Katholische Kirche in Deutschland – vor der Abspaltung von Rom?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Dieser kurze Hinweis ist interessant, weil er das mögliche Scheitern des „Synodalen Weges“ der katholischen Kirche in Deutschland heute mit einem Hinweis auf das tatsächlich Scheitern des „Niederländischen katholische Pastoralkonzils“ und damit der katholischen Kirche der Niederlande insgesamt begründet. Nebenbei: Bekanntlich hat Philosophie immer die Aufgabe, Religionskritik zu lehren.

Dieser knappe Hinweis hat sechs kleine Kapitel:

1. Die heutige Angst im Vatikan vor einem Schisma.
2. Was ist ein Schisma, bzw. damit eng verbunden, was bedeutet der Häresie-Vorwurf?
3. Der „Synodale Weg“ der Kirche in Deutschland.
4. Das Scheitern der „Synode der katholischen Kirche in den Niederlanden“ als Hinweis auf das Scheitern (die Erfolglosigkeit) des „Synodalen Weges“ in Deutschland.
5. Warum die römische Kirche außerstande ist, tiefgreifende Reformen, die den Wert einer Reformation haben, zu gestalten.
6.
Warum wollen die Herren der Kirche in Rom kein Schisma in Deutschland?

1.
Die katholische Tageszeitung „La Croix“ (Paris) ist meist gut informiert über das, was die päpstliche Kurie und der Papst über die katholische Kirche in Deutschland denken. Der Vatikan-Korrespondent dieser Zeitung Loup Besmond de Senneville publizierte am 26.6.2021 einen Beitrag mit dem Titel: „Deutschland, die große Angst (des Vatikans) vor einem Schisma“. Dieser Titel deutet schon an, wie die Kirchenführer im Vatikan nun in Deutschland Angst erzeugen wollen: Denn nichts ist für „normale“ Katholiken belastender, als eines Schisma bzw. der Häresie angeklagt zu werden.
2.
Schisma ist ein Wort aus dem Griechischen und bedeutet Abspaltung von einer bestehenden Kirchenorganisation. Ein Schismatiker wird aber schnell zu einem Häretiker in der Sicht des katholischen Kirchenrechts, weil etwa die Ablehnung des päpstlichen Primates nicht nur ein Schisma bewirkt, sondern eine Irrlehre ist, also eine Häresie. Es gibt also nur eine geringe Trennschärfe zwischen dem mehr aufs Institutionelle abzielenden Schisma und der Ablehnung bestimmter Dogmen, also der Haltung der Häresie.
Es gab bedeutende Abspaltungen von der römischen Kirche in den letzten Jahrzehnten, etwa die Gründung der Alt-Katholischen Kirche in Deutschland als Protest einiger Theologen gegen das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit 1871. Es gab die, in Deutschland kaum bekannte, Abspaltung von Rom durch zahlreiche Pfarrer, die 1920 die von Rom unabhängige „Tschechoslowakisch-Hussitische Kirche“ gründeten, die in den ersten Jahren einen starken zahlenmäßigen Zuspruch fand. Diese Kirche besteht bis heute. Man denke an die unabhängige katholische Kirche auf den Philippinen, die Aglipayan – Kirche. Und es gab kürzlich die Spaltung, die der ursprünglich römisch- katholische, dann aber traditionalistische Erzbischof Marcel Lefèbvre 1988 vollzog, als er ohne die Erlaubnis Roms vier seiner traditionalistischen Priester zu Bischöfen weihte. Diese Gemeinschaft besteht bis heute und die römischen Gelehrten sind sich nicht im klaren, ob diese Pius-Brüder nun bloß Schismatiker oder schon Häretiker sind. Viele Kenner meinen, die Traditionalisten sind Häretiker.
Man sieht bei diesem Thema, dass es fürs katholische Denken tatsächlich eine Art „Wahrheits-Zentrale“ im Vatikan gibt, die einfach verfügen kann: „Du bist Häretiker, du bist Schismatiker“. Dass diese Wahrheitszentrale („Glaubenskongregation“, einst „Inquisition“) selbst häretisch sein kann bzw. auch ist, liegt außerhalb des selbstherrlichen Blickfeldes der „Mitarbeiter der Wahrheit“ (so der Wahlspruch von Kardinal Joseph Ratzinger). Man denke nur daran, mit welcher Bravour der Vatikan den Wahn der Erbsündenlehre aus dem 4. Jahrhundert bis heute pflegt und verteidigt….Aber dies ist ein anderes Thema.
3.
Der „Synodale Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland, 2019 begonnen, ist durchaus bekannt, es handelt sich um einen „Gesprächsprozess eigener Art“, an dem Laien und Kleriker beteiligt sind. Werden Beschlüsse gefasst, die tatsächlich dringende Reformbeschlüsse wären, wie die Aufhebung des Pflichtzölibates, müssen diese Beschlüsse „selbstverständlich“ in den Vatikan zur Überprüfung und Genehmigung geschickt werden. Nun weiß jedes Kind, dass grundlegende Reformwünsche, wie etwa zum Zölibat oder zum Priestertum der Frauen, von den Herren der Kirche a priori abgeschmettert werden, auch von Papst Franziskus, der bekanntlich alles andere als ein deutlicher und präziser Reform-Theologe und Reformpapst ist.
Der Synodale Weg kann also als eine Art Freizeitbeschäftigung diskussionsfreudiger, oft frustrierter Katholiken, ohne weitreichende Bedeutung, interpretiert werden. Man denke etwa auch an die mit großem Aufwand betrieben, aber ziemlich wirkungslose „Synode der deutschen Bistümer“ in Würzburg (1971 -1975) oder an spätere Beratungsrunden in vielen einzelnen Bistümern, wie auch in Berlin unter Bischof Joachim Meisner, die nichts anderes waren als zeitraubende Debatten. Der Autor dieses Textes, damals noch Mitglied der römischen Kirche, hat selbst an solchen Tagungungen teilgenommen, da wurden Laien vom Klerus mit leeren Versprechen schlicht und einfach in die Irre geführt. Ich denke an die von mir inszenierten Debatten über Kirchenreformen in der Großstadt, die nichts anderes waren als hübsche Plauderstündchen.
Führende vatikanische Kleriker warnen jedoch seit langem vor dem heutigen „Synodalen Weg“: „Niemand weiß, wie weit die Deutschen gehen werden, aber es ist potentiell explosiv“, zitiert der Korrespondent von „ La Croix“ vatikanische Herren, auch Kardinal Pietro Parolin, Staatssekretär des Heiligen Stuhles, hat mehrfach seine Sorgen geäußert, dass der Synodale Weg die Einheit der Kirche störe. (Mit Einheit der Kirche meint er natürlich die vom Vatikan definierte Einheit der Kirche).
4.

In den Niederlanden wurde das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 65) und dessen Reformbeschlüsse mit besonders großem Enthusiasmus aufgenommen. Katholiken veranstalteten von 1966 – 1970 das „Pastoraal Concilie“, das niederländische Pastoralkonzil, ein Beratungsgremium aus Laien, Priestern und Bischöfen. Sie waren entschlossen, auf ihre Weise die Reformvorschläge des Zweiten Vatikanischen Konzils für ihre Kultur und ihr Land umzusetzen und zu erweitern. Am 7.1.1970 wurde etwa vom Pastoralkonzil mit überwältigender Mehrheit beschlossen, dass Priester heiraten dürfen und als verheiratete Priester weiterhin in ihren Gemeinden arbeiten sollten. Dieses Thema war nur eines, das, dem römischen Rechtssystem entsprechend, nur von den Herren der Kirche im Vatikan genehmigt werden konnte. Der Beschluss der katholischen Niederländer wurde selbstverständlich im Vatikan abgelehnt. Zuvor hatten sich die niederländischen Katholiken in Rom total unbeliebt gemacht wegen ihres neuen Glaubensbuches, den sie „Neuen Katechismus“ nannten, ein Buch, das den christlichen Glauben in moderner Sprache nachvollziehbar beschreibt, ohne auf Kirchenkritik explizit zu verzichten, etwa was den Zentralismus der Kurie angeht. Dieses Glaubensbuch wurde in 34 Sprachen übersetzt und zu hunderttausenden von Exemplaren verbreitet. Das waren Zeiten, als einige progressive Geistliche in Deutschland  aus purer Neugier plötzlich begannen, Niederländisch zu lernen, um dieses Buch zu lesen.
Aber Rom hatte nicht das geringste Interesse, in einen Dialog mit den sehr reformbegeisterten Niederländern einzugehen. Der Vatikan hörte damals wie heute auf die Stimmen der Reaktionären und setzte den Niederländern dann Bischöfe vor, die ganz stramm und extrem auf römischem Kurs standen und entsprechend autoritär handelten.
Mit anderen Worten: Das Niederländische Pastoralkonzil war ein begeistertes Unternehmen, auch von den damaligen Bischöfen, wie Kardinal Alfrink oder Bischof Bluyssen unterstützt, aber es war eine Art Spielwiese, die Beschlüsse des Pastoralkonzils konnten nicht Wirklichkeit werden. Immer mehr Katholiken zogen sich enttäuscht von der Kirche zurück, heute (2021) nennen sich noch etwa 23 Prozent katholisch, zur Messe am Sonntag gehen (2021) regelmäßig etwa 1 Prozent. Die katholische Kirche der Niederlande wurde vom Papst (Johannes Paul II. und Benedikt XVI.) de facto als progressive Kirche zerstört, vor allem durch zahlreiche sehr konservative Bischöfe, am bekanntesten wurden Simonis und Gijsen, aber es sind noch viele andere. „Diese reaktionären Bischöfe haben ihre Gläubigen im Stich gelassen“, sagen niederländische Katholiken seit langer Zeit, resigniert. Und die Gläubigen sind „ausgewandert“, aber wohin? In kleinere eigenständige Basisgemeinden (etwa die Gemeinde, die Huub Oosterhuis gegründet hat) oder in progressive protestantische Kirchen (wie die Remonstranten) oder in spirituelle Gruppen, die noch sehr zahlreich sind in Holland. Ein explizit progressiver niederländischer Katholizismus (im „Synodalen Geist“) ist fast nicht mehr vorhanden. Die großen Orden, wie die Franziskaner, Dominikaner, Jesuiten oder Augustiner stehen kurz vor dem Verschwinden, falls nicht polnische oder indische „Mitbrüder“ noch ein leerstehendes Kloster bewohnen wollen. Jedenfalls ist die Kultur der Orden und Klöster, auch der Frauenorden, so gut wie tot. Ursache dafür ist nicht etwa (nur) der vom Rom viel genannte säkulare Ungeist, sondern vor allem das reaktionäre und sture Verhalten Roms und der meisten Bischöfe. Sie haben die Katholiken aus ihrer Kirche vertrieben, das ist klar. Der niederländische Katholizismus wurde von Rom und den meisten Bischöfen „platt“ gemacht, Tendenz „scheintot“, sagen manche. Das wäre ein Thema für deutsche Historiker, die nicht der Kirche und ihrer Kontrolle verpflichtet sind, also keine Theologen, sondern Historiker sind. (Zur führenden progressiven Gestalt unter den niederländischen Bischöfen: Über Kardinal Alfrink : Siehe den Beitrag von Walter Goddijn (1988) in der Zeitschrift Orientierung, Zürich: http://www.orientierung.ch/pdf/1988/JG%2052_HEFT%2001_DATUM%2019880115.PDF

NOCHMAL direkt zu Kapitel 4:
Die Strukturen der römisch-katholischen Kirche sind so, dass die herrschenden Kleriker über alle Gewalten verfügen. Sie haben sich selbst zu den einzig maßgeblichen Interpreten der Bibel und der Kirchenlehre gemacht, der Papst hat sich mit seinem Anspruch, in Glaubens-und Sittenfragen unfehlbar gemacht und ins Getto eingemauert. Nun gibt es zwar die ca. mehr als eine Milliarde katholischer Laien: Aber die haben in der Kirche nichts zu bestimmen, können nicht mitbestimmen und mitentscheiden. Sie sind wie immer die gehorsamen Schäfchen, denen der Klerus jetzt, weil alles andere total blamabel wäre, gewisse Debattiermöglichkeiten freistellt. So weckt diese autoritäre und, was Demokratie angeht, wahrlich aus der Zeit gefallene religiöse Großorganisation nur den Anschein, dialogbereit und lernfähig zu sein. Sie ist es aber gar nicht. Dies nicht nur zu erkennen, sondern auch mit allen Konsequenzen für einen anderen religiösen Weg anzunehmen, fällt sehr vielen Katholiken schwer. Sie begeben sich gern auf die Spielwiese und fühlen sich aufgewertet, weil sie ein paar Worte sagen, die bei den ewigen Strukturen dieser Klerus beherrschten Kirche aber letztlich keinerlei Rolle spielen. Masochismus und katholische Kirchenbindung waren und sind oft eine innige Einheit.
Um wirklich frei und befreit zu sein, muss ein Schisma doch auch mal gewagt werden. Davon hat der große Reformtheologe Hans Küng leider nie gesprochen. Hätte Luther ewig Angst vor dem Papst gehabt, wäre die Papstkirche entweder verschwunden (was Nietzsche bereits voller Freude andeutete) oder sie würde als riesiges Renaissance – und Barock – Theater noch fortbestehen, zur Erbauung aller Theaterfreunde.
6.
Warum also wollen die Herren der Kirche in Rom kein Schisma der deutschen Katholiken? Nicht nur aus theologisch – ideologischen Gründen, damit des Vatikans Herrschaft universal bleibt.
Die Antwort ist auch und sehr materiell: 6,76 Milliarden Euro hat die katholische Kirche im Jahr 2019 an Kirchensteuern eingenommen. Auch die Spenden für den Vatikan, „Peterspfennig“ genannt, sind beträchtlich. Bricht diese ultrareiche deutsche Kirche für den Vatikan weg, wird sie schismatisch, geht sie eigene Wege, wäre dies auch ein finanzielles Desaster für den Vatikan, auch darauf weist der Korrespondent von „La Croix“ ausdrücklich hin.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Neues von den Legionären Christi: Der Nachwuchs im Orden bleibt aus… und die alten Freunde des Gründers sind aktiv…

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.6.2021.

Der Grund für diesen erneuten Hinweis auf den katholischen Orden der Legionäre Christi (gegründet von dem als Verbrecher geltenden Pater Marcial Maciel): Der Orden klagt über den geringen „Nachwuchs“.

1.
Über die katholische Ordensgemeinschaft „Legionäre Christi“ hat der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ seit 2007 regelmäßig berichtet, dadurch haben viele andere Journalisten überhaupt erst wichtige deutschsprachige Informationen erhalten und davon profitiert. LINK
Unser Interesse hat nicht nur theologische Gründe, sondern auch philosophische, also religionskritische Motive. An dieser von Päpsten bis zu Johannes Paul II. geliebten und bevorzugten Ordensgemeinschaft wird die systemische Korruption innerhalb der Kirche, als Klerus-Kirche, offensichtlich.

Der korrupte Ordensgründer und enge Freund des polnischen Papstes, also der sich Generaldirektor seines Ordens nennende Mexikaner Pater Marcial Maciel seit 13 Jahren tot. Aber die Korruption seiner Person und seines Ordens wirkt weiter und wird weiter dokumentiert. Bevor dazu einige Hinweise folgen, hier zur Erinnerung einige Fakten:

2.
Wenn man angesichts der Menge der Untaten richtig zählt, dann sind bislang dem Pater etwa 60 „Fälle“ sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigungen nachgewiesen, Untaten, die er als nach außen hin zölibatär lebender Priester an seinen eigenen Kindern beging, geboren von seinen (sehr wohlhabenden) Gebliebten. Maciel war also nicht nur „pädophil“, er war offenbar bisexuell … Seine besondere Leidenschaft aber war das Geldbeschaffen in Millionenhöhe, Geld für sich und seinen Orden. All dies war in Rom, also im Vatikan und in seiner Heimat Mexiko und den USA, seit Jahrzehnten bekannt.

3.
Erst Papst Benedikt XVI. hat den greisen, aber aktiven Ordensgründer aus dem „Verkehr gezogen“, nicht etwa, dass er ihn den Justizbehörden übergab. Nein, Benedikt ermahnte ihn in der üblichen klerikalen Kumpanei zur Buße und zum zurückgezogenen Leben. Daran hielt sich der umtriebige Ordensgründer nun gar nicht, sondern nutzte die freie Zeit bei seinem Millionen-Vermögen (als „armer Ordensmann“), um noch mal das Leben zu genießen, er hielt sich vorwiegend in den USA auf, dort ist er in den Armen seiner Getreuen und Geliebten verstorben.

4.
Einige neue Erkenntnisse, die der Mexiko – Korrespondent der katholischen Tageszeitung LA CROIX, Diego Calmard, am 17.6.2021 in dieser Pariser Tageszeitung veröffentlicht.

Etwa ein Drittel der Mitglieder des Ordens lebt in Mexiko, dem Heimatland des Ordensgründers. „La Croix“ nennt 385 Legionärs – Priester in Mexiko. Sie hatten kürzlich dort ein „Ordenskapitel“, eine interne Konferenz und stellten fest: „Es gibt eine Notlage, was den Ordensnachwuchs betrifft, es gibt eine kontinuierliche Verminderung der Zahlen neuer Mitglieder“. Das bestätigt der ehemalige Legionär Christi, Cristian Borgono in „La Croix“: „Die Alten blieben, es gibt wenige Seminaristen, also Priesteranwärter. Die große Mehrheit der 300 Mitglieder, die aus dem Orden geflohen sind, waren eher jüngere Mitglieder“. Cristian Borgono hat die Facebook Legioleaks geschaffen.
Ende März 2021 musste der Orden 27 Namen weiterer Priester veröffentlichen, die 175 sexuelle Vergehen an Minderjährigen begangen haben, so “La Croix”.
Die Mexikanische Bischofskonferenz hat dieser Zeitung keine Stellungnahme gegeben, was sie jetzt vom Orden der Legionäre denkt. Der päpstliche Nuntius im Land, Bischof Coppola, versichert jedoch der Zeitung: „Die Legionäre erfüllen eine fundamentale Mission, die die Kirche vergessen hat: die spirituelle Begleitung“. Eine denkwürdige, man könnte sagen allzu wohlwollende Sympathiebekundung für diesen Orden. Der Nuntius betont: „Die Legionäre Christi sind ein Patient auf dem Weg der Heilung“.
Erstaunlich, dass der ehemalige Legionärspriester Christi Cristian Borgono über den neuen Chef des Ordens in Mexiko berichtet: „Pater Siman und andere Verantwortliche des Ordens standen dem Gründer, Pater Maciel, nahe“. Können diese Leute den Orden heilen?
5.
Tatsache ist ferner, dass der Orden sich bemüht, mit den Reichen in Mexiko, die man „Elite“ nennt, weiterhin in bestem Einvernehmen zu bleiben. Mit der Gattin des ehemaligen Präsidenten Vicente Fox gab es gute Kontakte. Bernardo Barranco, Religionssoziologe, meint, die Legionäre Christi hätten die Medien, die politische und ökonomische Macht in Mexiko infiltriert, das alles berichtet die katholische Tageszeitung La Croix. Pater Marcial Maciel ließ es sich nicht nehmen, die kirchliche Eheschließung des reichsten Mannes in Mexiko, Carlos Slim und seiner Gattin, zu leiten.
Roberto Blancarte, ehemaliger Botschafter Mexikos beim Heiligen Stuhl, meint, die Legionäre Christi hätten Milliarden US – Dollar bei diesen Kontakten erhalten, wörtlich: „Die Legionäre Christi haben zwei Ziele: Sie sind eine Art Maschine, um Priester auszubilden und um Geld anzuhäufen“.
Zu allen diesen aktuellen Aussagen wollte sich dieser Orden in Mexiko gegenüber „La Croix“ nicht äußern.

6.
Es bleibt die schon oft gestellte Frage: Warum muss dieser Orden, von einem Verbrecher gegründet, mit dem vorwiegenden Ziel, sehr viele Millionen für den Orden zu sammeln, überhaupt noch weiter bestehen? Es wäre ein Leichtes für den Papst, diesen Orden aufzulösen. Macht er sich Sorgen, was dann mit den Milliarden passiert, die der Orden besitzt, etwa, dass die Ex-Mitglieder dann alles für sich behalten? Was sind also die Gründe, diesen Orden weiter bestehen zu lassen, zumal die „berühmte“ Ordens – Universität Anahuac in Mexiko „längst nicht wegen der Qualität ihres Unterrichts berühmt ist“, wie “La Croix” schreibt. Und wirkliche Tätigkeit der Legionärs-Priester in den (priesterarmen) Gemeinden kaum erwünscht ist.

7.
Andererseits ist es ja durchaus ein positives Zeichen, wenn jetzt offenbar immer weniger junge Männer bereit sind, in den Orden der Legionäre Christi einzutreten. Aber angesichts der Chancen, in einem Orden mit sehr viel Geld eine traditionelle klerikale Karriere (immer den Talar tragen!) zu machen, ist wohl noch groß. So dass dieser Orden, immer noch durchsetzt von den alten Freunden des korrupten, manche sagen verbrecherischen Gründers, weiterhin die Kirche prägen und die Welt der Reichen und sehr Reichen „beglücken“ kann.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Weitere Quellen:

Legioleaks: https://www.facebook.com/groups/623513181133578/

Über den Nuntius Franco Coppola:
https://www.swissinfo.ch/spa/m%C3%A9xico-abusos_nuncio-en-m%C3%A9xico-aclara-que-no-se-investiga-encubrimiento-a-marcial-maciel/46637008

Über Cristiano Borgono:

“Inteligente y seductor”, así convenció el fundador de los Legionarios de Cristo a Juan Pablo II

Siehe auch den Beitrag in der Tageszeitung EL PAIS:
https://elpais.com/sociedad/2020-02-28/los-legionarios-de-cristo-publicaran-el-nombre-de-los-sacerdotes-condenados-por-pederastia.html

Der Religionssoziologe Bernardo Barranco: https://mvsnoticias.com/podcasts/manuel-lopez-san-martin/debemos-creerle-a-legionarios-que-quieren-redimirse-bernardo-barranco/

Und vor allem zu den Finanzgebahren des Ordens:
https://www.elnorte.com/aplicacioneslibre/preacceso/articulo/default.aspx?__rval=1&urlredirect=https://www.elnorte.com/urgen-investigar-a-fondo-a-legionarios/ar1849067?referer=–7d616165662f3a3a6262623b727a7a7279703b767a783a–
oder auch:
https://www.reforma.com/aplicacioneslibre/preacceso/articulo/default.aspx?__rval=1&urlredirect=https://www.reforma.com/pagan-por-sus-pecados/ar2152057?referer=–7d616165662f3a3a6262623b727a7a7279703b767a783a–

Zum „Kapitel“, der Konferenz, der Legionäre Christi in Mexiko im Mai 2021:

Convocan en México a la semana vocacional virtual 2021

Die Pariser Commune (1871) spaltet noch heute.

Ein Hinweis von Christian Modehn: Wie die katholische Kirche ihrer politisch – konservativen Helden gedenkt und sie „seligspricht“.

1.
Am Samstag – Nachmittag des 29. Mai 2021 zogen etwa 300 fromme Katholiken durch die Straßen im Osten von Paris. Sie nannten ihre Demonstration eine Prozession bzw. Pilgerfahrt. Sie wollten, von einigen Priestern angeführt, ganz offiziell wie zum Gottesdienst in Messgewändern gekleidet, der „Märtyrer der Commune“ gedenken. Vom Erzbistum unterstützt, erwiesen sie auf diese Weise öffentlich den Klerikern die Ehre und Verehrung, die Ende Mai 1871 während der Pariser Commune von den Communarden erschossen wurden. Und ihr öffentliches Gedenken nannten sie „Wallfahrt“, veranstaltetet auf den Straßen, die auch die Märtyrer zu ihrer Erschießung gehen mussten.
Die Teilnehmer an der „Wallfahrt“ hatten sich spirituell darauf vorbereitet, wie sie berichten, ihr theologischer Leiter kam wohl aus der Pfarrei, die sich „Notre Dame des Otages“ im 20. Arrondissement nennt, also „Unsere Liebe Frau der Geiseln“. Diese Gemeinde wurde 1936 errichtet, die Basilika „Sacre Coeur de Montmarte“ stand da schon längst, sie war und ist ein machtvolles Symbol des Protestes gegen die Pariser Commune, deswegen wurde sie errichtet. Genau in der Umgebung von Montmartre begann die Commune…und auf dem Friedhof Père Lachaise im Norden von Paris endete sie.
Die aktuellen Wallfahrer behaupteten, keinerlei politische Interessen zu haben. Alles sei eine fromme Wallfahrt, absichtslos spirituell. Wer die lange Erklärung der Wallfahrer liest, publiziert in der katholischen Tageszeitung La Croix (Paris) vom 3. Juni 2021 spürt, wie sich dort die traditionelle Frömmigkeit äußert: Die Kirche wird dabei „die Zeugin DER Wahrheit“ genannt, die Kirche kann also die Wahrheit über die Commune sagen, und nicht etwa Historiker. Und diese Katholiken wollen „die Liebe Christi in die Straßen tragen“. Das gelang dann doch nicht, weil die Wallfahrer gestört und attackiert wurden. Doch zunächst einige Fakten:

2.
Es waren ca. 10 Kleriker, die in der „Blutigen Woche“, während der definitiven Niederschlagung der Commune, erschossen wurden. Die Communarden hatten zuvor gefordert, dass einer der ihren, der sozialistische Politiker Louis Auguste Blanqui, von der reaktionären Regierung in Versailles festgehalten, nun freigelassen werden sollte. Im Austausch wollten die Communarden ihre Geiseln, die Kleriker, frei lassen, darunter auch den Pariser Erzbischof Darboy. Aber der Machthaber in Versailles, Adolphe Thiers, lehnte ab, gut kalkulierend, dass nun die erzürnten Communarden sich entschließen, ihre Geiseln, die Kleriker, zu erschießen: Weil das geschah, hatte Thiers nun endlich allen Grund, gegen die „Vernichter der Kirche“ vorzugehen. Und zwar mit blutiger Gewalt, mindestens 20.000 Bürger wurden in der „blutigen Woche“ von den Regierungstruppen umgebracht. Da sollte man einen Zahlenvergleich wagen: 20 von den Communarden ermordete Kleriker – Geiseln stehen den etwa 20.000 Communarden und demokratisch gesinnten Bürger in der Commune gegenüber, die von den offiziellen Truppen der Regierung zum Teil bestialisch ermordet wurden, von einer Regierung, die sich konservativ, katholisch und monarchistisch verstand. Und die von der Kirchenführung und dem Klerus völlig unterstützt wurde.

3.
Die frommen „Pilger“ in Paris am 29. Mai 2021 wurden bei ihrer angeblich nur spirituell gemeinten Wallfahrt, völlig überraschend, auf den Straßen mit Flaschen beworfen und mit Schlägen attackiert. Und zwar von Linksextremen, „Antifas“ (Antifaschisten) und Anarchisten, wie die katholischen Veranstalter sagen und die Presse betont, etwa auch die katholische Tageszeitung „La Croix“ oder der konservative „Figaro“. Der Historiker Etienne Fouilloux nannte diese ungewöhnlichen Aggressionen gegen eine katholische Demonstration, die offiziell auch polizeilich angemeldet war, „ein Wiedererstarken des Antiklerikalismus“. Der Pariser Erzbischof Aupetit will wegen dieser Gewalt gegen Katholiken die Gerichte bemühen.

4.
Einige kritische Katholiken wollten angesichts der Gewalt vermitteln, sie publizierten ihre Erkenntnisse zu der so genannten Prozession bzw. der „Pilgerfahrt“ durch die Pariser Straßen. Sie nannten diese offizielle kirchliche Unternehmung „eine spirituelle und politische Verirrung“ („aberration“). Es ist klar, dass auch diese Katholiken jegliche Gewaltanwendung gegen die „Pilger“ ablehnen. Aber diese wenigen kritisch reflektierenden Katholiken wehren sich gegen die Vorstellung: Die ermordeten Katholiken wären die „Guten“ (und Heiligmäßigen), die Communarden hingegen die Atheisten und Mörder. „Die katholischen Geiseln wurden getötet, nicht etwa, wegen ihres christlichen Glaubens. Sondern weil die Communarden meinten, sie gehörten politisch zu den Feinden der Ideale der Commune“. Die Getöteten waren also nicht automatisch Märtyrer, wie die Katholiken der Prozession bzw. der Pilgerfahrt durch Paris am 29.5.2021 meinen. Es waren nur Bürger, die letztlich der demokratischen Commune gegenüber politisch feindlich eingestellt waren, „es gab eine Verteufelung der Commune durch den Klerus damals“.
Wenn sich also heute Katholiken in Frankreich (laut und vernehmlich für die ganze Presse) für die sogenannten „Märtyrer“ von 1871 einsetzen, grenzen sie sich ab von einer objektiveren Einschätzung der Leistungen und der Ideale der Commune. „So wird von den Katholiken auch heute „verschwiegen, dass viele Tausend Communarden von der sich katholisch nennenden Regierung in Versailles umgebracht wurden. Das politische Modell der Commune , radikal demokratisch und egalitär, entspricht in mancher Hinsicht den fundamentalen Begriffen der Soziallehre der Kirche“, schreiben die 15 kritischen Katholiken. Siehe dazu die Tageszeitung La Croix am 2.6.2021.
Diese Erkenntnis bedeutet für die katholischen Kritiker der politisch – spirituellen „Wallfahrt“ andererseits auch keine Idealisierung der Commune…. Zu den Unterzeichnern gehört der Jesuitenpater Maurice Joyeux, der Journalist Paul Piccarreta, der Soziologe Pierre-Louis Choquet…

5.
Nun wird immer häufiger berichtet, dass vor allem ein Priester offiziell „seliggesprochen“ werden soll, der von den Communarden erschossen wurde: Père Henri Planchat (geboren 1823) wurde am 26. Mai 1981 von Mitgliedern der Pariser Commune erschossen. Nun soll er „seliggesprochen“ werden, er also darf dann wie ein Heiliger verehrt und um himmlischen Beistand gebeten werden. So lehrt es nun einmal der Wunder- und Heiligen-Glaube der Kirche.
Planchat hat als Pfarrer im Armen – Viertel rund um die Rue des Charonne den Armen beigestanden, obwohl er, so wird betont, eigentlich einem reichen bürgerlichen Milieu entstammte. Eine Ausnahme damals. Er hat sich über die Communarden nie polemisch geäußert, andere Priester hingegen damals nannten die Communarden „wilde Tiere“. „Er hat also nachweislich niemals voller Hass auf die Commune gesprochen“, betonen die Priester, die jetzt die Seligsprechung des Armen – Paters betreiben. Um 1990 wurde in Rom der „Prozess der Seligsprechung“ unternommen, begonnen hatte er schon 1896. Er soll als Märtyrer verehrt werden, weil bei seiner Anrufung im Himmel jetzt schon „Wunder“ geschehen sind.
Planchat wurde schon im März 1871 von einigen Communarden mit Gewalt bedrängt und dann am 6. April verhaftet, weil er sich als Priester eher ungewöhnlich damals um das Wohl der Armen kümmerte? Oder waren die Hilfsangebote des Pfarrers „zu spirituell“ in der Sicht der Communarden?

6.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass am gleichen Tag, am 29.5.2021, eine andere Demonstration durch die Boulevards von Paris zog: 100 verschiedene linke Organisationen hatten zur Demonstration aufgerufen zur Erinnerung an die Pariser Commune. Und 15.000 (!) TeilnehmerInnen waren dabei, behaupten die Veranstalter des „Vereins Freunde der Pariser Commune“. Und sie betonen: Über deren große Demonstration hätten nur die Tageszeitungen L Humanité und Libération berichtet, während die spirituell – politische „Wallfahrt“ der 300 Katholiken von den Medien ausführlich gewürdigt wurde.

7.
Man darf in dem Zusammenhang auch nicht vergessen: Die katholische Kirche hat vorbildliche Helden, Selige und Heilige, wie sie sagt, fast immer in Kreisen der politisch Konservativen, auch der Reaktionären gesucht und gefunden: Es waren eben hierarchie-/kirchentreue Leute, von den Dogmen völlig überzeugt und dem Klerus ergeben. Das wird etwa deutlich, wenn man die riesigen Zahlen der Selig – und Heiliggesprochenen aus dem Spanischen Bürgerkrieg unter dem katholischen General Franco betrachtet. Märtyrer des Spanischen Bürgerkrieges waren in katholischer Sicht, wobei die Zahlen nie so klar sind, 12 Bischöfe, 4184 Priester und Priesterseminaristen, 2365 Ordensmänner und 283 Ordensfrauen, dazu Tausende Laien starben nach den offiziellen Zahlen der katholischen Kirche im Spanischen Bürgerkrieg 1936/1937. 969 der Katholiken, die als Laien und Priester und Ordensleute umgekommen sind, wurden später von den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. seliggesprochen. Sie können als „Märtyrer für den Glauben“ verehrt werden. Tatsache ist, dass auch deren Glauben eng verbunden war mit den rechten politischen Positionen. Sie wurden von der damaligen noch rechtmäßig bestehenden republikanischen Regierung als politische Gegner ermordet.
Republikanische, linke Priester und katholische Laien hingegen wurden später von den Faschisten Francos getötet. Von ihnen spricht kaum jemand.
Schließlich gab es dann noch ein gutes Einvernehmen zwischen der Kirche und dem Franco-Staat: Der Vatikan erkannte bereits im August 1938 – also noch während des Bürgerkrieges – die Putschisten um General Franco als Führer Spaniens an!
Papst Franziskus verfügte, schon gleich nach seiner Wahl zum Papst, dass am 13. Oktober 2013 über 500 weitere „Märtyrer“ des spanischen Bürgerkrieges in Tarragona selig gesprochen wurden. Dieses Ereignis war, was die Zahlen angeht, die größte Seligsprechung in der katholischen Kirche.
Wikipedia schreibt in dem Beitrag über „Seligsprechung spanischer Bürgerkriegsopfer“: „Kritiker bezeichnen die Auswahl der berücksichtigten Bürgerkriegsopfer als willkürlich. Katholische Geistliche, die von den Milizen Francisco Francos wegen ihres Widerstands gegen die Anweisungen der Amtskirche, welche das Vorgehen der Faschisten als „Kreuzzug“ legitimierte, ermordet wurden, seien nicht seliggesprochen worden“.

Linke Katholiken werden eher sehr selten selig oder heiliggesprochen, dies gilt wohl sich für demokratische “Helden” der Pariser Commune…Linke Katholiken wurden und werden sowieso zu Lebzeiten verdächtigt und degradiert, siehe die Befreiungstheologen in Lateinamerika. Erzbischof Oscar Romero von El Salvador ist wohl der einzige linke Kleriker, der, viele Jahre nach seiner Ermordung 1980 durch rechtsextreme, sich katholisch nennende Militärs, nach langen mühsamen Debatten, vom Vatikan selig- und dann heiliggesprochen wurde. Aber: Erzbischof Helder Camara aus Brasilien, ein Linker, vom Volk seit Jahren als Heiliger längst verehrt, ist bis heute nicht heiliggesprochen…
Bei dem reaktionären Gründer des internationalen Geheim-Clubs „Opus Dei“ ging es bekanntlich ganz schnell mit der Heiligsprechung…So wollte es unbedingt Papst Wojtyla.

8.
Nebenbei:
Papst Pius XII. sagte 1939 in einer Radioansprache: „Die von Gott auserwählte spanische Nation (unter Franco) hat den zum materialistischen Atheismus Bekehrten (also den Republikanern) gezeigt, was die Werte der Religion sind“. Meinte der Papst mit den “Werten” das Abschlachten der Linken und Republikaner durch die katholischen Leute von Franco?
Später wurde Staatschef Franco – als Laie – zum „Protokanonikus“ der römischen Basilika Santa Maria Maggiore ernannt. Die Bindungen zwischen Faschismus und Vatikan haben also sehr früh begonnen: „Hauptsache katholisch und klerikal – was sonst ein Politiker tut ist egal“, war offensichtlich nachweisbar das Leitprinzip im Vatikan in Zeiten des größten Feindes, des teuflischen Bolschewismus. Faschismus war dagegen „halb so schlimm“ in vatikanischer Sicht. Siehe den vatikanischen Umgang mit Mussolini und Hitler…
(Quelle El Pais, 2. Juli 2007, Beitrag von Juan G. Bedoya.
Zu den spanischen Märtyrern siehe auch: https://www.heiligenlexikon.de/Literatur/Maertyrer_Spanischer_Buergerkrieg.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Katholische Kirche ist am toten Punkt: Kardinal Marx beurteilt den Zustand der katholischen Kirche.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 5. Juni 2021.

1.
In einem Brief bittet Kardinal Reinhard Marx den Papst, seinen Rücktritt als Erzbischof von München und Freising zu akzeptieren.
Dieser Brief und die Erklärungen von Marx zu seinem Rücktritt am 4.6.2021 enthalten wichtige Aspekte vor allem zur immer noch nicht umfassend bearbeiteten „Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“, so Kardinal Marx wörtlich.
Auch die Auswirkungen des Rücktritts von Marx auf die anderen Bischöfe in Deutschland bleiben wichtiges Thema: Wie lange wird etwa der von den meisten Kölner Katholiken nicht mehr respektierte Kardinal Woelki sich noch mit aller Macht an sein Amt klammern können? An eine Vertreibung Woelkis aus seinem Bischofspalais in Köln denken die Kölner wohl noch nicht.
2.
Viel wichtiger und ganz zentral und bedenkenswert sind drei Worte in dem Brief von Marx an den Papst: Es handelt sich um den „gewissen toten Punkt“, an dem sich für Kardinal Marx die katholische Kirche jetzt befindet.
3.
Die Katholische Kirche also: An einem “toten Punkt”! Das hat man in der Deutlichkeit noch nicht von einem der prominentesten Kardinäle gehört. Klingt entfernt etwas nach Martin Luther. Was für eine treffende und wahre Analyse der Zustände der römischen Kirche heute. “Am toten Punkt”, das könnte heißen: Diese Kirche ist zwar noch vorhanden, als Organisation, als Macht rituellen Geschehens, als Repräsentation des Klerus mit allem üblichen „Brimborium“ der Mitras und Hirtenstäbe, umwölkt von Weihrauch-Schwaden. Aber, wie gesagt, diese Kirche ist weithin nur noch vorhanden, sie lebt nicht mehr, ist nicht mehr kreativ, ist nicht mehr lebendig. Und lebendig heißt: Mutig auch inhaltlich den christlichen Glauben neu aussagen. D.h: Alten dogmatischen und kirchenrechtlichen “Schrott”,könnte man diese dogmatisch ausgetüftelte System nennen, also entrümpeln, wie etwa das Zölibatsgesetz, den Ausschluss der Frauen vom Priesteramt, die “Ehe für alle” als Sakrament (nicht nur als “Segnung”) gestalten usw. Alte Traditionen mögen zwar alt sein, aber sie sind keineswegs noch “ehrwürdig” für eine aufgeklärte Theologie und für demokratisch fühlende Menschen. Und ist es nicht geradezu lächerlich, wenn Kleriker so viel von Gott wissen und arrogant behaupten: Gott höchst persönlich will diese unsere Kirchengesetze?
4.
Der Duden belehrt uns, genau das von Kardinal Marx zitierte Wort „toter Punkt“ zu verstehen: „Die Wendung der tote Punkt kann zwei Bedeutungen haben:
– Ein Stadium, im dem keine Fortschritte mehr erzielt werden, in dem etwas stagniert: Die Verhandlungen waren auf dem toten Punkt angelangt.
– Ein Zustand stärkster Ermüdung, Erschöpfung: Ein starker Kaffee sollte ihr über den toten Punkt hinweghelfen“.

Die „Stagnation“ ist katholische Realität. Und sie ist von den Päpsten und den Klerikern seit Jahrzehnten und Jahrhunderten als solche gewollt. Natürlich gab es im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils (1962 -1965) kleine Reförmchen und Schönheitsreparturen, aber an den alten Dogmen (wie etwa dem furchtbaren Wahn der Erbsünde) wurde nichts verändert. Die unsäglich altertümliche Sprache der Messe wurde aus dem Lateinischen wortwörtlich in die modernen Sprachen übersetzt: Unverständlich fremd und störend ist diese Übersetzung aus dem Lateinischen bis heute.
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. Stagnation wird von den Hierarchen heute klein geredet mit dem Hinweis auf Reförmchen, etwa dass Laien ihre Meinung sagen dürfen (in „Laiengremien“), aber selbstverständlich nichts entscheiden dürfen (bestenfalls, ob die Sonntags-Messe um 11 Uhr statt um 10 Uhr beginnt). Von demokratischer Kultur keine Spur in dieser Kirche. Und die Päpste und Prälaten sind stolz darauf und sagen das so, dass ihre Kirche nicht demokratisch ist. „Gott will keine demokratische Kirche, wir Bischöfe reden zwar vom allgemeinen (!) Priestertum aller katholischen Gläubigen, aber wir Kleriker halten uns nicht daran”. Das ist die Realität, die jeder Aufmerksame kennt.

In der zweiten Duden-Definition des „toten Punktes“ wird auf eine mögliche Schocktherapie gegen den toten Punkt im Alltag verwiesen: Etwa Koffein bei starker Müdigkeit.
Im Falle der römischen Kirche heißt die „Schocktherapie“ gegen den Null-Punkt: Gebt der Vernunft, dem Geist, dem Verstand, den absoluten Vorzug in allen kirchlichen und theologischen Fragen. So wie die Missbrauchskatastrophe nicht von Klerikern wegen deren theologischer Befangenheit „gelöst“ werden kann, sondern nur von „auswärts“, also von vernünftigen Spezialisten, so kann auch der „tote Punkt“, an dem sich die Kirche theologisch befindet, nicht von der Theologie überwunden werden. Denn Theologie als „kirchliche, d.h. kirchen-amtliche „Wissenschaft“ ist befangen, wenn nicht blind, zumindest immer verängstigt.
Eine grundlegende Reformation einleiten kann allein eine kirchenamtlich unabhängige Vernunft. Sie allein ist imstande, den Wahn mancher Dogmen und Gesetze zu erkennen und deren Abschaffung zu fordern. Dieser Verzicht als Befreiung macht die Glaubens“lehre“ einfach und nachvollziehbar. Und weiter reformierbar und wieder neu aussagbar für spätere Generationen.
5.
Wird es dazu kommen, wird also „der tote Punkt“ überwunden werden? Kardinal Marx als frommer Theologe setzt erwartungsgemäß, so wörtlich, „auf den österlichen Glauben“, also auf eine Art Auferstehung der Kirche von den Toten. Dieser Glaube aber setzt bei der Überwindung des toten Punktes auf eine Aktivität Gottes. Aber Gott kann bekanntlich gemäß altem dogmatischen Denken „handeln“ wann und wie und wo er “wunderbar” will. Reformen geraten aber damit ins Willkürliche, in den Wartestand auf ein Wunder (der erneuten Auferstehung). Vielleicht will aber dieser Gott gar nicht mehr diese Kirche. „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“, fragte schon Nietzsche, vieles spricht heute dafür.
6.
Wer aber noch als Mensch auf seine Vernunft setzen will, hält an der Erkenntnis fest: Tote Punkte können NUR mit dem Mut der Vernunft überwunden werden. Vorausgesetzt: Alle Interessierten handeln vernünftig in ihren Reformen, und vernünftig heißt, philosophisch gesehen, immer auch frei und demokratisch.

Zur Vertiefung zu dem Thema: “Es ist vorbei”: Katholische Kirche in Europa: LINK
Und auch:LINK

Zum neuen Buch von Hubertus Halbfas, Säkulare Frömmigkeit: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Georg Lukács – was sagt er über die Religionen und seine “Conversion” zum Marxismus?

(Unvollständige) Hinweise von Christian Modehn anlässlich des 50. Todestages von Georg Lukács am 4. Juni 2021.

1.
Vor 50 Jahren, am 4. Juni 1971, ist der Philosoph Georg Lukács in Budapest gestorben, geboren wurde er ebenfalls in Budapest am 13.4.1885. Das sehr umfangreiche Werk des marxistischen Philosophen ist, wie Axel Honneth schreibt (in: Georg Lukács, „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“, Suhrkamp, 2021, S. 7, in den folgenden Zitaten hier nur die Seitenangaben) „voller Höhen und Tiefen“, nicht zuletzt wegen seiner Jahre langen engen Bindung an die Kommunistische Partei Ungarns. Zur Zeit seines Aifenthalts in Moskau (dorthin geflohen seit 1933) fiel er 1941 in Ungnade Stalins …und überlebte trotzdem: „Glück in Katastrophenzeit“, sagte er (G.L. Ästhetik, S. 557).
Lukács hat sich seit 1919 bis zu seinem Tod sehr deutlich als Marxist verstanden. Aber deswegen ist Lukács alles andere als ein Denker, der nur für Historiker des angeblich bedeutungslos gewordenen Marxismus wichtig ist. Im Gegenteil, es gibt bleibende und gültige Erkenntnisse des Marxisten Lukács, man denke nur an den Begriff der „Verdinglichung“, dargestellt in dem Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Der Soziologe Hartmut Rosa bezieht sich in seinem viel beachteten Buch „Resonanz“ ausführlich auf die Verdinglichung im Sinne von Lukacs.
2.
In der ersten Phase seines äußerst umfangreichen nicht nur philosophischen, sondern auch literaturwissenschaftlichen Publizierens hingegen war er „vormarxistisch“ (A. Honneth, S.8) orientiert. Seine „Konversion zum Kommunismus“ (so Axel Honneth, S. 13) fand Ende 1919 statt. „Lukács wird 1918 scheinbar urplötzlich Kommunist und zumal orthodoxer Marxist“, ergänzt Rüdiger Dannemann, Lukács Spezialist und Mit-Herausgeber des genannten Buches (S. 24f.). Die Gründe für dieses „urplötzliche Konversion“ wird vielleicht eine sehr ausführliche Biographie erklären können. War es die Erschütterung über die Verwüstungen des Ersten Weltkrieges? Die Flucht in eine Doktrin, die die „Erlösung“ der Menschheit politisch durchsetzen kann?
3.
Der theologisch konnotierte Begriff „Konversion“ macht wie schon die von Lukács selbst verwendete Behauptung von der „welterlösenden Rolle des Sozialismus“ (in: G.L., „Ästhetik…“ S .205) neugierig: Wird eigentlich heute – endlich, möchte man fast sagen – auch gründlich das Thema „Georg Lukács und die Religion“ untersucht?
4.
Nun findet im „Aufbau-Haus“ in Berlin am 4. Juni 2021 eine internationale Lukács Konferenz statt – live gestreamt! Unter den zahlreichen Vorträgen (Höhepunkt dürfte wohl der Vortrag von Axel Honneth sein über „Lukács‘ Gratwanderung zwischen philosophischem Argument und parteilichem Engagement“) sucht man das Thema Religion, jedenfalls explizit, vergebens, vielleicht kommt es ja irgendwie am Rande „implizit“ dann doch noch vor. Die Frage nach der Religion im philosophischen Denken ist keineswegs ein persönlicher „Spleen“. Dieses Interesse entspricht nicht nur den Traditionen philosophischen Denkens, sondern im Fall von Georg Lukacs selbst gibt es allein schon in dem genannten Buch einige zum Teil kurze, zum Teil ausführlichere Hinweise zur Bedeutung der Religion in seinem Denken aus allen unterschiedlichen „Denk – Epochen“ von Lukács.
5.
Für mich ist sehr aufschlussreich der kurze Text über „Jüdischen Mystizismus“ von 1911, also noch aus der vormarxistischen Phase. Der kurze Text ist eine Buchbesprechung zu den „Geschichten des Rabbi Nachman“ aus der mystischen Chassidim-Bewegung, in einer Übersetzung Martin Bubers. Interessant ist, welche Kenntnisse der Mystik Lukacs in dem kurzen Text (Seite 108 und 109) zeigt. In einem gewissen kritischen Abstand spricht er nicht von Mystik, sondern von Mystizismus, was auf seine Distanz hinweist. Aber Lukács weiß auch, dass „Mystizismus“ wenig an etablierte Religions-Systeme gebunden ist, er weiß, dass es sozusagen interreligiöse inhaltliche Übereinstimmungen zwischen verschiedenen „Mystizismen“ gibt. Im Jahr 1933, als Marxist und Kommunist, kommt Lukács noch einmal auf „Mystik“ zurück. In seinem inzwischen etwas berühmten Aufsatz „Grand Hotel Abgrund“ behauptet er, dass ein skeptischer Relativismus eine nicht-kommunistische, liberale und sozialdemokratische intellektuelle „Elite“ hinübergleiten lässt in eine „reaktionäre Mystik“, (so wörtlich S. 333). Diese reaktionäre Mystik im Sinne von Lukács hält sich nicht mehr an die „objektive Wirklichkeit“ in seinem Sinne, also an die alles bestimmende Macht der materiellen Gegebenheiten. Diese reaktionäre Mystik gleitet in ihrer Ignoranz ab „in das fingierte Absolute des religiösen Mythos“ (332). Also, man könnte sagen: Wer nicht als Kommunist die Partei ergreift für die Unterdrückten, ergreift Partei für die Unterdrücker und gleitet ab in einen religiösen Glauben, der förmlich nur über allem Materiellen schwebt.
6.
Der christliche Begriff des Märtyrers als „Blutzeugen“ ist Lukács natürlich bekannt. Darum kann er in seiner Hommage für Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1920 (!) diese ja durchaus Lenin-kritische Sozialistin eine „wahre Blutzeugin“ nennen (S. 294). Ist dies eine Art säkularer Heiligsprechung der Blutzeugin Rosa Luxemburg?
7.
Seine Studien über den jungen Hegel hat Lukacs auch in Moskau unter Stalin fortgeführt. Und Axel Honneth schreibt wohl sehr treffend: „Es fällt ein bestürzend erbarmungsloses Licht auf die Widersprüchlichkeiten, in die sich Lukacs inzwischen bei seinem Versuch verstrickt hat, gleichzeitig Partei für den Geist (also Hegel, CM) und Partei für die Partei zu ergreifen“( 21). Vorher, 1922, hatte Lukács schon einen Beitrag „Die Jugendgeschichte Hegels“ verfasst. Der „junge Hegel“ ist sozusagen ein Dauerthema für Lukács. In diesen Arbeiten ist – wie es sich für Hegel gehört – auch von Religion die Rede. Darin sieht er Hegel auf einer Linie mit der bürgerlichen Klasse, die sich damit abgefunden hatte, die feudalen Reste der Gesellschaft zu akzeptieren. Auf die Religion im Sinne Hegels bezogen: Hegel wollte nur noch das bestehende, gegebene „positive“ Christentum durch die Vernunftreligion rechtfertigen. Er wollte als Bürgerlicher aber nicht das Christentum abschaffen zugunsten nur einer Vernunftreligion. (S. 304). Das hätte Lukács treffend gefunden
8.
Sehr religiös klingen einige Formulierungen, wenn Lukács, 1918 also noch sehr kurz vor seiner Konversion zur kommunistischen Partei, von der erlösenden Kraft des Proletariates schwärmt: Das „Wollen“ einer demokratischen Weltordnung durch die Sozialisten (also SPD) „macht das Proletariat zum sozialistischen Erlöser der Menschheit“ (S. 205). Kann man sich, philosophisch gesehen, Erlösung in einer engeren, begrenzteren Definition vorstellen?
9.
In seinem Aufsatz von 1933 „Grand Hotel Abgrund“ fordert er hingegen die Abkehr von der Sozialdemokratie, er fordert den mutigen „Sprung“ angesichts des politischen Abgrundes dieser Welt in die kommunistische Partei. Diesen Sprung nennt er hübsch „salto vitale“ (S. 329). Lukács verwendet tatsächlich den Begiff „Sprung“, (S. 328) um die entscheidende Leistung des zum Kommunismus Entschlossenen zu beschreiben. Dieser Begriff Sprung erinnert mich daran, was Kierkegaard oder der Theologe Karl Barth für die entscheidende Leistung des Glaubenden hielten. Sie müssen gegen alle Vernunft in den Glauben und seine Dogmen springen. Über den Begriff Sprung sehe ich eine intime Nähe der kommunistischen Religion zur dogmatischen Religion der christlichen Kirche. In beiden Religionen muss „gesprungen“ werden. Und der Begriff „salto vitale“, also ein lebendiges, wenn nicht erst gar Leben spendendes salto, erinnert mich von fern an den „Sprung „des Menschen, wenn er sich zur Taufe entschließt, und ursprünglich in das tiefe Taufbecken einst gestoßen wurde.
Für viele Kommunisten, zumal unter Stalin, wurde ihr „salto vitale“ dann doch zu einem salto mortale, für Millionen anderer Menschen ebenso, die dieses sich nur im „Glauben“ zu erschließende kommunistische „salto vitale“ aus Vernunftgründen gar nicht vollziehen konnten und wollten. Sie wurden zu tausenden dann auch in den Lagern Stalins oder der sozialistischen „Bruderländer“ gequält, ausgebeutet als Arbeitstiere und umgebracht
10.
Ausführlich über das Christentum spricht Lukács in der Einleitung seiner Studie „Zur Ontologie des gegenwärtigen Seins“(von 1964) (S. 458 ff.). Darin weist er nicht nur auf das Eingebundensein des Christentums in die antike und mittelalterliche Philosophie hin, er zeigt sich dabei als Kenner der Kirchengeschichte, wenn er etwa sagt: „Paulus, der das Christentum über die engen Schranken einer jüdischen Sekte hinausführt“ (S. 459).
11.
Die Erinnerung an Georg Lukács also bleibt zwiespältig: Für mich stellt sich die Frage: Wie kann man sozusagen bleibende Erkenntnisse (etwa „Verdinglichung“) aus dem Gesamtkorpus seines nun einmal seit 1919 kommunistischen, später aber in jedem Fall sozialistischen Denkens „herausbrechen“? Und eine Debatte über das „Bleibende“ und nach wie vor „Inspirierende“ des Sozialismus ist heute alles andere als obsolet.
12.
Eine Frage bleibt: Wie hat Georg Lukács den Antisemitismus und den Holocaust verstanden und beschrieben, auch den Antisemitismus in den kommunistischen Parteien (Polen, Ungarn, DDR) nach 1945?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Charles Baudelaire – 200. Geburtstag.

Ein Poet – auch des Religiösen?

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum an Charles Baudelaire erinnern? Sein 200. Geburtstag am 9. April 2021 ist ein willkommener Anlass, an ihn zu denken, sein Werk zu lesen, auch als einen Zeugen des religiösen Umbruchs, der vom 19. Jahrhundert aus bis heute bestimmend ist. (Baudelaire ist am 31. August 1867in Paris im Alter von 46 Jahren gestorben).
Baudelaire ist ein Meister der Poesie, seine Worte überraschen, führen ins Fragen, stören und verstören. Er spricht von der Transzendenz, von Gott, aber nicht nur von einem guten Gott. Der göttliche Tyrann ist ihm genauso nahe wie das Böse. Baudelaire erlebt, wie Bindungen an die herrschende katholische Religion schwinden und eine neue spirituelle Pluralität entsteht
Er ist ein Poet der Widersprüche, auch in seiner politischen Haltung. Den Aufstand der Arbeiter im Juni 1848 unterstütze er, den erzreaktionären Autor und Politiker Joseph de Maistre respektierte er.
Dass die Poesie eigenständig ist und sich nicht unmittelbar einem Zweck zur Verfügung stellen darf, ist seine bleibende Einsicht.
Als Poet erlebt er radikal die sozialen Umbrüche in seinem 19. Jahrhundert. Er ist erschüttert über den radikalen Umbau von Paris, er sieht, was die Herrschaftsarchitektur (von Haussmann betrieben) anrichtet, also auch das Vertreiben der Armen aus dem Zentrum der Metropole.
In seiner Poesie will er nichts „Fremdes“ wiedergeben, sondern nur die eigenen inneren Erfahrungen zu Wort bringen. Seine Gedichte (auch seine „Poesie als Prosa“) finden kaum Zustimmung, werden als Skandal empfunden von einer sich moralisch korrekt fühlenden „Elite“.
Baudelaire lebt also in einem Moment spiritueller wie politischer Konfrontationen. Es ist ein Pluralismus, den manche als Durcheinander der Orientierungslosigkeit deuten. Das Negative, Belastende, Ausweglose, Ungewisse beherrscht das Lebensgefühl. Den Zustand der Gegenwart, die von den Herrschern als gut und von Gott gewollt ausgegeben wird, ist auch für ihn nur eine systematische Form der Unterdrückung.

2.
Charles Baudelaires Vater Joseph-Francois Baudelaire war katholischer Priester (geb. 1759, gestorben 1827), aber schon während der Revolution gab er im Jahr 1793 sein Priesteramt auf. Der Sohn wird in katholischen Schulen und Internaten erzogen. Dort ist die Prügelstrafe noch üblich, Baudelaire hat den damals unverschämten Mut, sich dagegen öffentlich zu wehren. Das Zusammenleben der Menschen, von Gewalt geprägt, erlebt er als krankhaft, pathologisch.

3.
In dieser Welt muss Baudelaire als Poet leben. Er gerät in finanzielle Abhängigkeit, weil Lyrik, Dichtung, Literatur ins Feuilleton der Zeitungen verwiesen werden und damit dem launischen Geschmack der Massen ausgesetzt sind. Was der Masse nicht passt, wird eben nicht gedruckt…

4.
Als Poet will er zeigen, wie dann „mitten im Schmutz“ auch die Blumen, das Schöne, entstehen kann. In einem seiner Gedichte (Epiloge der „Blumen des Bösen“) sagt Baudelaire (wie in einem Anklang an Alchemie?) über Paris: „Tu m` a donné ta boue, j en ai fait de l or“ („Du hast mir deinen Dreck gegeben, ich habe daraus Gold gemacht“). Er muss zum Hässlichen Stellung nehmen, es aussagen, erst dann kann die Überwindung des Hässlichen, des Negativen, eventuell gelingen. Baudelaire opponiert gegen das Bestehende. Schönheit als solche kann er selbst vor allem in der Musik und der Malerei erleben.

5.
Das Hauptwerk Baudelaires ist ein Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel „Les fleurs du mal“, „Die Blumen des Bösen“, das Werk ist in drei Fassungen zwischen 1857 (1.100 Exemplare) und 1868 erschienen. Es enthält etwa 100 Gedichte, und es war schon im Moment des Erscheinens hoch umstritten: Dem Autor wurde von dem insgesamt reaktionären Regime Napoléons III. die Missachtung der Moral und die Gotteslästerung vorgeworfen, sechs Gedichte wurden als besonders anstößig empfunden und durften nicht publiziert werden.
„Die Blumen des Bösen“ sind das poetische Hauptwerk, ein Durchbruch für die französische Poesie insgesamt. Inhaltlich geht es in den Gedichten auch um die seelischen Erfahrungen des Menschen in der großen Stadt. Wie lebt der Mensch, der sich inmitten der Massen langweilt und am Leben leidet, im Erleben des Bösen. Auswege sucht Baudelaire selbst im Rausch durch Opium und Haschisch und Alkohol… mit Geld kann er nicht gut umgehen. Diese Unfähigkeit gilt in der Zeit der „moralischen, kirchlichen Ordnung“ als eines der schlimmsten Übel, das bestraft werden muss. Schon 1844, als Baudelaire erst 23 Jahre alt, leitet tatsächlich die eigene Mutter (inzwischen als Madame Aupick mit einem Major verheiratet) das Entmündigungsverfahren gegen ihren Sohn ein, am 21.9.1844 erhält Baudelaire einen Vormund, Maitre Ancelle.

6.
Er lebt in einer Epoche, die zunächst von Louis Philippe, dann in einer kurzen Phase einer liberalen Republik (1848), danach aber von dem sehr konservativen und dem Klerus ergebenen Regime Napoléons III. bestimmt ist. Es ist eine Zeit, in der es kleine Kreise „liberaler Katholiken“ (Lamennais, Montalambert, Lacordaire) gibt, sogar christliche Sozialisten (Philippe Buchez). Aber im Ganzen lassen sich der Adel und die „braven Bürger“ (nicht die Republikaner, nicht die Arbeiter, nicht die Armen) von der starren, auf Prinzipien und Dogmen bedachten Katholischen Kirche (wenigstens nach außen hin) bestimmen. Oder sie benutzen diese Dogmen als Stütze der eigenen politischen Ideologie, die monarchistisch, reaktionär und antisemitisch ist.
Für Baudelaire ist religiöser Glaube auch eine Frage der Ästhetik. Kunst wird für ihn etwas Heiliges!

7.
Etwa 50 Gedichte in den „Blumen des Bösen“ haben Anklänge an religiöse Themen. Über die religiöse Bindung Baudelaires ist vieles Unterschiedliche publiziert worden. Der Literaturkritiker und Theologe im Dominikanerorden, Pater Jean Pierre Jossua, (Paris), hat darüber einen ausführlichen Bericht geschrieben ( Quelques interprétations de la religion de Baudelaire | Cairn.info)
Ein „definitives“ Urteil, welche Bedeutung der christliche Glaube für Baudelaire hatte, wird kaum möglich sein, dazu sind dessen entsprechende Äußerungen zu vielfältig und zum Teil doppeldeutig, wenn nicht widersprüchlich. Aber auch dies ist zunächst kein Mangel, sondern ein Beweis dafür, wie tief Baudelaire dem religiösen Suchen und Zweifeln in seiner Zeit verhaftet ist.
Das kann man auch beobachten an seiner Tendenz zu einem gewissen Satanismus. Als große List Satans nannte er dessen Fähigkeit, den Menschen glauben zu machen, dass es ihn, den Satan nicht gebe. Baudelaire dachte, es gebe einen ewigen Kampf zwischen Gott und dem Satan. Aber vielleicht war das auch nur Phantasie? Da war sich Baudelaire nicht sicher.

8.
Jean Pierre Jossua meint in einer Art vorsichtigen Gesamteinschätzung: Baudelaire sei schon aufgrund seiner Herkunft und Bildung auf betont eigene Weise christlich gewesen: In seinen letzten Gesprächen mit dem Freidenker Nadar sei er noch für den Glauben an Gott eingetreten. Und auch Beten sei ihm immer wichtig gewesen, freilich in der Form einer individuellen frommen Poesie. Was das Christentums ihm doch bedeutet, bringt Baudelaire noch einmal zur Sprache in dem Gedicht „Mon coeur mis à nu“, das erst 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Darin bekennt Baudelaire, dass er an jedem Morgen sich im Gebet Gott zuwendet, der für ihn eine Art Reservoir aller Kraft und aller Gerechtigkeit ist. Aber, so sagt Baudelaire in der ihm eigenen Spiritualität, er wende sich im Gebet auch seinem verstorbenen Vater, dann auch Mariette (dem guten Dienstmädchen aus der Kindheit) und dem Dichter Edgar Allan Poe zu, und er meint sie als Fürsprecher bei Gott. (siehe: https://fr.wikisource.org/wiki/Page:Baudelaire_-_%C5%92uvres_posthumes_1908.djvu/139)

9.
Jean-Pierre Jossua ist überzeugt: Der christliche Gedanke an eine Erlösung war Baudelaire sicher fremd und die Erfahrung der Macht des Bösen wohl zu stark. Sie wurde verstärkt durch den Augustinismus und Pessimismus des reaktionären Autors von Joseph de Maistre. Über die Bindungen an reaktionäres politisches Denken wäre eigens kritisch zu sprechen.

10.
Trotz aller Spannungen der widersprüchlichen Person Baudelaire gehört sein Werk als Anregung in unsere heutige Zeit, weil er dadurch typisch ist, dass er auf die religiösen Umbrüche in einer Art subjektiven Sensibilität immer wieder irritierend reagierte. Als Mensch des 19. Jahrhunderts gehört er insofern auf seine Art auch in eine Reihe mit Nietzsche oder dem ganz anderen, dem prophetischen Karl Marx. Baudelaire hat auf seine Art die Menschen der Moderne erinnert, dass der damals schon allgemeine Glaube des Materialismus tödlich ist für Geist und Seele. Für Yves Bonnefoy, den kürzlich verstorbenen Poeten und Baudelaire Kenner, steht fest: Die Poesie Baudelaires kann wirksam auf das menschliche Verlangen antworten, das Gefühl für die Transzendenz zu bewahren, dies gilt auch, wenn man annimmt: Gott ist tot. (Vgl. Yves Bonnefoy, Le siècle de Baudelaire, Ed. Du Seuil, Paris 2014.)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ratzingers Herrschaft – eine Katastrophe.

Über das neue Buch „Nur die Wahrheit rettet“.
Hinweise auf das Buch und weiterführende Erkenntnisse von Christian Modehn.

1.
Wer das Buch über das „System Ratzinger“ (der Untertitel) gelesen hat, muss sich notwendigerweise fragen: Was ist nach der Lektüre, „summa summarum“, die Wahrheit über die langdauernde Kirchen-Herrschaft Joseph Ratzingers? Diese Wahrheit ist in wenigen Worten zu sagen: „Ratzinger ist der totale Kleriker“. Zu Beginn seiner steilen Karriere war er kurze Zeit „Seelsorger“, dann Theologieprofessor, daraufhin Erzbischof in München, dann Kardinal als Chef der Glaubenskongregation in Rom (1982 – 2005) und engster Berater Papst Johannes Paul II. Dann wurde Ratzinger erwartungsgemäß Papst unter dem Namen Benedikt XVI. (2005 -2013). Seit seinem Rücktritt nennt er sich immer noch Papst, er hat den sonderbaren Titel „Papa emeritus“ mit eigenem großen Freundes/Unterstützer-Kreis. Und auch dieses noch: Er ist als unmittelbarer Nachbar im Vatikan aufmerksamer Beobachter von Papst Franziskus. Er zog sich also als „emeritus“ nicht in seine bayerische Heimat zurück, er blieb im Vatikan. Vielleicht überlebt er Papst Franziskus? Falls Franziskus auch zurücktritt, will er ebenfalls im Vatikan bleiben und mit einem neuen Pontifex maximus hätten wir dann eine Art Trinität: Drei Päpste auf einmal. Göttlicher geht’s dann wahrlich nicht mehr…

2.
Welche Wahrheit muss angesichts dieses Buches „Nur die Wahrheit rettet“ und über das Buch hinaus gesagt werden … zu diesem „totalen Kleriker“ Ratzinger? Allerdings unter dem normativen Anspruch einer Theologie, die die Qualität des kritischen Prüfens sich bewahrt hat! Ich denke: Die einfache und deswegen für manche frommen Leute wohl schockierende Wahrheit über Ratzinger ist: Dieser Kleriker hat den Niedergang der katholischen Kirche befördert. Andere kritisch denkende Theologen (kann denn Theologie heute anders als vernünftig – kritisch sein?) würden treffender sagen: Dieser Kleriker Ratzinger war und ist eine Katastrophe für die römische Kirche.

3.
Diese Wahrheit stellt sich ein, wenn man das Buch liest mit dem Titel „Nur die Wahrheit rettet“ mit dem Untertitel “Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger“. Verfasst haben es Doris Reisinger (Theologin) und Christoph Röhl (Autor und Regisseurs eines umfassenden Films über Ratzinger).
Aber welche Wahrheit stellt sich ein, die größer ist als Ratzingers Ideologie, welche Wahrheit über Ratzinger rettet und befreit? Naheliegend müsste man fordern: Dieser EX- Papst Joseph Ratzinger sollte sich entschuldigen, öffentlich, nicht nur bei den Opfern des tausendfachen sexuellen Missbrauchs durch Priester, sondern bei allen, die er mit seiner rigiden Herrschaft beleidigt, ausgegrenzt und krank gemacht hat. Vor allem: Denen er mit seiner Herrschaft den Glauben und das Grundvertrauen (in Gott) genommen hat. Es ist diese bedrückende Erkenntnis: Glaubensverlust wegen der Institution Kirche, die hier zur Debatte steht. Das Problem ist nur: Ratzinger selbst ist Ausdruck und Vollstrecker (Schreibtischtäter) des klerikalen Systems. Kann sich ein System entschuldigen? Nein. Es kann nur überwunden werden. Zur Überwindung kann nur jeder und jede einzelne beitragen…

4.
Dabei bietet das Buch von Doris Reisinger und Christoph Röhl nur eine Haupt-Perspektive, sozusagen einen entscheidenden Ausschnitt, aus dem unseligen Wirken dieses Klerikers, den man in Frankreich in gebildeten Kreisen treffend den „Panzerkardinal“ genannt hat.
Die Autoren zeigen ausführlich und gut dokumentiert: Ratzinger hat die Opfer sexuellen Missbrauchs viele Jahrzehnte ignoriert, er hat die Täter entschuldigt und „gedeckt“. Er hatte seinen Klüngel um sich gebildet, vor allem um seinen Freund, den hochumstrittenen Kardinal Tarcisio Bertone aus dem Salesianer-Orden. Bertone bewohnt bekanntlich als armer Ordensmann eine nach seinen Angaben „300 bis 400 Quadratmeter“ große Wohnung…(Das Buch „Avaricia“ von Emiliano Fittipaldi hat das alles gut dokumentiert)
Im Mittelpunkt des Buches von Reisinger und Röhl stehen die Ungeheuerlichkeiten des Gründers der Legionäre Christi, des in diesem Orden so bezeichneten „Generaldirektors“ Marcial Maciel, allein schon dieser Titel „Generaldirektor“ für einen Ordenschef zeigt die heftige ökonomische Interessiertheit dieser Herren.
Ratzinger hat Marcial Maciel, nachdem endlich seine Verbrechen öffentlich gemacht wurden, nur moralisch als Sünder getadelt. Im klerikalen Denken Ratzingers entstand gar nicht die Frage: Sollte er Maciel, den sexuellen Missbraucher seit Jahrzehnten, der staatlichen Justiz für seine Untaten übergeben? Nein, das wollte Ratzinger dann doch nicht. Der bloß moralisch getadelte Verbrecher bewahrte sich unverschämt wie immer und vom Vatikan weiterhin unkontrolliert seine übliche Reiselust, zuerst nach Florida, bevor er mit Frau und Kind Weltreisen antrat. In Florida ist er 2008 verstorben. Die Legionäre haben nach seinem Tod einfach die Fotos Maciels aus all ihren Häusern und Zimmern entfernt. Erwähnt wird der Name ihres einst als heiligmäßig verehrter „Vaters“ auf der website des Ordens seitdem nicht mehr. Die Legionäre treten jetzt also wie ein Orden ohne Gründer auf. Diese Verlogenheit im Umgang mit Maciel erinnert an die „Säuberung“ nach dem Tode Stalins. Der sowjetische Diktator verschwand als Bild und Foto in der Öffentlichkeit… aber sein Geist blieb. So auch bei dem Herren Generaldirektor Pater Maciel. Alte Freunde gibt es bei ihm auch, die dann schwadronieren: „Maciel hat doch nur gute Früchte hervorgebracht“, sagen sie, die von ihm auch finanziell Begünstigten! Sie glauben, der Orden der „Legionäre Christi“ müsse wegen der vielen jungen Priester unbedingt erhalten bleiben. Und wegen des Geldes, das der Orden seit jeher über alles liebt (natürlich verbunden mit der Liebe zu Millionären weltweit)

5.
Die Autoren breiten darüber hinaus reiches Material zum Umgang des sexuellen Missbrauchs in anderen so genannten neuen geistlichen Gemeinschaften, sie wurden gepflegt und gefördert während der Ratzinger – Herrschaft in enger Verbindung mit dem polnischen Papst. Die neuen geistlichen Gemeinschaften erschienen Ratinger wie Wojtyla als große Retter der „Kirchenkrise“. Diese neuen Gemeinschafen, insgesamt mit einigen Millionen Mitgliedern und Sympathisanten, sind insgesamt theologisch konservativ bis reaktionär, sie bilden Sonderwelten in der Kirche, werden aber von der Klerus – Herrschaft geschützt. Warum wohl? Weil die kinderreichen Familien dieser auch von Laien geprägten Gemeinschaften viele gehorsame Priester zur Verfügung stellen und das klerikale System fortzusetzen helfen. Das ist meine Ergänzung zu dem Buch „Nur die Wahrheit macht frei“.

6.
Vieles, was das Buch mit großem Fleiß dokumentiert, ist bekannt. Ich selbst habe seit 2007 als einer der ersten in Deutschland über die Legionäre Christi ausführlich auf meiner website religionsphilosophischer-salon.de und in zahlreichen Ra­dio­sen­dungen kritisch berichtet oder auch über das „Neokatechumenat“. Davon „zehren“ auch die beiden Autoren. Aber sie sind so vornehm und „verschwiegen“, dass sie darauf nicht hinweisen. Das nur am Rande.

7.
Das Buch ist eigentlich ständig aktualisierbar: Eine dritte Auflage sollte detailliert zeigen, dass die im Vatikan so hoch gepriesenen Gründer der neuen geistlichen Gemeinschaften in den letzten Monaten (2020/2021) als Täter sexueller Gewalt und spiritueller Bevormundung bzw. Herrschaft überführt wurden: Die Liste könnte beginnen mit dem Gründer der Ordensgemeinschaft St. Jean (Johannes-Brüder), könnte weiter gehen zu Jean Vanier, dem Gründer der weltweiten Arche-Gemeinschaften, weiter zu Père Pierre-Marie Delfieux, dem Gründer der Mönchsgemeinschaft „Jérusalem“ in Paris, über ihn hat eine ehemalige Nonne das Buch geschrieben „Quand l église détruit“… dann müsste man weiter forschen über den Gründer der sehr einflussreichen und sehr reaktionären internationalen Gemeinschaft „Sodalicium“ aus Peru, dann weiter gehen zu Chiara Lubich und ihrer Focolarini, dann zum Gründer der Gemeinschaft „Béatitudes“, weiter zu den Oberen der neu gegründeten „Franziskaner der Immakulata“ oder zu dem reaktionären Orden „Institut des inkarnierten Wortes IVG. Da wurden heftige massive Missbräuche des Ordensgründers gegenüber Mitgliedern dokumentiert. Ratzinger ist der große Förderer dieses Ordens aus Argentinien. Die Rede müsste sein von Pater Kenntenich, dem Gründer Schönstatt-Bewegung und so weiter und so weiter. Man sehe sich auch besonders gut an, welche Gruppen und Grüppchen reaktionären Einschlags sich im Bistum Toulon – Fréjus sammeln, Chef ist dort Bischof Dominique Rey, er ist führendes Mitglied der großen katholisch – charismatischen Bewegung „Emmanuel“. Diese Gemeinschaft praktiziert in Frankreich auch die „Konversions-Therapie“ von Homosexuellen. Einer der „Emmanuel – Priester“, Pater Bernard Peyrous, wurde wegen „sexueller Übergriffe“ an Frauen suspendiert, aber er darf weiter pastoral wirken…Zu sprechen wäre von der neuen Ordensgemeinschaft der „Soeurs de Bethléem“ und deren Machtmissbrauch innerhalb des Ordens. Mit anderen Worten: Die hoch gelobten „neuen geistlichen Gemeinschaften“ sollten unter strenger Beobachtung stehen…Sie sind einziger Sumpf!
Von diesen Gemeinschaften ist dem neuen Buch von Reisinger und Röhl nicht die Rede, es handelt sich hier um meine Recherchen.

8.
Für mich wäre es besonders wichtig, welche Beziehungen der vatikanische Behörden Chef Ratzinger zu Kardinal Groer in Wien hatte. Groer, als Benediktinermönch vom Stift Göttweig, wurde 1986 von Papst Johannes Paul II. zum Erzbischof ernannt, Groer musste dann nach lang andauernden heftigen Protesten 1995 wegen ganz offensichtlichen sexuellen Missbrauchs zurücktreten.
9.
Noch interessanter ist die sehr große Sympathie, die Freundschaft und Fürsorglichkeit Ratzingers für den nicht minder höchst umstrittenen Bischof von St. Pölten in Österreich, den Theologieprofessor Kurt Krenn.Er wurde zunächst 1987, ein Jahr nach Groer, zum Weihbischof von Wien ernannt. Weil er dort nach vielen Protesten unhaltbar wurde, beglückte der Vatikan die Katholiken im Bistum St. Pölten mit Krenn als Bischof (1991 – 2004). Er war u.a Mitarbeiter der von vielen als Vulgär-Blatt beurteilten „Kronen-Zeitung“, kein Wunder, er war ein Freund von FPÖ Chef Jörg Haider. In Krenns Bistums waren ebenfalls die „neuen geistlichen Gemeinschaften“ höchst willkommen, etwa die „Diener Jesu und Mariens“ in Blindenmarkt, ebenso die „Gemeinschaft der Seligpreisungen“ oder die „Gemeinschaft vom heiligen Josef“. In seinem Priesterseminar wurden gern zu zehn tausenden (ARD: https://web.archive.org/web/20140129075019/http://www.tagesschau.de/ausland/krenn100.html) kinderpornographische Fotos betrachtet. Das Magazin PROFIL in Wien schrieb u.a.: „In der Kinderpornoaffäre, über die „Profil“ ebenfalls berichtete, hält die Staatsanwaltschaft die Indizien für so erdrückend, dass es zu mehreren Anklagen gegen Seminaristen kommen wird. Gefunden wurden zum Beispiel Fotos, auf denen ein fünf- bis sechsjähriges Mädchen beim Oralverkehr mit erwachsenen Männer gezeigt wird ….usw.“ Der Priesterkandidat Piotr Zarlinski wurde deswegen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Krenn nannte diese Porno – Praxis, so wörtlich, „Bubendummheiten“. Kurz danach ist Krenn als Bischof zurückgetreten.
Die ganzen Affären um Bischof Krenn bezeichnete der international geschätzte Theologe Prof. Paul M. Zulehner als „pastoralen Supergau“.
Aber wie regiert Joseph Ratzinger wenige Wochen, nachdem er zum Papst gewählt wurde: Er bemitleidet aufs innigste den armen Freund Krenn, rückt sein Leiden in die Nähe zu Jesu Leiden….
(Nach seinem Rücktritt als leitender Bischof lebte Krenn schwerkrank, Folgen seines Alkoholismus, in einem katholischen Pflegeheim).
Am 18.6. 2005, also wenige Wochen nach seiner Papstwahl, hatte Krenns alter Freund und Gönner, Joseph Ratzinger, nichts Eiligeres zu tun, als ihm einen salbungsvollen Brief zu schreiben. Dieses Dokument muss allen, die unter dem Regime von Bischof Kurt Krenn gelitten haben, wie eine Ohrfeige erscheinen. Der Brief offenbart auch die wahre spirituelle und ideologisierte Theologie Joseph Ratzingers als Papst:
Hier nur einige Zitate aus dem handschriftlich unterzeichneten Brief an Bischof Krenn:
„Lieber Mitbruder! Wie ich höre, leidest du an Leib und Seele. So liegt es mir am Herzen, Dir ein Zeichen meiner Nähe zukommen zu lassen. Seit langem bete ich jeden Tag für dich! …. Unser Herr hat uns letztlich nicht durch seine Worte und Taten, sondern durch seine Leiden erlöst. Wenn der Herr dich nun gleichsam mit auf den Ölberg nimmt, dann sollst du wissen, dass du gerade so ganz tief von seiner Liebe umfangen bist und im Annehmen deiner Leiden ergänzen helfen darfst, was an den Leiden Christi noch fehlt (Kol 1, 24) Ich bete sehr darum, dass dir in allen Mühsalen diese wunderbare Gewißheit aufgeht……. Von Herzen sende ich dir meinen apostolischen Segen. In alter Verbundenheit! Dein Papst Benedikt XVI.
(Dieser bemerkenswerte Brief ist (noch) nachzulesen : https://www.derstandard.at/story/2481036/papst-schickt-krenn-per-brief-troestende-worte)

Ich habe dieses Dokument (Bischof Krenn als leidender Jesus) schon 2011 publiziert in dem Aufsatz unter dem Titel „Benedikt XVI. ist politisch rechtslastig“, erschienen in dem Sammelband „Rolle rückwärts mit Benedikt“ (Hg. Norbert Sommer und Thomas Seiterich, PUBLIK FORUM Edition, 2009). Nebenbei: Ich frage mich manchmal, wie es möglich ist, dass schon vorliegende kritische Studien wie diese von den Autoren neuer Bücher zum Thema Ratzinger einfach so ignoriert bzw.im Druck nicht erwähnt werden können.

10.
Ich empfinde es angemessen, wenn in dem umfangreichen Buch „Nur die Wahrheit rettet“, für das zwei Autoren zeichnen, genauer angegeben wird, wer denn welches Kapitel verfasst hat.

11.
Ist Ratzinger ist also alles anderes als ein „Mozart der Theologie“, wie Kardinal Meisner (2007 in Berlin) einmal in seiner üblichen Ratzinger – Ergebenheit schwärmte.
Ratzingers Bücher sind keine kritisch reflektierte Theologie auf dem Stand des 20. Jahrhunderts, sie nicht mehr als fromme persönliche Meditationen. Wenn Ratzinger wissenschaftlich argumentierte, dann als Historiker, als Kenner und Liebhaber des Werkes des Kirchenvaters Augustinus. Er selbst nennt sich wohl „Augustinist“. Und dies ist der Schlüssel zum Verstehen seiner Spiritualität und Theologie: Es ist nicht nur die über Augustin gegebene Liebe zu Platon, es ist das völlig pessimistische Menschenbild des späten Augustin, das in dem Wahn seiner Erbsündenlehre gipfelt. Sie wurde schon von hoch gebildeten Theologen seiner Zeit zurückgewiesen, wie von Bischof Julian von Eclanum. Aber Augustin verfolgte seine Kritiker und setzte sich mit Gewalt durch mit seiner verkorksten Erbsündenlehre, die er nur erfand, um den Status der Kleriker zu sichern: Denn sie allein konnten in der Taufe die Menschen von der tödlichen Erbsünde befreien… .
Diese Haltung des Rechthaber Wahns ist typisch für den alten Augustin wie für Ratzinger. Man lese bitte in dem Zusammenhang die Augustinus Studien des Philosophiehistorikers Kurt Flasch!

12.
Ratzinger hat ungebrochen seine augustinistische Theologie durchgeboxt. Auch insofern ist er eine Katastrophe für die Kirche, wie das Buch von Reisinger und Röhl zeigt: Eine Katastrophe ist Ratzingers Unfähigkeit, dem sexuellen Missbrauch durch Priester wirksam auch mit staatlich – juristischen Konsequenzen Einhalt zu gebieten und die Opfer zu hören und zu respektieren. Oder, um nur ein weiteres Beispiel seiner Verblendung zu nennen: Er will unbedingt die oft neofaschistischen Kreise französischer Traditionalisten (Lefèbvre – Leute) wieder mit der römischen Kirche zu vereinen usw…
Der Augustinist Ratzinger liebt halt das Alte und Veraltete und Versteinert – Tote, das Lateinische … und die Erhabenheit des Klerus über alles.
Ratzinger ist eine gefährliche Figur von vorgestern.

Doris Reisinger und Christoph Röhl, „Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger“. Piper – Verlag, München, 2. Auflage 2021, 348 Seiten,22 €.

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