Impfaktivitäten in Kirchen: Alles andere als eine „Profanisierung des Sakralen“.

Über die Humanisierung des „Sakralen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. In einigen Kirchen, auch in einigen katholischen Kirchen, in Wien sogar im Stephansdom, wird gegen das tödliche Virus geimpft. Man muss kein Theologe sein, um diesen Impf-Initiativen aus ganzem Herzen und mit ganzer Vernunft zuzustimmen.

Ich erlebe es ständig vor der eigenen Haustür: Da stehen bei Wind und Wetter Menschen, die auf die Impfung beim Hausarzt warten und oft nur im Schein der Straßenlaternen mit Mühe Dokumente auf der Straße ausfüllen. Zur großen und mächtigen katholischen Kirche St. Matthias am Winterfeldt-Platz in Berlin-Schöneberg sind es nur 50 Schritte. Aber diese große Kirche mit ihren (fürs Impfen geeigneten) kleinen Seitenkapellen am Eingang bleibt geschlossen…

Darum meine volle Zustimmung, dass durch die vernünftige Entscheidung des Wiener Dompfarrers Toni Faber das Impfen in dieser, so sagen manche, „heiligen, sakralen Halle“, möglich wurde. An einem Wochenende allein wurden in St. Stephan 734 Menschen gegen Covid geimpft. Bravo!

2. Damit könnte ich meinen Hinweis eigentlich beenden, weil er nur von einer selbstverständlichen humanen Hilfe berichtet… und von der Selbstverständlichkeit, dass ein sogenanntes “Gottes-Haus” nur sinnvoll ist, wenn es auch Haus für die Menschen ist…

Aber diese Hilfsbereitschaft eines Pfarrers und seiner Gemeinde in Wien hat eine theologische Problematik erzeugt: Denn, man glaubt es kaum: Da gibt es einen katholischen Theologieprofessor, Jan-Heiner Tück, an der Wiener Uni, einen Theologen, der sich offiziell „Dogmatiker“ nennt: Und der diese Impfinitiative im Stephansdom eine, so wörtlich, „Profanisierung des Sakralen“ nennt. Menschliches Helfen, mehr noch: Rettung von Leben in einem “Gotteshaus”, das sich auf Jesus von Nazareth bezieht, wird als Profanisierung des Sakralen abgewertet. Ich halte diese Verurteilung dieser großartigen humanen Hilfe IM Stephansdom für eine Schande. Und es ist eine Blamage für einen Dogmatiker und katholischen Theologen, solches ernsthaft öffentlich zu sagen. Dieses unsägliche Urteil: „Profanisierung des Sakralen“ wegen Impfens in der Kirche ist kürzlich in der Grazer Tageszeitung „Kleine Zeitung“ veröffentlicht worden. Diese Nachricht wurde dann über viele Medien auch in Deutschland verbreitet. Ob der Dogmatiker Tück sein Urteil inzwischen zurückgezogen hat und sich für den Unsinn entschuldigt hat, ist bisher nicht bekannt geworden.

3. Darum der kritische Hinweis: Im Christentum, sogar im Katholizismus, sind Kirchen und Dome nicht nur Stätten der Andacht und des Gebets, der Gottesdienste und Musik-Aufführungen und Kunst-Ausstellungen. Aber diese Veranstaltungen sind kein Selbstzweck, sie sollen eigentlich den Glaubenden Orientierung bieten, also Lebenshilfe leisten, und eine hoffentlich heilende, die Seele heilende Wirkung haben, was bekanntlich nicht immer der Fall ist angesichts der vielen Dogmen und kirchenrechtlichen Ausschlüsse und Verbote.

4. Wenn nun in Kirchen gegen das Corona-Virus, in höchster Not, geimpft wird, ist dies, theologisch gesehen, nur die Fortsetzung des selbstverständlichen kirchlichen Anspruchs, heilend in diesen Kirchen-Räumen tätig zu sein. Diese theologische Aussage mag den Menschen, die sich im Stephansdom impfen lassen, auch ziemlich egal sein, Hauptsache ist: Sie werden geimpft. So wie es den Veranstaltern von Haydn und Mozartmessen auch egal ist, was sich die Zuhörer dabei so alles denken. Hauptsache: Sie erfreuen sich an der Musik und lassen sich je auf ihre Art seelisch, wie auch immer, „berühren“.

5. Eine theologische Schande bleibt aber der Satz von der „Profanisierung des Sakralen“ (Jan-Heiner Tück) durch das Impfen in einer Kirche, also in einem so genannten Gotteshaus. Impfen gegen das Virus aber ist heilendes Handeln für die Menschen, es rettet Leben. Ist dieses Geschehen theologisch betrachtet etwa “bloß” „profan“? Wenn Menschen wieder eine bessere, d.h. sehr wahrscheinlich gesunde Zukunft vor Augen haben, wenn ihnen also neuer Lebensmut und Lebenssinn erschlossen wird, dann wird Dankbarkeit geweckt, Dankbarkeit, dass die Wissenschaften diese Impfstoffe zur Verfügung stellen können. Dankbarkeit, dass man selbst, medizinisch gut versorgt ist, in einem Staat, der, zwar mit Mühe, Impfstoffe für alle zur Verfügung stellt. Im Unterschied zum “armen Süden” dieser Welt, der die reichen Staaten die Gratis-Impfstoffe vorenthalten, aus ökonomischen Gründen…. An wen soll ich aber meinen Dank für ein „gutes medizinisches Versorgtsein“ adressieren? Manche tun dies, indem sie sich auf das Göttliche, Gott, die Göttin, Jesus, beziehen oder einem guten „Schicksal“. Auch diese Haltung der Dankbarkeit ist alles andere als profan, wie der Dogmatiker Tück von der Wiener Uni behauptet.

Als Nebeneffekt, aber nur als Nebeneffekt, kann sich bei einigen Geimpften IM  Stephansdom die Idee durchsetzen: Eigentlich sollte ich als privilegierter Geimpfter alles tun, auch politisch tun, dass auch die Menschen im armen Süden dieser Welt endlich geimpft werden!

6. Heilendes Handeln, also auch Impfen gegen die Pandemie, hat in den Kirchen seinen richtigen Platz. Das Wichtige bei dieser Impfaktion in Kirchen ist: Dort wird eine heilende Wirkung durch ÄrztInnen und KrankenpflegeInnen bewirkt. Es ist nicht mehr der Priester, der da – als Kleriker – sakramental “heilend” handelt. Mit den Impfaktionen in den Kirchen wird dem männlichen Klerus die Allmacht des heilenden Handelns entzogen. Noch einmal, dies ist Stand der heutigen Theologie: Auch ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen wirken heilend- auch im christlichen Sinne. Kleriker allein sind niemals „Heilsvermittler“. Die Zeiten, als man das machtvoll behauptete, sind vorbei!

7. Noch eine theologische Entdeckung: Heilung im christlichen Sinne, auch im katholischen Sinne, kann niemals nur eine geistige, geistliche, also sakramentale Heilung sein. Das wurde oft selbst im Vatikan behauptet, ist aber falsch: Wenn die Menschen Wesen aus Geist, Seele und Leib sind, ist auch die Rettung des Leibes, also etwa die Bewahrung vor Krankheiten, etwas Heiliges, etwas Sakramentales, das eben selbstverständlich nicht vom Klerus allein initiiert wird!

8. Falls der Dogmatiker Tück schon von der Befreiungstheologie in Lateinamerika gehört hat: Die zentrale Aussage ist: Befreiung als christliche Erlösung hat immer einen leiblichen und gesellschaftlichen und politischen Aspekt. Die menschenfreundliche, deswegen „heilende“ Gemeinde der gleichberechtigten ChristInnen kann ein Vorzeichen sein des Ewigen. Bekanntlich sprechen Befreiungstheologen zurecht von den gesellschaftlich verfassten Strukturen der Sünde: Da hat sich sozusagen das leibliche und gesellschaftliche Elend in Strukturen und Gesetzen „versteinert“. Diese Strukturen als sündige aufzulösen ist der Kern christlichen Botschaft. Materielles Wohlergehen für die Ärmsten, also auch Gesundheit in einem demokratischen Staat der Menschenrechte, ist eine (!) Gestalt dessen, was Christen hochtrabend Erlösung nennen (gerade im Umfeld zu Weihnachten).

9. Und man möchte dem Dogmatiker mal vorschlagen, die Geschichte der Kathedralen und anderer großer Kirchen zu studieren: Diese wurden im Mittelalter und der frühen Neuzeit selbstverständlich als Treffpunkte der Menschen genutzt, als Orte des Gesprächs, der Beratung, auch des Handels. Und es wäre lohnend auf die Lebensbedingungen der alten (leider von deutschen und ukrainischen Nazis zerstörten) Synagogen etwa in Galizien zu achten: Sie waren Lehrhäuser und Unterkünfte, eben Orte der Menschlichkeit. Solche “Profanisierung” gilt auch für christliche Kirchen: Nicht-profan, also heilig, ist allein Gott bzw. das Göttliche. Alles und alle anderen n dieser Welt sind in je unterschiedlicher Weise profan. Auch ein Kleriker ist profan, auch ein Papst ist profan, selbst wenn er immer noch von einigen Unentwegten “Heiliger Vater” angesprochen wird.

10. Wer die Impfaktionen in den Kirchen als Profanisierung bezeichnet, sollte ehrlich sein: Er behauptet auch implizit, dass diese angeblich “sakralen” Räume dann naturgemäß schmutzig werden, dass es mit vielen unbekannten Menschen etwas lauter zugeht, und auch dies: Dass die Menschen vielleicht Toiletten suchen, die innerhalb der katholischen Kirchen so gut wie nie vorhanden sind. Toiletten könnte man – mit einigem Organisationstalent- neben dem Eingang platzieren. Das nur nebenbei.

11. Gegen die These der „Profanisierung des Sakralen“ (Tück) möchte ich unterstreichen: Wer solches sagt, degradiert die Kirchengebäude zu sterilen Museen, in denen der Klerus Messen zelebriert und predigt (Laien dürfen nicht „predigen“) … zumal so oft in Worten und Floskeln, die heute auch für religiöse Menschen kaum noch nachvollziehbar sind.

12. Es mag ja sein, dass der Wiener Dompfarrer im Eifer des Gefechts und im Angesicht der oft (rechts)extremen Impf-Gegner (FPÖ-Kreise sind bekanntlich unbelehrbar usw…) verbal ausgerutscht ist, als er, der vielfach verbreiteten Nachricht folgend, sagte, sagte: Er habe “mit Ungeimpften kein Mitleid mehr”. Aber diesen einen Satz gleich zum Anlass zu nehmen, beim Impfen IM Dom von einer „Profanisierung des Sakralen“ zu sprechen, ist übertrieben und theologisch falsch.

13. So führt also eine falsche theologische Aussage“ über die „Profanisierung des Sakralen“ durch die humane Aktion des Impfens in Kirchen erneut zu einem erweiterten Verständnis von „Erlösung“ und „christlichem Heils-Verständnis“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Die Russisch-orthodoxe Putin-Kirche: 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion dem Herrscher ergeben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.12.2021

1. Vor 30 Jahren, am 26. Dezember 1991, wurde offiziell die Sowjetunion beendet, die Rote Fahne wurde durch die Russische Flagge ersetzt. Verschwunden ist der Ungeist der Sowjetzeit bis heute nicht. Wie sollte auch Menschen so schnell Demokraten werden können, Menschen, die von der kommunistischen und stalinistischen Diktatur drangsaliert wurden und zuvor Jahrhunderte unter der Zarenherrschaft, als „Leibeigene“, galten. Die europäische Aufklärung hatte bekanntlich nur eine Minderheit der Russen geprägt. Selbst Dostojewski war im Alter ein Verteidiger der „russischen Idee“ zur Rettung Europas.

2. Über das offizielle Ende der UDSSR vor 30 Jahren wird viel veröffentlicht. Ein wichtiger, in Deutschland leider eher als marginal betrachteter Aspekt, ist die „Russisch-Orthodoxe Kirche“ mit dem Patriarchen von Moskau. Diese sich stolz „rechtgläubig“ nennende kirchliche Organisation hat seit 1992 eine rasante Entwicklung gestalten können: 30.000 Kirchen wurden im ganzen Land eröffnet, es gibt mehr als 50 theologische Seminare zur Ausbildung der Popen, sehr viele Russen nennen sich „russisch-orthodox“. Der Wunderglaube ist weit verbreitet. Die Reliquien des heiligen Nikolaus, als Leihgaben nach Moskau gebracht, wollten unbedingt zweieinhalb Millionen Menschen sehen. Allerdings ist der Anteil der regelmäßigen Teilnehmer an den Sonntags-Liturgien eher sehr gering (Fußnote 1, siehe unten). Kein Wunder, die weihrauch- geschwängerten Gesänge und Gebete werden in der heute kaum verständlichen  “Kirchenslawischen Sprache” vorgetragen, kaum jemand unter denGläubigen versteht das, so bleibt nur das permanente Rufen „Herr erbarme dich“ und das ständige demütige Sich-Bekreuzigen. Das Bekenntnis zur Kirche ist einerseits Folklore. Andererseits lässt sich die Russisch-orthodoxe Kirche sehr gern als ideologische- nationalistische Stütze von Putin und dem Putin-Regime gebrauchen. Zumindest die oberen Bischöfe und der Patriarch vor allem haben davon enorme finanzielle Vorteile, der Patriarch selbst gilt als Multi-Millionär (zu den Auseinandersetzungen darüber: https://g2w.eu/news/697-russland-russische-orthodoxe-kirche-weist-behauptungen-ueber-reichtum-von-patriarch-kirill-zurueck). Über die wirtschaftlichen “Akivitäten” der Russisch-Orthodoxen Kirchenführer berichtete schon im Frühjahr 2004 Aleksandr Soldatov in Lettre International, S. 78f. Von merkwürdigen kirchlichen Wirtschaftsunternehmen ist in dem wissenschaftlichen Beitrag die Rede, etwa vom kirchlchen Trinkwasser “Heiliger Quell”, es wedn Unmengen von sogen. Messwein produziert, auch habe sich ein weites Netz von “Milchkiosken”  und “orthodoxen Apotheken” in Moskau gebildet…

3. Die Russisch-Orthodoxe Kirche soll sozusagen die traditionellen Werte Russlands vertreten und verteidigen, das religiöse Opium liefern, von dem dann das Putin Regime sehr gern Gebrauch macht zur Festigung des eigenen Systems. Putin will in seiner zur Schau gestellten Nähe zur Kirche als Mann des russischen Volkes erscheinen. Darum nimmt er immer wieder an den Liturgien teil, etwa zu Ostern in “Christus Erlöser Kathedrale”. Die Freundschaft zwischen Patriarchen und Herrscher lohnen sich für die Kirche: Priester geben nun Kurse zur „Orthodoxen Kultur”  in den Schulen. Ganz sanfte Distanz deutet sich an, wenn nun der Patriarch doch davon absehen will, in Zukunft auch die Massenvernichtungswaffen Russlands zu segnen. Hingegen  sollen die Soldaten und ihre Herren Generäle den kirchlichen Segen nach wie vor erhalten.

Der Historiker Heinrich August Winkler betont den geschichtlichen Hintergrund für dieses “Kirche-Staat-Verhältnis”: “Anders als im europäischen Okzident des Mittealteres hatte es in Russland keine Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt gegeben. Vielmehr blieb die geistliche Gewalt der weltlichen stets untergeordnet, weshalb die orthodoxe Kirche nie zu einem Korrektiv der jeweiligen Staatsmacht wurde.” (“Werte und Mächte, C.H. Beck Verlag München 2019, S. 638).

Nebenbei: In Paris wurde 2016 die neue russische Kathedrale Sainte Trinité eröffnet, eine imposante Architektur mitten in Paris.

4. Leider ist die Kenntnis der aktuellen religiösen Zustände, also das Leben der Russisch-orthodoxen Kirche, in West-Europa, auch in Deutschland, sehr unterentwickelt. Diese Kirche ist Staatskirche, bzw. präziser, eine Art Putin-Kirche, ihm, dem Herrscher, fast völlig ergeben. Kürzlich wurde in Moskau eine monumentale neue Kathedrale für die Russische Armee eingeweiht. Ein riesiges Mosaik als Wandschmuck zeigt den Diktator Stalin, anlässlich der Militärparade zum Sieg der Armee über Nazi-Deutschland. Eigentlich hätte nach kirchlicher Vorstellung auch Putin auf diesem Gemälde „verewigt“ werden sollen, aber der fand dann doch diesen Ruhm im Augenblick für etwas übertrieben.(So im Artikel des Russland Spezialisten Emmanuel Grynszpan am 4. Mai 2020 für die Genfer Tageszeitung Le Temps: https://www.letemps.ch/monde/staline-va-orner-murs-dune-cathedrale-orthodoxe-moscou).

5. In jedem Fall zeigte das Moskauer Patriarchat durch die Komposition des Mosaiks eine gewisse Nähe ausgerechnet noch zum Stalinismus, was erstaunlich ist, wurden doch viele tauend Priester und Gläubige unter Stalin, dem ehemaligen Priester-Kandidaten aus Georgien, aufs übelste verfolgt und gequält und umgebracht. Aber Stalin ist bei der akuellen Verehrung seiner Person wieder „am Kommen“.

Und nebenbei: Einigen russisch-orthodoxen Kirchenführern (wie die Patriarchen Pimen I. oder Alexius II.) wurde nach 1989 mit guten Belegen eine Mitarbeit für den KGB-Agenten nachvollziehbar vorgeworfen. Die Sehnsucht der römisch-katholischen Kirche nach einer freundschaftlichen Ökumene mit “den” Orthodoxen, auch mit dem Moskauer Patriarchat, müsste hier ausfühlicher kritisch dargestellt werden. Die Führer der meisten orthodoxen Kirchen sind theologisch extrem konservativ, in der Sexual – Ethik schlicht und einfach verkalkt, sagen Beobachter. Mit diesen Herren eine tiefe, freundschaftliche und lernbereite Ökumene zu pflegen, führte die römisch-katholische Kirche noch weiter in konservative Positionen jenseits heutiger Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen. Selbst Papst Franziskus sucht immer wieder die Nähe zum Moskauer Patriarchen. Franziskus trifft sich oft mit dem führenden Mitarbeiter des Patriarchen, mit Erzbischof Hilarion.

6. Aber “die Zeiten ändern sich”…Der Parteiführer der immer noch bedeutenden “Kommunistischen Partei Russlands”, Guennadi Ziouganov, nennt sich jetzt „gläubiger orthodoxer Christ“ und … treu ergebener Putin Oppositioneller. (Quelle: Emmanuel Grynszpan, 2020.)

7. Von Kritikern an diesem System einer regimefreundlichen orthodoxen Kirche wäre ausführlich zu berichten. Etwa von dem Diakon Andrei Kouraiev:“ Für den Patriarchen Kyrill zählt einzig sein Ansehen bei den Führern der Macht, der Sicherheit und den Ideologen des Patriotismus”. An den ermordeten oppositionellen Priester Alexander Men erinnern noch einige Oppositionelle…

8. HINWEISE AUF FRÜHERE, NACH WIE VOR RELEVANTE TEXTE des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin zum Thema “Russische Orthodoxie”:

Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin: Veröffentlicht 2012. Siehe: LINK

Wer sind die Gotteslästerer?, Veröffentlicht 2013: LINK

Fußnote 1: In der Zeitschrift “Archives de Sciences sociales des Religions” (juillet-septembre 2021) berichtet Kristina Kovalskaya zu der Frage: Wie genau ist die Russisch-orthodoxe Kirche Russlands heute statistisch erfasst?  Bis jetzt werden von der Kirchenleitung selbst nur die Anzahl der Priester, die Anzahl der Gemeinden und die Zahl der Riten bzw. Liturgien genannt. Die Politiker der Regierung sagen einfach nur wie üblich: “Die Orthodoxie ist die Religion der Mehrheit in Russland”. Die wirkliche „innere“ Verbundenheit dieser Mehrheit mit der Kirche wird dabei nicht erfasst. Fest steht wohl: Zwischen 63 und 69 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als „russisch – orthodox“, dabei sind unter diesen Leuten auch Nicht-Getaufte oder Menschen, die sich als Ungläubige verstehen. Man spricht unter Religionssoziologen dabei von „kulturellen Orthodoxen“. Wirklich verbunden mit dem kirchlichen Leben (d.h. wenigstens einmal pro Monat (!) Teilnahme an der Liturgie in der Kirche) sind hingegen nur 13 Prozent der Russisch-Orthodoxen. Quelle. Religioscope, 6 décembre 2021!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

In Galizien und der Bukowina: Jüdisches Leben und Leiden.

Zu einem neuen Buch von Marc Sagnol.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Warum sollte man sich erneut mit dem vernichteten jüdischen Leben in Galizien, Lodomerien und der Bukowina beschäftigen?

1. Es waren Deutsche, SS-Leute, Militärs, in enger Zusammenarbeit mit ukrainischen Faschisten, die Juden in den genannten Gebieten töteten.

2. Autoren, oft gelesen in Deutschland, wie Joseph Roth, Bruno Schulz, Soma Morgenstern, Stanislaw Lem, Paul Celan, Simeon Wiesenthal, Rose Ausländer und viele andere stammen aus Galizien und der Bukowia. Wer diese AutorInnen schätzt, sollte sich für deren Herkunft interessieren.

3. Es gab einst in Berlin ein Viertel im Zentrum, zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz (damals „Bülowplatz“), in dem, seit 1900 , viele Juden Zuflucht fanden vor den Pogromen in ihrer Heimat Galizien. Berlin ist mit Menschen aus Galizien eng verbunden, mit den früheren Bewohnern muss man sagen: Denn Juden suchten Zuflucht und fanden letztlich Vernichtung.

4. Im Dezember 2021 ist ein neues Buch über jüdisches Leben, über Verfolgung und Auslöschung der Juden in Galizien sowie in der Bukowina erschienen. Es handelt sich natürlich nicht um eine „bunte Reisereportage“ mit den üblichen Ausblicken auf Natur und Geschichte dieser Region, es handelt sich auch nicht um einen Guide für Touristen etwa durch die angeblich noch vorhandenen „Schtetlt“.Es ist auch keine erschütternde Foto-Dokumentation, selbst wenn das Buch etliche beachtliche Schwarz-Weiß-Fotos, vom Autor realisiert, enthält: MARC SAGNOL hat über viele Jahre dieses Gebiet immer wieder besucht, er hat die Städte und Dörfer, intensiv studiert, mit Menschen gesprochen in dem Gebiet, das einst zur österreichischen Monarchie gehörte. Und dann zu Polen und zur Ukraine, ab 1945 zu Polen und der Sowjetunion. Nach 1989 gehört es wieder zu Polen und der Ukraine.

Marc Sagnol,1956 in Lyon geboren, hatte nach Studien der Germanistik und Philosophie auch Kenntnisse des Polnischen und Russischen erworben, er war u.a. als Kulturattaché in Moskau tätig und später auch als französischer Kulturbeauftragter in Erfurt. Sagnols Interesse fürs jüdische Leben in dieser Region ist auch durch die Geschichte der eigenen Familie motiviert. Sein Großvater z.B. hat seine Kindheit in Czernowitz und Kossow verbracht.

5. Der Autor beschreibt (und kommentiert zurückhaltend) das jüdische Leben in den Städten und Dörfern, er nimmt die LeserInnen mit auf seine ausführlichen Rundgänge dort. Sie beginnen in Ostgalizien, führen über Grodek und Lemberg sowie viele andere Ortschaften dann nach Brody und Kossow, er erreicht die südlicher gelegene Bukowina mit Iwano-Frankiwsk, Czernowitz und Sadagora, um dann noch einmal nach Lemberg bzw. Lwow, Lwiw oder auch Leopolis, der „Löwenstadt“ zurückzukehren (S. 185-235, wiederum mit zahlreichen Fotos).

6. Die Rundgänge des Autors sind alles andere als unterhaltsam. Sie informieren in nüchterner Sprache und wecken dennoch Erschütterung, Zorn, Trauer im Angesicht der ausführlich beschriebenen Untaten, der grausamsten Quälereien und Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung. An diesem Massenmord waren nicht nur Deutsche beteiligt: Die Nazis fanden willigste und grausamste Helfer in Kreisen der ukrainischen Nationalisten und Faschisten. Sagnol erwähnt, dass noch heute an den ukrainischen Nazi Stepan Bandera öffentlich sichtbar erinnert wird, seine Statuen und Denkmäler sind nicht zu übersehen. Man tut so, als handle es bei Bandera um eine Art unbescholtenes Vorbild (vgl. S. 40, S. 230, dort zeigt ein Wandgemälde Bandera, das Foto hat Sagnol 2018 aufgenommen).

Von den vielen Informationen des Buches nur diese: Man liest etwa, dass es im Lager Janowska ein Lagerorchester gab, „das von Leonid Stricks geleitet wurde. Das Lagerorchester musste Operettenmelodien wie „Die lustige Witwe“ von Franz Lehar oder Werke von Mozart und Beethoven spielen, um das Geräusch der Schüsse und Scheie während der Exekutionen zu übertönen“ (S: 218).

In Lemberg entfesselten die Deutsche gemeinsam mit dem ukrainisch-natonalistischen Bataillon Nachtigall sowie der OUN (der Ukraininisch-Nationalistischen Organisation) ein Pogron vom 30. Juni bis 3.Juli 1941, „in dessen Verlauf die Lemberger Juden dem besinnungslosen Hass einer entfesselten Bevölkerung ausgesetzt waren (S. 206). Von den ukrainischen Nationalisten wurden die Juden als Sündenböcke hingestellt, für schuldig erklärt, mit den Sowjets zu kollaborieren“. Eine Überlebende erinnert sich. “Wir sind mit ihnen (also den so genannten Christen, CM) zur Schule gegangen, tanzen gegangen und mit einem Mal waren wir für sie keine Menschen mehr“ ( S. 211)

Das antisemitische Nationalist Bandera konnte sich nach dem Krieg bis 1959 in München unter dem Namen Stefan Popel verstecken, vom KGB wurde er dort entdeckt und erschossen.

7. Und heute? Das Interesse der ukrainischen Bevölkerung (und des Staates) am Erhalt wichtiger jüdischer Gebäude als Erinnerung an jüdisches Leben einst, ist alles andere als bedeutend. Man liest mit Entsetzen, dass kulturell und architektonisch bedeutende Synagogen dem systematischen Verfall überlassen werden, so etwa in Brody (S.124 f.) oder Berezhany (S. 61). Besonders schlimm ist er Verfall der einst prachtvollen Synagoge aus dem 17. Jahrhundert in Zolkiew bzw. Schowkwa bei Lemberg (S. 44). Marc Sagnol bemerkt treffend: „Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Verschleppung der Restaurierung dieser Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der Endlösung durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“. Mit Hilfe von Juden aus dem Ausland konnte die große chassidische Synagoge in Sadagora im Jahr 2016 in alter Pracht wieder eröffnet werden, in der Sowjetzeit wurde sie als Metallfabrik genutzt.

8. Von den Chassidim (also den Mitgliedern einer mystischen Strömung, die oft als ultra-orthodox bezeichnet wird), ist auch die Rede, etwa beim Besuch in dem geradezu von Legenden umwobenen Städtchen Bels. Interessant auch die Darstellungen zum Leben der Chassidim in Sadagora, Bukowina: Hier hatten die Rabbis (bzw. Rebben ode Zaddik) ihre Zentren für Gebet, Beratung, Belehrung und auch überschwängliche Verehrung des Rabbis (S.180).

9. Was Sagnol über das verbliebene jüdische Getto in Lemberg schreibt, gilt für die Region dort: „Außer den wenigen Überresten von Gebäuden der Vergangenheit gibt es kein jüdisches Leben mehr“. Der Tötungswahn der Deutschen, der Nazis, des Militärs sowie der ukrainischen Faschisten war total und hat sich total durchgesetzt. In Polen leben jetzt noch etwa 12.000 Juden, in der Ukraine wird der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung prozentual angegeben mit 0,05 Prozent! Viele Juden, die in die Ukraine als Touristen reisen, berichten von einem für sie immer noch gefährlichen Land.

Das Buch bietet in zahlreichen Fußnoten Hinweise zu spezielleren Studien.

Leider fehlt in Marc Sagnols wichtigem Buch ein Namens-Register.

Das Buch verdient weite Beachtung.

Marc Sagnol, Galizien und Lodomerien. Kulturverlag Kadmos, Berlin, 2021, 238 Seite, 24,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Flaubert, antiklerikal und religiös

Hinweise aus Anlass seines 200. Geburtstages

Von Christian Modehn am 5.12.2021

1. Gustave Flaubert (12.Dez.1821 – 8.Mai 1880) und sein großes Werk, einschließlich seiner umfangreichen Korrespondenz, werden umfassend studiert. Dabei ist die Frage: „Welche Bedeutung haben für Flaubert Spiritualität und christliche Religion?“ von zentraler Bedeutung. Aber dieses Thema wird meines Erachtens in Deutschland nicht so oft diskutiert. Man darf sich jedenfalls nicht mit dem populären Spruch begnügen: „Flaubert war antiklerikal“.Oder auch: “Sein Dienst an der Kunst ist letztlich nichts anderes als eine neue Religion“, so in: „Französische Literaturgeschichte“, Stuttgart 1991, S. 269). Es stimmt schon: Kunst, prinzipiell unvollendet und auch unvollendbar, entzieht sich – wie das Göttliche – dem abschließenden Definieren. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen („aspiration“, sagt Flaubert) gilt es zu pflegen, auch dies betont Flaubert. „Selbst wenn die Religionen als Institutionen verschwinden, das religiöse Gefühl wird in anderen Formen überleben“, schreibt Gisèle Seginger in ihrem Aufsatz „Flaubert, de la religion à l art“, in „Revue d Histoire et de Philosophie religieuses“, 1998, S. 303). Es bleibt für Flaubert, so kühl und distanziert und ironisch seine Romane erscheinen, entscheidend: Es gibt ein menschliches Bedürfnis, sich einer religiösen Wirklichkeit anzuvertrauen. Damit ist nicht der dogmatisch eindeutige Gott der Kirchen gemeint. Religiöses Vertrauen kann sich vielfältig äußern, es wird sichtbar in der Bindung an heilige Orte, heilige Quellen, heilige Gestalten etc.

2. Es ist wohl typisch für Flaubert: Die Frage, ob Gott „existiert“, ob „ER“ „bewiesen“ werden kann, braucht dann gar nicht gestellt zu werden. Das religiöse Gefühl ist für Flaubert entscheidend, es hat in der menschlichen Natur seinen Grund. Flaubert verurteilt also nicht Religionen von vornherein. Auch wenn Flaubert als Leser der Religionskritiker Quinet, Michelet und Renan die überlieferten Dogmen und Symbole kritisiert: Das Bedürfnis des Menschen, etwas Unendliches zu spüren, wird von ihm dann doch respektiert. Dies könnte man eine Form des humanistischen Atheismus nennen; dieser Atheismus ist alles andere als banal oder materialistisch. Im Gegenteil: Er sieht im Menschen ein “unendliches Streben” anwesend  – als Streben nach einer (nicht göttlichen) Unendlichkeit.

Er kämpft aber leidenschaftlich gegen den so genannten „Neo-Katholizismus“, der sich in seiner Zeit beim erstarkenden französischen Katholizismus in neuen Formen des Kultes zeigte, etwa für das „Herz Jesu“ oder für Marien-Erscheinungen in La Salette: Flaubert kommentiert: „Dies erinnert mich an die Tages de Heidentums“…

3. Die Religion(en) im Frankreich des 19. Jahrhunderts.

Im 19. Jahrhundert äußern sich zwar einige Autoren, die explizit die Rückkehr zu einem etwas reformierten katholischen Glauben unterstützen. Wirksamer sind wohl Autoren, die das Religiöse neu denken wollen „außerhalb der etablierten Religionen“, wie Viktor Hugo sagt. Die Überzeugung setzt sich durch: Religiöse Gefühle, allen Menschen je unterschiedlich gemeinsam, zeigen sich auch in der Kunst, der Literatur, der Philosophie, in den Ekstasen des Eros…

4. Flaubert hat die Geschichte der Religionen gründlich studiert, das zeigt seine „Correspondance“, vor allem aber das Werk, an dem er eigentlich zeit seines Lebens arbeitete:  „Die Versuchung des heiligen Antonius“ (begonnen 1849, verändert publiziert 1874).

Flaubert schwankt in gewisser Weise zwischen einer gewissen Bejahung des Religiösen und dessen Abwehr und Ablehnung. Er verteidigt das Christentum sogar, wenn er sich z.B. entschieden gegen den Materialismus einiger „sozialistischer Denker“ wendet. Diese Sozialisten wollen nach seiner Meinung das religiöse Gefühl auslöschen, damit aber werde eine entscheidende Dimension des Menschen ignoriert, die religiöse. Flauberts Verachtung für “den Sozialismus” ist ein eigenes Thema, zudem er seine Sozialismus-Kritik mit seiner Zurückweisung der Gleichheit (égalité) verbindet. Dass es eine wesentliche Gleichheit, auch rechtliche Gleichheit, aller (!) Menschen philosophisch evident begründen lässt, weiß Flaubert offenbar nicht oder er lehnt dies wider besseren Wissens ab.

5. Für Flaubert ist entscheidend, dass der Künstler sich von allen dogmatisch-kirchlichen Glaubenshaltungen befreit! Er muss aber sensibel werden für die Erfahrung des Unendlichen  ohne einen „persönlichen Gott“. Dies hat für Flaubert persönliche Konsequenzen: Rückzug aus der Welt, Kontemplation der Natur und der Dinge der Welt; die Anerkennung der Realität, „die so ist, wie sie ist“. Soll man diese Haltung der “Anerkennung der Welt, so, wie sie ist”, eine verkappte Form von Positivismus nennen? Bekanntlich wehrt sich Flaubert gegen alles Bewerten, Moralisieren und Belehren durch den Schriftsteller! Aber ist diese Haltung nicht auch eine problematische Form des “Belehrens”, des “Besserwissens”?

6. Befremdlich wirken heute seine „Drei Geschichten“, aus der späten Schaffensphase, erschienen 1877. Eine Geschichte berichtet vom heiligen Julian, genannt St. Julian der Gastfreie“ in der Heiligenlegende. Ein ihm gewidmetes Glasfenster befindet sich in der Kathedrale von Rouen, der Heimat Flauberts. Julian, so erzählt Flaubert seine Heiligenlegende, tötet irrtümlich seine Eltern, aufgrund von Verwechslung.  Aber Julian entschließt sich, einen Aussätzigen in sein Haus aufzunehmen, mit dem er eine intensive, auch körperliche Nähe entwickelt. Dieser Arme, der Aussätzige, verwandelt sich dann im Miteinander zu Christus. Eine Art Erlösung geschieht: Die Verbundenheit mit Christus wird bei Flaubert deutlich als leibliche Nähe und körperliche Verbundenheit beschrieben: Manche Interpreten sehen in dem Miteinander von Julian und seinem „Gast“ sogar homosexuelle Anspielungen…

7. So komplex auch die Spiritualität Flauberts ist: Was ihn immer bestimmte, war die Verachtung der Dummheit, war der leidenschaftliche Kampf gegen Borniertheit und Engstirnigkeit. Sie zeigt sich vor allem in der „Provinz“, als „provinzielles Denken“, aber nicht nur dort. Diese Dummheit nahm er auch in den etablierten und herrschenden dogmatischen Religionen wahr. Gibt es eine Religion, eine Spiritualität, die nicht borniert, engstirnig und dumm ist? Das ist die Frage, die bleibt, über den großen Gedenktag am 12. Dezember…

8. Und darüber hinaus bleibt die Forderung Flauberts, des großartigen Meisters der Sprache, genau auf die Alltagssprache zu achten, die sich heute, etwa in den Nachrichten des Fernsehens, in ihrer Verfallsform ständig zeigt: Haben wir schon einmal gezählt, wie oft innerhalb weniger Stunden irgendein Politiker oder Wirtschaftsspezialist oder Kommentator die Worte „Maßnahme“, „durchführen“, „Betreuung“, „Wissen“ um…“ verwendet, grässliche Worte eines bürokratischen Denkens, das vorgibt „etwas zu tun“, de facto aber nur Ankündigungen behauptet! Diese und andere Wörter dürfen dem bekannten „Wörterbuch des Unmenschen“ zugeordnet werden. Der Niedergang der demokratischen Kultur in Deutschland (Rechtsextremismus, Neofaschismus offen und versteckt, immer aber unterschätzt, allgemein gefährlicher Egozentrismus in der Ablehnung der allgemeinen Impfpflicht) wird im Verfall der Sprache und des Sprechens sichtbar.

9. Wird die Sprache vom Schmutz der Phrasen, Floskeln und Gemeinplätze befreit, wird dann auch die Demokratie gerettet? Man sollte es probieren und auf die Wörter aus dem Wörterbuch des Unmenschen verzichten.

10. Um noch einmal zur Religion zurückzukehren: Wird die dogmatische Sprache von den uralten Formeln, befreit, die heute Leer-Formeln sind, könnte dann ein vernünftiger christlicher Glaube, ohne Klerikalismus und Kleriker-Herrschaft, noch eine Chance haben? Sicherlich! “Man“ kann das ja mal probieren und beginnen, die klerikale Kirchensprache zu entrümpeln. Um den umfangreichen mittelalterlichen theologischen Sprachschrott abzulagern, wird im Vatikan ein eigener großer Palast zur Verfügung gestellt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Eric Zemmour, der rechtsextreme jüdische Präsidentschaftskandidat und seine katholischen Freunde.

In Frankreich könnte 2022 ein Rechtsextremer Präsident werden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 3.12.2021. Es ist in der religionssoziologischen Forschung üblich, bestimmte Phänomene, Parteien und Personen auch hinsichtlich ihrer weltanschaulichen, religiösen Bindung zu beschreiben.

1.

Er wird in der französischen Presse oft nur „essayiste“ genannt. Damit erinnert man an seine frühere journalistische Tätigkeit, etwa in der konservativen Tageszeitung „Le Figaro“. Aber „essayer“ bedeutet auch „versuchen“: Und das probiert Zemmour mit aller Bravour und Unverschämtheit, bisher erfolgreich: Er tritt nun an,  im nächsten Jahr, im April 2022, Staatspräsident Frankreichs zu werden. Und dies will er mit noch extremeren Forderungen erreichen, extremer, als die Positionen der extrem rechten Marine Le Pen (früher „Front National“, jetzt „Rassemblement National“). Noch extremer als Le Pen? Das funktioniert also, und zwar ziemlich erfolgreich.

2.

Rechte politische Milieus sind von Eric Zemmour fasziniert,  die Finanzwelt interessiert sich für ihn sehr und, wen wundert es bei dem Zustand des französischen Katholizismus, einflussreiche konservative Katholiken schmeicheln ihm.

Welches Frankreich will Zemmour schaffen? Es ist das nationalistische, nach außen hin katholische, anti-muslimische und ausländerfeindliche Frankreich als stolzer Nation. Der Historiker Jacques Semelin scheibt in „Le Monde“ (3. Dec. 2021, S. 33). „Zemmours Rhetorik ist die der Identität, der andere (der Fremde) soll bekämpft und ausgelöscht werden, der andere ist „zu viel“: Hier stehen also die weißen Franzosen gegenüber `denen da`, den anderen, den Fremden. Ich sehe einen analogen Diskurs in Ex-Jugoslawien, bei den nationalistischen Serben gegen die muslimischen Bosnier…Die Geschichte zeigt, dass diese identitäre Gegenüberstellung von denen da und wir, den Fremden und den Franzosen also, ein Land in den Bürgerkrieg und ins Massaker reißen kann“.

3.

Die Anhänglichkeit konservativer bzw. traditionalistischer Katholiken in Frankreich an den rechtsextremen Zemmour wird nun immer deutlicher untersucht.

Die so genannten „Eveilleurs“, Mitglieder eines katholischen Vereins, hatten am 19. Oktober 2021 Zemmour erneut zum Vortrag mit über eintausendfünfhundert Teilnehmern eingeladen, nach Versailles, in die alte französische Königsstadt, ins Zentrum des bourgeoisen Katholizismus. Laurence Trochu, Präsidentin des „Mouvement conservateur“, der mit der Partei die Republikaner verbunden ist, betont: „Erich Zemmour hat den Mut, unser ererbtes kulturelles Modell des Christentums zurückzufordern und zu verteidigen“. Das heißt: Die alte Welt des herrschenden Christentums soll wiederkehren, die vertrauten angeblichen Werte der Familie mit dem Oberhaupt „Mann“ und der häuslichen Gattin. Die „Homoehe“ ist für diese Katholiken – wie für Zemmour – eine Schande, die abgeschafft werden muss, auch der Schwangerschaftsabbruch sollte eingeschränkt werden; der unbedingte Schutz jeglichen Privateigentums (an Produktionsmitteln) ist sowie unbestritten und vor allem: Frankreich muss katholisch bleiben. Und das bedeutet: Für den Islam, also für Muslime, sollte es eigentlich nur einen sehr eingeschränkten Platz geben. Man muss die muslimische „Machtergreifung“ verhindern, heißt es bei Zemmour immer wieder. (Über die prominente Unterstützung für Zemmour durch konservative Katholiken, wie sie in Versailles am 19.Okt. 2021 sichtbar wurde: siehe Fußnote 1 am Ende dieses Beitrags)

4.

Mit etlichen Netzwerken eines „politischen Christentums“ hat sich Eric Zemmour von Anfang eng verbunden: Also mit den Parteien rund um die strengen Katholiken Philippe de Villiers oder Marion Marechal (der Nichte von Marine Le Pen) oder Jean-Frédéric Poisson oder Christine Boutin….  Auch der katholische Politiker Jean-Paul Bolufer gehört nun zu Zemmours Wahlkampf-Team, er ist eng mit den Traditionalisten verbunden aus dem Aktions-Kreis „ICHTHUS“.

Sie alle und ihre Anhänger sind mit Zemmours Zielen eng verbunden. Diese Parteien oder Gruppen sind im Umfeld der Demonstationen, „Manif pour tous“  genannt, entstanden, also der Massenbewegungen gegen die gesetzliche Einführung der Ehe für Homosexuelle. Die Demonstrationen begannen 2013, zum Teil mit offizieller Unterstützung einzelner Bischöfe (wie Msgr. Rey von Toulon). Von Anfang an kam es zu Gewalttätigkeiten der rechtsradikalen Demonstranten gegen Homosexuelle und deren Treffpunkten, rassistische Sprüche wurden dabei verbreitet… Eine gute Übersicht zur „Manif pour tous“ bietet die website: https://fr.wikipedia.org/wiki/La_Manif_pour_tous.

5.

„Jetzt sind erst einige katholische Bewegungen aus dem Umfeld der Demonstrationen „Manif pour tous“ eng mit Zemmour verbunden. Aber hinter den Kulissen fragen sich viele über ein mögliches Bündnis“, schreibt die katholische Tageszeitung La Croix, Paris, am 2.12.2021. „Die politischen Bewegungen, die aus den Aktivitäten der „Manif pour tous“ gegen die Homo-Ehe entstanden sind, die sind gescheitert in ihrem Bemühen, ihre Überzeugungen in den besehenden politischen Parteien durchzusetzen. Eric Zemmour kann für diese Gruppen nun einen glaubwürdigen politischen Ausweg bedeuten“, sagt der Politologe Emilien Houard-Vial, Paris.

6.

Für Zemmour ist das Christentum nichts anderes als eine Art Stabilisator des alten europäischen Herrschaftssystems. „Um Franzose zu werden, muss man sich prägen lassen vom Katholizismus, der Frankreich gemacht hat“, sagt etwa Zemmour, für die sehr konservative katholische Zeitschrift „France catholique“. Er betont: „Man muss sich auch vom christlichen Universalismus und von diesem Mitleid für die Schwachen bestimmen lassen, selbst wenn ich dem misstraue!“. Das moderne Christentum sieht Zemmour sehr kritisch, es sei eine „verrückte Maschine geworden der Nächstenliebe…“ Für ihn ist es eine kulturelle Katastrophe, wenn das Christentum nur noch Solidarität und Brüderlichkeit bedeutet, sagte er schon 2018 der konservativen Zeitschrift „France Catholique“. Später hat Zemmour seine heftige Kritik an Papst Franziskus geäußert, und damit wohl auch noch mal Sympathien gefunden in katholisch-reaktionären Kreisen. In der sehr rechtslastigen Zeitschrift „Valeurs actuelles“ (6. Oct. 2020) sagte er anlässlich der Enzyklika „Fratelli tutti“, „Alle sind Brüder“: Da verkünde der Papst einen naiven Idealismus, er mache linke Politik, und sei nicht mehr katholisch. Außerdem verachte der Papst Frankreich, er verteidige nicht das katholische Erbe.

Als ihn der Europa-Abgeordnete Raphael Glucksmann kritiserte, er sei doch nur für die Kirche, aber gegen Christus, antwortete Zemmour: “Ja, sicherlich, das sage ich klar und deutlich“.

Damit wird einmal mehr die Position der alten reaktionären „Action Francaise“ (ihre Zeitschrift bis 1992 „Aspects de la France“) vertreten, die zu Beginn des 20.Jahrhundert als nationalistische und antisemitische katholische Bewegung einen großen Einfluss ausübte, nicht zuletzt eben durch ihre Parole, sie finde die Kirche wichtig als Institution für die Förderung der Moral, sie finde aber nicht Jesus Christus bedeutsam. 1926 wurde die „Action francaise“ vom Papst verboten. Nebenbei: In diesen Kreisen sind auch die heftigen Feinde der staatlichen Impf-Politik gegen Corona zu finden. Es ist wohl nur als Witz zu bezeichnen, dass sich ausgerechnet der Rechtextremist Eric Zemmour, jüdischen Glaubens wie er selbst immer betont, nun auf eine antisemitische katholische Bewegung positiv bezieht. Man könnte sehr zynisch sagen, es bahne sich nun eine neue rechtsextreme jüdisch-katholische Zusammenarbeit an.

Ludovine de la Rochère, Geburtssname Ludovine Mégret d’Étigny de Sérilly, als „praktizierende Katholikin“ seit 2013 Präsidentin der Bewegung „Manif pour tous“, kann Zemmour nur zustimmen: „Er will einen Teil des  christlichen Erbes verteidigen, das mit dem Auftreten des Islam in unserer Gesellschaft fraglich wurde“…. Allerdings wollen selbst die konservativsten Katholiken darauf achten, dass Monsieur Zemmour doch bitte etwas Rücksicht nimmt auf die Schwächsten in der Gesellschaft.

7.

Der rechtsradikale jüdische „Essayist“ als Politiker ist angetreten, um Frankreich, das christliche, zu verteidigen und wieder aufzubauen, Dass dieses christliche Frankreich lange Zeit antisemitisch war, interessiert ihn als Juden offenbar kaum. Er hat sich u.a. zu der völlig unqualifizierten These verstiegen, das nazifreundliche Regime von Vichy hätte versucht, Juden zu retten…Tatsache ist: Juden in Frankreich wurden nicht dank der Vichy-Regierung gerettet, sondern trotz Pétain und seiner rechtsextremen Freunde.

8.

Marine Le Pen und ihre sich nun seit einigen Monaten etwas milder gebende Partei „Rassemblement national“ sieht sich bedroht in ihren Ansprüchen, selbst 2022 Präsidentin zu werden: Zemmour stört. „Soll er sich doch meiner, der Le Pen Partei anschließen, heißt es von ihr. Wird er aber kaum machen, dazu ist er radikaler als Madame Le Pen. Für die Demokraten ist dies vielleicht eine Hoffnung: Eine gespaltene Rechtsextreme ist eine Chance für den Sieg von Demokraten. Nur traurig, dass sich im französischen Katholizismus, anders als in Deutschland, so viele Gruppen und Parteien mit einer explizit antiislamischen Haltung organisieren in Verbindung mit einer allgemeinen Ablehnung der universal geltenden Menschenrechte, etwa für Homosexuelle. Aber in der Hinsicht folgen diese katholischen Kreise auch den aktuellen Weisungen des Vatikans zur umfassenden UN-Gleichberechtigung Homosexueller auch heute noch.

9.

Und wie reagiert die jüdische Gemeinschaft in Frankreich, mit 600.000 Juden in Frankreich sicher eine der bedeutendsten europäischen Gemeinschaften, sie debattiert natürlich heftig über den Juden Erich Zemmour. Die Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“ schrieb kürzlich (Quelle. https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/der-spalter/):

„Zemmour spaltet nicht nur die französische Zivilgesellschaft, sondern auch die jüdische Gemeinde. Etliche sefardische Juden unterstützen ihn. Sie fühlen sich bedroht in ihrer Lebensweise.

Und auch Gilles-William Goldnadel, ein franko-israelischer Anwalt und Kolumnist, verteidigt Zémmour und dessen patriotischen Widerstand. Francis Kalifat hingegen, der Präsident der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF (Conseil Représentatif des Institutions Juives de France), ruft dazu auf, Zemmour nicht eine einzige Stimme zu geben. Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia nannte ihn vor einigen Tagen in einem Interview mit France 2 gar einen Antisemiten“.

10.

Ein Jude als Antisemit, wie der Oberrabbiner sagt, das ist gewiss eine Neuigkeit.  Beklagt wird zurecht in der französischen jüdischen Gemeinschaft vor allem, dass die „Große Synagoge“ in Paris Eric Zemmour am 1. Juni 2021 zu einer Debatte mit dem ehemaligen Großrabbiner Gilles Bernheim eingeladen hatte. (Quelle: http://www.slate.fr/story/119925/zemmour-kippa-precheur-petainiste).

11.

Seine jüdische Herkunft (aus Algerien) hat Zemmour tatsächlich nie verleugnet und auch die religiöse Bindung ans Judentum bei seinen Eltern betont, er erklärte in einem Interview etwas konfus. „Ich bin ein Mensch des Alten Testamentes, der eine Kultur des Neuen Testamentes erhalten hat. Aber zur Existenz Gottes bin ich sehr am Zweifeln, darüber weiß ich nichts. Ich bin ja nicht im Katholizismus aufgewachsen, und ohne Glauben ist es für mich schwer, dem Credo zuzustimmen. Bei den Riten aus meiner Kindheit ist dies anders. Wenn ich mich darin vertiefen und mich an meine verstorbenen Eltern erinnern will, gehe ich in die Synagoge. Dagegen, ich spüre sehr, ist es so, dass meine ganze Kultur das Christentum ist, davon bin ich imprägniert.“ (Quelle. https://www.france-catholique.fr/Zemmour-Je-suis-impregne-du-christianisme.html). Aber wie gesagt, es ist ein Christentum, das von der Degradierung und dem Ausschluss des anderen, des Fremden, bestimmt ist. Es handelt sich also doch nicht bei Zemmour um ein authentisches Christentum! Alles nur Sprüche, Fassade, Polemik, Wahlpropaganda….

Dabei gehörte doch die Familie Zemmour selbst einmal zur Gruppe der Fremden, der anderen. Das hat Eric Zemmour vergessen. Siehe dazu:

« Moi, mes parents viennent d’Algérie, comme je dis toujours, je ne suis pas un Français de souche, (…), je ne prétends pas être Français depuis 1000 ans », a-t-il déclaré. Zemmour fait savoir qu’il avait appris « à être Français ».  « Simplement, j’ai appris les codes de cette assimilation à la française et je croyais que tout le monde marchait comme moi », a indiqué le polémiste.

(Quelle: https://observalgerie.com/2020/05/28/faits-divers/france-eric-zemmour-evoque-ses-origines-algeriennes/.  28. Mai 2020)

FUSSNOTE 1:

Am Abend des 19. Oktober 2021 in Versailles eine Liste konservativer Katholiken und deren Organisationen: : „Dans le sillage de Zemmour, un élément est visible : le nombre de catholiques conservateurs qui le suivent, l’entourent et le promeuvent. Ce soir, on reconnaît aux premiers rangs Charlotte d’Ornellas, journaliste de Valeurs actuelles, Gabrielle Cluzel, rédactrice en chef du site Boulevard Voltaire, Jean-Frédéric ­Poisson, dirigeant de VIA – la voie du peuple (ex-Parti chrétien-démocrate), Laurence ­Trochu, présidente du Mouvement conservateur (anciennement Sens commun), l’essayiste Patrick Buisson et le chanteur Jean-Pax Méfret, barde de l’Algérie française et de la lutte contre le communisme dans les années 1980. Enfin, l’homme qui assure la sécurité d’Éric Zemmour est Albéric Dumont, porte-parole officiel de la Manif pour tous. À Versailles, bastion de la bourgeoisie catholique, cette présence ne doit pas surprendre : l’association locale à l’origine de l’événement, les Éveilleurs, a invité Zemmour quatre fois depuis 2015 ! Mais l’engouement pour « le Z » dépasse l’ancienne cité royale, et la question de savoir si cet intérêt ira au-delà des classes aisées pour percer dans les milieux populaires sera l’un des enjeux de la présidentielle. « De plus en plus de personnes l’écoutent », se félicite Pierre Nicolas, cofondateur des Éveilleurs“.

(Quelle: „La Vie“, 27.10.21, https://www.lavie.fr/actualite/societe/mais-qui-sont-ces-catholiques-qui-suivent-eric-zemmour-78654.php)

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Ein christlicher Glaube, befreiend, kein Opium: Vor 50 Jahren erschien das Buch „Theologie der Befreiung“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.11.2021.

Siehe auch eine wichtige, am 9.6.2025 publizierte Ergänzung zum Werk von Gustavo Gutiérrez unter Nr.20 , da wird deutlich die gehorsame Abhängigkeit des peruanischen Befreiungstheologen von der römischen Zentrale (Glaubenskongregation, Ratzinger usw.). Aufgrund dieser von Rom eingeforderten Korrekturen im Denken von Gutierrez erscheint sozusagen sein ganzes Werk in neuem Licht: Der alte Theologe Gutiérrez (geb. 1928) ist also müde geworden…und Kardinal Müller (sein “Freund”) wird Gutiérrez in der Rom – Treue bestärkt haben… 

1.Der große Inspirator: Gustavo Gutiérrez

Die christlichen Kirchen erleben außerhalb Europas – zahlenmäßig – einen „Boom“. Sie zeigen eine bunte, verwirrende und manchmal widersprüchliche Vielfalt christlichen Glaubens. Dies betrifft vor allem die „unglaublich“ vielen charismatischen, pfingstlerischen und evangelikalen Gemeinschaften. Aber es gibt auch eine Minderheit: Christen und vor allem katholische Gemeinden, die sich dem politischen Projekt einer ganzheitlichen Befreiung der Armen aus Elend und Ausbeutung verpflichtet wissen…und entsprechend handeln! Und diese Minderheit der „links-politisch“ Frommen haben eine Theologie: Die „teologia de la liberacion“, die Befreiungstheologie. Sie ist unter diesem Namen auch mit verschiedenen neuen Ansätzen, etwa zur Ökologie oder zum Feminismus, lebendig. Ihr „Gründervater“ bzw. Initiator ist der Peruaner Gustavo Gutiérrez (geb. am 8.Juni 1929 in Lima). Zur Biografie nur ganz kurz: Gutiérrez hat neben Philosophie und Theologie auch Medizin und Sozialwissenschaften, vor allem in Lyon und Louvain, studiert, er ist katholischer Priester, Autor zahlreicher Studien zur Befreiungstheologie, vielfach mit Ehrendoktoraten geehrt, sowie im Jahr 1975 Gründer des befreiungstheologischen Studienzentrums „Bartolomé de las Casas“ in Lima-Rimac. Mit dem dort rigoros-engstirnig herrschenden Kardinal Cipriani vom Opus Dei hatte auch Gutiérrez viele heftige Konflikte durchzustehen.

2.Regionale Herkunft-universale Bedeutung

Die „teología de la liberación“, die Befreiungstheologie, ist zwar regional in Lateinamerika entstanden und verwurzelt, sie hat aber universale Bedeutung nicht für Christen, sondern für alle, denen eine gerechte Welt als politische Ziel der Menschheit wichtig ist. Begrenzter Herkunftsort und universale Bedeutung schließen sich bekanntlich nicht aus, siehe die Herkunft der universal geltenden Menschenrechte aus Europa…

Diese Theologie der Befreiung hat nun sozusagen einen Geburtstag, einen wichtigen Gedenktag: Als dieser gilt der 1. Dezember. Vor 50 Jahren wurde das grundlegende und international verbreitete Buch des peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez mit dem Titel „Theologie der Befreiung“ veröffentlicht. Es kann hier nicht der gesamte Inhalt dieses wichtigen Buches zusammengefasst werden, das zudem 1992 in seiner 10. Auflage gewisse Korrekturen des Autors aufweist, etwa hinsichtlich der Einschätzung der sozialwissenschaftlichen Dependenztheorie.

Anlässlich des „Gedenktages“ soll nur auf einige besonders relevante und „auffällige“ und nach wie vor aktuelle Themen hingewiesen werden, um Interesse zu wecken an der Lektüre des Buches…

3.Gutiérrez und seine vielen MitstreiterINNEN

Das erste große Werk von Gustavo Gutierrez, die „Theologie der Befreiung“ , ist 1973 auch auf Deutsch erschienen, in einer Übersetzung des Lateinamerika-Spezialisten Horst Goldstein. Inzwischen liegt das Buch in 20 Sprachen vor. Es geht auf Vorträge zurück, die Gutiérrez einige Jahre zuvor etwa in Montréal gehalten hatte und dann auch in Chimbote, Peru. Auch andere Theologen, wie der gleichermaßen bedeutende Juan Luis Segundo SJ aus Uruguay (1925-1996), hatten schon vorher von „Befreiungstheologie“ gesprochen. Aber Gustavo Gutiérrez war eben mit seinem Buch von 1971 etwas Grundlegendes, bei einem Umfang von 288 Seiten, gelungen. Seitdem ist die Liste der tatsächlich berühmten Befreiungstheologen lang, Leonardo Boff, Frei Betto, Pablo Richard, Elsa Tamez, Jon Sobrino, Franz Hinkelammert und so weiter. Wichtig ist auch: Einige Bischöfe waren mit der Befreiungstheologie verbunden, wie der in Deutschland leider unbekannte Pedro Casaldaliga, der Mystiker und Poet aus Sao Felix, Brasilien.  LINK:

4.Das zentrale Bild: Reich Gottes

Die zentrale Erkenntnis der Befreiungstheologie, auch im Sinne von Gutiérrez, heißt: Der von Jesus von Nazareth verkündete Sinn und das Ziel des Lebens der Menschen ist in dem Bild „Reich Gottes“ ausgedrückt, als eine Art erstrebenswertes Ideal der Gerechtigkeit für alle, auch und vor allem für Arme, der gelungenen Versöhnung der Menschen untereinander und mit dem, was religiöse Menschen die göttliche Wirklichkeit nennen. Die Armen und ihre Lebensrechte stehen im Mittelpunkt dieser Theologie. Den Armen gilt die Befreiung … hin zur Freiheit, zum realen Erleben der Gültigkeit der Menschenrechte auch für sie. Und dies nicht als frommer Traum oder als Vertröstung auf etwas Jenseitiges. Das Reich Gottes kann und soll reale, auch materielle, auch politische Wirklichkeit werden. Vorbei also sind die Zeiten, als Glaube nur etwas Spirituelles, nur etwas Seelisches war. Diese „innere“ Dimension bleibt bestehen, aber sie wird eingefügt (und dadurch relativiert) in den Rahmen des politischen Eintretens für Befreiung der Armen.

5. Auch die Unterdrücker müssen befreit werden

Wer den Spuren Jesu von Nazareth als seiner „Lebensphilosophie“ folgt, d.h. wer also religiös glaubt, ist berechtigt, die Erlösung schon hier, auch irdisch, in weltlichen – politischen Zusammenhängen, zu erleben, vor allem in demokratischer Verfassung, in Gleichheit der Menschen….  Das „gute Leben“ der Ernährung, der Bildung für alle, des humanen Wohnraums außerhalb der Dreckhütten, der Abwehr von krimineller Gewalt der Banden und der Herrscher, all das ist ein Anspruch, den der christliche Glaube als Heil und Erlösung predigt und fordert. Dabei ist für Gutiérrez klar: „Wer von Klassenkampf spricht, propagiert ihn nicht etwa! Nein, er stellt einfach eine Tatsache fest“ (S. 261). „Alle Menschen lieben heißt nicht, Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen und eine fiktive Harmonie aufrechterhalten. Universale Liebe bemüht sich vielmehr, in Solidarität mit den Unterdrückten auch die Unterdrücker von ihrer Macht, ihren Ambitionen und ihrem Egoismus zu befreien“ (S. 263). „Die Befreiung von Armen und Reichen ist ein gleichzeitiger und wechselseitiger Prozess“, betont in diesem Sinne auch der katholische Theologe Jules Girardi“ (ebd.)

Aber dabei bleibt es nicht: Inmitten der zerrissenen und ungerechten Welt kann Friede und Gerechtigkeit wenigstens fragmentarisch erfahrbar werden.  Dies ist eine, man könnte sagen, optimistische Sicht, angesichts der grausam – und meist hoffnungslosen Kämpfe um eine gerechte, auch ökologisch gerechte Welt.

6. Erlösung soll – wenigstens als „Vorschein“ -materiell/politisch erfahrbar sein

Gustavo Gutiérrez schreibt (S. 148 in der deutschen Übersetzung): „Wer gegen eine Situation des Elends und der Ausbeutung kämpft und eine gerechte Gesellschaft aufbaut, hat ebenfalls teil an der Bewegung der Erlösung, die freilich erst noch auf dem Weg zur Vollendung ist…“ Und zuvor hat Gutiérrez geschrieben: „Wer arbeitet und diese Welt verändert, wird mehr Mensch, trägt zur Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft bei und – wirkt erlösend“. Die so genannte Heilsgeschichte, also die Geschichte Gottes mit den Menschen, und die politische Geschichte sind also eng verbunden.  Für eine Trennung von „Zwei-Reichen“, das eine Reich ist weltlich, das andere, das religiöse, daneben und getrennt, gibt es also keinen Platz! Es gibt nur die eine Geschichte der Menschheit, nur die eine Geschichte von Heil und Unheil, an der die Menschen verantwortlich beteiligt sind.

7. Es gibt nur die EINE Geschichte der Menschen

Es ist entscheidend zu sehen, dass diese Theologie, die für ein materiell erfahrbares „religiöses Heil“ bzw. eine materiell historisch-politisch Erfahrung von Erlösung eintritt, auch von dem großen europäischen Theologen Edward Schillebeeckx (1914-2009) – er lehrte in Nijmegen (NL), unterstützt wird.

Dabei ist zweifelsfrei: Die umfassend und ganze heile und gerettete Menschheit ist in dieser Ganzheit eine Utopie: Sie vollständig „durchsetzen“ zu wollen, wäre ein totalitärer Wahn. Andererseits ist auch zweifelsfrei: Der religiösen Erlösung, allein als seelischen Gewinn oder fernes, himmlisches Ziel zu verkünden, widerspricht einerseits: Dass es die Erfahrungen des Guten und Erfreulichen („Heilen“) im privaten wie im gesellschaftlichen Leben – wenigstens kurzfristig – gibt. Und dass andererseits auch im politischen und ökonomischen Zusammenleben doch noch positive, humane Erfahrungen, also ein humaner Fortschritt, erlebbar sind, zwar selten, aber immerhin.

Schillebeeckx schreibt also in seinem Aufsatz „Befreiende Theologie“ (in „Mystik und Politik“, 1988): „Die Spur des Handelns Gottes muss auch auf der gesellschaftlich-politischen Ebene lesbar sein…Es besteht die Hoffnung, Fragmente des Heils hier und heute schon in unserer Geschichte anzusiedeln“ (S. 70). Mit anderen Worten: Der Katholik Schillebeeckx wehrt sich gegen die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, „die der Einheit der Geschichte widerspricht“, sagt Schillebeeckx (S. 71).

8. Die strukturelle Sünde

Dem entsprechend erhält der alte und belastete, oft nur moralisch verwendete Begriff der Sünde eine neue, politische und ökonomische Bedeutung. Gegen Sünde, das lehrten ja auch die europäischen klerikalen Theologen, soll der Glaubende kämpfen. So auch in der Theologie der Befreiung: Denn sie wissen, das inhumane Verhalten („Sünde“ ) so vieler verfestigt sich in der Welt, in den Strukturen der Gesellschaft und des Staates. Es gibt also ganz offensichtlich eine „strukturelle Sünde“. Gutiérrez schreibt: „Sünde wird greifbar in unterdrückerischen Strukturen, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Beherrschung und Versklavung von Völkern, Rassen und sozialen Klassen“ (S. 169). Und, wie gesagt, gegen diese Strukturen, also inhumaner, „sündiger“ Strukturen, hat die Kirche und mit ihr die Theologie zu kämpfen.

9. Karl Marx und Thomas Müntzer und die anderen

Selbstverständlich wird an dieser zentralen Erkenntnis der Befreiungstheologie deutlich, wie stark sie sich auf die Gesellschaftskritik bezieht, die Karl Marx vorgetragen hat (siehe etwa die Verweise  auf Marx in den Fußnoten 96 und 98, s. 169 f.) Und dieser Hinweis auf Marx ist sehr treffend und selbstverständlich berechtigt, will doch die Befreiungstheologie anknüpfen an die großen berechtigen, philosophisch formulierten Sehnsüchte auch nach Erlösung inmitten dieser als grausam erlebten Welt. Kein Wunder, dass sich einige Befreiungstheologen auf einige Einsichten des Reformators Thomas Müntzer beziehen, wie etwa der katholische Priester und Theologe Hugo Echegaray, Lima, Peru (1960-1979): „Christus spricht nicht von Tugenden, es geht nicht um Tugendmoral, sondern um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ (in: Alejandro Zorzin, „Thomas Müntzer in Lateinamerika“, 2010, S. 14). Das Thema müsste vertieft werden, auch die Beziehungen zur Philosophie von Ernst Bloch müssten erörtert werden, an die Gestalt des revolutionären kolumbianischen Priesters Camilo Torres (1929-1966) hat der Religionsphilosophische Salon Berlin kürzlich erinnert: LINK

10. Lebenserfahrungen poetisch zur Sprache bringen

Die Befreiungstheologie ist also keine Schreibtischtheologie von hochbezahlten Professoren an gut ausgestatteten Universitäten, wie üblich in Europa, viele BefreiungstheologINNEN arbeiten in sehr bescheidenen, finanziell auf Spenden angewiesenen wissenschaftlichen Instituten. Die Befreiungstheologie ist keine bürgerliche Theologie im Sinne der üblichen „Spiegelung des Glaubens gut-situierter frommer Christen“. Sondern eine Theologie, die inmitten der Armen und Arm-Gemachten lebt. Diese Theologie hat eine eigene Spiritualität, aber diese ist Ausdruck der politischen wie der religiösen Erfahrungen und der Bibel-Lektüre der Armen und Unterdrückten. Man denke etwa an das bekannte Buch „Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über das Leben Jesu, aufgezeichnet von Ernesto Cardenal“, Band 1, Wuppertal 1976.

Befreiungstheologen sind mit dem politischen Befreiungskampf der Armen verbunden, und sie bringen deren Lebenserfahrungen gern zum Ausdruck. Ihre theologischen Reflexionen leben von der dichten Verbindung mit dem verzweifelten Kampf um Gerechtigkeit. Deswegen wurden und werden Befreiungstheologen verfolgt wie ihre Freunde, die Armen in den Slums oder den entlegenen Dörfern, inmitten der abgefackelten Urwälder oder den Hungerzonen in den Metropolen. Diese TheologINNNEN sind genauso bedroht wie ihre Companeros/Companeras: Sie reiben sich auf im Kampf um elementare Menschenrechte, werden von Herrschenden bedrängt und …ermordet, siehe Guatemala, Honduras, Nikaragua, Brasilien usw. Zur Befreiungstheologie gehört immer auch die Märtyrer-Erfahrung. Wer als Theologe kein religiöses Opium verkauft, das den Herrschenden gefallen würde, lebt gefährlich. Man denke an die Ermordung der Jesuiten in El Salvador im November 1989, etwa an den Befreiungstheologen Pater Ignacio Ellacuria. Oder an die Ermordung des befreiungstheologischen Erzbischofs Oscar Romero schon 1980. Die Mörder waren bekennende rechtsextreme Katholiken ebenfalls aus El Salvador, die Waffen lieferten „Ausbildungszentren“ in den USA… Wer ermordete Erzbischof Romero: LINK

11. …und die TheologInnen Europas?

Die Befreiungstheologie muss als ein radikaler Einschnitt verstanden werden innerhalb der — bis 1970 – europäisch zentrierten und europäisch beherrschten Theologien bzw. klerikalen theologischen Ideologien. Europäische TheologInnen stehen meist zu den herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnissen in einvernehmlichem oder moderat kritischem Verhältnis. Sie wollen schließlich nicht ihren gut bezahlten Job verlieren.

12. Die Angst der Hierarchie vor Basisgemeinden

Ihren inspirierenden Ort fanden und finden Befreiungstheologen in den Basisgemeinden. Sie waren und sind Zusammenkünfte von Katholiken in Städten wie auf dem weiten Land, sie fühlen sich als Christen zurecht berufen, selbst und eigenständig ihre Gemeinden zu gestalten, gerade weil kein Priester für sie zur Verfügung stehen. Indem aber der Vatikan den Laien es untersagte, Eucharistie zu feiern oder Frauen von vorrangigen Funktionen in der Gemeinde ausschloss, waren viele tausend kleinen Basisgemeinden aufgrund des rigiden Verhaltens des Papstes nicht von langer Dauer. Viele tausend frustrierte Katholiken sind zu den charismatischen evangelischen Gemeinden übergewechselt, in etlichen lateinamerikanischen Staaten (wie Guatemala oder Chile) sind Katholiken längst nicht mehr die zahlenmäßig stärkste Konfession. Dass Lateinamerika nun aufhört, als katholischer Kontinent zu gelten, ist auch die Schuld der dogmatisch rigiden katholischen Kirche. Mit ihrer Kritik an der Befreiungstheologie ging immer die Kritik an selbstständigen Laien-Basis-Gemeinden einher. Wer noch im Sinne der katholischen Kirche denkt, muss also sagen: Die Führung der katholischen Kirche ist für ihren eigenen Niedergang in Lateinamerika verantwortlich. Die große Amazonas-Synode im Vatikan (2019) hätte eine Korrektur bewirken können. Die weitrechenden Reformvorschläge wurden aber von Papst Franziskus zurückgewiesen, wie die Aufhebung des Zölibates wenigstens für Priester in der Amazonas-Region…

13. Die Feinde der Befreiungstheologie, das Opus Die, die Legionäre Christi, Sodalicio usw.

Man muss die globalen Zusammenhänge vor Augen haben, um das Besondere der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zu verstehen. Diese anti-bourgeoisen katholischen Theologen und Theologinnen wurden auch vom Vatikan, dem Papst und vielen Bischöfen drangsaliert, der Häresie angeklagt, als Kommunisten bezeichnet, um so die aggressive Aufmerksamkeit des antikommunistischen CIA auf diese Christen zu lenken. Das Image der Befreiungstheologie und der mit ihr verbundenen Basisgemeinden der Armen wurde jedenfalls von Anfang an ramponiert, und zwar durch die Kirchenführer selbst, allen voran von Kardinal Ratzinger und Johannes Paul II. im Verbund mit Reagan und Co. Sowie später setzte sich die Diffamierung kirchenoffiziell fort, etwa durch die den Studienkreis „Kirche und Befreiung“, gegründet 1973, inszeniert von Bischof Franz Hengsbach, Essen, und Erzbischof Lopez Trujillo, Kolumbien, später Vatikan. Von Bischof Franz Hengsbach ist das skandalöse Wort überliefert: „Die sogenannte Theologie der Befreiung führt ins Nichts. In ihrer Konsequenz liegt der Kommunismus…“ (KNA, 13.5.1977). Der Erzbischof und spätere Kardinal Lopez Trujillo war in diesem Kreis zweifelsfrei einer der übelsten Hardliner des reaktionären Flügels der römischen Kirche. Er war als definitiver Feind der Befreiungstheologen ein Freund von Johannes Paul II. und,so wird berichtet, der Drogenmafia. Über seine privaten Leidenschaften hat der Pariser Soziologe Frédéric Martel geforscht, siehe sein Buch „Sodom“, 2019, dort die Recherchen zu Kardinal Lopez Trujillo, Seite 358 und bes. S. 365. LINK

14. Zur Wirkungsgeschichte

Hier wurde mit Nachdruck an den großen Inspirator der Befreiungstheologie Gustavo Gutiérrez erinnert. Aber, wie gesagt, gehören zur Befreiungstheologie viele andere TheologInnen, sie haben weitere Akzente gesetzt, etwa zum Feminismus oder zur Ökologie (wie etwa die letzten Bücher von Leonardo Boff), auch vorsichtige Ansätze einer schwul-lesbischen lateinamerikanischen Befreiungstheologie machen sich bemerkbar, siehe etwa die Studien von André Sidnei Musskopf, Brasilien. Und vor allem: Auch in Afrika und Asien haben sich eigene Formen der Befreiungstheologie entwickelt. In Europa müsste eine Befreiungstheologie eine Befreiung der Kirche aus dem Kapitalismus sein, aber zu einer solchen Theologie ist nur sehr marginal die Rede.

15.Kritisches zu Gutiérrez

Aber bei allem Respekt vor dem Werk von Gustavo Gutierrez: Er hat sich theologisch und kirchenpolitisch weit nach vorn gewagt, aber, offenbar um zu überleben in dieser Welt feindlicher Systeme, hat er sich auch nicht zu weit nach vorn gewagt: Ein treffendes Beispiel für die Ängstlichkeit vor der klerikalen Hierarchie ist sein Verhalten anlässlich eines Vortrages 1970 in Corodoba, Argentinien, für die Gruppe der „Priester für die die Dritte Welt“. Bei diesem Vortrag hatte sich Gutierrez die Anwesenheit des inzwischen mit einer Frau zusammenlebenden EX-Bischofs von Avellaneda, Jeronimo Podestá (1920-2000 ) ausdrücklich verbeten. Jeronimo Podestas Frau, Clelia Luro, hatte sich später noch einmal klagend wegen dieses Verhaltens an Gutierrez gewandt. Quelle: https://es.wikipedia.org/wiki/Gustavo_Guti%C3%A9rrez_(te%C3%B3logo)

Im Unterschied zu dem bedeutenden und für ökologische Fragen äußerst anregenden Befreiungstheologen Leonardo Boff aus Brasilien hat sich Gutiérrez eher selten über die unterdrückerischen Strukturen der hierarchisch verformten Katholischen Kirche geäußert. Vielleicht ließ man ihn deswegen im Vatikan weithin „in Ruhe“. Deswegen muss mit Nachdruck auf Boffs Buch „Kirche – Charisma und Macht“ empfehlend hingewiesen werden.

16. Der Freund, Kardinal Gerhard Ludwig Müller

Und merkwürdig erscheint auch die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller (Regensburg-Vatikan) viel beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez. Natürlich kann jeder mit jedem befreundet sein, warum nicht ein sehr Rechter und ein Linker? Für katholische Verhältnisse bleibt es aber erstaunlich, wenn ein theologisch bekanntermaßen sehr europäischer und sehr konservativer Theologe, also Müller, mit einem doch eher linken und Befreiungstheologen, befreundet sein könnte. Aber vielleicht hat diese Freundschaft Gutierrez vor Verfolgungen durch den Vatikan bewahrt…

Erstaunlich ist auch, dass Gutierrez im Alter von 72 Jahren (im Jahr 2001) dem Dominikanerorden beigetreten ist, ein ungewöhnlicher Vorgang; manche vermuten, dass die Spannungen mit dem reaktionären Opus-Dei – Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani, zu stark wurden, so dass sich Gutiérrez förmlich in den relativ selbständigen und oft eher aufgeschlossenen Orden der Dominikaner flüchtete.

17.Ein Kongress in Lima

Vom 25. bis 29.Oktober 2021 fand in Lima, Peru, ein internationaler Kongress statt, anlässlich von „50 Jahre „teología de la liberación“. Referenten aus Europa waren nicht dabei. Siehe, auch mit einem Statement von Gustavo Gutierrez: LINK

https://bcasas.org.pe/mensaje-de-gustavo-gutierrez-al-clausurar-seminario-internacional-sobre-teologia-de-la-liberacion/

18. Die Kirche in Deutschland hält sich ans Spenden. Nicht an die Kapitalismus – Kritik

Hat die lateinamerikanische Befreiungstheologie die römische Kirche zum Beispiel in Deutschland verändert? Schwer zu sagen, wie die indirekten Wirkungen aus Lektüre und Begegnungen zu bewerten sind. Aber das Verhältnis der Kirche in Deutschland etwa gegenüber Lateinamerika und seiner Kirche ist weiterhin vom Geist der Spenden, der begrenzten Hilfsbereitschaft und der marginal bleibenden Studien bestimmt. Die grundlegende Kritik an den Zusammenhängen von Ausbeutung (Europa) und Unterdrückung (Lateinamerika) wurden im Sinne der Befreiungstheologie auch in Deutschland artikuliert, aber die große Wende einer Parteinahme der ganzen Kirche in Deutschland für die globale Gerechtigkeit hat nicht stattgefunden. Die Kirche in Deutschland ist und bleibt ein Teil der reichen Welt, und verhält sich auch entsprechend in ihrer repräsentativen Selbstdarstellung. Die Art, katholische Kirche zu sein, bleibt eher unberührt von der Befreiungstheologie. Basisgemeinden finden in Deutschland kein Wohlgefallen in der Hierarchie, Kapitalismuskritik (etwa auch Kritik am Kirchensteuersystem) schon gar nicht. Man schämt sich als Kirchenführung nicht, über 6 Milliarden Kirchensteuer pro Jahr zu haben. Dabei erleben die Kirchenführer hilflos, wie die Katholiken zu Hunderttausenden aus dieser über Milliarden verfügenden Amts-Kirche austreten. Die offizielle Antwort der Kirchenführungen auf das Elend weltweit heißt: Spenden, Almosen geben. Diese sind natürlich angesichts des realen Elends nett, aber strukturell wirkungslos.

19. Auch in Lateinamerika jetzt eher marginal

Aber man mache sich auch keine Illusionen: Die Befreiungstheologie ist auch im lateinamerikanischen Katholizismus eher ein marginales Phänomen geworden. Die charismatischen Katholiken werden beliebter und offiziell propagiert, man schätzt eher das fromme Tralala und Alleluja-Singen, also letztlich das religiöse Opium, das für kurze Zeit Glücksmomente beschert in einer eigentlich hoffnungslosen Gesellschaft gravierender Ungerechtigkeit.

Der größte Skandal ist wohl, dass viele brasilianische Bischöfe Bolsonaro unterstützen. Ein angesehene Politiker,der wahrscheinlich künftige Präsident Luiz Inacio Lula, ist ein alter Freund der Befreiungstheologen. Er nennt Bolsonaro explizit „einen Verbrecher und Faschisten“. (Tagesspiegel, 16.11.2021). Und den unterstützen die Reichen Brasiliens, die man naiv „Eliten“ nennt.

20.

WICHTIGE ERGÄNZUNG am 9. 6.2025: Der katholische Theologe und Spezialist der Befreiungstheologe, der Schweizer Urs Eigenmann, weist in seinem Beitrag “Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit” in dem Buch “Der himmlische Kern des Irdischen” (Luzern, Münster 2025, S. 198 ff.) auf eine tiefe ZÄSUR im Denken von Gustavo Gutiérrez hin: In der 10., neu bearbeiteten Auflage seines Buches “Theologie der Befreiung”, diese 10. Aufl. erschien auf Deutsch 1992, verändert Gutiérrez unter dem Einfluß der vatikanischen Glaubenskongregation etliche Aussagen seines ursprünglichen Textes. So wird etwa der ursprüngliche Abschnitt “Christliche Brüderlichkeit und Klassenkampf”  nun unter dem abschwächenden Titel “Glaube und gesellschaftlicher Konflikt” neu geschrieben. (Eigenmann, S. 198). Gutiérrez sagt selbst: Er hätte die jüngsten Verlautbarungen des Lehramtes respektiert und einige Texte neu geschrieben. Beispiel: Ein Zitat von Karl Marx wird von Gutiérez gekürzt, auf den umstrittenen Marx-freundlichen Theologen Giulio Girardi wird nicht mehr verwiesen, der Marxist Louis Althusser wird nicht mehr erwähnt, hingegen zitiert Gutiérez nun die Päpste PIUS XI, Pius XII. und Johannes Paul II: (Eigenmann S,. 199). In seinem Buch “Salz der Erde” (1996) lobt Kardinal Ratzinger ausdrücklich die Korrekturen des Befreiungstheologen Gutíerrez als Respekt vor der römischen Glaubensbehörde (S. 201 Eigenmann). Die viel besprochene Freundschaft von Gutiérrez mit Kardinal Gerhard Müller muss auch in diesem Zusammenhang der “Korrekturen” im Werk von Gutiérrez gesehen werden. Urs Eigenmann kommt zu dem Ergebnis: Gutierrez verät mit seiner “Korrektur”  und dem Gehorsam gegenüber dem päpstlichen Lehramt (Ratzinger/Müller) das prophetsisch -messianische Christentum und orientiert sich deswegen (Bindung an die römische Macht!) an der “imperial – kolonisierenden Christenheit” (Eigenmann, S. 203). In dem Buch “Auf der Seite der Armen” (2004) bestätigen Kardinal Müller und Gustavo Gutiérrez ihre gemeinsame rom- freundliche und rom- gehorsame Befreiungstheologie.(Eigemann, S. 202).

21.  Ein Hinweis zum Autor dieses Hinweises. 

Der Autor dieser kurzen Hinweise, Christian Modehn, hatte bereits im Juni 1973 in St. Augustin bei Bonn die erste große internationale Tagung in Deutschland über die Befreiungstheologie angeregt und mit-gestaltet, er war damals Theologiestudent innerhalb des Ordens „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD. Zum Tgungsbericht in Orientierung, Zürich: LINK. 1975 verfasste er eine erste kleine Einführung in die Befreiungstheologie „Der Gott, der befreit“, 1977 veröffentlichte er zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ „Befreiende Theologie“, (Kohlhammer Verlag) als Sammelband mit Beiträgen u.a. von Jon Sobrino, Juan Carlos Scannone, Leonardo Boff, Michael Göpfert, Miguel Manzanera und anderen. Das Buch fand viel Interesse und die erste (und einzige) Auflage war schnell vergriffen. Vor allem Horst Goldstein (1939-2003) hat sich als einer der ersten als Übersetzer und Autor um die Rezeption der Befreiungstheologie in Deutschland verdient gemacht. Wichtig sind für den deutschen Sprachraum die zahlreichen, auch befreiungs-philosophischen Studien von Raul Fornet-Betancourt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.de.

Die neuste Umfrage über „Religion/Gott in Frankreich“ (August 2021)

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.9.2021

Am 23.9.2021 wurden über AFP (aufgrund einer repräsentativen Umfrage, veranstaltet von IFOP am 24.und 25.8.2021) neue Informationen zu „Religion/Gott in Frankreich“, speziell angesichts der COVID 19 Pandemie, publiziert.

1.  51 Prozent der Franzosen glauben 2021 nicht an Gott.

2011 sagten nur 41 %, nicht an Gott zu glauben. 1947 sagten 66 %, sie würden an Gott glauben. Vor 64 Jahren glaubten also nur 34 % er Franzosen nicht an Gott. Am größten ist jetzt die Gruppe der Gläubigen bei Menschen über 65 Jahre. (ABER: Was heißt das konkret, inhaltlich: An „Gott“ glauben…)

2. Die aktuelle Pandemie hat keinen Einfluss auf die religiöse Praxis (gehabt). Das sagen 91 % der Befragten: Sie hätten sich wegen Corona nicht stärker den Religionen angenähert.

Das ist vielleicht die wichtigste Aussage der Umfrage: Und auch in Deutschland haben viele Beobachter die Erkenntnis, dass durch Corona die Religiosität NICHT zugenommen hat. Aber vielleicht lehrte (privat) die Not, dann doch beten im stillen Kämmerlein, wie es Jesus von Nazareth vorschlug.

3. Eine weitere Erkenntnis der Umfrage in Frankreich: In den Familien wird immer weniger über Religion gesprochen: Es sind nur 38 % der Befragten, die über Religion in der Familie sprechen.

4. Religionen können dazu beitragen, jungen Menschen Werte zu vermitteln, wie Respekt, Toleranz, Großzügigkeit, Verantwortlichkeit: Das sagen jetzt 68 % der Franzosen. Im Jahr 2009 waren es noch 77 %, die das glaubten.

5, Für 47 % der Franzosen sind die Werte und die Botschaft des Christentums immer noch von aktueller Bedeutung.

6. 41 % der Franzosen glauben, dass Papst Franziskus eher gut die Werte des Katholizismus verteidigt, 44 % meinen, er verteidige sie weder gut noch schlecht und 15 % meinen, er verteidige die katholischen Werte eher schlecht.

Quelle; REFORME, Protestantische Wochenzeitung, Paris.

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