Die Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) – eine politische Tugend und eine weltliche Spiritualität

Ein Hinweis von Christian Modehn (Siehe auch einen Kommentar zur Enzyklika “Fratelli tutti” vom 7.10.20: https://religionsphilosophischer-salon.de/13031_die-neue-enzyklika-fratelli-tutti-unglaubwuerdig-und-ueberfluessig_religionskritik)

1.
Von Brüderlichkeit sollte wieder öffentlich debattiert werden, weil sie in Vergessenheit geraten ist oder „obsolet“ wurde: Sie ist eine schwierige Tugend, schwer zu realisieren, sie kann nicht in Gesetze geformt werden wie die „Ideale“ der Freiheit oder die Gleichheit. Brüderlichkeit ist eine Art der Gesinnung, als weltliche. Allgemeine, säkulare Spiritualität, möchte man sagen, in der Vernunft erreichbar für alle, nicht nur für besonders spirituelle oder fromme Menschen. Als die Revolutionäre 1789 eine gerechte Gesellschaft, einen besseren Staat, durchsetzen wollten, schwebte ihnen ja nichts „Technokratisches“ vor, sondern eine neue, eine geistvolle humane Welt ohne Hierarchien, eine Welt, die spirituell geformt sein sollte… durch die Erkenntnis: Jeder Mensch ist des anderen Bruder…Dazu später mehr…
2.
Brüderlichkeit sieht heute jeden anderen Menschen als Bruder und Schwester, als zugehörig zu der einen Familie der Menschheit. Genau so müsste eigentlich jeder und jede betrachtet und entsprechend gewürdigt werden. Bei diesem Denkmodell wird freilich vorausgesetzt, dass es unter den Brüdern/Geschwistern keine Konkurrenz gibt, sondern lautere Eintracht herrscht. Man sieht an diesem Hinweis schon, dass der Begriff der Brüderlichkeit etwas Forderndes, Wegweisendes enthält, etwas, das den Menschen größer macht, als er de facto jetzt ist. Brüderlichkeit ist jedenfalls keine Zustandsbeschreibung!
3.
Das Prinzip der goldenen Regel könnte das Miteinander der vielen gleichberechtigten Brüder/Geschwister bestimmen und als Basistext angesehen werden für den Umgang der Menschen untereinander als Brüder/Geschwister. Aber die tiefe Zuneigung zum anderen, zur anderen, als Bruder (Schwester), ist mit dieser eher bloß respektvollen Haltung, die die „Goldene Regel“ beschreibt, nicht erreicht. Brüderlichkeit weist also auf die enge Verbundenheit, das Mitfühlen und das Besorgtsein um den anderen… Der Philosoph Ernst Bloch hätte wohl Brüderlichkeit in seiner Sprache eine Art „Wärmestrom“ genannt in dieser Zeit emotionaler Kälte, bedingt durch den egoistischen Wahn der Diktatoren und verrückt gewordenen Präsidenten und der populistischen Lügner allerorten sowie durch die neoliberalen Milliardäre und deren erkaltete Seele. Brüderlichkeit kann die notwendigerweise „warme“ Energie liefern, in aller vernünftigen Freiheit gegen den genannten Wahn heute vorzugehen.
4.
Nun wird auch Papst Franziskus eine Enzyklika, also ein offizielles Lehrschreiben, zum Thema veröffentlichen.
Auch wenn man den päpstlichen Text über die „Brüderlichkeit“ noch nicht lesen konnte, er wird erst am 3. Oktober 2020 in Assisi, der Stadt des heiligen Franziskus, publiziert, klar ist: Die Wahl des Ortes in Umbrien/Italien ist nicht zufällig, weil der heilige Franziskus (1182 – 1226) mit seinem Orden dort ein Modell der Brüderlichkeit gelebt hat, so die offizielle Interpretation. Dabei wird vergessen, dass die Päpste den armen Mann (einen „Laien“) aus Assisi damals zwangen, seine radikale Bruderschaft, bestehend „nur“ aus Laien, zu verändern zugunsten eines klerikalen, in die Hierarchie eingebundenen „Bettelordens“. Der Historiker Friedrich Heer (Wien) schreibt: “Franz von Assisis Leben ist der größte, gewagteste Versuch, im Jahrtausend der Herren-Väter die Brüderlichkeit in allen Dimensionen zu praktizieren. Die Päpste brechen diese lebendige Achse (radikale Armut und Friedensbewegung) aus seiner Ordensregel heraus. Der verfolgte, geschändete Franziskus irrt, halb blind, seelisch zutiefst versehrt, in langer Agonie durch die umbrischen Lande…“ (In: „Brüderlichkeit, die vergessene Parole, Gütersloh, 1976, Seite 23).
5.
Aber abgesehen davon: Es ist zu vermuten, dass mit viel Enthusiasmus ein päpstlicher Text über die Brüderlichkeit sowieso nicht aufgenommen werden kann. Zurecht klagen feministische katholische Frauen in den USA gegen diesen männlich bestimmten Titel. Wenn schon, dann also bitte eher von Geschwisterlichkeit sprechen oder von Schwesterlichkeit. Man sieht aber an diesen neu geschaffenen Begriffen, wie mühsam sich die gemeinte Haltung, die Tugend „Brüderlichkeit“, sprachlich und sachlich erweitern bzw. neu übersetzen lässt. Aber wenn mal ein Papst den versucht wagte, von Schwesterlichkeit zu schreiben, dann würde es wohl bald endlich PriesterInnen geben. Passiert aber nicht in dieser erstarrten Männer-Institution. Erst wenn die letzte katholische Frau aus der Kirche ausgetreten ist, wird von Schwesterlichkeit im ergreisten Vatikan die Rede sein… Aber lassen wir das…
6.
Schwerer wiegt: Dass eigentlich kaum noch jemand aus vatikanischem Munde etwas über Brüderlichkeit hören und lesen und lernen will: Es ist ja, gelinde gesagt, ein bisschen komisch, wenn ausgerechnet der Papst Brüderlichkeit für alle Gesellschaften und alle Staaten fordert, aber in der eigenen Institution Kirche alles tut, dass das Ideal Brüderlichkeit gerade NICHT gelebt wird. Auf politischer Eben ist es ja so, dass der Vatikan als Staat die Menschenrechtserklärung von 1948 nicht unterzeichnet hat und auch die universal geltenden Menschenrechte in der eigenen Kirchen-Institution nicht realisiert. Man denke an die nicht vorhandene umfassende Gleichberechtigung der Frauen oder an die Degradierung von Homosexuellen. Über das Fortbestehen des § 175 in der römischen Kirche siehe diesen Link: (https://religionsphilosophischer-salon.de/8029_der-175-besteht-noch-in-der-katholischen-kirche_religionskritik )
7.
Kurzum: Die nachdenklichen Leute glauben einfach nicht mehr, dass ein solcher päpstlicher Text von Papst Franziskus noch ernst genommen werden kann. Das ist sozusagen das gar nicht abzuweisende Vorverständnis für den päpstlichen Text! Man glaubt zu recht einfach nicht mehr, dass diese Kirche als machtvolle „Mega-Institution“ und ebenso machtvolle Bürokratie tatsächlich Brüderlichkeit in den eigenen Reihen verwirklichen kann und will. Denn alles, was entscheidend ist in der römischen Kirche, entscheiden nach wie vor Männer, Kleriker, Priester, Kardinäle, Päpste usw. Und die kleben an ihrer Macht, an ihren Privilegien, die ihnen angeblich der liebe Gott selbst gegeben hat. Welch ein theologischer Unsinn, der sich ungebrochen seit Jahrhunderten hält! Mag sein, dass diese Herren im Vatikan sich untereinander wie Brüder ansehen und untereinander wie Brüder behandeln, Papst Franziskus hingegen sprach ja schon früh von widerwärtigen Intrigen dieser Kirchenfürsten. Bei den Vertuschungen des tausendfachen sexuellen Missbrauchs durch Priester haben sich ja diese „Mitbrüder“ gegenüber den mitbrüderlichen Tätern oft sehr brüderlich, eben familiär-solidarisch-vertuschend, verhalten. Und brüderlich alles „unter den Teppich“ kehren wollen.
8.
Aber das ist nur ein Grund, dem Reden von Brüderlichkeit in der Kirche zu misstrauen: Denn sonst wären ja die Ober-Brüder in Rom auch mal in der Lage, den kleinen Brüdern, also den Katholiken in der Kirche in Deutschland z.B., brüderlich-freundlich-großzügig zu begegnen und etwa die Kommunion unter Katholiken und Protestanten zu gestatten und den anderen Brüdern, den kompetenten theologisch gebildeten Laien, auch die Leitung einer Pfarrgemeinde anzuvertrauen. Aber nein, die großen bürokratischen Brüder im Vatikan verachten die kleinen Brüder in Deutschland und anderswo. In Holland z.B. haben die großen Brüder seit 1970 dermaßen auf die „kleinen Brüder“, die ihre kleinen Brüder, die niederländischen Katholiken eingeprügelt, dass diese Kirche dort de facto heute scheintot ist. Die ist die Schuld der maßlos herrschsüchtigen großen Brüder. Darin sind sich Historiker einig. Aber das ist ein anderes Thema: Das vatikanische System zerstört den lebendigen Glauben.
9.
Alle wissen, dass die Brüderlichkeit, die fraternité, zum ersten Mal von den Revolutionären der Französischen Revolution als Stichwort verbreitet wurde. Hingegen gehörte die fraternité nicht von vornherein zur offiziellen Revolutionsparole! Diese bestand weitgehend nur aus „liberté“ und „égalité“. Lediglich in Grußformeln, etwa in Briefen, war die Rede von „Salut et Fraternité“. Allerdings hat Robespierre am 18. Dezember 1790 erklärt: „Les gardes nationale porteront sur leur poitrine ces mots gravés : LE PEUPLE FRANÇAIS, et, en dessous : LIBERTÉ, ÉGALITÉ, FRATERNITÉ. Les mêmes mots seront inscrits sur leurs drapeaux, qui porteront les trois couleurs de la nation“. Also: „Die Nationalgarden werden auf ihrer Brust graviert diese Worte tragen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dieselben Worte werden auf die Fahnen geschrieben…“
Erst in der Verfassung der Zweiten Republik vom November 1848 wurde die „fraternité“ den beiden anderen revolutionären und republikanischen Prinzipien beigefügt. Weite Kreise des Klerus schlossen sich dieser – so kurzen – Zweiten Republik an, sie segneten die „Bäume der Freiheit“, sie waren eingeladen zu den „banquets patriotiques“: Einige wenige Kleriker entdeckten 1848 in der Revolution von 1789 eine bleibende, hoch zu schätzende Bedeutung. Abbé Couchoud veröffentlichte am 10.5. 1848 in der Zeitschrift „Voix de l Eglise“ einen Text über die Fraternité: „Wir sind Kinder aus dem einfachen Volk. Aber sind wir denn nicht auch Kinder des himmlischen Vaters? Die Bande des Blutes verbinden uns mit allen, die arbeiten, die leiden, sie sich verloren fühlen“ (zit. in Pierre Pierrard, „L Eglise et la Revolution 1789 – 1889“, Paris 1988, S. 154):
Seit 1880 wird diese „revolutionäre-republikanische“ „Trinität“ etwa auf den Fassaden der Rathäuser als Bekenntnis zur „laicité“ ganz groß sichtbar. Diese Devise wird so zum französischen Kulturerbe, auf Briefmarken und münzen verbreitet, aber nicht immer, eher selten bis heute in die politische Praxis „umgesetzt“. Man denke an den offenen und latenten Rassismus (gegen „Schwarze“) und den Antisemitismus.
Alle wissen zudem: Die katholische Kirche hat die republikanischen Prinzipien seit der Französischen Revolution nicht nur immer ablehnt, sondern auch mit allen Mitteln der ideologischen Propaganda und der Bestrafung von republikanischen Katholiken bekämpft. Erst im 2. Vatikanischen Konzil 1974 wurde etwa die Religionsfreiheit von der Kirche als Wert anerkannt.
10.
Die wohl mögliche Förderung der Brüderlichkeit durch Papst Franziskus kommt also mindestens 231 Jahre zu spät. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (Gorbatschow).
11.
Nur eines von vielen Beispielen, wie Brüderlichkeit in der katholischen Kirche praktiziert wird, und zwar in den Orden und Kongregationen. Diese Praxis habe ich selbst von 1968 bis 1973 in einem großen Kloster als „Frater“, also als Theologie studierendes Ordensmitglied, erlebt:
Im Kloster gelten offizielle Mitglieder als, so wörtlich, „Mit – Brüder“.
Tatsächlich haben die Leitung im Orden immer die Patres.
Aber: Die Patres, sind wörtlich die Väter. Manche Patres waren wohl auch wirkliche Väter. (Alimente zahlt üblicherweise die Ordensleitung bzw. bei Weltpriestern der Bischof)
Dann gibt es die Brüder. Diese Brüder sind Laienbrüder, gehören also nicht zum Klerus, wie die Patres. Sie verrichteten die handwerklichen (oft Dreck) Arbeiten. Nur einige wenige Brüder konnten sich aus dem Bruder/Laienstatus erheben und entweder Diakone werden, also zu einer unteren Stufe des Klerus gehört oder sogar Priester, „Pater“, werden..
Und dann gibt immer noch die fratres. Der lateinische Titel deutet schon die höhere Dimension als „die Laien-brüder“ an, denn eines Tages, nach ca. 7 Jahren, werden diese Fratres auch Patres, falls sie das Klosterleben durchhalten…
Übrigens gab es auch in den Frauenorden diese Hierarchie unter den „Schwestern“. In den alten Orden gab es die so genannten „Chorschwestern“, die beteten und studierten. Und dann gab es die „Laienschwestern“, die sich um alles Praktische kümmerten, Landwirtschaft, Hausputz etc. Es gab und gibt also sogar unter Frauenorden die „besseren“ und die „dienenden“ (wirklich arbeitenden) Nonnen….
Brüderlichkeit ist also selbst in den sich explizit brüderlich nennenden Orden oft nur ein schönes Wort…
12.
Eigentlich ist es, schon soziologisch betrachtet, schade, dass die Kirche als glaubwürdiges „Vorbild“ der Brüderlichkeit auch heute ausfällt. Die ganze innere Krise der Kirche wird da sichtbar: Sie ist, so wie sie ist, einfach nicht mehr glaubwürdig. Nicht schöne erbauliche Enzykliken helfen weiter, sondern eine neue Praxis, die aus der üblichen katholischen Nicht-Brüderlichkeit endlich Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit, Schwesterlichkeit als Basis-Haltung lebt.
Sonst bleiben Enzykliken nur „Druckerzeugnisse“…
13.
Manch einer wünscht sich Gemeinschaften der realen Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit. Aber diese Gemeinschaften sind wohl auch außerhalb der großen Kirchen noch zu finden, vielleicht in den Formen gemeinschaftlichen alternativen ökologischen oder friedenspolitischen Miteinanders. Vielleicht in NGOs? Wie stark diese Gruppen eine Spiritualität leben und zur Sprache bringen, wäre ein interessantes Projekt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Der heilige Rummelplatz der guten Bürger: Über den Maler Hans Baluschek

Ein Hinweis von Christian Modehn
Hans Baluschek wurde am 9.Mai 1870 geboren; er starb am 28.9.1935 in Berlin

Ergänzung am 28.8.2024: Im Bröhan Museum in Berlin (-Charlottenburg) findet bis zum 1. Sept. 2024 wieder eine Ausstellung einiger wichtiger Arbeiten von Hans Baluschek statt. Wer diese Ausstellung nicht mehr besuchen kann, sollte sich in jedem Fall das wichtige Begleitbuch zu dieser Ausstellung besorgen mit dem Titel “Geheimcodes. Hans Baluscheks Malerei NEU LESEN!” (hg. von Tobias Hoffmann und Fabian Reifferscheidt.) Das Buch ist über das Bröhan Museum zu beziehen. Es umfasst 136 Seiten, (16 €) , mit etlichen Wiedergaben von Baluschek Gemälden und vor allem: Es bietet weiterführende Bild – Interpretationen: Baluschek ist eben mehr als “nur” ein sozialkritischer realistischer Maler…Das Bröhan Museum sorgt dafür, dass Baluschek allmählich immer “bekannter wird”…

………………

1.
Kaiser Wilhelm II. liebte über alles den schönen Schein, also die Ignoranz der Wahrheit. Er sagte in seiner berühmten „Rinnsteinrede“ 1901: „Kunst soll erheben und erbauen…und nicht das Elend noch scheußlicher darstellen“. Dass das soziale Elend vieler tausend Menschen in Berlin scheußlich war, wusste der Kaiser also. Nur sollten bitte die Künstler davon ablenken und nur Erbauliches, Erhebendes zeigen, also das gute Bürgertum und das Militär beruhigen. Künstler sollten also wohl ins Religiöse ausweichen. Das Religiöse bzw. das offiziell Christliche verstand das protestantische Kirchenoberhaupt, der Kaiser also, eher als etwas Beruhigendes, Marx sprach treffend von Opium.
Mit der offiziellen „schönen“ Kunstpolitik waren etliche Maler nicht einverstanden, sie opponierten und gründeten 1898 die Berliner Secession, unter ihnen Käthe Kollwitz und Hans Baluschek.
2.
Hans Balluschek hat sein ganzes Werk der Darstellung der inhumanen sozialen Realität gewidmet.
Bis zum 27. September 2020 gibt es noch die Chance, ein breites Spektrum seines Werkes im Bröhan Museum in Berlin – Charlottenburg zu betrachten und zu studieren. „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“, ist der Titel der Ausstellung.
Baluschek ist für viele, die nicht gerade Kunsthistoriker sind, auch heute eher noch eine Entdeckung! Und was für eine! Betrachter seiner Bilder werden sich die Frage: stellen: In welcher Weise hat sich die soziale Realität des Lebens der Armen in Europa, vor allem aber in den Ländern der sogen. „Dritten Welt“ verbessert? Die Antwort wird sicher alles andere als euphorisch ausfallen.
3.
Ich habe schon 2018 auf eine Ausstellung ebenfalls im Bröhan – Museum hingewiesen und dabei an Baluschek erinnert. „Das unsoziale Berlin“ war der Titel. LINK:
4.
Hier will ich nur auf ein Meisterwerk Baluscheks aufmerksam machen: „Berliner Rummelplatz“, gemalt 1914, also im unmittelbaren Umfeld des 1. Weltkrieges. Die feinen Bürger bzw. fein gemachten Leute mit prächtigen Hüten und Kleidern im „Sonntags-Staat“ stehen voller Staunen und Ergriffenheit vor einem grell erleuchteten Pavillon. Er erscheint wegen seiner dominanten goldenen Farben wie ein Tempel, wie ein mysteriöses Heiligtum, hinter dem allerhand überweltliche Dinge passieren könnten.
Zwei Posaunen-Bläser stehen wie Engels-Gestalten auf der Bühne, sind sie die Engel des Gerichtes oder die Boten guter Nachricht? Deutsche Flaggen in den damals üblichen Farben Schwarz Weiß Rot umrahmen den „Tempel“. Im unmittelbaren Vordergrund des Gemäldes sitzen zwei Jungen aus der armen Welt, die zu diesem Gold – und Glanztempel eigentlich keinen Zugang haben und von der feinen Welt ignoriert werden.
5.
Es ist kein billiger Rummelplatz für das kurze Vergnügen, den Baluschek da malt, sondern eine Art säkularer heiliger Ort, zu dessen Empore die Bürger aufschauen wie in einer Kirche, in der die Gläubigen bekanntlich ihre Augen auf den Altar oder die Kanzel hingebungsvoll fixieren.
Dies ist also die faktische, die „religiöse“ und auch die ethische Bindung der Bürger, der Reichen: Sie blicken wie fasziniert auf Zaubereien in einem vergoldeten Kitschtempel. Diese Interpretation legt Baluschek selbst nahe: Links an einer anderen Bude (an einem anderem Haus?) ist in Großbuchstaben das Wort MYSTIK zu lesen: Mystik, also die höchste Form der Verbundenheit mit dem Göttlichen, ist auf dem Rummelplatz gelandet, als billiger vergoldeter Kram, umgeben von den Flaggen des deutschen „heiligen“ Nationalismus. Diese Menschen verehren letztlich den goldenen Zirkus, ihr Kirchplatz ist der Rummelplatz.
6.
Hans Baluschek hat diese religiösen Dimensionen eher nur angedeutet. Sein Hauptinteresse war auch ein politisches im Rahmen der SPD. Deswegen wurde er von den Nazis verfolgt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Glauben ist die Lust zu denken! Sowie: „Hegel und der Rassismus“

Von Christian Modehn

Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 28.08.2020

Vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren. In seinem umfassenden Werk sind die Religionen zentrales Thema. Kann Hegel auch eine christliche Spiritualität für heute inspirieren?

Der christliche Glaube ist wie ein Sprung, hinein ins göttliche Mysterium«. Diese Weisheit wird viel zitiert und prominent verteidigt, etwa von dem Philosophen Søren Kierkegaard oder den Theologen Karl Barth und Joseph Ratzinger. Letzterer schreibt in seiner »Einführung in das Christentum«: »Immer schon hat der Glaube etwas von einem Sprung an sich.« Das Gegenteil betont der Philosoph Hegel: »Jeder Mensch wird durch seine Vernunft, also im Denken, Schritt für Schritt zu Gott geführt. Was wäre auch sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist?«
Hegel hat nie geleugnet, dass seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern auch anstößig ist. Als Philosoph will er wesentliche Überzeugungen des Christentums für die moderne Welt nicht nur darstellen, sondern geradezu »retten«. Hegels Vorschläge für eine zeitgemäße christliche Spiritualität befreien von der Last, sich an »Wundersames«, »Mysteriöses« zu binden. Hegels Spiritualität hat einen praktischen Zweck: Sie zeigt, wie Menschen versöhnt mit sich selbst und friedlich mit anderen in einem Staat leben können, der den Menschenrechten entspricht. Hegel als Lehrer philosophischer Spiritualität zu begreifen ist ein Wagnis. Denn als Mensch des 19. Jahrhunderts ist er in die damalige Welt eingebunden. Aber warum sollen seine Erkenntnisse zur Spiritualität weniger wert sein als die der »großen Mystiker« aus dem 16. Jahrhundert oder dem Mittelalter? Friedrich Nietzsche, der Gottesleugner, hat schon recht, wenn er in seiner »Fröhlichen Wissenschaft« Hegels Leistung beschreibt: »Er hat den Sieg des Atheismus noch einmal verzögert, und zwar par excellence.«

Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Philosophie und Theologie hat er in Tübingen studiert, unter den Kommilitonen sind Hölderlin und Schelling seine inspirierenden Freunde. Die damalige Theologie erlebt er entweder als eine abstrakte und spröde Ideologie oder als Ausdruck überschwänglicher Charismatiker und Pietisten. Davon distanzierte er sich immer. Hingegen bleibt ihm die Gestalt Jesu Christi seit seiner Studentenzeit wichtig. Aber später, als »reifer Philosoph«, interessiert er sich immer weniger für alle Details der »Biografie Jesu«: Entscheidend wird ihm die Gestalt des Gottmenschen Jesus Christus: Sie deutet er philosophisch als den Höhepunkt der nach den Prinzipien des Geistes verlaufenden Religionsgeschichte. Jesus wird so zur maßgeblichen Verkörperung der Einheit von Göttlichem und Menschlichem! Jesus als historische Glaubensgestalt wird »aufgehoben«, das heißt: »verändert bewahrt«, in einem nun für alle zugänglichen Denken. Hegel bezieht sich also auf überlieferte Glaubensinhalte, aber er übersetzt sie ins begriffliche Denken. Das ist seine spirituelle Provokation für die Moderne. Gott und Mensch im Geiste eins.
Nach dem Studium muss er als Hauslehrer seinen Unterhalt verdienen, später arbeitet er als Zeitungsredakteur, schließlich als Direktor eines protestantischen Gymnasiums in Nürnberg. Dort heiratet er Maria Tucher »aus gutem Hause«, zwanzig Jahre jünger als er … Erst als Professor in Heidelberg kann er sich ganz auf die Philosophie konzentrieren. In Berlin lehrt er von 1818 bis zu seinem Tod 1831 mit großem öffentlichen Interesse und viel Widerspruch. Kein anderer Philosoph hat einen so vielfältigen Schüler-Kreis hinterlassen. Prominent sind Feuerbach und Marx. Und kein anderer Philosoph hat wie Hegel durch sein Werk Weltgeschichte mitgestaltet. Immer ist seine Philosophie verbunden mit den Problemen seiner Zeit. Er kritisiert die Allmacht reaktionärer Politiker, wenn sie die Menschenrechte ignorieren, er weist die Ansprüche des katholischen Klerus zurück, die das Gewissen der Gläubigen bestimmen oder kirchliche Gebote bei der Gestaltung eines Rechtsstaates durchsetzen wollen. In Berlin hält sich Hegel, der Republikaner, in Distanz zum königlichen Hof: Als gut situierter Bürger liebt er die Oper, die Matthäuspassion von Bach lernt er schätzen. Er ist gern gesehen in den damals beliebten literarisch-philosophischen Salons. Zu den protestantischen Theologen an der Universität hält er einen polemischen Abstand. Ein eifriger Kirchgänger ist der Lutheraner Hegel nicht gewesen, aber seine Kinder lässt er konfirmieren. Hegel geht seinen eigenen Weg, er lebt in einer »Frömmigkeit des Denkens«. Diese ist die Basis seiner philosophischen Spiritualität, wie er sie in seiner »Phänomenologie des Geistes« und in seiner »Logik« entwickelt: Der menschliche Geist, so zeigt er, kann sich in mühevollen Reflexionen zum göttlichen Geist erheben. Hegel ist überzeugt: »Der Mensch gehört dem göttlichen Wesen an.« Gott und Mensch sind wesentlich eins. Zwar weiß sich der Mensch immer auch als eine endliche, begrenzte Person, aber als Geschöpf Gottes handelt er wesentlich mit Gottes Geist verbunden. Böse wird der Mensch, wenn er egozentrisch diese Verbundenheit aufgibt … und dadurch sich selbst und andere schädigt. Das gilt auch für die Geschichte der Menschheit. Auch sie ist vom Zusammenwirken göttlichen und menschlichen Geistes als einem einzigen Geist bestimmt. Hegel spricht vom »Weltgeist«, im Detail betrachtet sicher einer seiner umstrittensten Begriffe. Wenn er von den großen Individuen spricht, etwa Napoleon, bewundert er ihn nicht nur, sondern nennt ihn auch »Koloss«, der dann endlich gestürzt wurde. Es ist letztlich eine zwiespältige Bewertung. Im Hinblick auf die Spiritualität heißt es provozierend: Die ganze Weltgeschichte ist vom Geist bestimmt. Negatives, wie Kriege oder auch Schmerzen und Leiden der Einzelnen, leugnet Hegel überhaupt nicht! Leitend ist aber die heilsame Erkenntnis: Menschen sollen in allen negativen Situationen wissen, dass der Geist, der göttlich-menschliche, trotz allem die stärkste Kraft ist. »Nur die philosophische Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott geschieht, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.«

Diese eine Frage lässt Hegel nicht los: Wer also ist der Gott der Christen? Seine Antwort befreit von allen Begrenzungen anschaulicher Bilder: »Gott ist Geist, absoluter ewiger Geist.« Als allumfassendem Geist gehört auch das Andere seiner selbst, also Welt und Menschen, zu ihm. Wären Welt und Mensch außerhalb des Göttlichen, dann wäre Gott, so Hegel, nicht mehr allumfassend. Er hätte dann sozusagen »natürliche Konkurrenten«. Aber das Verhältnis dieser grundlegenden Einheit bei aller Verschiedenheit ist ein Verhältnis der Liebe der Verschiedenen Einen. So weit geht die philosophische Spekulation!

Wo also hat der Glaube seinen alles entscheidenden Mittelpunkt? In der Selbsterfahrung des Geistes, der heilig ist: »Denn wir Menschen wissen im Geist unmittelbar von Gott. Dies ist die Offenbarung Gottes in uns«, sagt Hegel 1830 in einer Vorlesung. Natürlich sind Christen auch mit Weisheiten und Lehren konfrontiert, die ihnen von außen, etwa von der Institution Kirche, begegnen. »Aber diese religiösen Lehren kann der Mensch nur ernst nehmen, weil sie den eigenen Geist treffen, »erregen«, wie Hegel sagt. Alle Religionen sind zudem selbst nichts anderes als sich immer deutlicher entwickelnde Produkte des Geistes. Diese Entwicklung findet im Christentum ihren Höhepunkt, weil nur hier Gott als Geist gewusst und verehrt wird! Darüber sollten sich heute Religions-Theologen streiten … Hegel spitzt seine Spiritualität der Einheit von Gott und Mensch noch weiter zu, wenn er provozierend sagt: »Die Philosophie ist der wahre Gottesdienst«. Er weiß aus eigener Erfahrung: Wenn der Mensch sich auf seine Vernunft bezieht, dann erhebt er sich aus seiner engen, begrenzten Welt, er verbindet sich mit der Unendlichkeit Gottes und kann nur staunen über diese ihm zugänglichen Dimensionen. Und dieses Erleben ist der entscheidende »Dienst an Gott«, also Gottesdienst. Um dahin zu gelangen, plädiert Hegel für eine Askese, eine geistige Übung, also eine Art privater Andacht: »Gott ist nur für den denkenden Menschen, wenn der sich still für sich zurückhält«: Das heißt: Der sich zurückziehen kann, aber auch sein eigenes Ego »zurückhält«. Von der Einheit von Gott und Mensch haben früher schon Mystiker gesprochen. Daher schätzt Hegel den Dominikanermönch Meister Eckhart oder den schlesischen Denker Jakob Böhme. Aber er meint durchaus unbescheiden: Erst seine eigene Philosophie zeige begrifflich klar: Gott und Mensch sind füreinander keine Fremden. In diesem einen göttlichen Geist lebt alles und sind alle – bei bleibendem Unterschied – geborgen. Das ist kein »Pantheismus«, für den alles ohne Unterschied göttlich ist, sondern sehr nahe am Apostel Paulus. Dieser schreibt im ersten Korintherbrief: »Uns aber hat Gott die Weisheit Gottes enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes.« Das könnte Hegel nicht besser sagen. Als lebendiger Geist ist Gott Liebe. Auch dies sagt Hegel ausdrücklich. Gott zeigt sich Menschen wie ein Freund, der seine Sonderstellung, seine »abstrakte Ferne« aufgibt und sich mit dem anderen im Geist vereint. Sogar über den Tod hinaus. Hegel selbst hielt es für egozentrisch, an die eigene leibliche Auferstehung zu glauben. Von der Unsterblichkeit der Seele war er jedoch überzeugt: »Der Tod hat den Sinn, dass das Menschliche abgestreift wird und die göttliche Herrlichkeit hervortritt.« Denn Gott habe als absoluter Geist die Negativität des Todes besiegt, das werde in der Auferweckung Jesu von Nazareth sichtbar und gelte für alle. Hegel macht es als spiritueller Lehrer den Christen auch heute nicht einfach, weil er auch die Kirchen nach den Maßstäben seiner Vernunft bewertet. Grundsätzlich hält er die Prinzipien der protestantischen Kirche besser geeignet, die Lehre von der Einheit Gottes mit dem Menschen zu akzeptieren. Denn schon Luther habe alle Bindungen der Christen an »äußerliche Frömmigkeit« aufgegeben, die Wallfahrten und die Heiligenverehrung, die Verehrung von Reliquien und die Leidenschaft, Wunder zu erleben. Der protestantische Glaube kenne prinzipiell (!) die Hochschätzung der Innerlichkeit. Und er passt in die Zeit der sich mühevoll durchsetzenden Menschenrechte, weil er die wesentliche Gleichheit aller Kirchenmitglieder lehrt: »Laien« gibt es nicht im Protestantismus. Ebenso wenig einen Klerus, der das »Heil« vermittelt. Hegel geht so weit zu sagen: »Der Protestantismus ist wesentlich Bildung des Geistes, seine wahren Tempel sind Schulen und Universitäten.« Die katholische Lehre fördere dagegen nicht den reifen, selbstbewussten Glauben, sondern die Haltung von Untertanen. Der Katholizismus ist für Hegel, trotz mancher Reformen im 16. Jahrhundert, auf dem geistigen Niveau des Mittelalters stehen geblieben. Sonst würde man nicht die Hierarchie so sehr in den Mittelpunkt stellen, die Menschenrechte für eine Irrlehre erklären und nach wie vor am Ablass festhalten. Trotzdem hat Hegel nie für Übertritte zum Protestantismus geworben. Hellsichtig sah er, dass es auch dort Widersprüche zwischen dem Ideal und der Realität gab. Letztlich, so Hegel, rettet allein die Philosophie eine vernünftige Spiritualität.

Hegel hat darunter gelitten, dass er als Philosoph naturgemäß vom Allgemeinen, vom Wesentlichen, sprechen muss und viel zu wenig vom bunten Leben der vielen einzelnen Menschen sprechen konnte. Aber er tröstet sich und seine Leser: Der einzelne Mensch ist immer auch im allgemeinen Menschen. Insofern ist auch eine Spiritualität hilfreich, die sich aus der Reflexion des allen Menschen gemeinsamen göttlichen Geistes ergibt!

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Von Sklaven und Afrikanern
Von Christian Modehn (PUBLIK FORUM vom 28.08.2020)

Obwohl Hegel Sklaverei vehement verurteilte, hat er sich dem Rassismus seiner Zeit nicht ganz entzogen.

Hegels Philosophie ist von der Hochschätzung der Französischen Revolution bestimmt. Er hat sie »als herrlichen Sonnenaufgang« gepriesen, weil »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« nun grundsätzlich als höchste Prinzipien für jede staatliche Ordnung gelten sollen. Aber sein republikanischer Enthusiasmus wird gebremst durch die Erfahrung der Gewaltexzesse seit Robespierre und auch durch reaktionäre Ideologien, die in Preußen seit 1818 die freie Meinungsäußerung einschränken.

In der Hochzeit des Kolonialismus war Rassismus allgemeine Ideologie, die auch an den Universitäten Einzug hielt. Die »Schädellehre«, »Cranioskopie«, wollte wegen der Größe des Kopfes die »Weißen« zu den wertvolleren Menschen erklären. Als einer der wenigen widersprach der Anthropologe Johann Blumenbach. Seiner Kritik schloss sich Hegel an und schrieb in seiner »Rechtsphilosophie«: »Das Sein des Geistes ist doch kein Knochen.« Auch zum Thema Sklaverei äußert sich Hegel pointiert. Über den Aufstand der Sklaven auf »Saint Domingue«, heute Haiti, war er gut informiert. Seine Sympathie galt der ersten Republik der einstigen Sklaven, die die Kolonialherrschaft bereits 1804 überwunden hatten. Als die neuen Herrscher dann aber ebenfalls blutige Gewalt ausüben, modifiziert Hegel seine Meinung. Die Befreiung von Sklaverei sollte nur moderat, schrittweise, geschehen. Dennoch sieht er klar: »Sklaverei ist an und für sich Unrecht. Denn das Wesen des Menschen ist die Freiheit. Der Besitz an einer anderen Person ist ausgeschlossen. Dass keine Sklaverei sei, ist eine sittliche Forderung.« 1822 schreibt er: »Was den Menschen zum Menschen macht, Freiheit und Vernunft, daran haben alle Menschen gleiches Recht.« Gegen Ende seines Lebens passt sich Hegel allerdings doch der allgemeinen, rassistischen Ideologie an – vielleicht weil die staatlichen Repressionen ihm gegenüber immer größer werden. In seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« nennt er Afrika einen Kontinent der »Wildheit und Unbändigkeit«, der keine Bedeutung für den Fortschritt in der Weltgeschichte habe. »Hegel wird – in politischer Hinsicht – dümmer«, meint die Philosophin Susan Buck-Morss.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Aberglaube oder Gottvertrauen? Das Erzbistum Berlin wird den Herzen Jesu und Mariens geweiht.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Um den zentralen Gedanken deutlich zu machen (Nr.5.ff.), sind einige Hinweise zu Beginn wichtig:

1.
Es entspricht den Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates, dass jede Glaubensgemeinschaft ihr Bekenntnis nach eigener Wahl ungehindert ausdrücken kann. Wer zum Beispiel aus religiöser Überzeugung sein Bekenntnis formuliert: „Im Himmel ist Jahrmarkt“ hat sein gutes Recht dazu, dies öffentlich zu sagen. Alle religiösen (oder atheistischen) Bekenntnisse dürfen nur nicht die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates gefährden und die Anerkennung der universal geltenden Menschenrechte in der Praxis missachten.

2.
Nun erklärt der katholische Erzbischof von Berlin, Heiner Koch, er werde am 15.8. 2020 das Erzbistum Berlin den heiligen Herzen Jesu und Mariä „weihen“. Also kraft seiner bischöflichen Vollmacht das Erzbistum Berlin unter den Schutz der beiden genannten Herzen stellen.
Anlass ist das 90 jährige Bestehen des Bistums Berlin sowie auch, von Koch nur kurz angedeutet, dass „unsere ganze Gesellschaft mit der Corona-Pandemie vor einer (sehr großen) Herausforderung“ stehe.
Die Weihe des Erzbistums an die Herzen Jesu und Mariens ist also durchaus auch eine katholische Antwort auf die Corona-Krise.
Warum man, wenn man schon „weiht“, das Erzbistum Berlin nicht etwa auch dem heiligen Josef oder der heiligen Hedwig oder dem seligen Berliner Nazi-Widerstandsbewegten Prälat Lichtenberg „weiht“, ist des Erzbischofs Geheimnis. Wahrscheinlich sind die Herzen Jesu und Mariens im Himmel wirksamer, einflussreicher bei Gott, wer weiß es? Aber warum bloß die „Herzen“? Das erinnert mich so an die spezielle Herzgruft der Habsburger, die in der Wiener Augustinerkirche verehrt werden. Warum nicht die ganze Person dieses Propheten Jesus von Nazareth? Oder der jungen Frau Maria, die so eindringlich – aber wirkungslos – betete, dass Gott die Mächtigen vom Throne stürzt, siehe ihr wunderbares Gebet „Magnificat“.
Erzbischof Koch erinnert daran, dass derartige „Weihen“ des Bistums in anderen Krisenzeiten schon vollzogen wurden, im Juni 1934, dann noch einmal 1944 und „zur Zeit der Berlin-Blockade“ 1948. Nebenbei: Politisch, also auch spürbar, sichtbar, bewirkt haben diese Weihen offensichtlich gar nichts: 1934 blieben die Nazis an der Macht, 1944 ging der Krieg gerade auch in Berlin heftig weiter und die Krematorien in Auschwitz und anderswo wurden auch nicht zerbombt. Ob das materielle Überleben West-Berlins 1948 durch die us – amerikanische Hilfe oder auch – esoterisch gesehen – durch den Beitrag Mariens gelang, sei dahin gestellt.

3.
Der Sinn solcher globalen Weihehandlungen wird von Erzbischof Koch nur angedeutet: Es gehe um die Förderung des Gott-Vertrauens, um Gott, „dessen Herz größer ist als unser Herz“. Es gehe darum, „in der Krise sein Herz nicht von Angst, sondern vom Vertrauen leiten lassen“. Dazu soll die Weihe des Bistums an die Herzen Jesu und Mariens führen. Es geht um Gott-Vertrauen, um Vertrauen in den Lebenssinn. Das ist auch philosophisch und in einer kritischen Theologie nachvollziehbar. Warum aber dann diese anspruchsvolle, ins Mysteriöse abrutschende Weihehandlung? Und das dazugehörige Tam-Tam?

4.
Dabei ist der Weiheakt in Berlin und für das Erzbistum Berlin (also offenbar nur für die Katholiken oder die ganze bewohnte Fläche des Erzbistums?) am 15.8.2020 vom Ausmaß her offenbar doch recht bescheiden:
Bekanntlich weihte Papst Pius XII. am 8. Nov. 1941 tatsächlich die ganze Welt „dem unbefleckten Herzen Marias“. Diese universale Weihe wurde 1954 von Pius XII. wiederholt.
Auch der extreme Marien – Verehrer, der polnische Papst Johannes Paul II., fühlte sich berufen, die ganze Welt von Fatima aus 13. Mai 1991 zu weihen. Dabei wiederholte er in dieser Weihehandlung seine politische Kritik an der freiheitlichen liberalen Demokratie: Er sagte also kurz nach der „Wende“: „Es besteht die Gefahr, dass der Marxismus von einer anderen Form des Atheismus abgelöst wird, die der Freiheit schmeichelt und darauf aus ist, die Wurzeln der menschlichen und christlichen Moral zu zerstören“.
Und, „man“ glaubt es kaum bei diesem angeblich progressiven Papst Franziskus: Auch er weihte am 13. Okt. 2013 die Welt der Jungfrau Maria. Dann tat er das noch einmal am 26. April 2017. Ist die Welt seitdem besser geworden, mehr den göttlichen Geboten entsprechend?
5.
Was sollen diese Weihe-Handlungen? Was ist der katholisch-theologische Hintergrund: Die Erklärung muss man, wie in kritischer Theologie üblich, nachvollziehbar formulieren: Marias Herz bzw. das Herz Jesu, sollen ihre Macht im Himmel und ihren Einfluss bei Gott geltend machen, dass Gott-Vater den Bitten der Katholiken bzw. des Papstes bzw. des Bischofs folgt und zum Beispiel Frieden schafft.
Das war am 8. November 1941 im Falle des weihenden Papstes Pius XII. nur ein frommer, d.h. naiver Wunsch, nur ein hilfloser Spruch. Aber er passte in die (damalige) wundergläubige Welt des Katholizismus.
Religionskritiker würden sagen: Was Pius XII. da tat, war eine Art Opium – Lieferung, eine Beruhigung der erregten Katholiken und der Menschen überhaupt: Denn diese universalen Segnungen der Päpste wurden ja irgendwie zugunsten und im Namen „aller“ ausgesprochen. Eigentlich eine ziemliche Anmaßung, im Namen aller die Welt Maria zu weihen, in der theologischen Erwartung, diese würde vom Himmel Gott bewegen und dieser würde eingreifen.
Eine Weihe der Welt an Maria oder an das Herz Jesu bedeutet also immer auch der Glaube an ein wunderbares Eingreifen Gottes, der sich förmlich als Gott-Vater im Himmel von Maria bewegen lässt, etwa den 2. Weltkrieg zu stoppen. Das kann natürlich selbstverständlich jeder glauben, der will. Über das Gottesbild dieser Personen wäre an anderer Stelle zu diskutieren…
Es entspricht aber der Realität zu betonen: Diese Weihehandlung war Ausdruck der Unfähigkeit Pius XII., mit seiner Autorität für Friedensverhandlungen zu plädieren und die Nazis öffentlich als Verbrecher zu bezeichnen usw.: Diese Weihehandlung war Ausdruck eines von Ängsten umstellten Papstes, der an die Macht seines Amtes gar nicht glaubte: Es gab 1941 KZs, das Jahr 1941 war das entscheidende Kriegsjahr überhaupt. Was soll dann die Erwartung, Maria könnte vom Himmel aus für Ruhe und Ordnung sorgen? Das tat Maria aber, den sichtbaren Fakten folgend, nicht: Der Krieg ging weiter, Millionen kamen um, 6 Millionen Juden mussten ihr Leben lassen: Wenn denn ein Papst oder ein Bischof meint, mit einer Weihehandlung etwas zu bewirken, dann soll er resignierend sagen: Wer an das Herz Marias und das Herz Jesu glaubt, findet dort letzten Trost. Mehr nicht. Eine menschenfreundliche Theologie, ganzheitliche Theologie, sieht anders aus.

6.
Was hat das alles mit Berlin zu tun? Anstelle der mysteriösen, theologisch nicht nachvollziehbaren Weihehandlung an die Herzen Jesu und Mariens hätte gut ein Projekt gepasst, das selbstverständlich nicht wie diese Weihehandlung eine einsame Entscheidung des Erzbischofs ist, sondern gemeinsam beraten wurde: Etwa: Wie bilden wir die Gemeinden so weiter, dass sie endlich praktisch gegen Rassismus, gegen Flüchtlings – Feindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Neonazis aufstehen? Oder: Wie gelingt, dass die universal geltenden Menschenrechte von der Kirche und in der Kirche völlig bekannt gemacht und dann in der Kirche akzeptiert werden? Oder: Wie gelingt es uns, dass die Gemeinden denen beistehen, die von der Corona – Pandemie gesundheitlich, seelisch, ökonomisch stark betroffen sind? Oder: Wie bilden wir die Laien so aus, dass sie alsbald selbständig katholische Gottesdienste feiern können. Das wären „Weihe“-Handlungen gewesen, die der Menschheit „dienen“, um es einmal pathetisch zu sagen.

7.
Aber solche konkreten menschenfreundlichen und „jesuanischen“ Vorschläge werden nicht gemacht. Eine Weihehandlung ist einfacher zu vollziehen, ein paar Worte, das ist alles. Eine Weihehandlung kostet kein Geld, erst keine intellektuelle Phantasie, sie verlangt keinen Einsatz der eigenen Lebenszeit… Da wird halt die alte katholische Leier wieder aufgespielt und als Ausdruck von praktisch –theologischer Hilflosigkeit eben mal wieder eine WEIHE vollzogen: Und das „Erzbistum den Herzen Jesu und Mariä geweiht. Nebenbei: Der Generalvikar des Erzbistums Berlin ist Mitglied der Ordensgemeinschaft, die sich „Gesellschaft der Herzen Jesu und Mariä“, populär und weltweit auch „Picpus-Missionare“, nennt (Abkürzung SSCC). Vielleicht war er bei dieser esoterischen „Weihe-Idee“ behilflich?

8.
Dass sich dabei Erzbischof Koch bei seiner Weihehandlung eher von den Gebäuden als den Menschen leiten lässt, wird in seiner Formulierung deutlich, wenn er sich an die Mitglieder seiner Kirche, also die Menschen, wendet. Und die nennt er tatsächlich Steine: „Sie, die lebendigen Steine, die dieses Bistum sind….“ Früher sprach man von Seelen, jetzt von Steinen.

9.
Warum macht man sich als Journalist noch so viel Mühe mit diesem mysteriösen Thema? Weil es zur Aufgabe eines kritischen theologischen Journalismus gehört, die Öffentlichkeit aufzuklären, was in den Religionen so alles passiert, weil Hintergründe erklärt werden müssen, die sich nicht in zwei Zeilen sagen lassen. Und weil der geistige Zustand des römischen Katholizismus irgendwie ahnbar wird…

10.
Ich kann mich als Theologe und Religionsphilosoph am Schluss nicht des Urteils enthalten: Diese Weihehandlungen mit der Idee, Maria oder as Herz Jesu könnten im Himmel sozusagen Gott beeinflussen, sind schlicht und einfach Aberglauben. Sie widersprechen den humanen Weisungen Jesu von Nazareth im Neuen Testament: Jesus wollte bekanntlich eine brüderliche Welt ohne viel religiöses Tam-Tam und ohne besserwisserische „Meister“ (Päpste, Bischöfe etc.).

11.
Auch diese Weihehandlung stört das ökumenische Zusammensein mit den Protestanten. Es ist die machtvolle Demonstration des alten römischen Katholizismus, der sich auch heute zeigt im selbstverständlichen Festhalten an Ablässen, am Kult der Reliquien usw. Die Protestanten schweigen dazu und sprechen trotzdem vonÖkumene. Sie sagen nicht öffentlich, wie deplatziert für heutiges theologisches und ökumenisches Denken solche esoterischen katholischen Weihehandlungen sind. Ökumene lebt vom gegenseitigen Lernen, auch vom Verzicht auf mittelalterliche abergläubische Traditionen durch die bömische Kirche.
Und solche Weihehandlung verstört auch viele skeptische, atheistische Mitbürger nicht nur in Berlin, die sich vielleicht noch schmunzelnd fragen: Spinnen sie, die Katholiken, haben sie wirklich keine anderen Sorgen?
Ein heute vertretbarer, einfacher, vernünftiger christlicher Glaube erhält durch diesen Weihe-Aberglauben also noch mal eine Niederlage.

12.
Und man möchte gern wissen, wer denn die „Gläubigen waren“, die die „Anregung für diese Weihehandlung“, wie Koch schreibt, gegeben haben: Man ahnt es: Waren es die Neokatechumenalen, das Opus Dei (mit seiner Villa „Feldmark“ in Berlin – Grunewald), die polnischen Gemeinden in Berlin, die Legio Mariens, das Schönstatt-Werk mit der Kapelle Zur dreimal wunderbaren Mutter, die „Missionare Identes“ oder das „Institut des inkarnierten Wortes“ (IVE), die Laienbewegung der Legionäre Christi, das „Regnum Christi“ usw.?
Erstaunlich ist es aber eigentlich nicht, wenn die Vermutung stimmt, dass solchen Kreisen der Erzbischof in seinem “Weihe-Vorhaben” folgt. Diese konservativen Kreise sind vielleicht der tatsächlich verbliebene „Restbestand“ von Katholiken (in Berlin), die noch offen sind für diese Formen des Esoterischen und des Aberglaubens. Und für dieses Gottesbild!
Und diese Kreise wollen nicht anerkennen, dass für Menschen, auch für Christen, allein das Vertrauen genügt, in Gott, in dem Göttlichen, dem Ewigen… geborgen zu sein. Oder, weltlich gesprochen, in einem Sinn-Zusammenhang zu leben, der den Menschen ein humanes Lebens ermöglicht. Diese so einfache und nachvollziehbare Erkenntnis sollte man besprechen in Gruppen und Kreisen und Gemeinden. Und nicht die Zeit verschwenden, sich mit Weihehandlungen an die unbefleckten Herzen etc. zu befassen.

13.
Darum ist auch hier Schluss mit meinen Hinweisen. Denn, wie gesagt: Es gibt sehr viel Wichtigeres, als diesen klerikalen Egozentrismus, der da meint, zur Weihe der Welt oder auch nur eines Bistums an (unbefleckte) Herzen (etwa Mariens) berufen zu sein.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Max Weber: Vor 100 Jahren gestorben. Seine lebendigen Anregungen und Provokationen

Hinweise von Christian Modehn mit einer von Weber inspirierten These zur „Korruption im Katholizismus“ (Nr.6 in diesem Text)

Gedenktage sind bekanntlich Denk-Tage: So auch die Erinnerung an Max Weber, der vor 100 Jahren am 14. Juni 1920, in München gestorben ist. Geboren wurde er am 21.4.1864 in Erfurt.
Es gilt also, sich auf einige seiner zentralen Vorschläge und Erkenntnisse zu beziehen… als Inspirationen fürs eigene Denken und Verstehen unserer Zeit. Dies könnte auch ein Impuls sein, Max Weber zu lesen, Bücher von ihm und zumal auch über ihn gibt es bekanntlich in sehr großer Fülle.
Weber ist eine der bedeutenden intellektuellen Gestalten des 20. Jahrhunderts: Er ist vor allem Soziologe, hat aber auch beste Kenntnisse in der Religionswissenschaft, der Theologie, er ist in gewisser Weise auch Jurist, Ökonom, Agrarhistoriker, vor allem auch: Historiker…

1.
Max Weber war sehr interessiert, die Wirkungen religiöser Lehren und Konfessionen auf Ökonomie, Politik und Lebenshaltungen aufzuzeigen.
Viel beachtet, wie ein Meisterwerk eingeschätzt, sind immer noch seine Studien unter dem Titel „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, 1904 erschienen, dann noch einmal überarbeitet, 1920 veröffentlicht. Weber behauptet darin NICHT: Der Protestantismus sei die maßgebliche Ursache für das Entstehen des Kapitalismus. Sondern: Protestantische Gemeinschaften (vor allem von Calvin inspirierte) haben theologische Ideen in den Mittelpunkt gestellt, von denen sich die Mitglieder dermaßen motivieren ließen, dass letztlich auch daraus der moderne Kapitalismus entstanden ist. Grundlegend sei für diese Protestanten gewesen: Man darf sich als Gläubiger nicht aus der Welt zurückziehen, sondern man muss sein Bestes tun und arbeiten und sparsam leben, um von dem individellen Platz aus, auf den Gott den Menschen gestellt hat, gottwohlgefällig zu leben, und das heißt: effizient zu arbeiten.
Vom Erfolg gesteuert arbeiten, das steht in der Sicht Webers an oberster Stelle bei den Calvinisten (weniger hingegen bei den Lutheranern). Das erworbene Geld wird von diesen Frommen nicht im verschwenderischen Luxus ausgegeben, sondern es wird gespart und vor allem investiert. In diesem asketischen, Gewinn gesteuerten Verhalten glaubten die Calvinisten bzw. spezieller noch die Puritaner, obendrein noch gottwohlgefällig zu leben, also die Erlösung zu erlangen. So wird die enge Verbindung von calvinistischem Glauben und dem Verhalten, das in den Kapitalismus führt, bei Max Weber deutlich.
Sebastian Franck, ein – leider fast vergessener – protestantischer Theologe und Mystiker im 16. Jahrhundert, wird von Max Weber zitiert, um diese protestantische Variante der Askese deutlich zu machen: „Du glaubst, du seiest dem katholischen Kloster entronnen. Es muss jetzt jeder (als Protestant) sein Leben lang ein Mönch sein“, also asketisch und bescheiden leben, d.h. arbeiten. („Protestantische Ethik…. S.346).
Max Weber bietet in seinem Studien zum Thema „Protestantismus und Geist des Kapitalismus“ eine Fülle an Details, die sich auch in den zahlreichen Fußnoten auffinden lassen. Wer etwa hier in Berlin und in der Mark Brandenburg noch daran denkt, welche ökonomische Hilfe und damit Entwicklung die calvinistischen Flüchtlinge („Hugenotten“) einst hier leisteten, kann aus diesem populären Beispiel nur das Treffende der Analysen Webers bestätigen. Diese Linie ließe sich weiter ausziehen, wenn man an den in den noch in den 1960 Jahren dokumentierten Bildungsrückstand der Katholiken in Deutschland denkt: Das „Strebsame“, „Karrieremachen“, war nicht so deren Sache. „Besser ein guter Mensch sein als ein gebildeter“, diesen Spruch hörte ich oft in katholischen Kreisen damals.

2.
Der Kapitalismus hat als auch eine religiöse Ursache. Mit dieser Erkenntnis will Weber keineswegs als Konkurrent zu Karl Marx auftreten. Es geht nicht um eine Anti-These zu Marx, sondern um einen anderen, ergänzenden Blickwinkel auf den Kapitalismus. Weber ist ein heftiger Kritiker des Kapitalismus, der schon in der zur Tugend erklärten „Nützlichkeit“ kritisch gewertet wird. Das führt Weber zur Erkenntnis, dass im Kapitalismus insgesamt Tugenden insofern nur gelten, als sie die Nützlichkeit des ökonomischen Gewinns fördern. Max Weber schreibt: “Das summum bonum, das oberste Gut, dieser kapitalistischen Ethik ist der Erwerb von Geld und immer mehr Geld…“ (S. 78).
Der Kapitalismus zeichnet sich durch eine nur von Erfolg geleitete, stets machtvolle Bürokratie aus. Wie man diese Verhältnisse überwinden kann? Max Weber führt da den – etwas hilflos wirkenden – Begriff der „charismatischen Vernunft“ ein, die die Auswüchse des Kapitalismus begrenzen könnte. Wer denkt dabei auch an prophetische Führer, sogar auch an kurzfristige Revolutionen, die das Regelwerk der Bürokratien korrigieren…
Im ganzen ist Weber eher skeptisch, was die Entwicklung der menschlichen Qualitäten in der kapitalistischen Welt angeht, zumal, wenn dieser Kapitalismus von allen Bindungen etwa an den protestantischen Glauben sich losgesagt hat, also eine umfassende „säkulare“ Säkularisierung eingetreten ist. Weber bezieht sich etwa auf die USA, wo der Kapitalismus – zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach einem Besuch Webers dort – seine „höchste Entfesslung erlebt“. „Dort neigt das seines ethisch-religiösen Sinns entkleidete Erwerbsstreben heute dazu, sich mit rein agonalen (kämpferischen) Leidenschaften zu verbinden. Niemand weiß noch, wer künftig in jenem (kapitalistischen) Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden oder mechanisierte Versteinerung mit einer Art von krampfhaften Sich-wichtig-nehmen verbrämt“. Weber fürchtet, dass dann der „letzte Mensch“ im Sinne Nietzsches gesiegt haben könnte, diese „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz. Dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“ (Prot. Ethik… S. 201).

3.
Der Begriff der „Entzauberung der Welt“ spielt in der Einschätzung der modernen Welt durch Max Weber eine große Rolle: Davon spricht er in „Wissenschaft als Beruf“: Der Umgang des modernen Menschen mit der Natur ist nicht mehr von der Voraussetzung bestimmt: In der Natur könne man geheimnisvollen und unberechenbaren Mächten begegnen. Sondern: In der Natur sind keine mysteriösen Geister am Werk, die durch Magie besänftigt werden können. Es gilt also: Das moderne Verhalten der Menschen zur Natur ist von Rationalisierung, Berechnen, vom Planen, vom technischen Zugriff und von Herrschaft bestimmt. Diese Haltung der permanenten Naturausbeutung, bedingt durch Rationalisierung, Spezialisierung, Industrialisierung usw. bestimmt den Kapitalismus weltweit.
Dieser Geist der Rationalisierung beherrscht die persönliche Lebensführung der einzelnen Menschen in diesem Kapitalismus. Und dieser Geist der Rationalisierung als „Berufsidee“ ist „aus dem Geist der christlichen Askese entstanden“ („Protestantische Ethik…. 200).
Dieser Zugriff auf die Natur, diese Entzauberung, ist zweifellos auch ein Ergebnis religiöser Lehren. Man denke an den Spruch der Bibel, wo Gott den Menschen befiehlt: „Macht euch die Erde untertan“ (Genesis 1,28). Jetzt wird statt „untertan machen“ (mit schlechtem Gewissen von Theologen) übersetzt: „Hütet die Erde…“ Aber dieser Verzicht auf das „Untertan-Machen der Natur“ kommt wohl zu spät. An diesem Bibelvers wird einmal mehr deutlich, wie viel Unsinn auch in der Bibel, dieser Textsammlung frommer Menschen, als Maxime im Laufe der Jahrhunderte verbreitet wurde…
Inzwischen wird jedoch auch die Vorstellung korrigiert, die Menschheit würde in einer entzauberten Welt, einer entzauberten Naturwelt, sich befinden, zugunsten einer neuen „Verzauberung“. Man denke an die Vorstellung von der Natur als einer Gaia-Hypothese, die für eine selbstregulative, schöpferische Urkraft (?) Natur eintritt.
Nebenbei: Max Weber empfand persönlich starke Vorbehalte gegen die völlig entzauberte, rein rationale Theologie und Kirchenpraxis der Calvinisten. Er empfand sogar gewisse Sympathien für den Katholizismus, den Priester deutet er als eine Art Magier, der über die Sakramente verfügt. Und auch dies noch: Max Weber war zwar protestantisch (vor allem von der frommen Mutter) erzogen worden, aber er war offenbar nur aus Pflichtbewusstsein Mitglied der Kirche geblieben, die er eher verachtete wegen ihrer engsten Bindung an den Kaiser als das oberste Haupt der Kirche. Über den (in alter kaiserlicher Pracht wieder aufgebauten, „restaurierten“) Berliner Dom schreibt Weber: „Man braucht den Berliner Dom nur anzusehen, um zu wissen, dass jedenfalls nicht in diesem cäsaro-papistischen Prunksaal, sondern weit eher in den kleinen, jeden metaphysischen Schmuckes entbehrenden Betsälen der Quäker und Baptisten der „Geist“ des Protestantismus in seiner konsequentesten Ausprägung lebendig ist“. („Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 315.)

4.
Wichtig bleibt immer noch die Auseinandersetzung mit Webers These von der Wertfreiheit der Wissenschaften: Wissenschaft muss von allen Ideologien und „Illusionen“ freigehalten werden.Und: Wissenschaft kann nicht zum wahren, umfassenden Glück der Menschen führen. Es gibt keine religiöse Gebundenheit der Wissenschaften, für Wunder und Offenbarungen ist in ihnen kein Platz.
Das heißt aber nicht, dass Religionen durch die Wissenschaften ersetzt und verdrängt werden. Religionen gehören zu einer gegenüber den Wissenschaften abgetrennten, eigenen „Wertsphäre“ (wie er sagt) an. Das bedeutet auch: Max Weber will die Vermischung der Wertsphäre Religion und der Wertsphäre Wissenschaft unbedingt verhindern. Ob diese Parallelisierung der beiden Wertsphären überhaupt möglich ist, wird etwa schon in der Beobachtung deutlich: Dass sich doch Menschen voller Erstaunen, Ehrfurcht und Verwunderung den überraschenden Schönheiten der Natur stellen oder dem bestirnten Himmel über uns, wie Kant sagte. Da kann aus diesem Verwundern auch ein Übergang geschehen in die Naturforschung und Wissenschaft, die sich aber die ursprünglich erfahrene Ehrfurcht und das Verwundern nicht vergessen, ohne dabei in eine esoterische Naturwissenschaft abzugleiten…

5.
„Max Weber starb im Bewusstsein, dass „nicht das Blühen des Sommers vor den ihm nachfolgenden Generationen liege, sondern eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“ (so der Max Weber Forscher Dirk Kaesler, in seinem Vorwort zu „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, Beck Verlag, S. 56).

6.
Ich habe schon 2014, anläßlich des 150. Geburtstages von Max Weber, auf die Studie über Weber von Jürgen Kaube aufmerksam gemacht.Klicken Sie hier.

Zu diesem Text hier: Die Seitenzahlen in dem Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ beziehen sich auf die Ausgabe im C.H. Beck Verlag, hg. von Dirk Kaesler, 2006.

Copyright: Christan Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Hannah Arendt: Politisch denken in dieser Zeit der globalen Krisen

Hinweise von Christian Modehn am 11.5.2020

Der folgende, etwas ausführliche Hinweis auf Hannah Arendt wurde aus Anlass der großen „Hannah Arendt Ausstellung“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin zusammengestellt.
Diese vier Beiträge habe ich 2016 geschrieben. Sie können heute hilfreich sein, als Inspiration im Umfeld eines Besuches der Ausstellung. Oder, wichtiger noch: Wenn man sich angesichts des zunehmenden Rechtsradikalismus die Frage stellt nach Ursprung und Überwindung dieser Verirrung, dieses Wahns.

Wesentliche und zum Teil heute weit verbreitete Urteile von Hannah Arendt vor allem zum „Eichmann-Prozess in Jerusalem“ 1961 werden in der Forschung der letzten Jahre immer mehr differenziert, korrigiert oder zurückgewiesen. Dies gilt besonders für Hannah Arendts Einschätzung, Eichmann sei ein Repräsentant der „Banalität des Bösen“ gewesen. Die bekannte Historikerin Irmtrud Wojak hat (in ihrem Buch „Eichmanns Memoiren“, 2001) gezeigt, „dass Hannah Arendt sich von Adolf Eichmanns Verteidigungsstrategie (im Jerusalemer Prozess) täuschen ließ“. So fasst Franziska Augstein die wesentliche Erkenntnis Wojaks zusammen (in: Hannah Arendt, „Über das Böse“. Piper Verlag 2015, Seite 184). Hannah Arendt kannte auch nicht die Protokolle der Gespräche Eichmanns (in Argentinien) mit dem niederländischen SS Offizier Willem Sassen, da sagt Eichmann ganz klar:“ Ich war kein normaler Befehlsempfänger… sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen“ (a.a.O. 185).
In Jerusalem (1961) hat sich Eichmann dann als „gehorsamer Befehlsempfänger“ stilisiert. Wenn die Rede von der Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann z.B. überhaupt einen Sinn macht, dann nur, um zu betonen: Dieser entschiedene, von der Nazi-Ideologie total durchseuchte Massenmörder war ein Typ der „Jedermänner“, wie Franziska Augstein sagt. Also nach außen hin brav wirkend, der gehorsame Durchschnittsbürger: Eichmann und die vielen anderen braven, gehorsamen Deutschen waren bereit, den von „oben“, dem NS Staat definierten Feind, die Juden, total zu vernichten. Diese Normalbürger wurden zu Massenmördern weil sie sich gehorsam in die tödlichen „Logik“ des NS Regime einfügten.
Der populär gewordene Hannah-Arendt-Slogan „Die Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann“ bedarf also der Korrektur.
Immer wieder wird auch in aktuellen Publikationen daran erinnert. In einem Beitrag über Gabriel Bach, einen der Ankläger in Jerusalem 1961, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung (23./24. Mai 2020, Seite 51) betont die Autorin Alexandra Föderl-Schmid: „Bach lasse es nicht gelten, Eichmann sei eigentlich nur ein schlichter Schreibtischtäter gewesen. Er habe Hannah Arendt damals angeboten, ausführlicher mit ihm zu sprechen“. Dann wird Gabriel Bach zitiert: “Ich weiß bis heute nicht, warum sie das nicht angenommen hat“. „Das Buch Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ habe er nur „überflogen“ und rasch wieder weggelegt“. „Es stimmt einfach so vieles nicht“.

Diese Hinweise machen auf die Grenzen der Studien Hannah Arendts aufmerksam. Diese Grenzen gilt es wahrzunehmen, angesichts der großen Popularität Hannah Arendts, populär, schon aufgrund ihrer leicht zugänglichen Sprache. Problematisch bleiben etliche ihrer Ausführungen: Dies gilt auch für ihre auch nach 1945 fortgesetzte Beziehung zu Martin Heidegger: Diese Beziehung berührte nicht nur das „Persönliche“, sondern: Heideggers Philosophie prägte in gewisser Weise auch ihr Denken noch nach 1945, darauf hat der Philosoph Emmanuel Faye hingewiesen. In Berlin, im Rahmen der Forschungen der FU, erscheint eine kritische Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts erscheinen. Dann wird noch mehr kritische Deutlichkeit möglich sein. (https://www.arendteditionprojekt.de/Neuigkeiten/Information_philosophie_29042020.html)

Es bleiben jetzt Fragen offen in der Interpretation ihrer Schriften. Darum ist auch die Auseinandersetzung mit den Studien von Emmanuel Faye in Deutschland wichtig. Hannah Arendt inspiriert zwar, aber sie ist keine umfassend nur positive, von jeglicher Kritik befreite, gar enthusiastisch gefeierte “Meisterin des Denkens”.

Die Ausstellung im DHM in Berlin wurde am 11.5. eröffnet …sie sollte bis zum 18.Oktober 2020 besucht werden.

1.
Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die „lebenden Leichname“ und die Überflüssigen

Hannah Arendt legte Wert darauf, nicht (nur) als Philosophin (im „klassischen Sinne) zu gelten. Sie verstand sich ausdrücklich eher als Politikwissenschaftlerin, wobei selbstverständlich ihr origineller Blick auf politische Ereignisse und Politiker durchaus philosophische Prägungen (etwa durch die Methode der Phänomenologie) offenbart.

Dieser Blick, unverstellt und ohne ideologische Brille Phänomene zu sehen, wird wirksam in ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Eichmann in Jerusalem 1961. Ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ trägt den – gleich nach der Veröffentlichung höchst umstrittenen – Titel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Damit wollte Hannah Arendt – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie wollte lediglich betonen: Einer der Hauptakteure der Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle geben fixierter Bürokrat.

Dieser Täter (wie andere in der SS-Führung) ist banal, und gerade wegen dieser Alltäglichkeit beschreibbar und verstehbar und auf seinem Weg zum Schreibtischtäter “nachvollziehbar”. Nur wer das Böse „banalisiert“, also in den Alltag des Gewordenseins stellt, kann das Böse auch möglicherweise überwinden oder einschränken. Es müssen die Wege und Stufen beschrieben werden, die einen Menschen langsam zum Schreibtischtäter werden lassen. Das ist Hannah Arendts überzeugendes Argument! Die beispiellosesten Verbrechen der Menschheit werden von den gewöhnlichsten Leuten begangen. Die Philosophin Susan Neiman (Direktorin des Einstein Forums in Potsdam) hält in ihrem Buch „Das Böse denken“ zu recht die Studie Hanna Arendts zur „Banalität des Bösen“ für den wichtigsten philosophischen Beitrag zum Problem des Bösen im 20. Jahrhundert (Neiman, Seite 397, Suhrkamp).
1988 schrieb Ingeborg Bordmann (in: Freibeuter, Heft 36, 1988, S. 86): “Hannah Arendt versucht nicht, Eichmann zu entlarven, also eine verborgene Wahrheit hinter seinen Worten zu finden, sondern sie achtet darauf, wie Eichmann sich verhält, wie er redet, wann er stockt, verstummt oder in plötzliche emphatische Selbstdarstellung verfällt….Er erinnert sich nur an die Situationen, die mit den Wendepunkten seiner Karrriere zusammenfallen”. Eichmann lebt in einer geschlossenen Welt, seine “standardisierten Ausdrucks- und Verhaltensweisen sind nicht korrigierbar durch den Kontakt mit der Realität… Sein Gewissen ist systemkonform”. Hannah Arendts Eichmann Buch ist ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt eigentlich und immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozeß der Indoktrination von autoritären Verhaltensvorschriften Schritt für Schritt getötet worden. Das ist das eigentlich Böse an dieser Gestalt, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit eigentlich immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht eigentlich wiederholbar. Denn es wütet, so ihr Bild, als das extreme Böse “wie ein Pilz auf der Oberfläche, der sich rasant verbreiten kann, wenn man den Pilz nicht ausreißt”, so Hannah Arendt in einem Brief an Gershom Scholem(vgl. Fn. 10 bei Ingeborg Normann, S. 94). Und Hannah Arendt geht noch weiter: Nicht die Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch widerstehen. “Viel verläßlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…”(S. 92 in Freibeuter)

Und dieser Banalität des Bösen in Form der “Schreibtischtäter” begegnen wir heute vielfach, in der Kriegsführung, etwa im Einsatz von Drohnen, die ferngesteuert Bomben abwerfen und „eben“ zahllose „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung bewirken. Oder im völlig verantwortungslosen Handeln gewisser Banker, die um ihres egoistischen Profits willen eine ökonomische Katastrophe und damit Schaden für Millionen Menschen in Kauf nehmen: immer sind es brave, ängstliche Männer, die die eigene Karriere für absolut vorrangig halten vor allen ethischen Verantwortlichkeiten…

Ein prominenter Schüler Hannah Arends ist Richard Sennett. In seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ geht es ihm darum aufzuweisen, wie die neue Kultur, die von der New Economy der 1990er Jahre ausgeht, zu tief greifenden Veränderungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene führen. Sennett betont: Man muss darauf hinweisen, dass heute in der Ökonomie und Politik weltweit Massen sozusagen nutzloser Menschen „erzeugt“ werden, man denke heute an junge Arbeitslose zu Millionen in Spanien, Griechenland, Portugal usw. Oder an “Überflüssige” in den Slums der Großstädte Aftikas und Asiens…
Das kapitalistische System erzeugt förmlich permanent die überflüssigen Menschen, die zudem auch wissen, dass sie niemand braucht und vom System noch mit einer Minimalunterstützung manchmal noch gerade am Überleben erhalten werden.

Für Hannah Arendt stellten diese überflüssigen Menschen sozusagen die Basis dar, aus der die Mörderbande der Nazis ihre „Mitstreiter“ holten. Eine so genannte demokratische Gesellschaft und ein Staat, die ständig immer mehr „Nutzlose“ erzeugen, gefährden ihre eigene Zukunft.
Auch das ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Werk. In ihrem Buch „Elemente und Ursprung totaler Herrschaft“ (1951) zeigt sie ausdrücklich, wie „der irrsinnigen Massenfabrikation von Leichen die historisch und politisch verständliche Präparation lebender Leichname vorangeht“. (S. 686, Serie Piper).
Damit meint sie: Die lebenden Leichname wurden „produziert“ vom Gesellschaftssystem, es sind die „Millionen Heimatlosen, Staatenlosen, Rechtlosen , wirtschaftlich Überflüssigen und sozial Unerwünschten“ (ebd.). Das totalitäre System des radikal Bösen konnte sich also nur entwickeln, weil so viele „überflüssige“ Menschen „produziert“ wurden. Denn auch die Henker und Täter fühlten sich als Nihilisten, sie lebten in dem Gefühl, dass ihr Leben sinnlos und überflüssig ist. Hannah Arendt warnt: Totalitäre Systeme können wieder „auftreten, wenn wieder hingenommen wird, dass es viele „überflüssige Menschen“ eben geben darf…
Die einzige „Therapie“ zur Rettung der wahren Demokratie ist für Hannah Arendt das aktive Leben, also das bewusste kritische und selbstkritische Handeln mit und für die Stadt, die Polis und die Gesellschaft. Wer das aktive Leben meidet, das Engagement gegen die Produzenten der „lebenden Leichen“, verfehlt sein eigenes Leben. So radikal ist die Botschaft Hannah Arends heute.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

2.
Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?

Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierende Buch des Philosophen Emmanuel Faye, Rouen

Am 12.5.2020 geschrieben:
Es ist interessant zu beobachten, dass manche Bücher, die sich auch sehr kritisch mit dem politischen Denken Hannah Arends befassen, in Deutschland kaum wahrgenommen werden. Das gilt etwa für das in Frankreich viel beachtete, sehr umfangreiche Buch von Emmanuel Faye, “Arendt et Heidegger”. Es hat in Frankreich seit seinem Erscheinen 2016 viele Debatten gefunden. Vor allem auch einige, zum Teil polemische Ablehnungen von Philosophen und Autoren, die sich “ihre” in jeder Hinsicht vorbildliche Hanna Arendt nicht nehmen lassen wollten.
Faye will nur darauf hinweisen: Dass Hannah Arendt stark an bestimmte Denkmuster von Martin Heidegger gebunden bleibt. Und dass sich deswegen konsequenterweise fragwürdige, problematische Äußerungen finden in ihren Büchern “Über die Revolution” oder “Vita activa”. In beiden Büchern legt Emmanuel Faye Aussagen, Tendenzen, frei, die mit einem demokratischen Denken und mit einer vorbehaltlosen Anerkennung und Verteidigung der Demokratie nicht so viel zu tun haben.
In einer Stellungnahme zu einer Rezension seines Buches in der Zeitschrift “La Vie des Idées” (Paris) macht Faye auf verschiedene Erkenntnisse aufmerksam: Heidegger ist für Hannah Arendt immer eine Art “Paradigma” des Denkens. Dabei betont Faye: “Ich kritisiere nicht die Person Arendt”. Aber von ihr wurde Heidegger zu einem Meisterdenker erklärt, “aufgrund ihrer Lobeshymnen auf ihn”. Wichtiger sind noch die Hinweise Fayes zu Arendts Buch “Vita activa”, in dem sie in gewisser Weise ihre Sehnsucht äußert nach einer “aristokratischen Politik”, verbunden mit einer Kritik an “egalitären Gesellschaften”. Eine Vorliebe für den Begriff des Aristokratischen bei Hannah Arendt steht im Mittelpunkt der Kritik Fayes.

Ich war einer der ersten in Deutschland, der auf diese Veröffentlichung des Buches von Emmanuel Faye 2016 reagiert hat. Als Hinweis verstanden! Hier noch einmal dieser Text, kurz nach Erscheinen von Fayes Buch. Und ich betone noch einmal: Dieser erste Hinweis sollte ein erster Anstoß zur Debatte auch in Deutschland sein. Diese kritische Debatte hat meines Wissens in Deutschland kaum stattgefunden. Als erste Information könnte vielen die auf Deutsch im Internet zugängliche Studie Fayes dienen:„Nationalismus und Totalitarismus bei Hannah Arendt und Aurel Kolnai“, in „Theologie-Geschichte. Beiheft 5/2012, Seite 61ff., Universitätsverlag Saarbrücken.
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In Frankreich spricht man in diesen Tagen von einem „livre choc“ und einem „séisme intellectuel“, also einem „intellektuellen Erdbeben“: Ausgelöst hat dieses der französische Philosoph Prof. Emmanuel Faye: Er ist weltweit bekannt geworden durch seine Studien über die Verstrickungen Martin Heideggers in die Nazi-Ideologie. Dieses erste, von ihm in gewisser Weise unterstützte Erdbeben, wird in vollem Umfang nun auch bestätigt durch die Publikation der „Schwarzen Hefte“ Heideggers.
Jetzt aber steht ein zweites “Faye-Erdbeben”, womöglich noch größerer Art, bevor: Falls sich nicht ein noch Kompetenterer durch die 560 Seiten umfassende Studie Fayes so durcharbeitet, dass man zum Schluss herauskommt: Der Heidegger-Kritiker Faye hat geirrt. Es geht in der neuen „minutiös“ genannten Studie Fayes um eine globale und radikale Dekonstruktion, im Sinne von Entzauberung, wenn nicht Zerstörung, der international doch eigentlich hoch geschätzten, und kann man wohl sagen viel gelesenen und “beliebten” Philosophin und Politik-Denkerin Hannah Arendt. Sie wird jetzt in der französischen Presse (Le Monde, 7. Octobre 2016, S. 7) als „maitresse“ Heideggers tituliert. Selbst nach 1945 sei sie ihm gewogen geblieben, und zwar auch in ihrer Philosophie! Und das ist das Ergebnis der Studie von Faye. “Le Monde”-Autor Nicolas Weill nennt das umfassende Faye Buch (erschienen im Herbst 2016 bei Albin Michel, Paris) eine „unerbitterliche Anklagerede“ gegen Hannah Arendt. Die Rezensenten betonen, Faye haben alle greifbaren Ausgaben und Ausführungen Arendts gelesen, und er sei zu dem Schluss gekommen: Sie habe in zahlreichen Werken, in Andeutungen, Ausführungen und Thesen letztlich die Nazi-geprägte Philosophie Heideggers nach 1945 unterstützt. Wenn sie etwa von den umstrittenen Judenräten in den KZs spreche, dann wolle sie damit die Juden mitverantwortlich machen für ihr eigenes „Schicksal“, eine These, die Heideggers sympathisch gefunden haben soll. Eine andere These Fayes, über die “Le Monde” berichtet: Wenn Arendt Adolf Eichmann als Beispiel für die “Banalität des Bösen” wählt, dann sei ihr positives Gegenbild der „penseur par excellence Heidegger“, also Heidegger als der herausragende Denker. Eine These, mehr nicht, denke ich. Nicolas Weill schließt seinen Bericht über dieses insgesamt verstörende und beunruhigende Buch: “Es fehlen vielleicht die Nuancen, damit dieses Bild (von Hannah Arendt) vollständig sei“. Eine kurze Besprechung im „Philosophie Magazine“, Paris, (Oktober 2016) berichtet: Faye halte das Denken Hannah Arendts für „fascisante“, also faschistoid. Eine ungeheuerliche Behauptung, die jeder, der Hannah Arendts Werke liest, wohl zurückweisen wird. Ist Hannah Arendt nicht immer dem Denken des Aufklärers Kants verpflichtet gewesen? Wie aber passen etwas Kants “Kategorischer Imperativ” mit Heideggers (willkürlich wirkenden) “Seins-Geschicken” zusammen? Wie mit einem Heidegger, der sich weigerte, überhaupt eine Ethik zu denken und zu schreiben, weil eben alles “geschicklich” sei…Und überhaupt: Hannah Arendts Erkenntnis zur absoluten Notwendigkeit des Sich-selbst-Reflektierens ist ein Kontrast zu Heidegger, der offenbar ein weites Stück seines langen Lebens in der Nähe zum antisemitischem Denken sich eben NICHT selbst kritisch reflektierte!

Die Diskussion über dieses Buch Fayes hat in Deutschland meines Wissens noch nicht begonnen. Diese verstörende Studie wird hoffentlich nicht davon ablenken, nun auch noch die nazi-freundlichen Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz gründlich zu lesen und allmählich ein Heidegger-Bild zu entwerfen, das sich der Frage stellt: Was brauchen wir von Heideggers Denken heute wirklich noch? Wie durchsetzt ist seine Philosophie von der Nazi-Ideologie und dem Antisemitismus? Dass dies überhaupt der Fall ist, wird immer deutlicher. Nun aber auch Hannah Arendt in das offenbar braune Denken Heideggers einzubeziehen und nun auch ihre aufklärerische Philosophie für faschistoid zu halten, das ist, einem ersten Eindruck der Rezensenten in Frankreich nach, wirklich schwierig, wenn nicht perfide. Der total antisemitisch “verdorbene” Heidegger soll wohl dadurch als solcher weiter etabliert werden, dass er mit seinem Denken selbst seine „maitresse“ Hannah, beeinflusste, die Jüdin, die vor dem Holocaust flüchten musste! Ein “Erdbeben”, wie Le Monde” schreibt, ist dieses Buch? Oder bloß – wieder einmal – eine französische “Intellektuellen Erregung”?

„Arendt et Heidegger. Extermination Nazi und Déstruction de la pensée“. Autor: Emmanuel Faye. Verlag: Albin Michel, Paris, 560 Seiten. 29 €.

Copyright: Christian Modehn

3.
Hannah Arendt über Pluralität und Erfahrung des anderen: Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von Hannah Arendt.

Hannah Arendt hat als Flüchtling in den USA nur noch politische Philosophie bzw. politische Theorie betreiben wollen, das hat sie etwa auch in dem berühmten Fernseh-Interview mit Günter Gaus betont. 1954 hat Hanna Arendt an der Notre-Dame University Vorträge zu dem Thema gehalten, auch über Sokrates und Platon hat sie gesprochen. Damit zeigte sie, dass die klassischen Themen der klassischen Philosophie für sie doch auch selbstverständlich wichtig blieben; sie wollte diese nur ausdrücklich im Zusammenhang des politischen Zusammenlebens erörtern.

Jetzt ist im Verlag „Matthes und Seitz“ (Berlin) zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung ihres Vortrags mit dem Titel „Sokrates. Apologie der Pluralität“ erschienen. Dieser eher knappe Text ist originell und bedeutsam für weitere Diskussionen, weil er die Erfahrung der Andersheit der vielen anderen Menschen (Pluralität) gerade IN der Erfahrung des Selbst begründet: Von Selbstbewusstsein, diesem klassischen philosophischen Begriff, spricht Arendt in dem Text – soweit ich sehe – nicht. Aber sie verweist auf die elementare Denkerfahrung, die sich abstrakt etwa so beschreiben lässt: Ich denke mich und erlebe mich dabei als den von mir Gedachten, wobei das von mir gedachte Ich in gewisser Weise von mir als dem Denkenden verschieden ist. Es ist also eine gewisse Spaltung, “Pluralität”, im Ich oder im Selbstbewusstsein sichtbar und erfahrbar. Also eine Art zweifache Gegebenheit des einen Ich, so dass Hannah Arendt tatsächlich meint: Das Ich ist in seinem Selbstbewusstsein pluralistisch: “In sich selbst trägt der Mensch die Signatur dieser Pluralität in sich” (Seite 60 in dem genannten Buch). Also ist die Vielfalt verwurzelt im Ich selbst, und nur aufgrund dieser pluralistischen Erfahrung kann der einzelne auch den anderen als den anderen erkennen. Dies ist die zentrale These in dem Buch. (Es bietet darüber hinaus und im Gang der Argumentation wichtige Hinweise zu einer Philosophie der Freundschaft oder zur Differenz Sokrates-Platon, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden).

Diesen zentralen abstrakten Gedanken formuliert Arendt mit den Begriffen des im einzelnen immer schon gegebenen Selbstgesprächs: „Indem ich mit mir selbst spreche, lebe ich auch mit mir zusammen…. Die Menschen tragen die Signatur der Pluralität in sich“ (S.26 in dem genannten Buch). Das hat ethische Konsequenzen: Ich muss also mit mir (als dem gedachten Ich) ins Reine kommen; ich darf mit mir (als dem gedachten Ich) nicht im Widerspruch stehen. Ziel ist eigentlich: Ich muss mit mir übereinstimmen. Das ist der oberste Lebenssinn für Sokrates. Und Hannah Arendt zeigt in dem Buch, wie Sokrates dieses Mit-sich-Eins-Sein selber lebte und lehrte. Dieses Mit-sich-Eins-Sein ist ein Werden, ein Prozess, eine bleibende Aufgabe.

Wer als Ich diese dauernde Aufgabe erkennt, wird auch mit den anderen Menschen in seiner Umgebung geduldig umgehen, weil diese sich ja auch wahrscheinlich bemühen, mit sich selbst überein zu stimmen. Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Pluralität bleibt für Arendt: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (S. 81). Nur im Mit mit sich selbst allein sein kann diese Entdeckung der inneren, eigenen Pluralität denkend wahrgenommen werden.

Bedrängend, wenn nicht zerstörerisch ist die Erfahrung, wenn die Nicht-Übereinstimmung des Ich mit sich selbst erlebt und dann aber ignoriert bzw. überspielt wird. Dann wird die Daseinslüge zum Gesetz des Ich.

Jedenfalls ist die innere Pluralität im Selbstbewusstsein des einzelnen für Arendt so elementar, dass sie das große philosophische Wort thaumzein, sich verwundern, darauf bezieht: Im Thaumazein, Erstauntsein und Sich-Wundern, wird ja die Urerfahrung beschrieben, mit der Sokrates und Platon – zunächst über die Sprachlosigkeit im Thaumazein – ins weitere Philosophieren fanden.

Das Ur-Erstaunliche ist also das Selbstbewusstsein, das mit sich selbst übereinstimmen soll, das also die Differenz der Andersheit in seinem Selbst sozusagen positiv gestalten kann.

Diese Begründung der Erfahrung der menschlichen Pluralität, also die Erfahrung des anderen, erscheint für viele wahrscheinlich neu und sicher erstaunlich. Man könnte meinen, Hannah Arendt sei insofern doch klassische Philosophin geblieben, als sie für die Erfahrung des anderen als anderen eine Art apriorische Struktur im Ich entdeckt bzw. freilegt. Diese Denkhaltung könnte man wohl transzendentalphilosophisch nennen. Vielleicht ahnte dies Hannah Arendt, und vielleicht verwendet sie deswegen nicht den klassischen Begriff Selbstbewusstsein. Um eine apriorische Struktur handelt es bei Hannah Arendts Hinweis dann doch, wenn sie auf das in sich plurale „Selbstgespräch“, wie sie sagt, hinweist als Voraussetzung, über die andere Person als andere Person wahrzunehmen und zu respektieren.

Gewonnen ist die wichtige auch politisch so relevante Einsicht: Wir Menschen können und sollen Pluralität unter den Menschen anerkennen. Sie ist normal. Ich sage: Sie ist apriorisch und gehört zum “Wesen des Menschen”, könnte man auch klassisch sagen. Pluralität unter den Menschen ist also etwas allgemein Menschliches, noch einmal anders gesagt, Pluralität – in Gleichberechtigung – ist also zu hegen und zu pflegen.

Die weitere Frage bleibt, die Hanna Arendt nicht beantwortet, ob denn die Erfahrung des “anderen” in mir selbst noch einmal eine andere Qualität hat, als jene Erfahrung im Ich-Du bzw. Ich-Wir, wenn ich dem anderen, leibhaftig vor mir stehenden Anderen, begegne. Ich denke, etwa Lévinas hätte dem zugestimmt. Der leibhaftige Andere ist für ihn wohl die Gründung erst meiner Ich-Erfahrung. Das unterscheidet Lévinas von Heideggers “Sein und Zeit”, wo die Freilegung der Strukturen der Existenz auch ohne den herausfordernden “Anderen”, das Du, das Wir, geleistet wird.So werden hier auch die Grenzen dieser Überlegung Hannah Arendts sichtbar, oder ihre Bindung an Heideggers “Sein und Zeit”?

Hannah Arendt lag daran, in einer Zeit kurz nach dem Holocaust und in der Nachkriegsgeschichte entschieden für die unabweisbare Pluralität der Menschen zu plädieren. Und für den Respekt dieser Pluralität einzutreten.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes und Seitz Verlag, Berlin. 2016, 109 Seiten. 12 Euro. Übersetzung: Joachim Kalka.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

4.
Von der Macht der Kommunikation: Hannah Arendt. Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“.

Wer Hannah Arendt liest, wird ins (selbst)kritische Denken geführt und ins Streiten für und über die Demokratie verbunden. Ist es diese Sehnsucht nach einem radikalen-tätigen, aber stets erhellenden Denken, die so viele LeserInnen heute zu Hannah Arendt führt?

Die neue Sonderausgabe über Hanna Arendt der Zeitschrift PHILOSOPHIE MAGAZIN bietet wichtige neue Erkenntnisse, die zum weiteren Forschen und Lesen einladen. Das Sonderheft wurde von Catherine Newmark redaktionell inspiriert und verantwortet. Und es ist nicht übertrieben: Damit ist ihr ein kleines Meisterwerk gelungen. Dieses Sonderheft wird weite Verbreitung finden, es wird einen sicheren Platz haben unter den schon zahlreichen Einführungen ins Denken und Handeln Hannah Arendts. Es ist diese Verbindung von wichtigen Arendt-Texten mit neuen Interpretation und kritischen Hinweisen, die dieses Heft so wertvoll macht.

Hannah Arendt war eine Meisterin der Freundschaft und der liebenden Beziehungen, dazu schreibt Michel Legros einen schönen Beitrag unter dem schon Wesentliches sagenden Titel „Zwischen zwei Menschen entsteht eine Welt“.

Als sie in den USA, zuerst viele Jahre als Staatenlose in rechtlicher Schutzlosigkeit lebend, dann doch Karriere machte, gab es viele, die ihr Denken und ihre Schriften als „Journalismus abgetan haben“, wie ihr einstiger Schüler, der Dirigent und Autor Leon Botstein im Interview mit Catherine Newmark berichtet. Wie das Exil und die von den Nazis erzwungene Flucht aus Deutschland Arendts Denken beeinflusste, zeigt die Philosophin Stefania Maffeis (FU). „Der philosophische Standpunkt des Exils ist jener der Lücke und des Bruchs. Er steht nicht auf dem sicheren Boden der unhinterfragten Wahrheiten der Vergangenheit und kann auch seine zukünftigen Ziele nicht vorhersehen“ (S.55).

Es sind die Interviews, die Catherine Newmark leitet, die in dem Heft in meiner Sicht besonders herausragen. Die Gründerin des Hannah Arendt Zentrums an der Uni Oldenburg, Antonia Grunenberg ist auch vertreten. Sie stellt sich auch der eher spekulativen Frage, wie denn etwa Hannah Arendt auf den IS reagiert hätte: „Sie hätte mehr darüber nachgedacht, wie sich die westlichen Gesellschaften verteidigen gegen diese Gefahr, ob sie einknicken oder ihre plurale Öffentlichkeit leben und öffentlich verteidigen“, so Antonia Grunenberg (S. 74). Erneut und sehr zurecht wird in dem Heft auf die eigenständige Leistung Arendts hingewiesen, dass sie eben als eine der wenigen „PhilosophInnen“ über die Geburt nachgedacht hat: Mit jedem neuen Menschsein wird jeweils ein Anfang gesetzt, und deswegen „können Menschen die Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“ (Arendt).

Besonders umstritten ist auch heute die viel zitierte Einschätzung Arendts, der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann sei eine typischer Vertreter für die Sichtbarkeit der „Banalität des Bösen“. Da finde ich die Hinweise der Philosophin Susan Neimann sehr erhellend: Hannah Arendt habe viele historische Details über Eichmann im Jahr 1961 eben gar nicht kennen können, als sie in Jerusalem den Eichmann-Prozess beobachtete. Noch wichtiger aber erscheint mir der Hinweis von Susan Neiman:. „Das Böse ist (für Hannah Arendt) nicht dämonisch und allumfassend, sondern nur die Summe von menschlichen Handlungen, oft gedankenlosen“ (S. 107). Neiman meint, Arendt habe in dieser „Relativität des Bösen“ eine Art philosophische Theodizee gesehen (S. 107). Praktisch heißt das: Mit besserem Denken und besserem Handeln können wir Menschen gegen das Böse vorgehen. „Die These von der Banalität des Bösen mag zwar historisch für Eichmann nicht zutreffend gewesen sein, aber für Millionen von anderen Menschen stimmt sie schon, Menschen , deren Absichten nicht dämonisch böse waren. Sondern irgendwo zwischen relativ niedrig und deutlich gut rangieren, aber ohne die es keinen Holocaust gegeben hätte“ (ebd.).

Eine andere, schärfere, Vernunft-skeptische Position vertritt die Philosophin Bettina Stangneth, die kürzlich das Buch „Böses Denken“ (bei Rowohlt) veröffentlichte. Sie sagt: „Das Denken ist ein Werkzeug. Und mit Werkzeugen kann man bekanntlich alles Mögliche anstellen – so wie man mit einem Hammer einen Nagel einschlagen oder aber die Schwiegermutter erschlagen kann, deshalb versuche ich, mehr über das böse Denken zu lernen“. Aber darüber wäre viel zu diskutieren, ob Denken überhaupt ein Werkzeug ist und ob nicht auch derjenige, der Böses denkt und Böse tut, sich meistens, wenn nicht gehirngeschädigt, doch wohl frei für diese Tat entschieden hat.
Und der Böse erlebt dieses Böses-Tun dann doch als seine Form seines privaten egoistischen Ego-Glücks und des nur für ihn subjektiven „Guten“. Womit gesagt sein soll, dass auch der Böse letztlich an eine Priorität des Guten (formal) gebunden ist. Das Gute ist also in der Wahrnehmung selbst noch des Bösen vorhanden und als Gutes in der Hinsicht nicht “totzuschlagen”. Das könnte heißen: Menschen als Wesen des Geistes, der Vernunft, sind an die Idee des Guten irgendwie “gebunden”. Aber diese interessanten “spekulativen” Fragen führen über das Heft hinaus.

Politisch sehr aktuell und sehr inspirierend ist das moderierte Gespräch Gesine Schwans mit Volker Gerhardt, die sich beide in den meisten Fragen zum Thema “Öffentlicher Streit in der Demokratie” einig sind. Sie sind sich auch einig, wenn es um die These von Hannah Arendt geht „Macht gründet auf Kommunikation“. Da wird sehr zurecht von beiden Philosophen daran erinnert, dass die Kanzlerin Merkel – etwa auch in der Flüchtlingspolitik – „gerade nicht kommunikativ war“, so Gesine Schwan (S. 142). …“und unsere Kanzlerin ist ganz besonders avers gegen öffentliche Kommunikation und gegen die Kommunikation von Alternativen“ (ebd). Volker Gerhardt sagt: „Die Politiker (Deutschlands, Europas) konnten schon seit langem wissen, was auf Europa zukommt, aber sie haben die Bürger nicht auf den bevorstehenden Ansturm eingestimmt… Aus der Sicht Hannah Arendts haben die Offenheit und die immer auch visionäre Kraft des Arguments gefehlt“ (S, 142).

Insofern möchte man hoffen, dass dieses Heft über Hannah Arendt auch von Politikern gelesen und besprochen wird. Gibt es das eigentlich, dass PolitikerInnen über ihre gemeinsame philosophische Lektüre öffentlich sprechen? Oder sind sie nur im hektischen Geschäft des politischen Agierens und Tuns befasst?

Zum Heft selbst eine kleine kritische Anmerkung: Ich hätte mir einen eigenen Beitrag gewünscht zu der Tatsache, dass Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus von 1964 ausdrücklich darauf besteht, sie sei keine Philosophin mehr sei, sondern eine Theoretikerin der Politik (S. 17). Diese ausdrückliche Abwehr seit ihrer Zeit in den USA, eben nicht mehr als Philosophin zu gelten, hat sicher ihre Gründe: Erkenntnis der Abgehobenheit „der“ (klassischen) Philosophie? Arendt schrieb ja noch bei Heidegger eine Doktorarbeit über die „Liebe bei Augustin“. Ein hübsches Thema?! Spielt etwa auch das Erleben der Spätphilosophie Heideggers (nach 1945) eine Rolle, dieses angeblich so unpolitische Stammeln von Seins – Erfahrungen, so dass Hannah Arendt nicht mehr als Philosophin, zu diesem „Club“ gehördend, gelten wollte?

Die Sonderausgabe des “Philosophie Magazin” über Hannah Arendt hat den Titel “Die Freiheit des Denkens”. Es ist im Juni 2016 erschienen, hat 146 Seiten, zahlreiche Fotos und Graphiken,Literaturhinweise usw. Es kostet nur 9,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kann die Kunst unser Leben verändern? Denken in Zeiten der Krise. 8.Teil

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zugleich eine Buch-Empfehlung!

Wie viele hektische Besuche von Galerien und Besichtigungen in Museen haben wir schon absolviert? „Bloß nichts verpassen“, ist die Devise. Wie oft haben wir intensiver die ultra-kurz gefassten historischen Erläuterungen unterhalb der Gemälde gelesen als die Kunstwerke selbst betrachtet? Wie viele Kunstbücher und Ausstellungskataloge ruhen nicht beachtet und nicht betrachtet in unseren Bücherregalen?
Damit soll nun Schluss sein. Zu einer Kehrtwende in einem oberflächlichen Kunst-„Konsum“ ermuntert ein (relativ) neues Buch des bekannten Philosophen Alain de Botton: „Wie Kunst Ihr Leben ändern kann“ ist der Titel. Das Buch hat de Botton gemeinsam mit dem Philosophen und Kunsthistoriker John Armstrong verfasst. Erschienen ist es 2017 im Suhrkamp Verlag. Der englische Titel ist deutlicher: “Art as therapy“.
Denn darum geht es den Philosophen: Kunstwerke sollten wir um einer besseren Lebensgestaltung betrachten und sie wirklich gebrauchen lernen und sogar wie eine Medizin, als Therapie, „verwenden“, als Heilung für unsere zerrissene Seele und den verwirrten Geist.
Diese Perspektive der Kunstinterpretation ist natürlich eine Provokation, bei allen, die immer noch an eine „L art pour l art“ glauben. Oder bei Philosophen, die einen Übergang von ästhetischen Erfahrungen und Einsichten zu ethischen Einsichten und entsprechender Praxis ablehnen. Alain de Botton plädiert hingegen sehr entschieden für den praktischen Wert der Kunst, also jener Objekte, die im Rahmen der Ästhetik diskutiert werden. Kierkegaard wäre als widersprechender Gesprächspartner hier wichtig, er wird in dem Buch leider nicht erwähnt.

Alain de Botton hatte auch in seinen früheren Publikationen stets vom Nutzen, man möchte sagen praktischen Gebrauchswert, von Religion und Philosophie gesprochen. Nun also auch von der Kunst. In dem Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“ stellt er Kunstwerke unterschiedlicher Epochen in einer überraschenden Vielfalt auch als (kleine) Farbdrucke (141 insgesamt) vor, immer von der Frage geleitet: Wie könnte dieses Bild, dieses Kunstwerk, uns helfen, dass wir uns wieder richtig erinnern, dass wir die Hoffnung wieder entdecken oder mit dem Leiden sinnvoll umgehen usw.
Ich finde besonders das erste Kapitel hilfreich hinsichtlich der therapeutischen Funktion von Malerei und Skulpturen: Wie kann Kunst vor Pessimismus und Schwarzmalerei bewahren? Wie können wir Ermutigung im Leben sehen und durch Kunst-Berachtung auch wieder finden? De Botton zeigt das etwa an den „Tänzern“ von Matisse (von 1909). Es besitzt „so viel Anmut und Liebreiz, dass es uns für einen Augenblick das Herz zerreißt“ (13). Die Betroffenheit kann paradox sein: „Unsere Tränen kommen nicht, weil das Bild so traurig ist, sondern weil es so hübsch ist“ (17).

In der Interpretation von Richard Serras Objekt mit dem Titel „Fernando Pessoa“ betonen die Autoren, wie dieses Kunstwerk wirkt. Es ist benannt nach dem portugiesischen Dichter und Poeten Fernando Pessoa: Wir werden durch dieses Objekt förmlich dazu gedrängt, Leiden und Schmerzen auch als Momente der Würde im Leben anzunehmen. Es geht darum, im meditativen Blick auf Kunst „unser seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen“ (29). Voraussetzung ist natürlich, dass der meditative oder kontemplative Kunst-Betrachter um die eigene Befindlichkeit, wenigstens als Frage und Suche, schon etwas weiß. Diese Voraussetzung scheint mir in dem Buch nicht ausreichend reflektiert zu werden. Oder ist das Erschüttertwerden oder gar das “Umgeworfenwerden” durch Kunst das entscheidende, unerwartete Erlebnis, das uns in die Tiefe unseres Lebens führt? Dann wäre ein erschütterndes Kunsterlebnis einer religiösen Erfahrung mit Gott/dem Göttlichen vergleichbar. Und Kunst könnte die Funktion des Religiösen übernehmen…Ein umstrittenes Thema…

Die elementare Bedeutung der Kunst für eine menschliche Ethik steht den Autoren außer Frage: „Dabei liegt es auf der Hand, dass viele der besten Kunstwerke …eindeutig einen moralischen Anspruch haben, nämlich die Intention, uns durch verschlüsselte Botschaften zu ermahnen oder zu warnen und so das Gute in uns zu fördern“ (33). Kunstwerke regen also an, „das Beste aus uns herauszuholen“ (34), heißt es pragmatisch, fast ratgebermäßig. Aber wer sich in die Geschichte der Kunst vertieft, wird wohl sehr oft diesen „das Gute in uns fördernden Aspekt“ erkennen. Man denke nur an die Genre-Malerei der Niederländer. Brouwer oder Steen malen Wirtshausszenen nicht um ihrer selbst willen, sondern um versteckt, aber für die Zeitgenossen damals und auch für uns unübersehbar vor einem allzu ausgelassenen Lebenswandel zu warnen. Diese Bilder (etwa „Singende Trinker“, von Adriaen Brouwer, 1635) sollen auch und vor allem „Abscheu und Ekel erregen“ (so im „Katalog von Frans Hals bis Vermeer“, Berlin 1984, Seite 128). Und die vielen Marien-Darstellungen, diese vielen Pietas: Sind sie doch bewusst geschaffene Bilder des Trostes nicht nur für Mütter in trostlosen Zeiten.

Ich empfehle das Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“, gerade in diesem Zeiten, in denen einige doch hoffentlich längere Zeiten fürs Lesen und Betrachten (Kontemplation) frei haben. Schauen Sie sich als erstes das (mir bis dahin) unbekannte Bild von Jean-Baptiste-Siméon Chardin an, mit dem schlichten Titel „Dame beim Tee“ (von 1735). „Der Raum ist bewusst schlicht gestaltet. Und doch hat das Bild etwas Glamouröses. Es glorifiziert diese alltägliche Situation und das schlichte Mobiliar… Es regt den Betrachter an, (nach dem Museumsbesuch) nach Hause zu gehen und seinen eigenen Lebensentwurf zu gestalten… Die Kunst hat die Macht, den schwer zu definierenden, aber dennoch vorhandenen Wert des normalen Lebens zu würdigen… Die Kunst kann in uns ein neues Bewusstsein wecken für die wahren Vorzüge des Lebens, das wir nun einmal gezwungen sind zu leben“ (56 f.)

Natürlich unterscheiden die Autoren genau, was Kunst ist und was sich nur Kunst zu nennen wagt, was also Kitsch ist. Sie denken etwa an die verblödenden populären TV-Serien, „die uns genau das liefern, was wir haben wollten“ (156). Sie beleidigen die Menschen, weil sie nicht zeigen, „wozu wir als Menschen eigentlich in der Lage sind“ (157). Die Autoren kritisieren den dummen Wahn der Reichen, diese „Klasse der obszön Reichen“ (157), die ihre totale Ahnungslosigkeit und blöde Geschmacksverirrung auch künstlerisch, etwa in ihrer Architektur ihrer pompösen Villen ausdrücken müssen (zwei Beispiele auf Seite 156 und 158).

Den Autoren liegt es fern, nur den einzelnen durch Kunst heilen zu wollen. Die einzelnen sollten „die Werte, die die Kunst repräsentiert, in der realen Welt umsetzen… Die wahre Ehrfurcht vor der Kunst besteht darin, das Gute, was in einem Kunstwerk kraftvoll dargestellt ist, aktiv in Umlauf zu bringen“ (225).

Zu diesen Zitaten und den Hinweisen: Im Hintergrund steht als Kriterium des „Ändern des eigenen Lebens“ durch die Kontemplation der Kunst ein bestimmtes Menschenbild: Der Mensch als ein Dasein, das sich im Laufe seines Lebens inmitten vieler Krisen und Widersprüche entfaltet, das sich geistig entwickelt, zu sich selbst kommt, sich selbst und andere lieben lernt … und die Solidarität hoch schätzt.

Alain de Botton und John Armstrong, Wie Kunst Ihr Leben verändern kann“, Suhrkamp Verlag, 2017, Taschenbuch, 240 Seiten. Nur 17,95 EURO!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin