt, degradiert die Kirchengebäude zu sterilen Museen, in denen der Klerus Messen zelebriert und predigt (Laien dürfen nicht „predigen“) … zumal so oft in Worten und Floskeln, die heute auch für religiöse Menschen kaum noch nachvollziehbar sind.

12. Es mag ja sein, dass der Wiener Dompfarrer im Eifer des Gefechts und im Angesicht der oft (rechts)extremen Impf-Gegner (FPÖ-Kreise sind bekanntlich unbelehrbar usw…) verbal ausgerutscht ist, als er, der vielfach verbreiteten Nachricht folgend, sagte, sagte: Er habe “mit Ungeimpften kein Mitleid mehr”. Aber diesen einen Satz gleich zum Anlass zu nehmen, beim Impfen IM Dom von einer „Profanisierung des Sakralen“ zu sprechen, ist übertrieben und theologisch falsch.

13. So führt also eine falsche theologische Aussage“ über die „Profanisierung des Sakralen“ durch die humane Aktion des Impfens in Kirchen erneut zu einem erweiterten Verständnis von „Erlösung“ und „christlichem Heils-Verständnis“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Die Russisch-orthodoxe Putin-Kirche: 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion dem Herrscher ergeben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.12.2021

1. Vor 30 Jahren, am 26. Dezember 1991, wurde offiziell die Sowjetunion beendet, die Rote Fahne wurde durch die Russische Flagge ersetzt. Verschwunden ist der Ungeist der Sowjetzeit bis heute nicht. Wie sollte auch Menschen so schnell Demokraten werden können, Menschen, die von der kommunistischen und stalinistischen Diktatur drangsaliert wurden und zuvor Jahrhunderte unter der Zarenherrschaft, als „Leibeigene“, galten. Die europäische Aufklärung hatte bekanntlich nur eine Minderheit der Russen geprägt. Selbst Dostojewski war im Alter ein Verteidiger der „russischen Idee“ zur Rettung Europas.

2. Über das offizielle Ende der UDSSR vor 30 Jahren wird viel veröffentlicht. Ein wichtiger, in Deutschland leider eher als marginal betrachteter Aspekt, ist die „Russisch-Orthodoxe Kirche“ mit dem Patriarchen von Moskau. Diese sich stolz „rechtgläubig“ nennende kirchliche Organisation hat seit 1992 eine rasante Entwicklung gestalten können: 30.000 Kirchen wurden im ganzen Land eröffnet, es gibt mehr als 50 theologische Seminare zur Ausbildung der Popen, sehr viele Russen nennen sich „russisch-orthodox“. Der Wunderglaube ist weit verbreitet. Die Reliquien des heiligen Nikolaus, als Leihgaben nach Moskau gebracht, wollten unbedingt zweieinhalb Millionen Menschen sehen. Allerdings ist der Anteil der regelmäßigen Teilnehmer an den Sonntags-Liturgien eher sehr gering (Fußnote 1, siehe unten). Kein Wunder, die weihrauch- geschwängerten Gesänge und Gebete werden in der heute kaum verständlichen  “Kirchenslawischen Sprache” vorgetragen, kaum jemand unter denGläubigen versteht das, so bleibt nur das permanente Rufen „Herr erbarme dich“ und das ständige demütige Sich-Bekreuzigen. Das Bekenntnis zur Kirche ist einerseits Folklore. Andererseits lässt sich die Russisch-orthodoxe Kirche sehr gern als ideologische- nationalistische Stütze von Putin und dem Putin-Regime gebrauchen. Zumindest die oberen Bischöfe und der Patriarch vor allem haben davon enorme finanzielle Vorteile, der Patriarch selbst gilt als Multi-Millionär (zu den Auseinandersetzungen darüber: https://g2w.eu/news/697-russland-russische-orthodoxe-kirche-weist-behauptungen-ueber-reichtum-von-patriarch-kirill-zurueck). Über die wirtschaftlichen “Akivitäten” der Russisch-Orthodoxen Kirchenführer berichtete schon im Frühjahr 2004 Aleksandr Soldatov in Lettre International, S. 78f. Von merkwürdigen kirchlichen Wirtschaftsunternehmen ist in dem wissenschaftlichen Beitrag die Rede, etwa vom kirchlchen Trinkwasser “Heiliger Quell”, es wedn Unmengen von sogen. Messwein produziert, auch habe sich ein weites Netz von “Milchkiosken”  und “orthodoxen Apotheken” in Moskau gebildet…

3. Die Russisch-Orthodoxe Kirche soll sozusagen die traditionellen Werte Russlands vertreten und verteidigen, das religiöse Opium liefern, von dem dann das Putin Regime sehr gern Gebrauch macht zur Festigung des eigenen Systems. Putin will in seiner zur Schau gestellten Nähe zur Kirche als Mann des russischen Volkes erscheinen. Darum nimmt er immer wieder an den Liturgien teil, etwa zu Ostern in “Christus Erlöser Kathedrale”. Die Freundschaft zwischen Patriarchen und Herrscher lohnen sich für die Kirche: Priester geben nun Kurse zur „Orthodoxen Kultur”  in den Schulen. Ganz sanfte Distanz deutet sich an, wenn nun der Patriarch doch davon absehen will, in Zukunft auch die Massenvernichtungswaffen Russlands zu segnen. Hingegen  sollen die Soldaten und ihre Herren Generäle den kirchlichen Segen nach wie vor erhalten.

Der Historiker Heinrich August Winkler betont den geschichtlichen Hintergrund für dieses “Kirche-Staat-Verhältnis”: “Anders als im europäischen Okzident des Mittealteres hatte es in Russland keine Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt gegeben. Vielmehr blieb die geistliche Gewalt der weltlichen stets untergeordnet, weshalb die orthodoxe Kirche nie zu einem Korrektiv der jeweiligen Staatsmacht wurde.” (“Werte und Mächte, C.H. Beck Verlag München 2019, S. 638).

Nebenbei: In Paris wurde 2016 die neue russische Kathedrale Sainte Trinité eröffnet, eine imposante Architektur mitten in Paris.

4. Leider ist die Kenntnis der aktuellen religiösen Zustände, also das Leben der Russisch-orthodoxen Kirche, in West-Europa, auch in Deutschland, sehr unterentwickelt. Diese Kirche ist Staatskirche, bzw. präziser, eine Art Putin-Kirche, ihm, dem Herrscher, fast völlig ergeben. Kürzlich wurde in Moskau eine monumentale neue Kathedrale für die Russische Armee eingeweiht. Ein riesiges Mosaik als Wandschmuck zeigt den Diktator Stalin, anlässlich der Militärparade zum Sieg der Armee über Nazi-Deutschland. Eigentlich hätte nach kirchlicher Vorstellung auch Putin auf diesem Gemälde „verewigt“ werden sollen, aber der fand dann doch diesen Ruhm im Augenblick für etwas übertrieben.(So im Artikel des Russland Spezialisten Emmanuel Grynszpan am 4. Mai 2020 für die Genfer Tageszeitung Le Temps: https://www.letemps.ch/monde/staline-va-orner-murs-dune-cathedrale-orthodoxe-moscou).

5. In jedem Fall zeigte das Moskauer Patriarchat durch die Komposition des Mosaiks eine gewisse Nähe ausgerechnet noch zum Stalinismus, was erstaunlich ist, wurden doch viele tauend Priester und Gläubige unter Stalin, dem ehemaligen Priester-Kandidaten aus Georgien, aufs übelste verfolgt und gequält und umgebracht. Aber Stalin ist bei der akuellen Verehrung seiner Person wieder „am Kommen“.

Und nebenbei: Einigen russisch-orthodoxen Kirchenführern (wie die Patriarchen Pimen I. oder Alexius II.) wurde nach 1989 mit guten Belegen eine Mitarbeit für den KGB-Agenten nachvollziehbar vorgeworfen. Die Sehnsucht der römisch-katholischen Kirche nach einer freundschaftlichen Ökumene mit “den” Orthodoxen, auch mit dem Moskauer Patriarchat, müsste hier ausfühlicher kritisch dargestellt werden. Die Führer der meisten orthodoxen Kirchen sind theologisch extrem konservativ, in der Sexual – Ethik schlicht und einfach verkalkt, sagen Beobachter. Mit diesen Herren eine tiefe, freundschaftliche und lernbereite Ökumene zu pflegen, führte die römisch-katholische Kirche noch weiter in konservative Positionen jenseits heutiger Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen. Selbst Papst Franziskus sucht immer wieder die Nähe zum Moskauer Patriarchen. Franziskus trifft sich oft mit dem führenden Mitarbeiter des Patriarchen, mit Erzbischof Hilarion.

6. Aber “die Zeiten ändern sich”…Der Parteiführer der immer noch bedeutenden “Kommunistischen Partei Russlands”, Guennadi Ziouganov, nennt sich jetzt „gläubiger orthodoxer Christ“ und … treu ergebener Putin Oppositioneller. (Quelle: Emmanuel Grynszpan, 2020.)

7. Von Kritikern an diesem System einer regimefreundlichen orthodoxen Kirche wäre ausführlich zu berichten. Etwa von dem Diakon Andrei Kouraiev:“ Für den Patriarchen Kyrill zählt einzig sein Ansehen bei den Führern der Macht, der Sicherheit und den Ideologen des Patriotismus”. An den ermordeten oppositionellen Priester Alexander Men erinnern noch einige Oppositionelle…

8. HINWEISE AUF FRÜHERE, NACH WIE VOR RELEVANTE TEXTE des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin zum Thema “Russische Orthodoxie”:

Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin: Veröffentlicht 2012. Siehe: LINK

Wer sind die Gotteslästerer?, Veröffentlicht 2013: LINK

Fußnote 1: In der Zeitschrift “Archives de Sciences sociales des Religions” (juillet-septembre 2021) berichtet Kristina Kovalskaya zu der Frage: Wie genau ist die Russisch-orthodoxe Kirche Russlands heute statistisch erfasst?  Bis jetzt werden von der Kirchenleitung selbst nur die Anzahl der Priester, die Anzahl der Gemeinden und die Zahl der Riten bzw. Liturgien genannt. Die Politiker der Regierung sagen einfach nur wie üblich: “Die Orthodoxie ist die Religion der Mehrheit in Russland”. Die wirkliche „innere“ Verbundenheit dieser Mehrheit mit der Kirche wird dabei nicht erfasst. Fest steht wohl: Zwischen 63 und 69 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als „russisch – orthodox“, dabei sind unter diesen Leuten auch Nicht-Getaufte oder Menschen, die sich als Ungläubige verstehen. Man spricht unter Religionssoziologen dabei von „kulturellen Orthodoxen“. Wirklich verbunden mit dem kirchlichen Leben (d.h. wenigstens einmal pro Monat (!) Teilnahme an der Liturgie in der Kirche) sind hingegen nur 13 Prozent der Russisch-Orthodoxen. Quelle. Religioscope, 6 décembre 2021!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

In Galizien und der Bukowina: Jüdisches Leben und Leiden.

Zu einem neuen Buch von Marc Sagnol.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Warum sollte man sich erneut mit dem vernichteten jüdischen Leben in Galizien, Lodomerien und der Bukowina beschäftigen?

1. Es waren Deutsche, SS-Leute, Militärs, in enger Zusammenarbeit mit ukrainischen Faschisten, die Juden in den genannten Gebieten töteten.

2. Autoren, oft gelesen in Deutschland, wie Joseph Roth, Bruno Schulz, Soma Morgenstern, Stanislaw Lem, Paul Celan, Simeon Wiesenthal, Rose Ausländer und viele andere stammen aus Galizien und der Bukowia. Wer diese AutorInnen schätzt, sollte sich für deren Herkunft interessieren.

3. Es gab einst in Berlin ein Viertel im Zentrum, zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz (damals „Bülowplatz“), in dem, seit 1900 , viele Juden Zuflucht fanden vor den Pogromen in ihrer Heimat Galizien. Berlin ist mit Menschen aus Galizien eng verbunden, mit den früheren Bewohnern muss man sagen: Denn Juden suchten Zuflucht und fanden letztlich Vernichtung.

4. Im Dezember 2021 ist ein neues Buch über jüdisches Leben, über Verfolgung und Auslöschung der Juden in Galizien sowie in der Bukowina erschienen. Es handelt sich natürlich nicht um eine „bunte Reisereportage“ mit den üblichen Ausblicken auf Natur und Geschichte dieser Region, es handelt sich auch nicht um einen Guide für Touristen etwa durch die angeblich noch vorhandenen „Schtetlt“.Es ist auch keine erschütternde Foto-Dokumentation, selbst wenn das Buch etliche beachtliche Schwarz-Weiß-Fotos, vom Autor realisiert, enthält: MARC SAGNOL hat über viele Jahre dieses Gebiet immer wieder besucht, er hat die Städte und Dörfer, intensiv studiert, mit Menschen gesprochen in dem Gebiet, das einst zur österreichischen Monarchie gehörte. Und dann zu Polen und zur Ukraine, ab 1945 zu Polen und der Sowjetunion. Nach 1989 gehört es wieder zu Polen und der Ukraine.

Marc Sagnol,1956 in Lyon geboren, hatte nach Studien der Germanistik und Philosophie auch Kenntnisse des Polnischen und Russischen erworben, er war u.a. als Kulturattaché in Moskau tätig und später auch als französischer Kulturbeauftragter in Erfurt. Sagnols Interesse fürs jüdische Leben in dieser Region ist auch durch die Geschichte der eigenen Familie motiviert. Sein Großvater z.B. hat seine Kindheit in Czernowitz und Kossow verbracht.

5. Der Autor beschreibt (und kommentiert zurückhaltend) das jüdische Leben in den Städten und Dörfern, er nimmt die LeserInnen mit auf seine ausführlichen Rundgänge dort. Sie beginnen in Ostgalizien, führen über Grodek und Lemberg sowie viele andere Ortschaften dann nach Brody und Kossow, er erreicht die südlicher gelegene Bukowina mit Iwano-Frankiwsk, Czernowitz und Sadagora, um dann noch einmal nach Lemberg bzw. Lwow, Lwiw oder auch Leopolis, der „Löwenstadt“ zurückzukehren (S. 185-235, wiederum mit zahlreichen Fotos).

6. Die Rundgänge des Autors sind alles andere als unterhaltsam. Sie informieren in nüchterner Sprache und wecken dennoch Erschütterung, Zorn, Trauer im Angesicht der ausführlich beschriebenen Untaten, der grausamsten Quälereien und Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung. An diesem Massenmord waren nicht nur Deutsche beteiligt: Die Nazis fanden willigste und grausamste Helfer in Kreisen der ukrainischen Nationalisten und Faschisten. Sagnol erwähnt, dass noch heute an den ukrainischen Nazi Stepan Bandera öffentlich sichtbar erinnert wird, seine Statuen und Denkmäler sind nicht zu übersehen. Man tut so, als handle es bei Bandera um eine Art unbescholtenes Vorbild (vgl. S. 40, S. 230, dort zeigt ein Wandgemälde Bandera, das Foto hat Sagnol 2018 aufgenommen).

Von den vielen Informationen des Buches nur diese: Man liest etwa, dass es im Lager Janowska ein Lagerorchester gab, „das von Leonid Stricks geleitet wurde. Das Lagerorchester musste Operettenmelodien wie „Die lustige Witwe“ von Franz Lehar oder Werke von Mozart und Beethoven spielen, um das Geräusch der Schüsse und Scheie während der Exekutionen zu übertönen“ (S: 218).

In Lemberg entfesselten die Deutsche gemeinsam mit dem ukrainisch-natonalistischen Bataillon Nachtigall sowie der OUN (der Ukraininisch-Nationalistischen Organisation) ein Pogron vom 30. Juni bis 3.Juli 1941, „in dessen Verlauf die Lemberger Juden dem besinnungslosen Hass einer entfesselten Bevölkerung ausgesetzt waren (S. 206). Von den ukrainischen Nationalisten wurden die Juden als Sündenböcke hingestellt, für schuldig erklärt, mit den Sowjets zu kollaborieren“. Eine Überlebende erinnert sich. “Wir sind mit ihnen (also den so genannten Christen, CM) zur Schule gegangen, tanzen gegangen und mit einem Mal waren wir für sie keine Menschen mehr“ ( S. 211)

Das antisemitische Nationalist Bandera konnte sich nach dem Krieg bis 1959 in München unter dem Namen Stefan Popel verstecken, vom KGB wurde er dort entdeckt und erschossen.

7. Und heute? Das Interesse der ukrainischen Bevölkerung (und des Staates) am Erhalt wichtiger jüdischer Gebäude als Erinnerung an jüdisches Leben einst, ist alles andere als bedeutend. Man liest mit Entsetzen, dass kulturell und architektonisch bedeutende Synagogen dem systematischen Verfall überlassen werden, so etwa in Brody (S.124 f.) oder Berezhany (S. 61). Besonders schlimm ist er Verfall der einst prachtvollen Synagoge aus dem 17. Jahrhundert in Zolkiew bzw. Schowkwa bei Lemberg (S. 44). Marc Sagnol bemerkt treffend: „Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Verschleppung der Restaurierung dieser Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der Endlösung durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“. Mit Hilfe von Juden aus dem Ausland konnte die große chassidische Synagoge in Sadagora im Jahr 2016 in alter Pracht wieder eröffnet werden, in der Sowjetzeit wurde sie als Metallfabrik genutzt.

8. Von den Chassidim (also den Mitgliedern einer mystischen Strömung, die oft als ultra-orthodox bezeichnet wird), ist auch die Rede, etwa beim Besuch in dem geradezu von Legenden umwobenen Städtchen Bels. Interessant auch die Darstellungen zum Leben der Chassidim in Sadagora, Bukowina: Hier hatten die Rabbis (bzw. Rebben ode Zaddik) ihre Zentren für Gebet, Beratung, Belehrung und auch überschwängliche Verehrung des Rabbis (S.180).

9. Was Sagnol über das verbliebene jüdische Getto in Lemberg schreibt, gilt für die Region dort: „Außer den wenigen Überresten von Gebäuden der Vergangenheit gibt es kein jüdisches Leben mehr“. Der Tötungswahn der Deutschen, der Nazis, des Militärs sowie der ukrainischen Faschisten war total und hat sich total durchgesetzt. In Polen leben jetzt noch etwa 12.000 Juden, in der Ukraine wird der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung prozentual angegeben mit 0,05 Prozent! Viele Juden, die in die Ukraine als Touristen reisen, berichten von einem für sie immer noch gefährlichen Land.

Das Buch bietet in zahlreichen Fußnoten Hinweise zu spezielleren Studien.

Leider fehlt in Marc Sagnols wichtigem Buch ein Namens-Register.

Das Buch verdient weite Beachtung.

Marc Sagnol, Galizien und Lodomerien. Kulturverlag Kadmos, Berlin, 2021, 238 Seite, 24,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.