Das langsame Verschwinden des Katholizismus in Frankreich

Hinweise von Christian Modehn, veröffentlicht am 25.9.2021. Über eine neueste Umfrage zu dem Thema vom August 2021, publiziert Ende Sept. 2021, siehe LINK.

Das entscheidende Stichwort heißt: Frankreich ist “post-katholisch”, notiert am 29.6.2024: LINK

Zwei Bemerkungen am Anfang, als Einführung zum neuen Buch (2021) von Guillaume Cuchet:

–„Das langsame Verschwinden des Katholizismus in Frankreich“ ist kein Sonderthema für einige Spezialisten. Wenn eine Religion aus der Praxis und dem Bewusstsein der Menschen eines ganzen Landes langsam, aber regelmäßig verschwindet, ist das ein kulturelles und soziales Ereignis, das weit über theologische Detail-Fragen hinausweist. Wenn Religionen langsam verschwinden, dann verschwinden bestimmte kulturelle Werte (und Unwerte, die bekanntlich Religionen auch verbreiten).

Es wird hier in aller Kürze gezeigt, wie in einem Land, das Kleriker immer noch gern  „die älteste Tochter der römischen Kirche“ nennen, die bist noch vorherrschende Religion, der Katholizismus, kontinuierlich schwächer wird. In vielen Regionen bzw. Départements (wie Limousin, Guéret, Burgund, Dordogne usw.) ist diese Kirche de facto bereits seit längerer Zeit verschwunden, d.h. fast niemand interessiert sich heute in lebensmäßiger Praxis für sie, bestenfalls im Fall von Bestattungen oder Riten wie Taufen und Hochzeiten. Eine historische Würdigung dieser Tatsache, die weit in die Geschichte ausgreift, hat etwa der bekannte Historiker Jean Delumeau verfasst. LINK

Das ist die Erkenntnis der gut entwickelten religionssoziologischen Forschung in Frankreich: In absehbarer Zeit wird der Katholizismus im ganzen Land zu einer verschwindenden Minderheit werden. Ob dann die von Klerikern viel beschworene „kleine Herde“ noch die Kraft hat, spirituell und sozial relevant zu sein, ist die Frage. Die vielen prächtigen Kathedralen, die romanischen Kirchen und alten Klostergebäude werden bleiben, Zeugnisse einer „anderen“ Zeit. Aber es wird in diesen Gebäuden eher selten noch katholischer Ritus mit Priestern, Mönchen und Nonnen stattfinden. Es ist wohl etwas anderes, Gesänge von wirklichen Mönchen tagaus tagein in einer Abtei mehrmals am Tag zu hören als alle zwei Monate einmal am selben Ort von einem angereisten Chor, um nur ein Beispiel zu nennen

Eine einst katholisch geprägte Kultur verschwindet, die vielen verfallenden Kirchen im ganzen Land werden fotografisch und kunstvoll bereits dokumentiert. LINK.

Und eine von vielen Fragen ist: Ob man in naher Zukunft noch – wie jetzt – ca. 90 Bischöfe mit entsprechenden Diözesen und Diözesan-Verwaltungen braucht. Das wird auch finanziell problematisch werden, weil bekanntlich ein Bischof in Frankreich ca. 1.200 Euro Monatsgehalt (aus Spenden, nicht aus Kirchensteuern oder staatlichen Zuwendungen) erhält…  und nicht wie 12.000 Euro die Erzbischöfe und Bischöfe in Deutschland…

Dieses absehbare Verschwinden des französischen Katholizismus gilt auch für viele andere Länder Europas, wie Irland, die Niederlande, Belgien, sogar Spanien, die Schweiz, die Tschechische Republik …und nun auch in Polen nimmt die Distanz der (jungen) Katholiken von der Kirche immer mehr zu. Ob dieses langsame Verschwinden des kirchlichen, des katholischen Christentums auch für Deutschland gilt, wird noch diskutiert, ist aber sehr wahrscheinlich, wenn man sich die Statistiken kirchlichen Lebens ansieht, vor allem die extrem hohen Austrittszahlen und dabei Vergleiche zieht, für die BRD, etwa von 1950 an. Solange der Katholizismus weltweit stur den zölibatären Klerus absolut ins Zentrum (der Liturgie, der Macht etc.) setzt, ist das Ende auch des Katholizismus in Deutschland allein schon wegen dieser – theologisch unsinnigen – absoluten Bindung an den Klerus sicher.

–Das Thema „Katholizismus in Frankreich“ interessiert mich als Theologe und Journalist seit mehr als 40 Jahren. Dazu habe ich etliche Publikationen vorgelegt, die alle von dem Bemühen geleitet waren und sind, breitere Kreise auf diese Fragen aufmerksam zu machen. Nur ein Beispiel: Von 1989 bis 2005 habe ich ca. 50 Halbstundensendungen fürs Kulturradio des Saarländischen Rundfunks (SR2) gestaltet mit dem Titel „Gott in Frankreich“. Diese Sendung wurde nach der Pensionierung des verantwortlichen Redakteurs Norbert Sommer „einfach so“ und „sang und klanglos“, abgesetzt.

ZUM THEMA: “Das langsame Verschwinden des Katholizismus in Frankreich”:

1. In Frankreich ist die „Die Zukunft des Katholizismus in Frankreich“ eine Art Dauerthema wissenschaftlicher Publikationen. Und es ist keine Übertreibung: Fast unüberschaubar viele Publikationen, Bücher und Zeitschriftenbeiträge, wurden zu unserer Fragestellung in den letzten 100 Jahren geschrieben, seit 1950 kam die Debatte heftig in Schwung nach der Veröffentlichung des Buches (!943) „La France – pays de mission?“, ausgerechnet während des Pétain-Regimes veröffentlicht). Etwa seit 1970 gibt es ständig Neuerscheinungen zu dem Thema….Die Frage wird diskutiert, Vorschläge werden gemacht, aber die Kleruskirche bleibt allmächtig. Laieninitiativen werden als Ausdruck der neuen Liberalität des Klerus willkommen geheißen, aber sie werden niemals die klerikale Macht zugunsten eines demokratischen Miteinanders aller einschränken.

2. Wer eine erste schnelle, zusammenfassende Antwort will: Tatsächlich ist der Katholizismus in Frankreich am Verschwinden, wenn man die Statistiken von Umfragen zur Konfessionszugehörigkeit oder die Statistiken der Teilnehmer an Sonntags-Messen oder die Anzahl der Neupriester pro Jahr studiert. Dieses Urteil bezieht sich notgedrungen auf äußere Vollzüge, „Praxis“ genannt, ins „Innere“ der religiösen oder nichtreligiösen Seele eines jeden einzelnen lässt sich bekanntlich nicht objektiv schauen, so bleiben also vor allem die statistischen Werte, um den Zustand der konfessionellen Bindung in einem Land präzise zu fassen… Wichtig zu wissen ist, dass es aufgrund der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich seit 1905 keine vom Staat veranstalteten objektiven Konfessionsstatistiken gibt. Alle Statistiken in unserem Zusammenhang beruhen also auf repräsentativen Umfragen.

3. Pauschal gesagt heißt das Ergebnis:  Die katholische Kirche in Frankeich ist zahlenmäßig gesehen am Verschwinden. Das Ende wäre auch rein rechnerisch fast datierbar, wenn sich nur Religionssoziologen entschließen würden, genau das Durchschnitts-Alter des aus Frankreich stammenden Klerus zu ermitteln und diese Erkenntnis auf die nächsten 20 Jahre zu beziehen. Sehr wahrscheinlich ist das Ergebnis: Der aus Frankreich stammende Klerus stirbt aus, so wie die meisten Frauenorden verschwinden werden. Noch retten sich die Bischöfe, die, wie überall in Westeuropa, auf den sogenannten zölibatären Klerus setzen damit, dass sie Priester aus Afrika und Asien nach Frankreich holen und dies mit dem Euphemismus kaschieren: Diese Priester könnten die internationale Dimension des Katholizismus beweisen. Dass diese Priester in Afrika oder Asien viel eher „gebraucht“ würden, wird dabei diplomatisch verschwiegen.

4. „Hat der Katholizismus noch eine Zukunft in Frankreich?“ ist der Titel des neuesten Buches des Historikers Guillaume Cuchet (erschienen bei Seuil, Paris, im September 2021). Cuchet hat schon mehrfach zum Katholizismus in Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert publiziert, diesmal bietet er eine Sammlung seiner Aufsätze aus den letzten Jahren.

5. Mehrfach spricht Cuchet von „rupture,“ von Bruch, der sich in der französischen Gesellschaft ereignet, wenn sich immer mehr, man möchte heute sagen: fast alle jüngeren Franzosen von der Bindung an die katholische Kirche lösen. 1965 wurden noch 94 % der Neugeboren katholisch getauft; 2021 sind es etwa noch 30 %…wobei die heutige Vorliebe für sakrale Feiern, wie Taufen, nicht auf eine dauerhafte religiöse Praxis der Beteiligten schließen lässt. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden noch ca. 1.500 Männer pro Jahr zu Priestern geweiht; jetzt sind es jetzt etwa 80 bis 100, die in den Klerikerstand als Priester eintreten wollen. Auf Seite 67 nennt Cuchet die Prozentzahl der französischen Katholiken, die sonntags regelmäßig an der Messe teilnehmen: Es sind 2 bis 3 Prozent. Vor zwanzig Jahren waren es noch 8 Prozent, 1950 waren es noch mehr als 30 Prozent. Die meisten TeilnehmerInnen an der Sonntags-Messe sind heute bekanntlich ältere bis sehr alte Menschen. Nebenbei erwähnt Cuchet, dass es heute wohl mehr religiös praktizierende Muslime als religiös praktizierende Katholiken gibt (S.86). Der Islam wird die „zweite Religion in Frankreich“ genannt, zahlenmäßig betrachtet, aber wahrscheinlich sind die Unkirchlichen und Atheisten bereits längst die stärkste, nicht organisierte „Konfession“.

6. Cuchet bietet viele Hinweise auf diese globale rupture, diesen Bruch im religiösen Leben Frankreichs: Er nennt Formen des säkularen Glaubens, der sich äußert in einer großen Vielfalt, sogar das Joggen wird als eine Form der Askese gedeutet (S.69). Cuchet weist ferner auf die große und in sich vielfältige Gruppe der Menschen hin, die sich „sans culte“, ohne Religion, nennen, Leute also, die in England oder den USA  als „nones“ bezeichnet werden, Leute des NON, des Nein zur Religion. Bei der letzten noch staatlich veranstalteten Befragung zur Religionszugehörigkeit im Jahr 1872 (!) nannten sich von den 36 Millionen Franzosen nur 80.00 „ohne Religion“. Heute sind die Menschen mit der Konfession „Ohne Religion“ in Frankreich fast die Mehrheit. Interessant sind die Hinweise Cuchets zur Bedeutung buddhistischer Präsenz in Frankreich, die er vor allem in einer breiten Bewegung der „Meditierenden“ entdeckt. Dabei ist die Frage, welche neue Form des inhaltlich wohl reduzierten Buddhismus in Europa entsteht…Dabei wird die Frage diskutiert, welcher Unterschied heute zwischen dem ständig verwendeten Begriff „Spiritualität“ und dem der „Religion“ bzw. des Glaubens besteht. Von Spiritualität zu sprechen, deckt sozusagen alle Formen einer etwas intensiveren Lebensgestaltung ab, von Meditation über veganes Essen zu Yoga und Astrologie etc.

7. Es gibt freilich auch heute noch Zentren katholischer Präsenz, vor allem in Paris und anderen sehr großen Städten, von einigen gut besuchten Klöstern abgesehen. In Paris sind es vor allem die Angehörigen der gehobenen Mittelschicht aus dem eher vornehmen 14., 15. und 16. Arrondissement, die katholisch „aktiv“ sind, das gilt auch für die vornehmen Quartiers in Versailles, Lyon, Bordeaux usw. Der Rest-Katholizismus ist (groß)bürgerlich, die katholischen Arbeiterbewegungen sind jetzt nur noch marginal vertreten.

Es gab in letzter Zeit große politische Demonstrationen, an denen die großbürgerlichen Katholiken heftig beteiligt waren, also die “Manifestationen gegen die Ehe für alle“, gegen das Gesetz, das die so genannte „Homo-Ehe“ erlaubt. Und die französischen Bischöfe berichten 2021 stolz Papst Franziskus, dass durch die Massendemonstrationen mit heftiger Unterstützung konservativer bis reaktionärer politischer Parteien die Kirche wieder in der Öffentlichkeit sichtbar wurde. Seit 1930 gab es immer wieder linke katholische Bewegungen und linke katholische Theologen, aber die sind inzwischen fast alle … gestorben und haben keine Nachfolger gefunden. Die progressive Gemeinschaft „Mission de France“ gibt es noch oder auch den Orden „Fils de la Charité in der Banlieue, aber diese Gruppen sind fast ohne Einfluss. Angesichts einer Übermacht konservativer und reaktionärer Kräfte (man denke an den einflussreichen, auch politisch -reaktionären Bischof von Toulon, Dominique Rey von der charismatischen Gemeinschaft Emmanuel) sind die linken Katholiken fast verschwunden, sie haben das Feld geräumt. Man bedenke auch, dass die Absetzung des einzig wahrhaftigen progressiven und linken Bischofs, Jacques Gaillot, Evreux, durch den Vatikan im Jahr 1995 einen tiefen Bruch im Katholizismus erzeugt hat. Bischof Gaillot wurde nun zum Titularbischof des längst untergegangenen Bistums Partenia in Algerien ernannt, also buchstäblich in die Wüste geschickt. Und mit ihm viele tausende progressive Katholiken. LINK .Es ist der Vatikan in seinem Wahn, Pluralismus zu verbieten, der die Gläubigen aus der Kirche treibt. Dasselbe lässt sich auch für den Niedergang des holländischen Katholizismus evident zeigen.

8. Zum Ende des französischen Katholizismus: Der Abschied breiter Kreise der Katholiken begann schon vor der Französischen Revolution, begründet im Entsetzen des Volkes über den maßlosen Reichtum der Klöster und der Bischöfe, über die enge Bindung der Kirchenführer und Äbte an das absolutistische Regime der Könige; die Revolution selbst mit der inszenierten Propaganda der Entkirchlichung in vielen Regionen blieb nicht ohne Wirkung. Der gescheiterte Aufstand der Pariser Commune 1871 zeigte die enge Bindung von reaktionärer Herrschaft und reaktionärem Klerus. Im 20.Jahrhundert wurde durch den Vatikan der Versuch zerschlagen, eine aufseiten der Arbeiterklassen angesiedelte Kirche (Arbeiterpriester) zu bilden. Die Einmischung des Klerus in die gelebte Sexualität („Humae Vitae“) förderte den Abschied vom Katholizismus, um nur einige Beispiele zu nennen. Noch einmal: Der Klerus, Bischöfe, Päpste sind für die Entkirchlichung verantwortlich zu machen. Dieses Thema sollte viel stärker in den Focus der Forschung treten.

9. Der ganze Stolz des französischen Katholizismus seit etwa 1970 sind die so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, oft charismatischer „pfingstlerischer“ Prägung und mit der ganzen primitiven theologischen Schlichtheit der Evangelikalen ausgestattet. Diese zahlreichen Gemeinschaften hatten um 1980 tatsächlich noch viele jüngere Katholiken angezogen. Aber seit etwa 2015 werden „kleckerweise“ immer neue „Fälle“ von sexuellem Missbrauch durch Führergestalten dieser neuen geistlichen Gemeinschaften bekannt, so dass sich Papst Franziskus einschaltete und die Überwindung der Missstände einforderte. Nun ist also auch der gute Ruf dieser einst so gerühmten neuen geistlichen Gemeinschaften dahin.Eine ziemliche Blamage angesichts des Eifers und des Stolzes derer, die auf den Straßenmissionen ihr Alleluja schmetterten. Hinzu kommen noch die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester und des Vertuschens durch Bischöfe sowie die zunehmende Macht reaktionärer traditionalistischer Gemeinschaften und Klöster gerade INNERHALB des offiziellen Katholizismus. Es war ja Papst Benedikt XVI., dem es ein Herzensanliegen war, Klöster der Lefèbvre-Getreuen wieder mit Rom zu versöhnen. Aber diese Mönche zeigen sich nicht nur theologisch reaktionär, sie sind es auch politisch, in ihrer Verbindung mit der Partei Le Pens. Darauf habe ich mehrfach hingewiesen.LINK

10. Der französische Katholizismus versucht sich angesichts dieser vielen Probleme und Skandale irgendwie über Wasser zu halten, zum Teil durch merkwürdige Formen der Volksfrömmigkeit, indem man in diesem Jahr 2021 eine Statue des heiligen Josef durchs ganze Land schleppen lässt oder die marianischen Wallfahrtsorte wieder reaktiviert.

11. Und kein Theologe stellt die entscheidende Frage: Ist am statistisch nachgewiesenen Niedergang des Katholizismus in Frankreich auch das starre Beharren auf der uralten Lehre mit den immer selben Formeln und Floskeln der Dogmen schuld? Mit anderen Worten: Die Leblosigkeit und Erstarrung, das zwanghafte Festhalten an den immer selben Formeln des Glaubensbekenntnisses oder der Mess-Feier etwa, sind heftigster Ausdruck dafür, dass kein lebendiges Wagnis der Neuformulierung eingegangen wird, um nur ein Beispiel zu nennen: „Jesus als erlösendes Vorbild“ zu nennen. Oder: Den Abschied von der Ideologie der “Erbsünde“ zu verkünden, wagt kein katholischer Theologe, kein Bischof, kein Papst.

12. Es kann also jetzt die Situation eintreten, dass eine Religion so alt, so starr und stur geworden ist, dass sie de facto verschwindet? Rechnet man heute ernsthaft auch mit dem Tod von Religionen in bestimmten Teilen der Welt?  Etwa in Europa im 21. Jahrhundert? In Nordafrika ist auch im 6. Jahrhundert ein blühendes Christentum verschwunden, durch die Aggressionen der muslimischen Kämpfer gewiss, aber vielleicht war das Christentum dort auch schon “schwach“ gewesen, so dass die Zwangsbekehrungen zum Islam relativ schnell erfolgreich waren…. In der Tschechischen Republik, vor allem in Böhmen, ist das Christentum, auch die katholische Kirche, zahlenmäßig bereits fast verschwunden. Dazu hat Prof. Tomas Halik Wichtiges veröffentlicht…Wie gesagt, auch in Teilen Frankreichs, wie in dem Limousin oder dem Département Creuse ist die Kirche schon verschwunden… Wenn nicht afrikanische Priester nach Frankreich „eingeflogen“ würden, wäre das kirchliche Leben schon viel früher erloschen. Und wegweisende Projekte, wie die Leitung der Pfarrgemeinden durch Laien in Poitiers, haben wenig Resonanz in anderen Bistümern gefunden.

13. Theologisch betrachtet besteht wohl Die Überzeugung: Der humane Geist des Propheten Jesus von Nazareth wird auch in anderen Organisationen als den Kirchen überleben. Er lebt ja bereits, wenn auch unthematisch, unter den Aktivisten der vielen humanitären NGOs, wie Ärzte ohne Grenzen, Medico, Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer usw.

Ohne jede religiöse Vereinnahmung könnte doch einmal die Präsenz des jesuanischen Geistes unter den Mitgliedern dieser Menschenrechts-Bewegungen besprochen werden…

14. Diese Hinweise haben sich auf den französischen Katholizismus konzentriert. Ähnliche Ergebnisse gäbe es auch beim klassischen französischen Protestantismus, also unter Reformierten und Lutheranern. Zahlenmäßig wahrnehmbar ist der französische Protestantismus vor allem wegen der vielen charismatischen und evangelikalen Kirchengemeinschaften.

Eine Auswahl von wichtigen Studien, die zeigen, mit welcher Intensität die Frage nach der Zukunft der katholischen Kirche in Frankreich studiert und debattiert wird:

2018: Guillaume Cuchet, “Comment notre monde a cessé d etre chrétien. Anatomie d un effondrement”. Ed. Du Seuil, Paris.

2018: Jérome Fourquet, “A la droite de Dieu.” Ed. du Cerf, Paris

2015: “Métamorphoses catholiques”, Céline Béraud et Philippe Portier, Ed. de la Maison des sciences d homme.

2012: “A la gauche du Christ. Les Chrétiens de gauche en France de 1945 à nos jours“ (Denis Pelletier et Jean-Louis Schlegel), Ed. du Seuil Paris.

2007: Céline Béraud, “Pretres, diacres, Laics. Révolution silencieuse dans le catholicisme francais”. Presses Universitaires de France, Paris.

2003: Daniéle Hervieu-Léger, Catholicisme, la fin d un monde. Ed. Bayard, Paris.

2002: “Chretiens, tournez la page” (Autoren  R. Rémond, D. Hervieu-Léger u. andere) Ed. Bayard, Paris

1999: Hippolyte Simon (Bischof von Clermont-Ferrand). “Vers une France paienne?” Editions Cana, Paris.

1999: Danièle Hervieu-Léger,“ Le Pèlerin et le converti“. Flammarion, Paris. Auch auf Deutsch: „Pilger und Konveriten“, 2004, Ergon Verlag Würzburg.

1991: „Les Francais sont-ils encore catholique? Analyse d un sondage d opinion“ (4 Beiträge, u.a. Guy Michelat) Ed. du Cerf, Paris.

1991: Gérard Cholvy, “La religion en France de la fin du 18 siècle à nos jours“,Hachette, Paris.

1985: “La Scène Catholique”, Revue Autrement, Paris. Mit 33 Beiträgen z.T. prominenter Autoren (wie Marcel Gauchet) au seiner Zeit, als es noch viele euphorische „Aufbrüche“ im französischen Katholizismus gab.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Marx, Wagner, Nietzsche!

Über ein neues Buch von Herfried Münkler

Ein Hinweis von Christian Modehn

Herfried Münkler, Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin, legt ein gleichermaßen umfangreiches wie originelles Buch vor: Die drei „Denker“, um diesen etwas pathetischen Oberbegriff für Marx, Wagner und Nietzsche zu gebrauchen, haben mit ihren Werken auf je unterschiedliche Weise den globalen Umbruch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus mit-bestimmt. Ihr politischer, künstlerischer und kultureller Einfluss ist bis heute evident, nicht nur in Europa. Die Werke der drei Deutschen sind keineswegs „ausstudiert“. Man hätte sich wohl auch drei maßgebliche europäische, nicht-deutsche „Denker“ aus dem 19. Jahrhundert vorstellen können. Aber die Bedeutung der drei Deutschen ist unumstritten, und dies zu sagen, hat nichts mit Nationalismus zu tun..

1. Herfried Münkler bietet einen interessanten neuen Ansatz: Er präsentiert und diskutiert Marx, Wagner und Nietzsche NICHT jeweils für sich getrennt, sondern zeigt in allen Kapiteln seines 620 Text-Seiten umfassenden Buches Querverbindungen, Gemeinsamkeiten, Widersprüche. Das macht die Lektüre spannend, aber manchmal auch anstrengend, weil eben von dem einen zum anderen gesprungen wird. Münkler „bringt die Drei miteinander ins Gespräch“, selbst wenn sie, historisch gesehen, kaum Kenntnis voneinander hatten, sieht man einmal von den Beziehungen zwischen dem jungen Nietzsche und Wagner ab. Die drei können sogar, meint Münkler, Begleiter sein im 21. Jahrhundert, aber, und das ist wichtig, „wobei diese Begleitung eher eine der kritischen Infragestellung als eine der selbstsicheren Wegweisung ist“ (616).

Um das besondere Profil jedes der drei im Sinne Münkles anzudeuten: Marx „als Ökonom und Soziologe setzt auf die Revolution der sozioökonomischen Verhältnisse, Wagner auf die kulturelle Regeneration und Nietzsche auf die Schaffung eines neuen Menschen“ (ebd.)

2. Münkler berichtet, dass er sich als Politologe selbstverständlich seit langem mit Marx auseinandergesetzt hat. Neu dürfte für manche die jahrelange Beschäftigung Münklers mit Richard Wagner sein, er kommt lang und breit in dem Buch zu Wort. Nietzsche hingegen ist wohl erst anlässlich der Studien zu diesem Buch für Münkler wichtig geworden (vgl. S. 715).

3. Unter den neun Kapiteln des Buches, die sich auf gemeinsame Sachthemen der drei beziehen, möchte ich vor allem auf das 5. Kapitel „Zwischen Religionskritik und Religionsstiftung“ hinweisen (S. 209 – 289). Das 19. Jahrhundert war nach der Französischen Revolution einerseits vor allem von einer Krise des Katholizismus bestimmt mit den ersten großen Umbrüchen in Richtung Säkularisierung des religiösen Bewusstseins. Andererseits war es aber auch das Jahrhundert vieler Religionsgründungen und Abspaltungen von den großen Konfessionen im Sinne von „Sekten“-Gründungen: Um nur einige zu nennen: Man denke an die Religion des Positivismus gegründet von A. Comte oder an den Altkatholizismus, an neue religiöse Gemeinschaften in den USA, wie die Christian Science oder die Mormonen oder an sehr beliebte esoterische Bewegungen damals wie den Spiritismus. Ich finde es schade, dass Herfried Münkler in seinem Religionskapitel dieses breite und durchaus diffuse religiöse „Aufblühen“ im 19. Jahrhundert in seiner Darstellung der „drei“ nicht berücksichtigt.

4. Marx, Wagner und Nietzsche haben je verschiedene, ganz ungewöhnliche Verbindungen zum Religiösen bzw. konkret zum Christlichen/Kirchlichen. Bei Marx werden die religiösen, d.h. christlichen und jüdischen Lehren „ins Diesseits verlagert“ (211). Im 20. Jahrhundert wird dann „der Kapitalismus als Religion“ thematisiert. Vom Kommunismus als Religion, etwa mit dem Stalin-Kult, spricht Münkler nicht, weil er als Historiker meint, Karl Marx habe mit dem Staats-Kommunismus in der UDSSR nichts direkt zu tun.

Richard Wagner ist bekanntlich als Antisemit auch ein Religionsgründer, er will mit seinen Festspielen eine Art neuer Kunst-Religion etablieren. „Erst in der 1950er Jahren kam ein Prozess der Desakralisierung (von Wagners Opern) in Gang“ (214). Nietzsche benannte und verkündete in seinen Aphorismen und in seinem „Zarathustra“ das faktische geistige und spirituelle Ende des Christentums. Aber Nietzsche hat mit seiner Lehre vom Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen neue religiöse Dimensionen für die „wenigen“ „freien Geister“ erschließen wollen.

In dem Religionskapitel zeigt sich Münkler besonders als Kenner der künstlerischen Welt Wagners. Auf vielen Seiten werden die Inhalte des „Ring“ dargestellt… Dabei zeigt sich „Wagners Sorge um die Zukunft der Religion in einer arelgiösen Welt“ (S. 246). „Was Wagners religiöse Vorstellungswelt durchgängig prägt, ist sein Distanz gegenüber allen Formen der Institutionalisierung des Religiösen, also gegenüber der Kirche und einer dogmatischen Theologie“ (279).

Das ist, möchte man meinen, auch ein ganz aktuelles, “heutiges“ Thema im 21. Jahrhundert, wenn Münkler Wagners Lehre referiert: „Der Theologe als Hüter des religiösen wird durch den Künstler ersetzt“. Heute gibt es neben den Künstlern und Musikern viele “Hüter” des Religiösen, nicht des explizit Christlichen, bis hin in die eher profane Welt der “heiligen” richtigen Ernährung und der “absoluten” Gesundheitspflege als Ideal der Reichen in der reichen Welt…

5. Ich möchte das Thema des Buches etwas erweitern: Was bieten die drei Religionsgründer heute an gemeinsamen Impulsen? Zu dieser Frage führt ja die Lektüre dieses Kapitels…

Die Leidenschaft und geistige Energie von Karl Marx zugunsten einer umfassenden Gerechtigkeit auch für Ausgegrenzten und Armgemachten lebt jetzt in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und den Basisgemeinden weiter. Es gibt also heute ein emanzipatorisches Christentum, das vielleicht Marx erfreuen würde. Weil die dogmatische Hierarchie in Rom spürt, dass in dieser Theologie „etwas Marx“ vorhanden ist, hat der Vatikan diese Theologie auch systematisch zu zerstören versucht, etwa im Bündnis von Papst Johannes Paul II. mit Reagan und dem CIA.

Die Vorstellung, Kunst könnte Religion sein, (siehe Wagner), findet sich fragmentarisch in den letzten Aktualisierungen einer „liberalen Theologie“, die sehr treffend und richtig jedem Menschen eine eigene religiöse Kreativität zutraut. Und religiöse Erfahrungen gerade durch und mit Kunst/Musik etc. für möglich hält und dazu die Chance bietet in den Räumen christlicher Kirchengebäude.

Und Nietzsche? Er ist überzeugend, dass „die Kirche zum Grab Gottes“ geworden ist (in der „Fröhlichen Wissenschaft“, bei Münkler S. 220). Das heißt: Die starren Lehren einer letztlich unwandelbaren und damit vor allem nicht mehr lebendigen Kirche wird für viele, die darin noch verweilen, zum Grab Gottes: Sie werden wegen und durch die Kirchen förmlich zu Atheisten… In dogmatisch erstarrten Kirchen und Sekten wird der Glaube an Gott vertrieben…(Siehe etwa die Studien „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, etwa Erwin Ringel und andere)

6. Das neue Buch von Herfried Münkler bietet überraschende Perspektiven, es ist gut geeignet für Menschen, die ihre Kenntnisse von Marx, Wagner und Nietzsche vertiefen wollen. Münkler zeigt, wie unterschiedlich diese drei Denker des 19. Jahrhunderts auf die globale, politische, ökonomische und kulturelle Krise reagieren.

Man hätte sich gewünscht, in welcher gebrochenen Form die Werke dieser drei je unterschiedlich dann im 20. und nun schon im 21. Jahrhundert rezipiert werden. Dass Marx als Sozialkritiker und Ökonom auch jetzt wieder viel gelesen und debattiert wird, deutet Münkler an. Aber es gibt heute wieder explizite Marxisten und Kommunisten, etwa unter Frankreichs Philosophen (Badiou usw.)…

Dass sich Nietzsches Nihilismus und sein Plädoyer fürs Herrenmenschentum im Bewusstsein und der sozialen/politischen Praxis der Reichen in den reichen Ländern durchgesetzt hat, steht außer Frage. Egismus ist die wichtigste Untugend der Gegenwart. Und Wagners Opern stehen unerschüttert auf den Spielplänen der Opernhäuser, Bayreuth bleibt doch ein säkularer Pilgerort, bei dem die Reichen und Schönen und Spitzenpolitiker sich gern zeigen. Ob sie wirklich von diesen germanischen Mythen innerlich bewegt sind, ist hoffentlich eine offene Frage. Das Hören der Bergpredigt in einem christlichen Gottesdienst kann einige Menschen vielleicht noch verändern, auch politisch zu mehr Solidarität bewegen. Ob dies mit den germanischen Mythen (auch à la Wagner) gelingt, wage ich sehr zu bezweifeln. Es gibt selbstverständlich auch hierzulande einen bisher kaum diskutierten Kultur-“Genuss“ aus purer Langeweile („Ich hörte nun zum 5. Mal Lohengrin“  etc.) oder aus politisch gebotener Repräsentationspflicht (Kanzlerin Merkel in Bayreuth etc).

Herfried Münkler,“ Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt-Verlag Berlin, 2021, 718 Seiten, 34 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Atheismus im Christentum: Das heißt: Atheismus inmitten des Glaubens.

Wer ist ein religiöser Mensch? Jemand, der auch Atheist ist.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Buch „Atheismus im Christentum“ von Ernst Bloch, 1968 veröffentlicht, sollten religiöse Menschen, Christen, Muslime, Juden wie auch Atheisten neu entdecken, auch Atheisten, die bekanntlich auch „nur“ glauben können, nämlich: Dass es Gott nicht gibt.

1.

Der Titel des Buches ist Programm. Man könnte ihn verwandeln in „Atheismus im persönlichen Glauben“. Oder: „Atheismus in meiner, in unserer Spiritualität“. Impulse werden freigesetzt für einen Glauben, der heutige Lebenserfahrungen respektiert, also auch den Inhalt des Glaubens neu gestaltet. Denn bekanntlich ist religiöser Glaube etwas Lebendiges, d.h. Wandelbares, und entgegen vielerlei rigider Praxis der Kirchen und Religionen nichts Versteinertes, nicht auf ewig Dogmatisches.

2.

Ernst Bloch will ein Gottesbild überwinden, um jetzt nur beim Christentum, den Kirchen zu bleiben, das dort bestimmend wurde: Gott wird als Himmels-Herrscher verehrt oder als „Rachegott“ gefürchtet. Dieser Gott bremst die Freiheit aktiver Lebensgestaltung, behindert den Elan, für die universale Gerechtigkeit unter den Menschen auf dieser Erde einzutreten. Bloch wehrt sich aber auch gegen eine andere Gestalt banalen Glaubens, den banalen Atheismus, etwa in „Gespräche mit Ernst Bloch“, 1975, Seite 170. Dieser Atheismus begrenzt sich schlicht darauf, die Materie für „alles“ zu halten und diese zu verehren und … Gott zu bekämpfen. „Mir geht es hingegen um revolutionären Atheismus in Religionen selber, insbesondere dem Christentum, wie man weiß“ (S. 170).

3.

Bloch zeigt, dass Menschen wesentlich von der geistigen Kraft des Transzendierens bestimmt sind. Das heißt: Sie haben die innere, die geistige Energie, über jeden vorfindlichen Zustand hinauszustreben, das erinnert deutlich an Hegel. Bloch denkt entschieden an politische und ökonomische Verhältnisse, die die Menschenwürde aller bekämpfen und ausschließen. Diese Energie für ein „Transzendierens nach vorne, in die bessere Zukunft der Menschheit und der Welt zu entwickeln, ist die wahre spirituelle Leistung der Menschen, vor allem derer, die sich Christen nennen.

4.

Damit wird die Dimension des „Atheismus in meinem, in unserem Glauben“, erreicht:

Wer den Herrscher – Gott im Himmel, den Rächer und wundertätigen Willkürgott, der mal hier, mal dort Wunder für diesen oder mal für jenen tut, wer also diesen Willkür-Gott ablehnt und vernünftig und emotional überwindet, gerät in eine Art Zwischenraum, in eine Leere. Die ist bestimmt von der Erfahrung des Verlustes des alten Gottes UND dem Nicht-Dasein einer neuen zentralen Lebensmitte, sagen wir eines „neuen Göttlichen“, das man in Erwartungshaltung vielleicht den neuen gründenden Sinn, das Heilige, nennen könnte. Aber eben nicht mehr den angelernten Gott aus Kindeszeiten.

Im leeren Zwischenraum ist die Stimmung des Abschieds bestimmend, auch der Angst, etwas Wesentliches und Altvertrautes verloren oder aufgegeben zu haben. Aber doch setzt sich die Einsicht und die Gewissheit durch: Das „alte, überkommene, angelernte, Gottesbild“ stört unsere gegenwärtige Lebenserfahrung und die vernünftige Einsicht. Denn das überwundene, alte Gottesbild ruhte also wie ein „erratischer Block“ in unserem Leben. Damit deutet sich schon an, dass die Leere, der Zwischenraum, um der geistigen Gesundheit willen verlassen werden sollte. Eine neue, humanere Vorstellung von dem Göttlichen oder dem Sinn-Gründenden deutet sich an.

5.

Man könnte bei Bloch also lernen: Wer als Christ diese Situation der Leere, des Übergangs, erfährt und begrifflich denkt, erlebt für sich selbst und in sich selbst den „Atheismus im Christentum“: Der religiöse Mensch, der Christ, ist also Gott „los“ geworden, d.h. gottlos geworden, befreit von einem Gott, der das Leben behindert und die Unreife der Menschen fördert. Bloch weist sehr treffend darauf hin, dass der Philosoph und Mystiker Meister Eckart im 14. Jahrhundert seinen dringenden Wunsch formulierte, er möge „Gottes quitt“ sein, also gott-los werden. Dies sagte er nicht aus einer unreflektierten Zustimmung zu einem vulgären Atheismus. Vielmehr wusste er: Das dingliche und greifbare und verfügbare allgemeine christliche Gottesbild verfälscht den „göttlichen Gott“. Und die Bindung an ihn macht den Menschen unfrei, kettet ihn an Phantome, die Angst erzeugen und verwirren.

6.

Bloch hat also einen Vorschlag, diese Phasen der Leere und des Atheismus als Phasen der Gesundung, der Reifung, des geistigen und politischen Wachstums zu verstehen. So können diese Momente und Zeiten des Übergangs, der Leere, des Atheismus, gelebt werden. Sie sind immer wieder neu sich einstellende Momente einer spirituellen Lebendigkeit. Man könnte also sagen: Wer als Christ nicht oft auch Atheist gewesen ist, hat nicht in einem lebendigen Leben, in einer lebendigen Spiritualität, gelebt. Und diese Lebendigkeit ist wesentlich das dauernde Transzendieren als das Überwinden jeglicher Fixierung. Und gerade dieses dauernde Transzendieren ist das eigentlich Feste und Bleibende im Leben.

7.

Darauf kommt es entschieden an: Religiöse Menschen, also noch einmal Christen, Juden, Muslime, Atheisten sollten diese ihre geistige Struktur, das Transzendieren, als ihren religiösen Mittelpunkt erkennen. Transzendieren ist im Sinne Blochs das  sehr weltliche und politische Transzendieren in eine bessere Zukunft für die Menschheit! Das Ziel des Transzendierens ist für Bloch nicht der vertikal zu denkende göttliche Herr des Himmels und der himmlischen Heere, sondern das umfassend humane Reich der Zukunft. Bloch sprich in dem Zusammenhang von „Transzendieren ohne Transzendenz“, also ohne göttlichen „Himmel“. Es wäre jedoch zu fragen, ob dieses Transzendieren in eine umfassend humane Zukunft („vorwärts“, wie Bloch sagt) nicht bereits schon das Göttliche im Menschen ist. Ich würde den Gedanken unterstützen. Bloch lehnt ihn ab, weil er mit der Voraussetzung einer mit der „Schöpfung“ gegebenen, sozusagen an gelegten geistigen Kraft des Transzendierens rechnet.

8.

Der Atheismus Blochs ist etwas sehr Spezielles. Für Bloch ist die Gestalt Jesu von Nazareth zentral, den er – wie viele andere auch – als „Menschensohn“ versteht, im Anschluss an das Neue Testament. Jesus als der „Menschensohn“ ist die herausragende Gestalt unter den Menschen mit einer radikalen humanen Botschaft. Bloch schreibt: „Jesu Wort: Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan ist entscheidend: Plötzlich erscheint keine Obrigkeit mehr…hier also ist der Gott, der von oben herrscht, vollkommen weg. Und eine Rückwendung auf den Menschen ist da, und zwar zu den Armen, Erniedrigten…Man kann das schon Atheismus nennen, da der theos, der Gott (in seiner Macht) gestürzt wird“ („Gespräche mit Ernst Bloch, S. 171). Jesus wird also gerade als Zeuge einer Humanität zugunsten der Armen und Ausgegrenzten zu einer Art erlösendem, befreienden Vorbild.

9.

Wer sich von den Einsichten Blochs anregen lässt, wird auf eine philosophische und theologische Entdeckungsfahrt geschickt: Ohne Atheismus als Erfahrung inmitten des Lebens gibt es keine Spiritualität. Diese Aussage steht etwa gegen die Kirchen, die immer als Ideal predigen, nur den reinen Glauben allzeit zu leben sei Ausdruck der Heiligkeit und Vollkommenheit. Nur das Gute, nur das Fromme allein zu leben ist in der Sicht Blochs naiv: Glauben ohne in atheistische Phasen zu gelangen, ist etwas Stagnierendes. Der reflektierte Atheismus findet immer wieder zu einer neuen Glaubenshaltung. So entsteht eine geistvolle Dialektik inmitten des Lebens.

10.

Noch einmal: Auch der Atheist ist von einer Glaubenshaltung bestimmt , von der Überzeugung, dass kein Gott ist. Atheisten als Glaubende: Das wäre auch ein Aspekt, der sich aus Blochs „Atheismus im Christentum“ ergeben könnte. „Atheismus ist auch Glauben“ wäre dann der weiterführende Titel. Dieser Atheist kann sich aber von „christlichen Atheisten“ belehren lassen: „Den Gott, den ihr Atheisten ablehnt, den lehne ich als Glaubender genauso ab. Insofern sind wir, Atheisten wie Glaubende, in der Dialektik des Lebens immer in ganz neuer Weise Atheisten. Wir beide, Christen und Atheisten, sind gottlos, nämlich in unserer Ablehnung des banalen Gottesbildes.

11.

Das Nachdenken müsste natürlich Konsequenzen haben in der religiösen oder auch in atheistischen Bildung. Bleiben wir bei der religiösen, der christlichen Bildung etwa der Kinder. Kindgemäße Hinweise auf die göttliche Wirklichkeit lassen sich bestimmt nicht durch das Auswendiglernen von Sprüchen und Gebeten oder durch Kindergottesdienste mit viel kindlichem Tralala erreichen. Wichtiger wäre eine kindgemäße Einführung in das, was man die Tiefe und das Geheimnis des Lebens und der Welt nennt. Dann ist von dem unmittelbar eingreifenden wundertätigen Gott keine Rede mehr, Lehren, die so viel Verwirrung stiften bis ins hohe Lebensalter:  Da wird dann mit einem naiven kindlichen Glauben noch im reflektierten, reifen Alter behauptet: „Wenn Gott dies und das zulässt und nicht als Gott direkt eingreift, dann glaube ich nicht an ihn“.

12.

Solche religiös-kindliche Dummheit kann aber überwunden werden, wenn Kinder und Jugendliche anstelle des üblichen religiösen Tralala eben Meditationen, Achtsamkeit, sowie im Spiel das Nachgestalten bestimmter Parabeln Jesu lernen und üben. Das Verstehen der Religionen darf nie auf einer kindlichen, ich möchte sagen, infantilen Stufe stehen bleiben. Insofern ist mancher „Atheismus“ im Christentum auch oft nichts anderes als die Ablehnung des infantilen Glaubens im Christentum. Der Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel hat dieses Phänomen schon vor einigen Jahren auf den Begriff gebracht: „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, heißt sein Buch, 1985 erschienen. Oder den Titel variierend: „Atheismus durch das Sich Klammern an infantile Gottesbilder“. Dieser „Atheismus“ sollte unbedingt überwunden werden. Aber diese authentische, „sachgemäße“ religiöse Bildung kann kaum noch vermittelt werden, weil sich so viele von der Religion längst abgewandt haben. Sie meinen, es gäbe Religion, es gäbe Christentum, nur in dieser dummen, naiven, infantilen Gestalt. Die freilich die Kirchen aus Mangel an spiritueller Lebendigkeit und , dogmatischer Sturheit fortsetzen, bis zu ihrem eigenen Ende, dem Absterben des Christentums. Nietzsche hat treffend gefragt: Wird die Kirche zum Grab Gottes? (Siehe Friedrich Nietzsches, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 12).  LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Afghanistan: Das Ende der „Mission des Westens“?

Nach der Kapitulation des Westens in Afghanistan.

Hinweise von Christian Modehn

1.

Der militärische Einsatz des Westens in Afghanistan hatte sich als ein humanitäres Projekt verstanden, um Menschenrechte dort durchzusetzen, vor allem für Frauen sollten sie Realität werden. Der Westen hatte dort eine Mission, sie wollte er mit Gewalt durchsetzen.

2.

Der militärische Kampf des Westens in Afghanistan hatte – in der Theorie – hohe Ziele, „Ideale“. Die Militärs des Westens, also konfessionell betrachtet meistens noch nominell Christen, waren eine Art von Missionaren, die zum Töten des Feindes bereit waren. Dieses missionarische Selbstverständnis hat im Gefühl der moralischen und ethischen (christlichen) Überlegenheit des Westens ihren Ursprung. Dass sich die immer noch christlichen und sehr kirchlichen Bürger der USA traditionell als missionarische Nation verstehen, verantwortlich für das Wohl der Welt, ist evident. Dieses ideologische und religiös gefärbte Selbstverständnis verdeckte ökonomische, geopolitische und machtpolitische Interessen, das ist ebenso evident.

3.

Tatsache ist: Diese US-Missionare sind mit ihren Missionen im Laufe dieser langen US-„Missionsgeschichte“ fast immer gescheitert. Sie haben zwar etwa in Lateinamerika ihre politischen Ziele, die Absetzung linker Regierungen mit Gewalt durchgesetzt, aber nicht dauerhaft rechtstaatliche und demokratische Regierungen „produziert“. Diese US-Missionen haben vielen tausend Menschen das Leben gekostet und viele tausend Milliarden US-Dollar verschlungen. Vom permanenten Krieg der USA in allen Teilen der Welt hat nur die US-Rüstungsindustrie profitiert. Friedlicher, humaner ist die Welt durch die vielen US-Missionen also nicht geworden, eher das Gegenteil ist wahr:Man denke an die  US Einsätze in Irak, Somalia, Vietnam, Chile, Guatemala usw…

4.

Jetzt (Ende August 2021) werden auf höchster Ebene heftige Zweifel an der missionarischen Sendung der USA laut. Der „Heilsbringer“ gerühmte Präsident Biden sagt: „Wir sollten keine amerikanischen Leben opfern, um Afghanistan zu einer Demokratie zu machen“ (SZ 28/ 29. Aug 2021 S. 2). Wenn es noch zu militärischem Handeln seitens der USA kommen soll, dann offenbar nur, um unmittelbare Attacken auf US-Bürger zu rächen. Der Katholik Joe Biden warnte die IS-Kämpfer in Afghanistan: „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen, wir werden euch jagen, und ihr werdet bezahlen“ (SZ 28./29. Aug 2021 S. 2). Mit anderen Worten: Die USA werden nicht auf die Sprache der Waffen verzichten. Natürlich können die USA das Abschlachten so vieler Menschen durch die IS in Afghanistan nicht ohne weiteres hinnehmen, es handelt sich wirklich beim IS um Mörderbanden. Aber jede neue militärische Antwort verlängert die Spirale der Gewalt. Gibt es bei dieser üblichen, dieser „eingefahrenen“ Politik noch ein Entkommen aus dieser stetig zunehmenden Spirale der Gewalt? Warum kontaktieren eigentlich Politiker nicht ihre so kenntnisreichen Friedensforscher? Ist Friedensforschung nichts als eine Art akademisches Beschäftigungsprogramm?

5.

An die Kraft des Geistes glaubt heutzutage kein Politiker mehr, also an Dialog, Verhandlungen mit dem Feind, ausschließlich humanitäre Hilfe und vor allem sehr gute geistige und kulturelle Vorbereitung, wenn Europäer, US-Amerikaner, also dem Namen nach Christen in muslimischen Staaten „eingreifen“. Von einer humanen, klugen, reflektierten, gebildeten Friedenspolitik ist offenbar niemand mehr überzeugt. Die Menschen, die zu Feinden erklärt wurden, also die zum Krieg entschlossenen muslimischen Krieger, sind evident auch keine reflektierten Friedensboten. Und die sich human nennende islamische Welt (die Mehrheit?) ist offenbar völlig außerstande, diesen sich islamisch nennenden Mörderbanden irgendwie Einhalt zu gebieten. Immerhin diese Worte von Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland. “Was in Afghanistan passiert, ist ein Schlag für die weltweite muslimische Community: Denn die allermeisten Muslime – und die Afghanen ohnehin – wollen keinen Steinzeit-Islam, gepaart mit Stammes-Doktrin. Und diese Taliban finden jetzt wieder an die Macht. Und das ist deswegen ein Desaster für alle“.

6.

Auch dieses Desaster hat eine (!) entscheidende Ursache in der Überzeugung der Politiker auf beiden Seiten, im Westen wie unter Muslimen: Dies ist die Überzeugung, eine Mission zu haben.

Mission heißt: „Ich bin gesandt, den anderen meine eigene Überzeugung mitzuteilen“. Das kann solange gut gehen, wenn alle Missionare ihr Gesandtsein als Verpflichtung zum friedlichen Dialog verstehen, also als interessierten Austausch, zu dem wie bei jedem geistigen Austausch auch die Lernbereitschaft von anderen, Fremden, Gegner, ja selbst Feinden gehört. Mission hat also schon aus friedenspolitischen Gründen nur den Sinn, wenn sie als gewaltfreier Dialog geschieht. Wir wissen heute, dass diese Erkenntnis ein wahres und erstrebenswertes Ideal beschreibt. Es war unter weniger komplexen Verhältnissen eher realisierbar, ist aber heute in einer a-priori totalkriegerischen, total machtversessenen Welt fast ohne Chancen. Leider wird zu wenig über gelungene Friedensmissionen berichtet, die zwar vielleicht nur einige Jahre Bestand hatten, weil die kriegsversessene Umgebung diese Erfolge zerstörte. Man denke etwa an die gelungene Friedensmission der christlichen Aktivisten „San Egidio“ in dem von Bürgerkrieg zerrissenen Mozambique.

7.

Die ersten Christen haben in ihren Evangelien dem auferstandenen Jesus von Nazareth das Wort in den Mund gelegt, sie sollten als Gemeinde, als Kirche „allen Menschen das Evangelium (in amtskirchlicher Interpretation) verkünden“. (siehe das Markus Ev., 16, 15). Zum missionarischen Islam: Auch der Islam in seinen vielfältigen Konfessionen versteht sich als missionarische Religion, was etwa in der Koran-Sure 34,28 angedeutet wird. Mission heißt zunächst, die Vertiefung der Koran-Kenntnisse bei den ungebildeten Muslimen, aber auch die Bereitschaft, etwa Christen in die islamische Gemeinschaft aufzunehmen. Über Konvertiten ist man hoch erfreut.

8.

Dem Auftrag Jesu bzw. der ersten Gemeinde zur Mission hat die Kirche von Anfang entsprochen, selten sogar ohne Gewalt, sondern im Dialog. Man denke etwa an den Besuch des heiligen Franziskus von Assisi im Jahr 1219 beim Sultan Malik al Kamir in Ägypten, zu einem Zeitpunkt, als katholische Kreuzfahrer das „Heilige Land“ von „ungläubigen Muslims“ zu befreien suchten. Selbst wenn viele historische Details unklar bleiben: Das Treffen hat stattgefunden und ist ein Lichtblick in einer langen Missionsgeschichte der christlichen wie der islamischen Religion (zur Einführung in dieses Thema siehe: https://www.deutschlandfunk.de/franz-von-assisi-und-sultan-al-kamil-begegnen-sich-zwischen.2540.de.html?dram:article_id=455143).

Es wäre ein weites Thema der Missionsgeschichte, die wenigen Momente zu studieren, in denen etwa katholische Missionare aus Europa in „heidnischen Ländern“ auf den Dialog, die Begegnung mit den anderen setzten: Da muss an die China-Mission der Jesuiten im 17. Jahrhundert erinnert werden, etwa an Pater Ricci in Peking, der als hoch qualifizierter Gelehrter im Austausch stand mit dem Kaiser und dessen Gelehrten. Die Jesuiten gingen schon damals soweit, in Begriffe einer „heidnische“ Philosophie, der konfuzianischen Lehre, das Christentum zu übersetzen und es darzustellen. Pater Ricci befand sich in einer großen Gruppe anderer Jesuiten, die ähnlich im (wissenschaftlichen) Dialog mit Chinesen tätig waren. Diese „Dialog-Mission“ scheiterte einerseits an einer theologischen Ängstlichkeit in Rom und an den Umbrüchen innerhalb der chinesischen Dynastie (siehe dazu: Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. C.H. Beck-verlag 2016, S. 646). Auch von den sogenannten „Jesuiten-Reduktionen“ etwa in Paraguay unter dem Volk der Guarani wäre zu sprechen. Aber diese „Dialog-Missionen“ sind absolute Ausnahmen geblieben. Meist wurde der christliche Glaube den „Heiden“ nur äußerlich aufgedrängt und aufgesetzt zum Nachplappern, die elementare Friedensbotschaft des Christentums wurde gar nicht verstanden und verinnerlicht. Man denke etwa an den Völkermord in Ruanda, wo vor allem mörderische katholische Hutus die ebenfalls katholischen Tutsi abschlachteten.

9.

Die sich säkular verstehenden europäischen und nordamerikanischen Staaten begreifen ihre Mission heute als Durchsetzung der universal geltenden Menschenrechte. Menschenrechte sind, wie auch Prof. Herfried Münkler betont, als Zivilreligion zu deuten. Die Menschenrechte sind zwar im Westen formuliert worden, aber diese regionale Herkunft schließt nicht universale Geltung aus, zumal auch die Menschenrechte immer ausführlicher weiter bestimmt werden, etwa als sozialpolitische Menschenrechte. Und evident ist auch: Wer Unterdrückung und Folter in den vielen Staaten erlebt, die eben nicht die Menschenrechte praktisch gelten lassen, hat nur einen Wunsch: Endlich Anteil zu haben an den selbstverständlich für alle geltenden Menschrechte. Über die Menschenrechte als universal geltende Menschenrechte dürfte es, mit Vernunft besehen, eigentlich keine Debatte mehr geben. Es gibt auch philosophische Evidenzen.

10.

Menschenrechte können erfolgreich nur vermittelt werden im Dialog, also in einer friedlichen Situation.

Im Krieg und mit tötender Gewalt Menschenrechte durchsetzen zu wollen, ist von vornherein absurd. „Militärisch kann man einen solchen Konflikt in Afghanistan allein nicht lösen, der Einsatz von Soldaten schafft der Politik Zeit, um mit anderen Mitteln an die Konfliktlösung heranzugehen“. (Oberstleutnant a.D. Rainer Glatz, in „Die ZEIT“,  26.8.2021, S. 7).

Aber wenn man schon einmal begonnen hat, Unrechtssysteme durch Kriegshandlungen zu besiegen, dann soll man als westlicher „Missionar“ auch Geduld und Nerven behalten, bis sich tatsächlich ein wirksamer Systemwandel, etwa in Afghanistan, zeigt. Mit anderen Worten: Der Abbruch der Präsenz des Westens in Afghanistan war völlig übereilt. Denn erste Erfolge hinsichtlich der Menschenrechte sind ja sichtbar, etwa hinsichtlich der Menschenrechte für Frauen, der Durchsetzung von Bildung…

Der Abzug der westlichen Truppen war also übereilt, unreflektiert, darum dumm und gefährlich sowie auch moralisch verwerflich. Denn die Versprechen der westlichen Regierungen, umfassend die vielen tausend afghanischen Mitarbeiter zu schützen und im Falle eines Abzugs der West-Truppen ins westliche Ausland zu bringen, wurden nicht erfüllt. Diese evidente Lüge wird das Ansehen des Westens unter vernünftigen islamischen Bürgern weiterhin stören und zerstören. Und der Westen hat Afghanistan als Land zwar verlassen, der Fluch dieses viel zu früh abgebrochenen Krieges, genannt Friedensmission, wird noch lange leider Wirkungen zeigen, auch im Westen.

 

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Edgar Morin: Sechs Bücher von ihm in deutscher Sprache!

Edgar Morin: Seine Bücher auf Deutsch (Stand Juli 2021)

Der Friedensforscher Werner Wintersteiner, Österreich, korrigiert zurecht meine Mitteilung, es gebe nur drei Bücher in deutscher Sprache von Edgar Morin: (Zum Beitrag von Christian Modehn: LINK)

Auf Deutsch sind tatsächlich von Edgar Morin erschienen (immer noch viel zu wenige!)
– Das Rätsel des Humanen (Le paradigme perdu), München: Piper
– Heimatland Erde (Terre Patrie), Wien: Promedia
– Die sieben Fundamente des Wissens … (Les sept savoirs), Hamburg: Krämer
– Der Weg (La voie), Hamburg: Krämer
– Die Natur der Natur / Die Methode (La méthode), Wien: Turia + Kant
– Für ein Denken des Südens. Berlin:Matthes und Seitz 2014.

Ich empfehle auch das Interview, das Constantin von Barloewen mit Edgar Morin führte, in LETTRE INTERNATIONAL, Heft 121, Sommer 2018, Seite 57 bis 62. Der Titel “Vom Verfall der Zukunft. Es geht darum, dass dieses Ende zu einem neuen Anfang führt”.

Siehe auch die Kampagne “Heimatland Erde” des österreichischen Friedensforschungsinstituts ASPR in Stadtschlaining, in deren Rahmen auch eine Würdigung Morins erschienen ist: https://www.aspr.ac.at/fileadmin/Downloads/Presse/Kommentare/Kommentar_ASPR_WW-Edgar-Morin_08-07-2020.pdf

Werner Wintersteiner hat sein neues Buch Edgar Morin zum 100er gewidmet: Werner Wintersteiner: Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik. Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen. Bielefeld: transcript 2021. Print 27.- €,

PDF open access: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5635-0/die-welt-neu-denken-lernen-plaedoyer-fuer-eine-planetare-politik/

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Edgar Morin über die Beziehung von Poesie und Philosophie.

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zu Edgar Morin LINK

Ein Motto von anderer Seite: „Es spricht nichts dagegen, Sophokles, Beckett, Proust und Celan als Philosophen zu bezeichnen.“ Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp 2014, S. 19).

1.
Über die Einheit und Differenz von Poesie und Philosophie ist schon einiges publiziert worden. Die Debatte geht wohl vorwiegend um die Möglichkeiten der nun einmal immer irgendwie rational-begrifflich geprägten Sprache, die Tiefe des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Also das, was man mit dem Wort Geheimnis umschreibt im Sinne des gründenden, nicht fassbaren Göttlichen. Dieses Thema bewegt den Poeten Yves Bonnefoy oder den Philosophen Edgar Morin, um nur zwei aktuelle Beispiele aus Frankreich zu nennen.
Wer sich um das philosophisch zentrale Thema „Philosophie der Philosophie“ bemüht, kann also nicht auf die Frage nach der Abgrenzung philosophischer Prosa von poetischen (lyrischen) Aussagen verzichten. Und wird weiter zu der Frage geführt: Wie sollte man eigentlich „poetisch sich äußernde Philosophen“ verstehen, etwa den später Heidegger oder Nietzsche. Manche neigen dazu, auch die ihnen selbst schwer verständlichen Philosophen wie Hegel oder Fichte bereits als Poesie zu betrachten, d.h. bei den Betreffenden, sie philosophisch als Poeten „abzuwerten“.
Zu einigen Hinweisen über Bonnefoy: LINK.
2.
Der Philosoph Edgar Morin, der am 8.Juli 2021 seinen 100. Geburtstag feiert, hat mehrfach zu diesem Thema Stellung genommen. Ich beziehe mich auf das leicht zugängliche Buch „Mes Philosophes“, das bei Fayard in Paris erschienen ist. In dem Buch berichtet Morin in kurzen Essays von Philosophen, Religionsstiftern und Künstlern, die ihm am meisten zu denken gaben und geben, auch Beethoven ist darunter. Über Poesie spricht Morin ausführlich in dem „Le Surréalisme“ überschriebenen Kapitel (S. 159 – 163). Ich finde Morins Überlegungen interessant und anregend, einige seiner Aussagen werde ich übersetzen.
3.
Edgar Morin entwickelt seine die Poesie lobenden Gedanken am Beispiel von Dichtern, die als „Surrealisten“ (etwa seit den 1930 Jahren) bezeichnet werden. Morin meint sogar (S. 159), der Surrealismus gehöre zu den „kulturell und sogar philosophisch reichsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts“. Poesie, Denken, die politische Aktion, das Leben, hätten sich darin gegenseitig befruchtet. Der Surrealismus ist in der Wahrnehmung von Morin eine Revolte für die Poesie als Lebensform, wie dies schon für die deutsche Romantik gilt. Surrealistische Dichter (wie Breton, Péret, Mario Pedrosa usw.) wollten die Poesie nicht einschließen und begrenzen bloß auf das Gedicht. Poesie ist für sie treffend vielmehr umfassend „eine Quelle des Lebens“. Edgar Morin meint, diese surrealistische Überzeugung erweiternd: Der Mensch lebe gleichzeitig auf poetische wie auch auf prosaische Weise, Poesie und Prosa sind also für Morin zwei ursprüngliche und primäre Polaritäten des Lebens. (S. 161). Prosa bedeutet für ihn: Arbeit, Nützlichkeitsdenken, Alltägliches etc. Poesie hingegen Verwunderung und Erstaunen, Ekstase, Musik, Tanz, Liebe. Aber beide „Welten“ sind nicht getrennt: In die Realität des Prosaischen ist „eingewebt“ die Phantasie, ohne Phantasie, also Poesie, gibt es keine Realität (S. 161). Morin erwähnt besonders Breton, für den die Welt des Surrealen „eine tiefe und höhere Welt bedeutet“, die im Traum, in der Ekstase der Liebe, in der Poesie zugänglich wird“ (S. 162). Es gibt sozusagen für Morin wie für Breton „innere Welten der menschlichen Seele“(ebd.) Und Morin fährt fort: „Ich glaube ganz tief an eine andere Realität, sie ist ein Geheimnis, aber wir tragen diese Welt ganz tief in uns selbst. Diese andere Realität ist in uns. Wir sind in ihr“ (ebd.). Das sind Worte, die sich an die besten mystischen Traditionen anschließen.
4.
Und diese „mystische Poesie“ muss völlig frei und selbstständig bleiben, sie darf sich niemals in den Dienst einer politischen Partei stellen. „Der Poet kann niemals Partei sein“ (S. 162). Damit erinnert sich Edgar Morin an die Zeit seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs, aus der 1951 ausgeschlossen wurde, ein Ereignis, das ihm umfassende Freiheit brachte. Poesie darf niemals Partei sein, niemals Partei ergreifen, das ist ja nicht nur im politischen Sinne gemeint. Poesie, wenn sie religiöse Dimension hat, darf niemals dogmatisch sein, sich niemals der Institution einer Kirchenbehörde unterordnen. Ein aktuelles Thema, wenn man bedenkt, wie die offizielle Katholische Kirche der Niederlande mit dem katholischen Poeten (und Theologen) Huub Oosterhuis umgeht… und seine Gedichte und Lieder in den Messen dort verbietet…
5.
Morin kommt auf die zentrale Bedeutung der Poesie auch in anderen Kapiteln seines Buches zu sprechen. Etwa in dem Kapitel über den umfassend gebildeten Gesellschaftsreformator Ivan llich (S. 167). “Die Poesie ist übrigens auch ein Aspekt der Ethik. Die Kräfte unserer Ethik kämpfen gegen die Grausamkeit der Welt, aber sie zielen gleichzeitig auf die Erfüllung des Menschen in der Lebensqualität, d.h. in dem Miteinander-Leben und der Poesie.“ Poesie und philosophische Ethik gehören zusammen. Von der Erfahrung der Schönheit also zum Guten kommen? Eine offene Frage
6.
So sehr der Philosoph Edgar Morin auch die Philosophen, unter ihnen auch die Skeptiker, schätzt: Wenn er sich etwa auf Rousseau bezieht und seine „Reveries du promeneur solitaire“( „Träumereien eines einsamen Spaziergängers) bespricht, dann gilt: „Ich spürte ein tiefes Bedürfnis nach affektiven Erfahrungen, die die Sensibilität preisen, die Gemeinschaft mit allen menschlichen Wesen und der Natur. Und das berührt mich bei Rousseau, dieser Sinn für die Poesie, der sich in „Reveries“ ausdrückt. Die wunderbaren Seiten erzählen einen Spaziergang auf der Insel Saint-Pierre, sie sind für mich ein großer Augenblick der Mystik. Mystik ist nicht notwendigerweise religiös. Mystik kann entstehen bei einem Glase Wein unter Freunden oder zusammen mit einem geliebten Menschen oder auch angesichts des Erlebens der lebendigen Natur“ (S. 68f.).
7.
Einen viel besprochenen Gegensatz von philosophischer Kritik, Skepsis, Aufklärung UND Poesie will Morin nicht gelten lassen (S. 75). Die romantischen Dichter, auch Rimbaud, integrieren, so meint er, die Botschaft der philosophischen Aufklärung sowie die Erkenntnisse Rousseaus. Und diese Dichter wie die Philosophen widmen sich dem menschlichen Fortschritt und der Emanzipation der Unterdrückten. Man muss die philosophische Aufklärung integrieren und auch hinter sich lassen. Man muss ihre kritische Energie integrieren! Aber ihre abstrakte Rationalität aufgeben (dépasser), auch das, was Hegel den Verstand (der begrenzter ist als die Vernunft, CM) nannte… Wir brauchen die Vernunft und ebenso „das Denken über die Vernunft – Hinaus. Deswegen bewahre ich Rousseau UND Voltaire zusammen in meinem Geist, sie sind in ihrer Gegensätzlichkeit komplementär“. (S 76).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Was ist unmittelbar? Unsere Erkenntnis und sogar die Gotteserkenntnis?

Einführende Hinweise von Christian Modehn

1.
Das Thema hat weitreichende Bedeutung, nicht nur fürs allgemeine menschliche Erkennen, sondern auch speziell fürs Erkennen dessen, was man das Göttliche, Gott, nennt. Kann ein Mensch etwa Gott „als solchen“ unmittelbar erleben und „als“ Gott erkennen und sogar in Worten „fassen“? Können Wunder als göttliches Eingreifen in die Naturgesetze unmittelbar als solche geschehen? Kann die Kirche eine unmittelbare Begegnung mit der Jungfrau Maria behaupten, die als Himmelskönigin irgendwelche historisch sehr konkreten Worte übermittelt? Etwa in Fatima, Portugal, 1917, als die Himmelskönigin sich höchst persönlich zum kommunistischen Russland äußerte? Keine Frage: Die Frage nach dem Unmittelbaren ist für die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und die Religionskritik aktuell und eine “Pflichtaufgabe“.
2.
Für ein „alltägliches“ Leben ist die Behauptung einer unmittelbaren Erfahrung (von Weltlichem) und deren – angeblich – unmittelbaren Erkenntnis üblich. In der unmittelbaren Erfahrung, als einer Form der mit den Sinnen geschehenen Verbundenheit / Beziehung zur Welt, wird durch die Sinne eine Gewissheit erzeugt beim Menschen. Etwa der Schmerz, wenn der Mensch Feuer berührt. Der Schmerz ist zwar unmittelbar, aber er ist immer bereits im Moment des Erlebens sprachlich geprägt, selbst wenn er noch nicht in Worten gesprochen wird. In der „sinnlichen Erfahrung“ mit der durch die Sinne erzeugten sinnlichen Gewissheit (Schmerz) ist also die Sprache und damit die Vernunft immer schon anwesend. Die Unmittelbarkeit gibt es als Erleben, aber sie ist immer schon durch die Sprache und Begriffe für den Erlebenden wie die anderen Menschen vermittelt.
3.
In dieser „unmittelbaren“ Erfahrung gibt es vier Determinanten:
Es ist das JETZT (also nicht später, nicht früher) dieser Erfahrung.
Das HIER (nur an diesem bestimmten Ort) dieser Erfahrung.
Es gibt – wie gesagt – eine immer schon latent anwesende begriffliche Form der Erfahrung und
es gibt selbstverständlich ein Ich, ein Subjekt, das diesen Komplex dieser sinnlichen Erfahrung erlebt und eben auch davon weiß. Das Subjekt ist der „Ort“ der Vermittlung und Aufhebung des Unmittelbaren.
4.
Diese (in Nr. 3 genannten) Strukturen sind allgemein für alle Subjekte im Umgang mit Welt und mit sich selbst vorhanden und gültig. Welt und Objekte werden immer mit diesen „Determinanten“ erlebt und dann auch verstanden. Die menschliche Erfahrung eines einzelnen Objekts geschieht also immer in diesen allgemeinen Determinanten. Wer vom Individuellen, Besonderen, spricht, ist also immer auf den Gebrauch allgemeiner Begriffe angewiesen. Total individuelle Begriffe einer einmaligen Erfahrung könnten nur zu einer Geheimsprache gehören, die dann aber nur der Erfinder dieser Sprache versteht.
Damit wird den Behauptungen einer total einmaligen und angeblich nicht aussagbaren, „nur“ privaten Erfahrung widersprochen.
Das einzelne Unmittelbare ist also immer in allgemeinen Begriffen vermittelt. Auch Hegel hat daran erinnert, dass das Einzelne NICHT ausschließlich in seinen engen Grenzen als einzelnes, sozusagen wie ein isolierter Punkt begriffen werden kann. Das einzelne Ding steht in einem Vermittlungszusammenhang, wie in einem Netz, mit anderen, auf die es bezogen ist.
5.
Alles Wahrnehmen und Erkennen des Unmittelbaren wird sprachlich in allgemeinen Begriffen vermittelt. Wolfgang Welsch schreibt in seinem Essay „Hegel und die analytische Philosophie“ (in: „Information Philosophie“, 2000): „Jede Berufung auf unmittelbares Wissen ist epistemologisch naiv“.
6.
Wer also das Verbundensein des Menschen mit der Welt begreifen will, muss die vernünftigen Strukturen im Subjekt analysieren. Es geht darum, die Leistungen des Bewusstseins und der Vernunft im Subjekt als konstitutiv für die Verbindung mit dem Objekt zu erkennen. Schon im praktischen Verhalten ist es so: Unser Handeln in der äußeren Wirklichkeit ist dergestalt, dass es als begrifflich geprägtes, vernünftiges Handeln diese dann ebenfalls vernünftig bestimmte Wirklichkeit tatsächlich erreicht, es gibt also eine Übereinstimmung zwischen unseren Handlungsideen und der äußeren Wirklichkeit. Das hat Hegel auch aufs theoretische Erkennen übertragen. Er sah eine Kongruenz von menschlichem Begriff und äußerem Gegenstand.
Es ist wichtig, sich in dem Zusammenhang weiter mit Hegel zu befassen: Für ihn ist der unmittelbare Mensch der in Ego – Strukturen befangene Mensch. Hegel spricht von „der Partikularität, den Leidenschaften, der Eigensucht“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Suhrkamp, 323) Diese beherrschen den Menschen, der sich als total vereinzelter, als Veräußerlichter, in dem Sinne als unmittelbarer versteht. Das wahre Wesen des Menschen ist seine Teilhabe am universalen Geist, und dieses wahre Wesen muss dieser unmittelbar lebende Mensch sich durch seine Vernunft erst noch „erarbeiten“. „Der Mensch ist nur durch diese Vermittlung, er ist nicht unmittelbar“ (303 ebd.) Aber diese Arbeit der Überwindung der Unmittelbarkeit als der falschen Lebensform geschieht nicht ohne den Schmerz des Abschieds von dieser „Leidenschaft und Eigensucht“. Von diesem „natürlichen Herzen, worin der Mensch befangen ist, dies ist der Feind, der zu bekämpfen ist“ (ebd.).
Aber der universale Geist ist auch in diesen falschen Haltungen anwesend, in seiner Energie kann der Mensch die Freiheit erreichen.
7.
Wer Religionen – auch philosophisch – verstehen will, muss sich auf die Bedeutung der „Unmittelbarkeit“ einlassen: Im Christentum ist häufig die Rede von der „unmittelbaren Erfahrung Gottes“. Glaubende, die sich Mystiker nennen und von anderen als Mystiker bezeichnet werden, betonen: Ihre besondere Spiritualität zeichne sich durch die „unmittelbare Erfahrung Gottes“ aus. Diese Erfahrung hat immer einen existentiellen Aspekt. Sie berührt den ganzen Menschen, sie ist mehr als eine theoretische Einsicht: Diese kennt nur das fremde Gegenüber von Menschen und Göttlichem. In der Mystik hingegen löst sich dieses Gegenüber in ein Gefühl der Einheit auf. Die Untersuchungen dieser drei zusammenhängenden Begriffe „unmittelbar“, „Erfahrung“ und „Gott“ füllen riesige Bibliotheken. Hier nur einige Hinweise:
8.
Die Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (1515 – 1582) gilt in der Mystik-Forschung als Vorbild mystischer Frömmigkeit. Sie hat ein umfangreiches literarisches, spirituelles, mystisches und theologisches Opus hinterlassen. Wer bei ihr nach der Bedeutung ihrer unmittelbaren Gotteserfahrung fragt, kann sich z.B. mit einem Text ihrer „Vida“ befassen. Der Mystik-Forscher Alois M. Haas hat sich damit in seinem Buch „Mystik als Aussage“ (Suhrkamp 1996) befasst. Er zitiert (S. 54) Theresa, wenn sie von der ihr zuteil gewordenen Gnade spricht, die „von kurzer Dauer“ war, nämlich Christus erfahren zu haben. Dazu waren für Theresa aber Voraussetzungen nötig: Diese Erfahrung habe sich ereignet, als „ich mich in die Nähe Christi versetzte“ und „bisweilen auch, als ich (die Bibel) las (leyendo, auf Spanisch): In diesen Momenten „überkam“ sie „ein Gefühl der Gegenwart Gottes, so dass ich gar nicht zweifeln konnte, er sei in mir oder ich sei ganz in ihm versenkt“. „Gott“ „in“ Theresa „versenkt“, eine für sie zweifelsfreie Erfahrung also, eine offenbar unmittelbare Erfahrung.
Dieses Erleben der Vereinigung mit Gott war aber für sie kein irrationaler Rauschzustand, sondern es geschah mit Bewusstsein: Denn Theresa war danach in der Lage, in Worten zu sagen: „Er (Gott) war in mir oder ich ganz in ihm versenkt“. Sie selbst wehrt sich in dem Text ausdrücklich, ihre Gotteserfahrung sei eine, so wörtlich, „Vision“ (also eine Art „Entrückung“) gewesen! Theresa bewertet hingegen ihre Gotteserfahrung überraschend als „mystische Theologie“! Damit will Theresa ihre mystische Erfahrung mit den Begriffen, eben der Theologie, verbinden, also die Unmittelbarkeit des Erlebens in eine begriffliche und „trans-subjektive“, also allgemeine Sprache überführen. Und sie wollte mit ihrem Hinweis auf Theologie ihre dogmatischen Gegner besänftigen, die mit Mystik auch zu ihrer Zeit nur subjektive Eigenwilligkeit und Entrückungen und Verzückungen vermuteten.
Wären Theresas Geist und ihr Erinnerungsvermögen ausgeschaltet gewesen in ihrer „Versenkung“, also in ihrer Gotteserfahrung, hätte sie nicht später davon sprechen können. Entscheidend ist ihr kurzer Satz: „Der Wille liebt“ in diesem Moment der Versenkung: Liebe zu Gott ist für sie die entscheidende bleibende Voraussetzung Zugang zu Gott zu finden. Dann folgen aber diese Worte, in denen sie die Grenzen des Verstehens dieser mystischen Erfahrung anspricht: „Das Gedächtnis scheint mir beinahe verloren, der Verstand denkt nicht nach, aber er verliert sich nicht. Der Verstand ist nur untätig und wie von Staunen hingerissen über das viele, das der Verstand hier gewahrt.“ Also, der Verstand selbst nicht mehr aktiv, er ist passiv „hingerissen“ von dem, was sich ihm zeigt. Und dann folgen die das mystische Geschehen wieder relativierenden Worte, um jegliches „Wegschweben“ und das Entrücktsein auszuschließen: „Denn Gott lässt den Verstand erkennen, dass der Verstand nichts von dem begreift, was seine Majestät (Gott) ihm vorstellt.“ Die mystische Erfahrung erschließt also keinen inhaltlich breiten Gewinn an Erkenntnis Gottes, keine „Details“ seines inneren, göttlichen Lebens. Vielmehr ist das Resultat: Gott zeigte sich, aber der Verstand begreift nichts Inhaltliches. Mit anderen Worten: Die Mystikerin wurde mit dem unauflösbaren Geheimnis Gottes konfrontiert.
9.
Diese Aussage als theologische Erkenntnis ist ein wichtiger Hinweis: Eine sich unmittelbar nennende Erfahrung Gottes gibt es nicht, die Erfahrung selbst enthält schon den Verstand, der dann später die Erfahrung in Worte fassen kann. Und diese vermittelnden Worte sind jeweils historisch, von der Bildung des Erlebenden, geprägt: Wenn sich Theresa, wie sie sagt, in die „Nähe Christi versetzt“, dann ist es der konkrete bildhafte Christus, der ihr auch durch die Lehre der Kirche und der Theologie ihrer Zeit und ihrer Umgebung vermittelt wurde.
10.
Warum ist es so wichtig, darauf zu insistieren, dass in der unmittelbaren mystischen Erfahrung immer die Vermittlung durch Begriffe besteht? Weil nur mit dieser Erkenntnis die immer subjektive, einzelne Erfahrung in den Bereich des allgemeinen Gesprächs und der kritischen Debatte treten kann. Das ist heute politisch so wichtig: Wer auf einer absoluten Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung besteht, will sich autoritär abkapseln, will sich bedeutend machen, sich als Meister und Guru aufspielen. Es wäre zu prüfen, in wie weit diese autoritäre Unmittelbarkeit von Propheten und Aposteln usw. in der kirchlichen Bibelinterpretation oder in der Korandeutung behauptet wird. Nur wer die immer vermittelte Unmittelbarkeit bejaht und kritisch durchleuchtet, will einen freien, nicht-autoritären, einen nicht-fundamentalistischen Glauben.
11.
Es ist wichtig, noch einmal auf den Philosophen G.W.F. Hegel (1770 – 1831) zurückzukommen. Für ihn ist der christliche Glaube nicht die Bindung an eine historische Gestalt (Jesus) oder an ein Buch (Bibel) oder an eine Institution. Für ihn als Philosophen, der die Religionsgeschichte und damit auch die Christentums-und Kirchen-Geschichte auf den Begriff gebracht hat, ist der Glaube des Menschen an Gott die Beziehung zum Geist, dem göttlichen. Und dieser ist als solche (weil Gott das andere seiner selbst, die Welt „schafft“) auch im Menschen selbst anwesend, eben als „Geist des Menschen“. Diese Beziehung des Geistes im Menschen auf den in ihm auch anwesenden göttlichen Geist ist das Entscheidende. Darum sagt Hegel: „Der Glaube ist Zeugnis des Geistes vom Geist“. (Vgl. dazu Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, Seite 387). Hegel betont immer wieder, „dass es nicht zweierlei Vernunft und nicht zweierlei Geist geben kann, nicht eine göttliche und eine menschliche, nicht einen göttlichen Geist und einen menschlichen, die schlechthin verschieden voneinander wären. Die menschliche Vernunft ist Vernunft ÜBERHAUPT, ist das göttliche im Menschen… Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig und als Geist gegenwärtig im (menschlichen) Geist“. (Dieses Hegelzitat siehe S. 388, Jaeschke).
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Daraus zieht Hegel die Konsequenz zur Erkenntnis Gottes: „Wir wissen unmittelbar von Gott, dies ist eine Offenbarung Gottes in uns. Weder die positive Offenbarung (also die Bibel) noch die Erziehung kann Religion bewirken“, denn dann wäre Religion etwas von außen Gewirktes, sagt Hegel. Dieses unmittelbare Wissen bei Hegel überrascht! Aber auch hier gilt: Es muss vermittelt werden in Begriffen. Das ist möglich, weil im unmittelbaren Erkennen die Tendenz zum Wissen schon angelegt ist. Wichtig ist für Hegel: Wenn Religion (oder auch Sittlichkeit) im Menschen immer „vorkommt“, dann wird Religion als Geistiges „im Menschen nur erregt“. „Der Mensch ist Geist an sich, die Wahrheit liegt in ihm, und so muss ihm das zum Bewusstsein gebracht werden“. (Dieses Hegelzitat stammt aus dem genannten Buch von Jaeschke S. 390). Religion „schlummert“ also förmlich im Menschen und muss zum Bewusstsein und zum begrifflichen Wissen gebracht werden. Es gibt also eine Offenbarung Gottes in den Menschen als Menschen, weil sie vom Geist, der heilig ist, sich bestimmen lassen. Dieses unmittelbare Verbundensein des Menschen mit dem göttlichen Geist ist die Basis.
In meinem eigenen Bewusstsein bin ich mit Gott unmittelbar verbunden, er ist nichts Fremdes, sondern Geist, wie ich Geist bin. Dieses Selbstverhältnis des Geistes ist also nach Hegel Ausdruck der Freiheit.
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Auch in der Literatur ist das Thema Unmittelbarkeit und Vermittlung naturgemäß ständig präsent. Ich denke etwa an das neue Buch „Ein Monat in Siena“ von Hisham Matar, als Übersetzung von „A month in Siena“. Der Autor, 1970 geboren, lebt als Literaturwissenschaftler in England; seine Eltern stammen aus Libyen. Sein Vater wurde als Oppositioneller 1990 aus Ägypten entführt und von Gaddafis Mördern hingerichtet.
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Den Tod des Vaters versucht Hisham Matar regelmäßig durch eine „unmittelbare“ Begegnung mit Kunst, mit Gemälden, zu „bearbeiten“. Hisham Matar betont, im Dialog mit einem Gemälde zu leben, vor allem eben mit den Gemälden in Siena. Es gibt für ihn einen Austausch mit dem Gemälde. Es wird für ihn zu einem geistigen und physischen Raum. „Wie ein Zimmer, in das man von Zeit zu Zeit flüchtet, um Gespräche, zu haben, die man sonst irgendwo haben kann“. In dem Beitrag von Le Monde sagt er: „Ich spreche zu den Gemälden und sie antworten mir“.
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Es ist das geduldige, oft stundenlange Sich-Versenken in ein Gemälde (Theresa von Avila sprach von einem Sich – Versenken in die Gestalt Jesu Christi), die zu neuen Erkenntnissen, zu rettenden Einsichten führt. Es ist dieses Sich-Hineinbegeben in eine geistige Gestalt außer mir, die zunächst zu einer Unmittelbarkeit, zu einer Vereinigung führt, die dann aber als reflektierte Unmittelbarkeit Erkenntnisse vermittelt, vielleicht neuen Mut zum Leben.
Wir sollten also das Hineintreten in eine langdauernde Unmittelbarkeit (Beispiel: Christus-Betrachtung der Theresa von Avila oder das Sich in ein Gemälde Versenken) nicht nur zulassen, sondern für uns fördern, wenn wir denn nach dem Erfahrungserlebnis Worte finden wollen, für uns selbst wie für andere.
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Man spürt es etwa bei trockenen theologischen Texten: Da hat der Autor keine Unmittelbarkeit erlebt, er war nicht „versenkt“ in eine Sache, eine Person, ein Bild etc., sondern er hat Begriffe hin und her gewendet. Begriffliche Trockenheit und Öde, das bestimmt etwa dogmatische Texte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin