Auf der Suche nach dem verlorenen Gott: Religiöse Fragen französischer SchriftstellerINNen von heute

Ein Hinweis von Christian Modehn anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2017.

Am Ende dieses Beitrags befindet sich ein wichtiger Hinweis auf die Arbeiten des Theologen Jean – Pierre Jossua, Paris, zur religiösen Bedeutung der Poesie.

Der weltanschauliche Pluralismus in Frankreich ist „bunter“ als in anderen Ländern. In jeder Religion gibt es zudem noch eine große innere Vielfalt. Das gilt auch für den Katholizismus, zu dem sich heute nicht einmal mehr die Hälfte aller Franzosen bekennt. Diese Pluralität gilt für den Islam und die ebenfalls zahlenmäßig starken Religionen Judentum und Buddhismus. Jeder zweite Franzose nennt sich „agnostisch“, unentschieden im Ja oder Nein zu Gott. Das gilt für viele Schriftsteller. Die Gottesfrage ist für sie zwar nicht ganz tot, aber entscheidend ist die Freiheit, das Passende aus religiösen Traditionen auszuwählen. Religionssoziologen urteilen: Franzosen „basteln“ ihre eigene Spiritualität. Die Übersichtlichkeit von einst ist vorbei.

Bis 1960 standen „die“ katholischen Autoren, Mauriac, Bernanos, Mounier, Marcel, „den“ atheistischen Schriftstellern Sartre, de Beauvoir, Gide, Génet gegenüber.

Dabei waren katholischen Autoren nicht immer, wie Léon Bloy, treue Verteidiger der Kirchenlehre: Der ursprünglich extrem konservative George Bernanos entwickelte sich zum heftigen Kritiker der spanischen Kirche wegen ihrer Verquickung mit dem Franco-Regime. Es gab weltanschauliche Polemik, aber es wurden auch Brücken gebaut: Die katholische Kulturzeitschrift ESPRIT förderte in den dreißiger Jahren Debatten mit Atheisten. Katholische Autoren wie Paul Claudel wurden (und werden!) auf den großen Bühnen gespielt. Claudel trat in die Öffentlichkeit, als er von seiner plötzlichen Bekehrung in der Kathedrale Notre Dame berichtete.

Auch heute sind öffentliche Bekenntnisse zur eigenen Spiritualität unter Frankreichs Autoren beliebt. Sie sorgen dafür, dass religiöses Fragen und Suchen die Gesellschaft beleben. Jetzt bekennt der umstrittene Autor Michel Houellebecq: Seit jungen Jahren sei für ihn die Philosophie Schopenhauers maßgeblich, diese buddhistisch inspirierte Zustimmung zum leidvollen Leben. Dabei freut sich Houellebecq aber doch, dass sein „Meister“ „die kleinen Momente unvorhergesehenen Glücks, die kleinen Wunder, schätzte“. An Wunderbares glaubt Houellebecq ohnehin: „Ich habe eine Vorstellung von Religion, die der Magie nahe steht. Das Wunder beeindruckt mich“, sagte er 2015 der katholischen Zeitung „La Vie“. Anläßlich seines Romans „Unterwerfung“ habe er den Koran gelesen: Er bekennt: „Nur die Djihadisten sind es, die eine Islamphobie provozieren“.Houellebecq lehnt ausdrücklich den Atheismus ab und bekennt sich zum Agnostizismus. Das schließt sein Interesse für den Katholizismus wiederum nicht aus: Im Dezember 2013 lebte er für ein paar Tage als Gast im Benediktiner – Kloster in Ligugé bei Poitiers: Und freute sich, dass die Mönche ihn gern aufnahmen! In der Tageszeitung „Le Monde“ betonten sie sogar, mit welcher Begeisterung sie die Romane Houellbecqs lesen. Denn dieses spiegeln die Suchbewegungen der französischen Gesellschaft.

Im Kloster Ligugé lebt ein Mönch, der als Schriftsteller und Poet einen guten Ruf hat: Dabei ist Pater Francois Cassingena – Trévedy auch Historiker, Theologe und Komponist. Seine Gedichtssammlungen haben den Titel „Etincelles“ (Funken): „Ich bin überzeugt: In jedem Menschen gibt es etwas Hervorragendes, das man dringend bewahren muss. Der Poet berührt das Mysterium. Er bringt es zur Sprache, er gibt der Sprache die wahre Größe wieder“. Aber im Unterschied zu Houellebecq ist der Dichter- Mönch nicht an der „Unterwerfung“, sondern am Ungehorsam interessiert: „Der wahre Aufstand ist der fundamentale Widerstand gegen Lügen, Idole, Moden… Der Widerstand gegen alles, was in uns verhindert, das Wehen des Geistes, das Licht, den Blick in die Weite zuzulassen.“.

In eine neue Weite des Denkens gelangen, bei der auch christliche Spiritualität Orientierung bietet: Daran arbeitet jetzt der Schriftsteller Emmanuel Carrère: Er hat den viel beachteten Rom „Das Reich Gottes“ verfasst, eine Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum als aktuelle Frage, was die damals propagierten Werte heute bedeuten können: „Einst war ich gläubig“, bekennt Carrère, „ich habe aber ein Verkümmern des Glaubens erlebt. An die Auferstehung kann ich heute nicht mehr glauben. Aber allein, dass es Jesus gibt, ist mir jetzt wichtig. In seinem Sinne erhalten die Armen und Schwachen einen privilegierten Zugang zum Reich Gottes“. Entscheidend ist für ihn: „Das Buch Reich Gottes ist vielleicht noch nicht beendet, die Suchbewegung geht weiter“.

An dem Menschen Jesus ist auch der in Deutschland bekannte Poet Yves Bonnefoy interessiert. Für ihn hat Jesus völlig Anteil an der Endlichkeit des Menschen, die Auferstehung kann Bonnefoy nur abweisen. Denn jede Vorstellung einer Verzauberung der Welt oder von einem Jenseits ist eine Art Entfremdung. Bonnefoy will das einfache Leben ohne Illusionen zu Wort bringen. Religiöse Dogmen dürfen nicht im öffentlichen Leben bestimmend sein. Darin ist er ein typischer Verteidiger der französischen laicité, der Trennung von Religionen und Staat.

Einige Schriftsteller beziehen sich noch auf christliche Traditionen, übertragen sie aber in eine weltliche Lebenspraxis: Zum Beispiel: Jean Christoph Rufin. Er ist ein viel gelesener Autor, Mitglied der berühmten Académie Francaise, er arbeitete als Arzt und Menschenrechtsaktivist. Nun hat er sich als überzeugter Agnostiker aufs Pilgern eingelassen, bis nach Santiago de Compostela war er unterwegs: Darüber hat er ein bewegendes, persönliches Buch geschrieben: „Der Jacobsweg entfernte mich spirituell von unwichtigen Dingen, um zum Wesentlichen zu kommen. Ich wollte dem Leben, nicht den beruflichen Verpflichtungen die Priorität geben. Aber mit meinem Buch will ich kein konfessionelles Bekenntnis abgeben.“ Trotzdem muss er eingestehen, dass Spiritualität sein Thema als Schriftsteller wohl werden könnte. Ein schwacher Hinweis für einen möglichen, neuen Glauben.

Heftiger Antiklerikalismus hingegen ist im heutigen Frankreich eher unter Philosophen zu finden, etwa bei Michel Onfray. Aber auch für die viel gelesene Schriftstellerin Virginie Despentes ist heftige Kirchenkritikerin üblich, ihr Eintreten für weitestgehende sexuelle Freizügigkeit ist mit kirchlicher Moral schwer vereinbar. Man denke etwa an ihre Romane „Baise moi“ oder „Das Leben des Vernon Subutex“.

Einen ganz anderen Schwerpunkt hat sich die auch in Deutschland bekannte Theater – Autorin Veronique Olmi in ihrem neuesten Roman vorgenommen: Sie erzählt die Geschichte einer außergewöhnlichen Nonne: In ihrem Roman „Bakhita“ schildert sie das Leben einer, um 1860 geborenen, Sklavin aus dem Sudan: Gequält, vergewaltigt, wie ein Stück Vieh behandelt, hat Bakhita ihre inneren Widerstandsreserven entwickelt: Sie landet noch als Sklavin in Italien, wird befeit und tritt in Venedig in ein Kloster ein: Die Güte und Freundlichkeit der „schwarzen Nonne“ war so überwältigend, dass Bakhita im Jahr 2000 heilig gesprochen wurde. Veronique Olmi bekennt, in einer „sehr katholischen und bürgerlichen Familie groß geworden zu sein. Als junge Frau hat sie sich von der Kirche getrennt. Dann aber begegnet sie dieser ungewöhnlichen Bakhita: „Wo kommt bei der Frau dieses Licht her? Wie kann sie soviel Güte entwickeln bei all dem Leiden. Ihr innerer Widerstand bleibt ein Mysterium

Was mich beim Schreiben des Romans nicht verlassen hat: Ich fühle mich förmlich von dieser Frau beschützt…Diese meine Erfahrung ist noch zerbrechlich…“, bekennt Veronique Olmi. Der Roman hat im September 2017 den Preis des weltweiten Kulturkaufhauses FNAC erhalten.

Die Bindungen muslimischer SchriftstellerInnen in Frankreich (sie stammen oft aus Algerien oder Marokko) an „den“ Islam sind immer kritisch und gebrochen. Leíla Slimani, geboren 1981 in Marokko, hat schon als junge Autorin den hoch angesehenen Goncourt – Preis erhalten. Ihre Stimme wird gehört, zumal sie jetzt über die vielfachen Gründe der sexuellen Unterdrückung, vor allem der Frauen in Marokko, publiziert: Seit 21 Jahren lebt Slimani in Paris. Sie weiß von dem Problem, dass Islam – Kritik von rechtsextremer Seite missbraucht werden könnte. Dennoch fordert sie lautstark die Befreiung der Frauen im Sinne der universalen Menschenrechte, betont allerdings: Die Übermacht der Männer in Marokko sei nicht allein nur dem Islam zuzuschreiben, vielmehr hätte die europäische Kolonialherrschaft diese Macho – Tendenzen verstärkt.

Herrschaft und Brutalität in menschlichen Beziehungen legt unermüdlich Yasmina Reza frei, auch in ihrem neuen Roman mit dem durchaus bezeichnenden Titel „Babylon“: Die „gut“-bürgerlichen Ehen erscheinen als Beziehungen der Lüge. Bei den geringsten Anlässen kann das Wertegefüge zerbrechen. Diese Menschen erscheinen bei Reza als abgründige Wesen, sie entsprechen der üblichen Vorstellung von Babylon, dem Symbol für Verwirrung und Sittenlosigkeit. Mit der Erinnerung an Babylon als dem Nein zu einer göttlich gewollten menschlichen Welt werden letzte Reste einer biblisch geprägten Kultur noch von Ferne beschworen. Aber Religion, Gott, Glaube sind nur als beinahe unerreichbare „Hoffnungsfunken“ zu ahnen.

 

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Poesie als Weg zu Gott

Die ungewöhnlichen Studien des katholischen Theologen Jean-Pierre Jossua, Paris

 Ein französischer Theologe hat sich sein ganzes Leben mit der Suche nach dem Unendlichen, Sinnvollen, vielleicht auch Göttlichen in der modernen Literatur befasst: Das machen viele Theologen. Der Dominikaner Pater Jean – Pierre Jossua (Jahrgang 1930) ist ein ganz besonderer Theologe, der leider in Deutschland weithin unbekannt ist: Pater Jossua ist Dialogpartner für Dichter und Schriftsteller, etwa Yves Bonnefoy. Er will sie nicht belehren, sondern das Gesagte verstehen und das Ungesagte entziffern.

Zahlreiche große Studien sind Ausdruck dieser Haltung. Pater Jossua betont: „Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegung geworden. Poesie könnte für sie sogar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich möchte ich sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet kann nur gewinnen, wenn es wieder die Form poetischer Qualität entdeckt“.

Von den zahlreichen Studien Jossuas soll hier nur erwähnt werden: „La passion de l infini: Littérature et théologie“. Nouvelles recherches. Paris 2011, Editions du Cerf.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin. Dieser Beitrag wurde im Oktober 2017 in leicht verkürzter Form in “PUBLIK FORUM” veröffentlicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf der Suche nach dem verlorenen Gott: Religiöse Themen bei französischen Schriftstellern heute

In der Zeitschrift PUBLIK FORUM, Ausgabe vom 13. Oktober 2017, habe ich anläßlich des Ehrengastes der Buchmesse in Frankfurt auf einige Aspekte zu “Religiöse Themen bei französischen Schriftstellern heute” hingewiesen.  Den Beitrag können Sie hier lesen und dabei auch die Zeitschrift PUBLIK FORUM näher kennenlernen.

Katholische Kirche in Frankreich: Eine Minderheit

Hinweise von Christian Modehn am 11. Oktober 2017

Das Motto stammt von dem großen französischen katholischen Publizisten Georges Hourdin (1899 – 1999), er war der Gründer zahlreicher angesehener katholischer Zeitschriften wie „La Vie“ (Paris) oder der Kulturzeitschrift „Télérama“. Ein kenntnisreicher Beobachter der katholischen Kirche Frankreichs. Hourdin begann 1998 seine Analyse des französischen Katholizismus mit den Worten: „L Eglise catholique de France risque de disparaitre“: „Die Katholische Kirche Frankreichs könnte verschwinden“. Wörtlich: „Sie riskiert es zu verschwinden.“ (In: Le viel homme et l église, Paris,1998, Seite 9, 3. Auflage). Hourdin fährt dann fort: „Das ist zumindest das, was uns die Analyse der Tatsachen sagt, wenn man denn von außen die Situation betrachtet und sich nicht darauf beschränkt, den Erfolg dieser oder jener katholischen Versammlung zu betrachten“.

“Älteste Tochter der (römischen) Kirche” wird die katholische Kirche in Frankreich gern genannt. Sie ist wahrlich sehr alt und jetzt sehr gebrechlich. Etwas lebendig (und polemisch) ist nur noch auf der rechten Seite ihres alten Körpers, um im Bild zu bleiben: Die linke Seite (“la gauche du Christ”, sagte man einst) wirkt wie gelähmt. Und die Leistungen ihres Kopfes, einst gerühmt wegen eines gewissen theologischen ésprit, lassen auch nach. Ein kritischer Blick auf die alte, schwache Dame/Tochter, ist also angebracht … angesichts der Bücherberge zu Frankreich, die dieser Tage gestapelt werden. Zur Vertiefung siehe auch:  “Wo bleiben die Religionen in Frankreich auf der Buchmesse?

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Vor 25 Jahren habe ich meine Essays über „Religion in Frankreich“ (im Gütersloher Verlagshaus) veröffentlicht. Seit der Zeit habe ich immer wieder auf den äußeren Zustand der katholischen Kirche in Frankreich hingewiesen, und so weit dies sachlich möglich ist, auf die Mentalität, also die innere Verfasstheit der Kirchenmitglieder.

Die Buchmesse in Frankfurt am Main 2017 hat Frankreich als Ehrengast eingeladen. Ein Anlass, das Thema noch einmal wenigstens skizzenhaft aufzugreifen.

Wie üblich bei großen Kulturveranstaltungen in Deutschland (wie sicher in ganz Westeuropa) werden religionswissenschaftliche und kritisch – theologische Themen bei der Buchmesse eher ausgeblendet. Dies ist bedauerlich, weil Religiosität und (religiöse oder atheistische) Spiritualität mindestens die „Hintergrund – Musik“ der Mentalitäten sind.

Früher, d.h. noch vor 10 Jahren, gab es eine gewisse Aufmerksamkeit wenigstens in einigen Randbereichen der Kultur am Thema Religionen in Frankreich. Ich habe z. B. von 1989 bis 2006 mindestens viermal jährlich im Saarländischen Rundfunk (Redaktion Norbert Sommer) in Halbstunden-Ra­dio­sen­dungen über Gott in Frankreich berichtet, so der Titel der Sendereihe. Heute schwindet in Deutschland im allgemeinen das Interesse an religionswissenschaftlichen und religionssoziologischen Analysen etwa über Kirchenbindungen in Frankreich und anderswo.

Es ist jedoch in meiner Sicht an der Zeit, auf die gegenwärtige Situation des französischen Katholizismus zu schauen, dabei kann ich hier nur Stichworte und Belege zum Weiterstudium bieten. Aber diese Stichworte bieten eine erste Orientierung zu dem, welche Gestalt der französische Katholizismus hat bzw. in den vergangenen 50 bis 60 Jahren hatte.

Die Begrenzung auf den Katholizismus hat absolut nichts mit Konfessionalismus meinerseits zu tun. Der Focus hier ist bedingt, dass einst, noch vor 60 Jahren, der Katholizismus in Frankreich die zahlenmäßig stärkste Religion war, französische Theologen waren noch prägend, bekannt, auch in Deutschland, und die praktischen Experimente der Kirche galten vielen als vorbildlich. Heute ist von französischen Theologen kaum noch die Rede, selbst von den viel interessanteren Religionssoziologen ist hier fast nichts bekannt. Man redet in Deutschland allenfalls über das de facto katholische, nach außen sich aber ökumenisch gebende Kloster in Taizé.

Hier also einige Schlaglichter, die weiter zu vertiefen wären, aber einen ersten Anhalt bieten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass exakte Konfessionsstatistiken wie in Deutschland nicht in Frankreich existieren, dies ist bedingt durch die Trennung von Kirchen und Staat und die damit gegebene Privatisierung der religiösen Bindung.

Es gibt allerdings immer wieder repräsentative Umfragen zur Bindung der Franzosen an den Katholizismus und andere Religionen: 2011 veröffentlichte etwa „Harris Interactive“ eine Studie „Les Francais et Dieu“. Die manchmal problematische inhaltliche Gestaltung der Fragen bei Umfragen ist generell ein Problem, kann hier nicht vertieft werden.

Zu dieser Umfrage: 36 % erklären, an Gott zu glauben. 34% erklären, NICHT an Gott zu glauben. 30 % können sich nicht zu der Frage affirmativ klar erklären. Ausdrücklich wird betont in der Studie: 48 % der Katholiken sind sich sicher, an Gott zu glauben. Unter den regelmäßig praktizierenden Katholiken (d.h. denen, die mindestens einmal im Monat an der Messe teilnehmen) sind es 98 %, die sicher an Gott glauben…

21 % der Franzosen erklären, niemals sich die Fragen über Gott zu stellen.

Wer sich die Frage nach Gott stellt, wünscht sich ausdrücklich, mit anderen diese Frage zu debattieren, dieser Anteil beträgt 62 %! Kommentar: Die Sehnsucht nach offenen, dann wohl aber nicht streng dogmatischen Gesprächsgemeinschaften ist groß. Weiterer Kommentar: Die offiziellen Pfarrgemeinden: Können sie bei aller gewünschten Freiheit, diesen Wunsch der offenen (!) Debatte erfüllen?

IFOP, ein anderes Meinungsforschungsinstitut, hat diese Statistik veröffentlicht im historischen Vergleich:

Anteil der Katholiken 1952: 81 %; Teilnahme an Messe: 27%

1966: 80%;                                     20 %

1978: 76 %;                                    14 %

2001: 69%;                                       5 %

2010: 64 %                                       4,5 %

Die Umfrage von “WIN-Gallup International” vom August 2012 zeigt dieses Bild: 29% der Franzosen nennen sich “Atheisten”, im Jahr 2005 waren es 14%, so “Win -Gallup… Die katholische Wochenzeitung “La Vie” (Paris) berichtet am 31. 1. 2013 zusammenfassend über diese Umfrage: “Während die Zahl der Gläubigen kontinuierlich sinkt, unter 30 % geht nach anderen Umfragen, wird die wichtigste Kategorie der Franzosen, zwischen 35% und 40%, von so genannten Probalilisten gebildet, also von Leuten, für die Gott eventuell existiert”. Daraus kann man schließen: Etwa 30 % der Franzosen nennen sich in dieser Umfrage  “gläubig”, was wohl auch kirchlich bedeutet…”La Vie” bezieht sich zur Illustration dieser Verhältnisse auf die damalige französische Regierung unter Jean-Marc Ayrault:”Der Atheismus ist unter den Ministern die am meisten geteilte Strömung. 11 der 38 Minister nennen sich Atheisten, 5 nennen sich Agnostiker, nur sechs nennen sich `gläubig, aber nicht praktizierend`… Man kann darauf hinweisen, dass sich in dieser Regierung kein einziger Minister als praktizierender Christ bezeichnet”, (ebd. S. 20). Wobei gefragt werden muss: Ist der Messbesuch die deutlichste Ausprägung einer religiösen Praxis und religiösen Bindung…

Heute wird der Anteil der so genannten praktizierenden, also wenigstens einmal im Monat die Messe besuchenden Katholiken (was ist das für ein grausiges Verständnis von „Praxis“?) bei 3 bis 4 Prozent im Landesdurchschnitt angegeben. Diese Zahl nennt die katholische Wochenzeitung “La Vie” in ihrer großen Studievom 20. März 2008 (!) S. 69: 1,9 Millionen der über 18 Jahre alten Franzosen, sind als praktizierende Katholiken anzusprechen, das sind 4 %. Von dieser Gruppe der regelmäßig Praktizierenden sind 66% Frauen, 34 % Männer (bei der damaligen Gesamtbevölkerung: 48 % Frauen….)

Die Taufen in katholischen Kirchen…dies nur als eines von vielen weiteren Beispielen:

Taufen 1990: 472.000

Taufen 2012: 290.300

Sakramentale Eheschließung in einer Kirche:

1990: 147.000

2012:   70.000

Gesamtzahl der Priester:

1990: 32.300

2012: 16.800, also nach 22 Jahren hat sich die Zahl der Priester halbiert.

Über die so genannte religiöse Praxis in den unterschiedlichen Regionen und Départements, verstanden als Teilnahme an der Sonntagsmesse, ist in Frankreich seit langem viel geforscht worden. Die These ist verbreitet: Wo die Revolution besonders heftig und erfolgreich war, ist die religiöse Praxis gering. Darum ist beispielsweise heute die Teilnahme an der Sonntagsmesse in den einst „revolutionären Départements“ sehr schwach, also etwa in Aube, Marne, Cher, Yonne, Nièvre, Allier, Creuse, Corrèze, in den genannten Departements bzw. Bistümern heute oft gegen Null tendierend, etwa Creuse oder Nièvre. Das hängt auch damit zusammen, dass in diesen Départements bzw. Bistümern fast keine Priester mehr zur Verfügung stehen, und wenn, dann sind die meisten über 70 Jahre alt. Regionen, in den Katholizismus noch eine gewisse Rolle spielt: Bretagne, Elsass, Pyrenäen, Vendée.

In dem Zusammenhang wird immer wieder an die gesetzliche Trennung de Kirchen und des Staates im Jahr 1905 erinnert. Gerade in katholischen Milieus Deutschland herrscht noch immer die Verwechslung von Laicité und Laizismus, dieser verstanden als militante Form der Unkirchlichkeit vor. Diese Kreise in Deutschland wollen a priori die Laicité ablehnen, wenn sie diese als Laizismus miss-verstehen. Und dabei rühmen deutsche Katholiken in die angeblich fruchtbare Zusammenarbeit von Kirchen und Staat in Deutschland und wollen dabei nicht sehen, in welcher umfassenden Abhängigkeit die Kirchen hier vom Staat leben und leben wollen…Jedenfalls ist deutlich: Der französische Staat, geprägt von der laicité, finanziert den Unterhalt der Kirchengebäude, die vor 1905 errichtet wurden. Hinzukommt: “Mit mindestens 1,5 Milliarden Euro jährlich unterstützt der Staat die zahlreichen katholischen Privatschulen” (La Vie, 20.März 2008, Seite 74). Also auch die atheistischen Bürger etc. unterstützen auf diese Weise den Erhalt der Kirchengebäude  und die katholischen  Privatschulen, die bekanntermaßen von Kindern der konservativen oberen Mittelschicht besucht werden. Dies nur als Beispiel gegen den in Deutschland immer wieder wider besseren Wissens verbreiteten Unsinn vom “laizistischen Staat Frankreich”…

Jedenfalls war (und ist) manchmal noch die französische Kirche kreativer als die katholische Kirche in Deutschland. Das wäre eigens zu untersuchen. Ich habe früher Beispiele beschrieben. Stichwort: Arbeiterpriester (jetzt allerdings eine verschwindende Gruppe), Pluralität der Gemeinden (es gibt noch einige explizit progressive), alternative Formen des Ordensleben, etwa in Hochhäusern in der Banlieue. Und andererseits: Es gibt seit ca. 40 Jahren einen breiten Strom sehr rechtsextremer katholischer Kreise, im Umfeld der Traditionalisten von Erzbischof Lefèbvre und der Priesterbruderschaft Pius X. Die Kreise bilden in Frankreich förmlich eine Art Gegenkirche, um deren Integration ins römische System sich viele Kardinäle in Rom bemühen. Warum? Weil diese Leute nach außen fromm sind, Wallfahrten lieben, etc. und vor allem: Viele junge (aber theologisch inkompetente) Priester haben.

Dazu hat die website atheisme.org/PieX.html einen wichtigen Beitrag veröffentlicht über „Les Fascistes de la fraternité Saint Pie X“. (2005)

Interessant ist in diesem Zusammenhang als Exempel das Benediktinerkloster Les Barroux bei Avignon: Dort regierte ein reaktionäre Lefèbvre Abt, Dom Gérard, der sich dann auf Betreiben von Kardinal Ratzinger formell mit Rom versöhnte, ohne dabei die alte Ideologie aufzugeben. Und dies ist kein Einzelfall. Noch bedenkenswerter sind die vielen neuen charismatischen Ordensgemeinschaften, wie im Umfeld von Chemin Neuf, Emmanuel. Man denke daran, dass der reaktionäre Bischof von Toulon Mitglied von Emmanuel ist. Die Anwesenheit dieser neuen reaktionären Ordensgemeinschaften aus Frankreich stammend wird in Deutschland auch nicht studiert. Sber sie verbreiten sich in Deutschland (Emmanuel etc.)

Man bedenke ferner, dass die Millionen Menschen mobilisierenden Demonstrationen gegen das Gesetz von Präsident Hollande zugunsten der Ehe für alle (HOMO-Ehe) auch von den Traditionalisten stark mit getragen wurden, von den entsprechenden Instituten, wie „Civitas“. Die enormen Demonstrationen rechter und rechtsextremer katholischer Kreise ist meines Wissens in Deutschland kaum untersucht worden.

Über das rechtslastige Wahlverhalten der Katholiken, auch zugunsten von Marine le Pen, FN, habe ich berichtet. Links und katholisch: Das war einmal, vielleicht in den neunzehnhundertsiebziger Jahren (vgl. das große wichtige Buch „A la gauche du Christ“, éditions du Seuil, 2012, diese Studie hg. von Denis Pelletier und Jean-Louis Schlegel, hat kaum Aufmerksamkeit, geschweige denn Übersetzungen, in Deutschland gefunden. Ein Beispiel für den Bruch zwischen deutscher und französischer Kultur. Europa und vor allem Frankreich ist für die meisten Theologen, Religionswissenschaftler und Zeitschriften, die noch etwas mit Religionen zu tun haben, kein Thema mehr.

Dabei ist überraschend: Gerade in Fankreich, bei dieser finanziell armen Kirche, gibt es noch eine Presse, die den Namen verdient, nämlich an Kiosken zu haben ist: Wie La Croix, La Vie, Pélerin, Temoignage Chrétien, Etudes, Esprit usw. Wer in Deutschland nach Zeitschriften fragt, die irgendetwas noch mit Christentum zu tun haben, erlebt ein Nichts. Die Milliarden reiche Kirche Deutschlands ist außerstande ein kritisches und selbstkrisches Blatt an die Kioske zu bringen. Wenn das kein Getto ist. In Frankreich ist das anders. Dort sendet übrigens der Fernsehsender France 2 jeden Sonntag ab 8.30 bsi 12.00 Uhr ein umfassendes Programm, das alle großen Religionen selbst gestalten können. Und dann redet man in Deutschland von Laizismus in Frankreich…

Zum neuesten Stand der Kirche heute. Da wären viele neue Studien zu nennen. Nur ein Hinweis: Der Jesuit Marc Rastoin hat in der „La Civilità Cattolica“ (28. Jan. 2017) einen Beitrag zur aktuellen Situation des französischen Katholizismus veröffentlicht, dies ist bemerkenswert, weil diese Zeitschrift förmlich die Meinung des Papstes wiedergibt und deswegen als Parteiblatt eigentlich keinen großen wissenschaftlichen Wert hat. Trotzdem: P. Rastoin sagt: „Heute ist die französische Kirche (nur noch) unterstützt von der oberen Mittelschicht. Aus diesen wohlhabenden Kreisen kommen noch die sehr wenigen Priesterberufungen“. Die Arbeiter, die Intellektuellen, die untere Mittelschicht usw. haben sich von der Kirche völlig distanziert. „Der Katholizismus (vor allem in Paris, Versailles, Lyon usw.) gehört zu einem homogenen sozialen Milieu.

Die Katholische Kirche erlebt einen Übergang von einer beruhigten und ruhigen Mehrheit zum Status einer Minderheit“. Heute sind wohl noch 42 % der Franzosen katholisch.

Aber wenn er von der noch verbliebenen Lebendigkeit des Katholizismus heute spricht, erwähnt Pater Rastoin SJ ausgerechnet die von mir (nicht nur von mir) reaktionär bewerteten Kreise um die Demonstrationen gegen die „Ehe für alle“. Und er nennt nach alter Art, die treuen katholischen Familien (offenbar aus der oberen Mittelschicht), „die günstige Erde fürs Aufblühen der Priesterberufungen“. Was für eine Sprache… Und der Jesuit rühmt nebenbei, dass die katholischen Familien wieder viele Kinder haben…, mehr als in Polen“.

Tatsache ist:

Der französische Katholizismus scheint dem Ende zuzugehen, Zahlenmäßig: die jungen Leute haben fast keine Kirchenbindung mehr, der Gottesdienstbesuch ist extrem schwach; neue Ideen für neue Gemeinden fehlen (selbst das viel gerühmte Beispiel in Poitiers funktioniert nicht mehr richtig).

Die Kirche müsste sich also neu erfinden, kann sie aber nicht aufgrund ihrer klerikal – hierarchischen Verfassung. Das ist, so sehen es noch einige, denen die Kirche wichtig ist, das ganze Drama, wenn nicht die Tragödie der französischen Kirche. Und das Schlimme ist: Diese Tragödie müsste nicht sein, wenn denn Klerikalismus und Hierarchie aufgegeben würden und lebendige Demokartie und dogmatische Offenheit Realität wären.

Copyright: Christian Modehn, Berlin, Religionsphilosophischer Salon.

Buchmesse Frankfurt 2017: Wo bleiben Religionen und Theologien ?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die Frankfurter Buchmesse hat in diesem Jahr 2017 einen für uns besonders wichtigen Ehrengast: Frankreich.

Es ist eine Feststellung (und zugleich auch eine Kritik), dass bei diesem Aufmarsch der Literaten in Frankfurt wahrscheinlich die Philosophen zu kurz kommen und vor allem die Theologen, die es ja in Frankreich noch gibt, trotz des zahlenmäßigen Dahinschwindens der Katholiken in dieser „ältesten Tochter der Kirche“. Über protestantische Theologen wäre eigens zu sprechen.

Als ein minimales Ergänzungsprogramm nur einige Hinweise:

1. Es gibt in Frankreich den in Deutschland leider völlig unbekannten katholischen Theologen Jean – Pierre Jossua aus dem Dominikanerorden, der als Theologe viele Jahre vor allem die Literatur studiert hat und mit zahlreichen Schriftstellern und Poeten, wie Yves Bonnefoy, befreundet war. Und der eben auch bedeutende Studien über den Zusammenhang von Literatur und Religion (in Frankreich, aber nicht nur) publiziert hat. Es ist ein Zeichen der Ferne und Fremdheit, die zwischen Deutschland und Frankreich herrscht, dass kein Buch des bedeutenden Theologen Jossua übersetzt wurde.

Wer Französisch lesen kann, dem empfehle ich diese Bücher: Die vier Bände „Pour une histoire religieuse de l experience litteraire“. Eitions Beauchesne, Paris. Sowie: Jean-Pierre Jossua, La passion de l’infini. Littérature et théologie. Nouvelles recherches Paris, Cerf, 2011, coll. « Théologie », 528 p.

Ich habe Jean – Pierre Jossua vor einigen Jahren in Paris interviewt, daraus ein Element seiner Aussagen:

Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegung geworden. Poesie könnte für sie sogar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich möchte ich sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet kann nur gewinnen, wenn es wieder die Form poetischer Qualität entdeckt“

2. Auf unserer Website des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin haben wir mehrfach über den Zustand der Religionen, vor allem des Katholizismus, in Frankreich (einst und) heute hingewiesen. 1993 erschien mein Buch „Religion in Frankreich“.

Hier nur der Hinweis auf einen ungewöhnlichen Theologen und katholischen Priester, der in den Pariser Salons, also als angenehmer Gast inmitten der Literaten und Künstler, tatsächlich ständig verkehrte: Arthur Mugnier (1853 – 1944) ist sein Name. Der Historiker Charles Chauvin, Paris, hat über ihn kürzlich eine Studie publiziert. Meinen Hinweis auf dieses Buch und den ungewöhnlichen Theologen lesen Sie hier.

3.Über den Zustand der katholischen Kirche gibt es viele Aspekte, ein Thema ist: Es gibt in Frankreich Regionen, die seit 200 Jahren, wenn nicht länger, völlig befreit sind von jeglicher Bindung an die katholische Kirche, selbst wenn sich die älteren Bewohner dieser Départements noch katholisch nennen, und sich etwa eine katholische Bestattung wünschen. Die Mentalitätsgeschichte dieser Regionen etwa in Burgund oder Centre und Limoges und Creuse, Guéret vor allem,   wurde oft erforscht. Ich habe nur einen Hinweis kürzlich publiziert, über das Bistum Tulle im Département Corrèze.

 

Fortsetzung folgt….

Copyright: Christian Modehn

 

Rechtsextreme Ideen werden vom Straßburger Erzbischof Luc Ravel propagiert

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.7. 2017

Luc Ravel (geb. 1957) ist seit einigen Wochen der neue Erzbischof von Straßburg im Elsass. Dort gelten – im Unterschied zum übrigen Frankreich – die Bestimmungen des Konkordates aus napoleonischen Zeiten; dementsprechend hat noch Staatspräsident Hollande entscheidend zu Ravels Anstellung beigetragen.

Ravel war zuvor Militärbischof. Er ist seit der Zeit als äußerst konservativer Theologe bekannt. Nun hat er vor einigen Tagen in der Tageszeitung „Dernières Nouvelles d Alsace“ erklärt: Frankreichs Bevölkerung (d.h. die weiße und irgendwie noch christliche) werde wohl bald von der kinderreichen muslimischen Bevölkerung ERSETZT. Das Wort „remplacement“ ist dabei entscheidend: Es finde also ein Austausch, ein „Ersetztwerden“, der Bevölkerung durch eine andere, ja man muss wohl sagen, Rasse, statt. Die diffusen Ängste von Michel Houellebecq (Roman „Unterwerfung“) und die Ideologie rechtsextremer Parteien hat sich also der Erzbischof zu eigen gemacht.

Zum Hintergrund:

„Frankreich verschwindet bald, weil die muslimischen Familien immer mehr Kinder bekommen“: Der rechtsextreme Ideologe Renaud Camus verbreitet diese Behauptung ziemlich erfolgreich. Bei der rechtsextremen Partei Front National finden seine Ideen Zustimmung sowie bei anderen entsprechenden Bewegungen, wie den „Identitären“. Aber selbst Nicolas Sarkozy hat sich am 5. August 2016 der populären Behauptung angeschlossen, als er sagte: „l’axe du monde étant clairement passé vers l’Afrique et l’Asie …Il nous faut réagir, ou on disparaîtra“. D.h.: Die Achse der Demographie dreht sich klar Richtung Afrika und Asien, wir Franzosen müssen reagieren oder wir werden verschwinden“. Mit dem „Wir“ sind die gebürtigen Franzosen gemeint, jene weißen Herrschaften, die allerdings oft vergessen, selbst ungarische (wie Sarkozy), italienische, spanische, polnische, russische, deutsche Großeltern zu haben. „Reinrassige Vollblut Franzosen, Gallier? “ gibt es “leider” nicht! Nun aber haben diese weißen (katholischen) Herrschaften Angst zu verschwinden. Warum? Weil die muslimischen Familien, also die Leute aus Nordafrika oder aus den südlicheren afrikanischen Staaten, so kinderreich sind in Frankreich.

Es geht also ganz klar um einen Kampf der Rassen: Hier die ansässigen guten Franzosen (obwohl sie auch alle Mischlinge sind aufgrund der Einwanderungen seit 1800) und dort, auf der anderen Seite, die bedrohlichen Typen, die „wie wild“ Kinder zeugen und dadurch faktisch Frankreich erobern. Diese rassistische Idee wird in Frankreich viel diskutiert, auch in literarischen Kreisen. Sie wurde einerseits empirisch widerlegt und auf der anderen Seite klar gestellt: Dass in Frankreich immer schon „Mischungen“ von Menschen unterschiedlicher Herkunft besteht und dass es doch falsch sei zu behaupten, alle Muslime in Frankreich wollten sozusagen die Macht übernehmen und die Republik abschaffen.

Erzbischof Ravel jedenfalls übernimmt jetzt öffentlich (!) die rechtsextreme Ideologie und lobt sich deswegen selbst als mutigen Franzosen, „weil ich Frankreich liebe“. Er liebt aber nur das katholische, das alte Frankreich, nicht das offene, das dialogbereite republikanische Frankreich.

Das hat Erzbischof Luc Ravel schon beweisen, als er noch Bischof des Militär-Bistums war, auch dies gibt es in Frankreich, es sei all denen gesagt, die ewig und ungebildet von der totalen Trennung von Kirchen und Staat in Frankreich plaudern und diese laicité dann als Deutsche bedauern…

Also, Bischof Ravel hat als Militärbischof nach den Terroranschlägen in Paris behauptet: Man solle die 17 Opfer dieser Terroranschläge mit den 200.000 Opfern vergleichen, die durch die Abtreibung in Frankreich nicht geboren werden. Diese Abtreibungs – „Morde“ seien wohl schlimmer als die 17 Opfer der Terroranschläge. Die Behörden des Verteidigungsministeriums haben gegen diese Aussagen protestiert.

Trotzdem wurde dieser absolute pro-life-Fan noch auf den Posten des Erzbischofs von Straßburg gesetzt, weil seine Tätigkeit als Militärbischof nicht verlängert wurde. Das ist die vatikanische Personalpolitik: Irgendwo muss man einen Kleriker, einen Bischof, eben unterbringen. So viele geeignete Kleriker fürs Bischofsamt gibt es ja ohnehin nicht mehr. Und zu allem Unglück war Ravel auch noch Mitglied der Glaubenskommission der französischen Bischofskonferenz. Die Politiker im Elsass haben den neuen Bischof voller Überschwang willkommen geheißen, selbst der sozialistische Bürgermeister war wohl begeistert.

Für den neuen Erzbischof von Strassburg, der Stadt Europas und der Menschenrechte, ist jedenfalls der französische Laizismus, wie er sagt, also die Trennung der Kirchen vom Staat. genauso gefährlich wie der Islamismus. das betont er deutlich mit Unschuldsmiene des Naiven, der er nicht ist. Und er ist felsenfest als Fundamentalist überzeugt: Dass “Jesus Christus der Meister des Kosmos und der Geschichte ist”, das heißt: Jesus Christus soll alles bestimmend sein in der Gesellschaft und im Staat. Was ist da der Unterschied zum alles bestimmenden Koran?

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Präsident Macron: Seine Spiritualität und Religion sowie seine Philosophie.

Präsident Emmanuel Macron – über seine Spiritualität und Religion und seine Verbundenheit mit der Philosophie

Siehe auch den aktuellen Hinweis vom Juli 2021: Macron – der Revolutionär? LINK

Hinweise von Christian Modehn am 8.5.2017

1. Glaube und Spiritualität

Präsident Emmanuel Macron, geboren am 21. Dezember 1977 in Amiens, hat dort die katholische Privatschule „La Providence“ („Die Vorsehung“) unter Leitung des Jesuitenordens besucht. Macron kann sich also wie etliche andere bekannte Politiker durchaus Jesuitenschüler nennen. Im Alter von 12 Jahren ließ er sich, beim Eintritt in die Jesuitenschule, (katholisch) taufen. „Das war eine persönliche Wahl, meine Familie (die Eltern sind Ärzte) war eher mit der „laizistischen Tradition“ verbunden. Die Jesuitenschule hat mich die Disziplin des Geistes und einen Willen zur Öffnung gegenüber der Welt gelehrt. Aber danach, (offenbar beim Verlassen der Schule, CM) habe ich weniger (den Glauben) praktiziert (was in Frankreich bedeutet: die Messe besucht, CM). Heute habe ich eine dauernde Reflexion über die Natur meines eigenen Glaubens. Meine Beziehung zur Spiritualität nährt weiterhin mein Denken, aber ich mache daraus kein Element, irgendetwas (politisch? CM) zu beanspruchen (élément de révendication)“, so Macron im Interview mit der katholischen Wochenzeitung La Vie, Paris, am 15. 12. 2016. Macron betont also, dass für ihn (schon damals) die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben wichtiger war als der spirituelle Aspekt. Das gilt bis heute. Macron lobt ausdrücklich die Werte, die die Caritas (Secours catholique) in ihrem Engagement verteidigt, etwa in der Unterstützung der Wohnungslosen.

Der Kirchenhistoriker Jean-Domique Durand (Lyon) sieht in den politischen Äußerungen Macrons Elemente einer christlichen Kultur, etwa wenn er vom „Wohlwollen gegenüber dem Nächsten“ spricht. Er hat die (frühe) von Offenheit geprägte Flüchtlingspolitik von Angela Merkel gelobt. Zu dem lange diskutierten Thema der „christlichen Wurzeln Europas“ meint Durand bezogen auf Macron: Er würde die „christlichen Wurzeln Europas“ nicht offiziell anerkannt sehen wollen.

Zu Papst Franziskus hat sich Macron in „La Vie“ geäußert: „Im Unterschied zu den Präsidentschaftskandidaten Fillon oder Hamon werde ich nicht eine Nähe oder eine enge Verbindung mit dem Papst fordern und suchen. Aber als politisch entscheidender Akteur hat der Papst mutige Entscheidungen getroffen, die auch mit meinen Werten verbunden sind. Besonders in der Frage der Migranten hat der Papst an die Pflicht Europas erinnert und – aus einem geopolitischen, moralischen und philosophischen Gesichtspunkt – an den Unterschied zwischen einem Migranten und einem Flüchtling“. Quelle:

http://www.lavie.fr/dossiers/invites-politique-de-la-redaction/foi-laicite-europe-emmanuel-macron-en-7-extraits-15-12-2016-78648_807.php

Sehr konservative Katholiken lehnen Macron ab, weil er für die Homoehe ist und auch über aktive Sterbehilfe diskutieren will, siehe dazu die einschlägige Zeitschrift “France Catholique”: https://www.france-catholique.fr/Macron-Evangile.html: „Emmanuel Macron a des propositions économiques qui peuvent inquiéter les Français : augmentation de la CSG qui ponctionne déjà les revenus des retraités et des autres, suppression de la Taxe d’habitation pour 80 % des foyers : il faudra bien payer autrement et ce sont les classes moyennes qui devront le faire une fois de plus. En matière de valeurs morales censées être chères aux chrétiens : la faveur pour le mariage homosexuel et la volonté de généraliser la PMA (procréation médicalement assistée) à toutes les femmes qui la demandent sont deux prises de position totalement contraires à la morale de l’Eglise catholique. Les « Chrétiens démocrates » déclarent que Jésus n’était pas attaché à la famille et en concluent sans doute que les positions relativistes ne posent aucun problème ! Or elles sont parfaitement inadmissibles au nom même d’une philosophe politique dans la ligne de Léo Strauss et au nom de la théologie morale catholique“.

2.Zur Philosophie

Interessant ist, dass Macron vor seiner Ausbildung zum Ökonom in den Jahren zwischen 1995 und 2001 Philosophie studierte und das Diplom DEA , also das „diplôme d’études approfondies“, ein Hochschuldiplom, in der Universität „Paris –X. Nanterre“, erlangte, das oft als das erste Jahr eines Promotionsstudiums angesehen wurde. Einige Philosophen, wie der zur Polemik neigende Michel Onfray, aber auch Mitglieder des Fonds Ricoeur haben sich kritisch zu der Annahme geäußert, Macron könne als Philosoph gelten und als solcher auftreten: Sie halten den Titel Macrons als eines Assistenten von Paul Ricoer für überbewertet. Es geht dabei vor allem um die Frage, in welcher konkreten philosophischen Weise Macron als Assistent des protestantischen Philosophen Paul Ricoeur arbeitete. Auch die Philosophie Professorin Myriam Revault de Allonnes hat ihre Bedenken, Macron zu deutlich als Philosophen zu bezeichnen.  Sie sagte, dass Macron wohl nur die Korrekturbögen des Buch „La Memoire, l histoire, l oubli“ von Ricoeur (als Buch 2000 erschienen) korrigiert habe. Macron behauptet auch, von dem marxistischen bzw. kommunistischen Philosophen Etienne Balibar inspiriert zu sein, auch über die intellektuelle Beziehung Macron – Balibar wird unter Philosophen gestritten. Immerhin hat sich Balibar kurz vor der Wahl am 7.5. für Macron eingesetzt. Tatsache ist, dass Macron auch für die eher linke (einst explizit christliche, personalistische Zeitschrift) ESPRIT arbeitete und zum Redaktionskomitee gehörte: Dort wird die „zweifelsfreie philosophische Zuverlässigkeit“ Macrons gelobt, so etwa vom ehemaligen Chefredakteur von ESPRIT, Olivier Mongin. Fünf Beiträge hat Macron (darunter auch Buchbesprechungen) in ESPRIT publiziert, der letzte Artikel erschien 2011. Siehe: http://www.esprit.presse.fr/article/macron-emmanuel/francois-dosse-l-histoire-9396

Als philosophisch gebildeter Politiker hat Macron auch den Philosophen Jürgen Habermas in Berlin am 16. März 2017 getroffen, die Initiative dafür ging von der „Hertie School of Governance“ aus. Habermas lobte in höchsten Töne Macron, weil er entschlossen sei, Europa neu zu gestalten. Auch Sigmar Gabriel (SPD), er kennt Macron aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister, war bei dem Treffen dabei. Die ZEIT berichtete ONLINE am 17.3.2017 über diese Tagung: „Die Europäische Union habe seit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon vor knapp zehn Jahren keine gemeinsame Erzählung mehr, so Macron. Ihr fehle ein gemeinsamer Wille, der sich auf ein klares Ziel richte. Europa vertrage aber keinen Stillstand. “Wenn Sie ein zaghafter Europäer sind, sind Sie bereits ein besiegter Europäer”… Auch den Deutschen ruft Macron damit sein “En Marche” entgegen: Vorwärts! “Man kann Wahlen gewinnen, wenn man eine Idee von Europa hat und diese verteidigt”, sagt er. Es sei das deutsch-französische Verhältnis, von dem “das europäische Momentum” ausgehen müsse. Da Misstrauen und uneingelöste Versprechen das Verhältnis der Nachbarn zerrüttet hätten, wirbt Macron dafür, zuallererst diese Beziehung zu erneuern. Dafür will er bei sich selbst anfangen und in Frankreich überfällige Reformen anstoßen”. Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/emmanuel-macron-berlin-sigmar-gabriel-juergen-habermas-frankreich-wahlkampf

3. Die Trennung von Religion und Staat verteidigen

 Macron ist leidenschaftlicher Verteidiger der Laicité, also der seit 1905 gesetzlich verankerten Trennung von Religionen und Staat in Frankreich. Er sagt: „Ich will nicht, dass die Gesellschaft den hegemonialen (Macht orientierten) Versuchungen einer Religion unterworfen ist…Die Laicité erlaubt es, im öffentlichen Raum respektvoll miteinander zu leben, im Respekt der Werte der Republik. … Im öffentlichen Dienst des Staates (service public) ist es sehr wichtig, die Neutralität dieses öffentlichen Dienstes des Staates zu respektieren. Aber die Laicité hat nicht die Berufung, eine republikanische Religion zu fördern“… „Die Republik ist der magische und einzigartige Ort ,der es erlaubt, dass Menschen in der Intensität ihrer Religion leben können. Man verlangt in der Republik, dass die Leute mit ihrer Religion für sich selbst (privat) umgehen, wie sie es wollen und dass sie dabei aber in einem absoluten Respekt vor den Regeln der Republik leben. Im öffentlichen Raum verlange ich von religiösen Menschen nur eine Sache: Dass sie die Regeln (les règles), also auch die Gesetze, absolut respektieren. In seinem eigenen, tiefen Gewissen, denke ich, kann ein praktizierender Katholik meinen, dass die Gesetze seiner Religion die Gesetze der Republik übersteigen. Aber ganz einfach: In jedem Augenblick, wo sich der Katholik im öffentlichen Raum bewegt, sind die Gesetze der Republik größer und wichtiger als die religiösen Gesetze… Die Menschen können das Bedürfnis nach einer Transzendenz haben. Die Republik hat nicht gegen die Transzendenz zu kämpfen. Die Republik hat zu kämpfen, wenn ihre Werte nicht respektiert werden“. (Interview mit dem politischen Magazin Marianne, 2016)

Siehe auch: https://www.franceculture.fr/politique/aux-sources-des-idees-demmanuel-macron

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Macron gewählt: Frankreichs Katholiken bleiben sehr rechtslastig. Zur Wahl am 7. 5. 2017

Zur Wahl in Frankreich am 7.5. 2017: Hohe Zustimmung unter Katholiken für Le Pen.

Ein Hinweis von Christian Modehn (Weitere aktuelle Informationen, auch zur Ideologie von Marine Le Pen, warum Papst Franziskus nicht explizit vor Le Pen warnte und zur Rechtslastigkeit französischer Katholiken: klicken Sie hier)

38 Prozent der so genannten praktizierenden Katholiken haben Marine Le Pen von der rechtsradikalen Partei Front National gewählt, so eine Umfrage von IFOP im Auftrag von „La Croix“ und „Le Pélerin“ am 7.5. 2017. Also: Um 4 Prozent höher ist der Anteil der praktizierenden Katholiken für Le Pen gegenüber dem Landes-Durchschnitt von 33,9 für Le Pen.

Ein Detail:

Die bloß gelegentlich die Sonntagsmesse besuchenden Katholiken haben sogar zu 46 Prozent für Marine Le Pen gestimmt. Die regelmäßig praktizierenden Katholiken hingegen „nur“ zu 29 Prozent! Damit haben viele Katholiken, die im ersten Wahlgang noch den bürgerlichen Rechten Fillon wählten, dann am 7. Mai 2017 für Le Pen gestimmt. Und von explizit warnenden Worten der Bischofskonferenz und des Papstes vor Le Pen war ja, wie wir dokumentiert haben, nichts zu vernehmen. Autoritätshörige Katholiken konnten also förmlich mit gutem Gewissen Le Pen wählen….

Für Macron haben 67 Prozent der Protestanten gestimmt, die Muslime haben zu 92 Prozent für Macron gestimmt.

Was die Wahlbeteiligung angeht:
80 % der regelmäßig praktizierenden Katholiken haben an der Wahl am 7. Mai teilgenommen; 76 % der Protestanten haben gewähltund 62 % der Muslime.

Ein Hinweis von La Croix: Cette enquête Ifop a été réalisée en ligne dimanche 7 mai, et à partir d’un cumul d’interviews du 4 au 7 mai, auprès de 4 330 personnes inscrites sur les listes électorales, extraites d’un échantillon de 4 572 personnes dont la représentativité a été assurée par la méthode des quotas. Marge d’erreur de 0,7 à 1,6 point.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin