Oscar Romero und das Opus Dei

Oscar Romero der Märytrer der Befreiung. Ein Freund des Opus Dei?

Von Christian Modehn (Der Beitrag wurde Ende März 2015 veröffentlicht)

Ein Vorwort:

Wer philosophisch die universale Gültigkeit der Menschenrechte verteidigt, muss auch auf Menschen aufmerksam machen, die diese Menschenrechte verteidigt haben und deswegen ihr Leben lassen mussten. Deswegen ist auch für philosophisch Interessierte eine Auseinandersetzung mit Erzbischof Oscar Romero aus El Salvador von dringender Aktualität. Weil seine Person zeigt, wie er, einst diffamiert und dann 1980 ermordet von rechten und rechtsextremen Kreisen, heute in die konservative Welt des Opus Dei integriert werden soll. Oscar Romero vom Opus Dei? Man könnte sagen: Mit dieser Behauptung stirbt Erzbischof Oscar Romero sozusagen ein zweites Mal. Lesen Sie den ausführlich dokumentierten Beitrag zu einem Skandal angesichts der Seligsprechung des Märytrers der Befreiung. CM.

Ein Interview mit der Botschafterin von El Salvador jetzt in Stockholm, vorher in Berlin, Frau Anita Escher-Echeverria, von April 2015, verdient auch Ihre besondere Aufmerksamkeit. Klicken Sie hier.

Siehe auch den Beitrag vom 17.5.2015: “Wer tötete Oscar Romero?” Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

…… Erzbischof Oscar Romero (1917-1980) aus El Salvador wird selig gesprochen. Der Verteidiger der Armen und Freund der Befreiungstheologen ist offiziell als Martyrer anerkannt, „ermordet aus Hass gegen den Glauben“, wie es im Vatikan heißt. Die ihn auslöschten, waren nicht nur rechtsextreme Politiker, sondern zugleich auch praktizierende Katholiken. Nun will eine nicht gerade linke und schon gar nicht befreiungs-theologisch engagierte Organisation Oscar Romero auf ihre Seite ziehen. Die oberste Leitung des OPUS DEI in Rom verbreitet diese Botschaft: Romero gehört zu uns! Will eine internationale katholische Organisation, die viele Beobachter einen „elitären Geheimbund der Reichen“ nennen, die weltweite Zustimmung zum Bischof der Armen in eine ungeahnte Richtung lenken?

Kaum war die Seligsprechung Romeros bekannt gegeben, sprach schon der Chef des Opus Dei, Bischof Javier Echevarría, von einer tiefen und lange dauernden Zuneigung Oscar Romeros für seine Organisation und deren Gründer José Maria Escriva de Balaguer. Oberflächlich betrachtet stimmt das auch: Oscar Romero war bis zu seiner Ernennung zum Erzbischof von San Salvador 1977 ein konservativer Theologe der alten „römischen Schule“. Deswegen hatten sich auch Vertreter der rechtsextremen Oligarchie 1977 für ihn als Erzbischof der Hauptstadt stark gemacht. Und er war zweifellos mit dem grundlegenden Buch des Opus Dei-Gründers vertraut: „Der Weg“ (verfasst 1937) plädiert u.a. für die Berufung der Laien zur Mitarbeit in der Kirche: Eine Idee, die Romero, den Seelsorger, begeisterte. Es ist auch wahr, dass Romero 1970 den Opus-Gründer in Rom besuchte und sich sogar nach dessen Tod (1975) für die Seligsprechung einsetzte.

Und sogar zu einer Zeit, als er Erzbischof von San Salvador war, von 1977 bis 1980, hielt er Kontakte mit dem dortigen Opus-Dei. Er wollte bewusst der Erzbischof aller Katholiken sein. Also durfte er auch zum Opus, diplomatisch – klug, nicht die Kontakte abbrechen. Auch in Europa sind selbst progressive Bischöfe förmlich verpflichtet, an Gedenktagen des Opus Dei eigens feierliche Messen zu halten. Wer sich weigert, würde zweifellos direkt oder indirekt die Macht des Opus zu spüren bekommen.

Es ist bezeichnend, dass in der offiziellen Stellungnahme des Opus jetzt, auch nicht ansatzweise der „ganze Romero“ gewürdigt wird. Seit der Ermordung seines Freundes, des Befreiungstheologen Pater Rutilio Grande am 12. März 1977 durch die rechtsextremen Todesschwadronen, wurde Erzbischof Romero ein anderer: Die Sympathien fürs Opus Dei schwanden, selbst wenn er, diplomatisch klug, Kontakte mit dieser Organisation aufrechterhielt.

Entscheidend ist die Verfügung Erzbischof Romeros: Am Sonntag nach dem Mord an Pater Grande sollte nur ein einziger großer Gedenk-Gottesdienst in der Kathedrale stattfinden. Alle anderen Messen hatte er verboten. So setzte er ein bislang ungeahntes Zeichen des Widerstands gegen die tötende Willkür der Herrschenden. „Jedoch die Mitglieder vom Opus Dei hielten sich nicht an den erzbischöflichen Erlass“, schreibt der Schweizer Theologe Professor Giancarlo Collet, „sondern sie feierten tatsächlich ihre eigenen Messen. Dies war für Romero ein klares Zeichen für einen offenen Ungehorsam dem Erzbischof gegenüber“.

Die innere Distanz zum Opus setzte schon früher ein: Von 1970-74 arbeitete Oscar Romero bereits als Weihbischof in der Hauptstadt San Salvador, und da hatte er unerfreuliche Erlebnisse, dem Jesuiten P. César Jerez wollte er nur so viel anvertrauen: „Als ich Weihbischof von San Salvador wurde, fiel ich dem Opus Dei in die Hände! Und da war ich nun…“ Romero bricht den Satz ab, aus Wut oder Resignation?

1979 hatte er Gelegenheit, die Machenschaften von Bischöfen zu erleben, die dem Opus Dei nahe standen, vor allem dem kolumbianischen Erzbischof Lopez Trujillo von Medellin. Der setzte zudem als Generalsekretär des lateinamerikanischen Bischofsrates alles daran, Befreiungstheologen in ihrer auch politischen Option für die Armen zu diffamieren. Schon damals war vielen Beobachtern klar, dass Lopez Trujillo eng mit dem Opus Dei verbunden ist, nicht zuletzt auch gefördert von dem deutschen Opus –Freund und damaligen Chef des Lateinamerika-Hilfswerkes „Adveniat“ Bischof Franz Hengsbach, (2A) Essen. Bekanntlich muss man sich nicht ausdrücklich als Opus-Dei-Mitglied outen: An den Taten sollt ihr das Opus-Mitglied erkennen, sagen kritische Beobachter. Erzbischof Vinzenco Paglia musste Anfang Februar 2015 zugeben: „Erzbischof Romero litt unter einer brutalen Kampagne, die ihm das Ansehen rauben sollte. Diese Kampagne ging aus von der politischen Rechten, der salvadorianischen Botschaft beim heiligen Stuhl und von einigen Kardinälen, die Romero anklagten, Kommunist zu sein und sogar geistig gestört zu sein“. Mit „einige Kardinäle“ meint Bischof Paglia zweifellos auch den späteren Kardinal Lopez Trujillo: Als er in Rom arbeitete, war er einer der schärfsten Gegner der Heiligsprechung Romeros. Das hat jetzt der im Vatikan geschätzte Historiker Andrea Riccardi offengelegt. Eine Bestätigung dafür lieferte auch der Sekretär Romeros, Pater Jesus Delgado, als er sagte: „Die Seligsprechung hat der kolumbianische Kardinal Lopez Trujillo bis zu seinem Tod 2008 blockiert“.

Wie hat sich die Opus Zentrale in Rom zu ihrem angeblichen Freund Romero verhalten? Der Erzbischof hatte sich zwischen 1977 und 1980 mehrfach in Rom aufgehalten, um bei dem polnischen Papst Johannes Paul II. mehr Verständnis für sein Engagement wecken. Aber er wurde nicht zum Papst vorgelassen, einmal gelang es ihm: „Im Rahmen dieser Privataudienz übergab Romero dem Papst eine Dokumentation über den Terror gegen die Kirche in El Salvador und legte ihm Fotos von gefolterten und ermordeten Priestern vor. Doch der Papst interessierte sich kaum dafür. Er ermahnt ihn lediglich, eine “bessere Beziehung zur Regierung seines Landes anzustreben”. Ergänzung am 5. 4. 2015: Ein wichtiges Dokument belegt, wie Erzbischof Romero 1979 im Vatikan von der dortigen Klerikerbürokratie zurückgewiesen wurde und wie desinteressiert – abweisend sich Papst Johannes Paul II. gegenüber Oscar Romero zeigte, als er mit Mühe nun doch die Gnade erlebte, als Erzbischof mit diesem Papst sprechen zu dürfen. Von einem Beistand des Opus Dei für Oscar Romero 1979 in diesen Tagen in Rom ist bisher nichts bekannt geworden. Lesen Sie bitte das erschütterende Dokument der päpstlichen Ignoranz hier. Und denken Sie dabei daran, wie dieser Papst zusammen mit Kardinal Joseph Ratzinger alles unternahm, um die Befeiungstheologen und ihre Basisgemeinden zu unterdrücken. Johannes Paul II. hatte mehr Interesse, den Opus Dei Gründer selig und heilig zu sprechen….

Aber das Opus Dei verliert kein Wort darüber, dass es seinem nun so beschworenen alten Freund im Vatikan beistand. Und nun soll der Erzbischof zu einer Art Ehrenmitglied des Opus werden? Die wahren Freunde Romeros waren hingegen die Jesuiten, vor allem die Patres Ignacio Ellacuria und Jon Sobrino. Sie haben unbeirrt ihren Erzbischof theologisch informiert und bei seinen Vorträgen, etwa anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Löwen, Belgien, beraten. 1989 wurde fast die ganze Jesuitengemeinschaft in San Salvador von Rechtsextremen Katholiken ermordet. Pater Ellacuria ging denselben Weg wie sein Freund Romero. Von der tiefen Verbundenheit Romeros mit den Jesuiten ist in der Opus-Dei-Stellungnahme keine Rede.

Am Tag seiner Ermordung, dem 24. März 1980, musste Romero ausgerechnet an einer Versammlung mit Opus-Dei-Leuten teilnehmen. Am Nachmittag dieses Tages wurde er von dem Opus Dei Priester Fernando Saenz Lacalle zu der Kirche „Zur Vorsehnung“ gefahren: Dort wollte Romero eine Abendmesse feiern. Und dort wurde er während des Gottesdienstes im Auftrag rechtsextremer Katholiken erschossen. Ein merkwürdiges Zusammentreffen!

Dieser „Chauffeur“ Romeros, der Opus Dei Priester Saenz Lacalle, wurde 1995 Erzbischof von San Salvador; er wurde sogar zum General der (damals allseits mordenden) Armee ernannt. Aber er, der sich zu Lebzeiten Romeros als sein Freund bezeichnete, hatte nichts Dringenderes zu tun, als das ganze Werk Romeros im Erzbistum zu zerstören: Er setzte neue, konservative Leute in die Kirchenzeitung und in das viel gehörte Kirchenradio; er begrenzte die kirchliche Menschenrechtskommission. Dabei folgte er der Devise, die durchaus dem Opus Dei entspricht: „Es kommt nur auf die Seelsorge an, politische Aktivitäten, gemeint sind linke kritische Aktivitäten, sind für Priester verboten“.

Dank des Einflusses des Opus Dei Bischofs und seiner Organisation hat heute El Salvador das rigideste Abtreibungsgesetz der westlichen Welt. Dabei wird die ultra-konservative Kirche rund um das Opus Dei von der ARENA Partei unterstützt: Diese rechtsextreme Partei wurde von dem Initiator der Ermordnung Romeros, General d Aubuisson, gegründet.

Wer noch Interesse an Wahrheit hat, kann es nicht hinnehmen, dass das Opus Dei heute Oscar Romero in den eigenen konservative Club eingliedert. Es gibt bereits gönnerhaft die Prognose aus: “Oscar Romero wird ein sehr beliebter Heiliger sein“. Und es wird im Opus verschwiegen, dass die Seligsprechung Romeros immerhin 35 Jahre dauerte, die Selig – und Heiligsprechung des Opus Gründers verlief hingegen im Eilverfahren: Alle Welt sollte möglichst schnell den heiligen Jose Maria, den Gründer, verehren: 1975 gestorben, 1992 schon selig und 2002 heilig!

Das Opus Dei ein Freund Romeros? Unvorstellbar, dass diese elitären Katholiken im Ernst diese Worte Erzbischof Romeros richtig finden kann: „Es ist besser, ihr Reichen streift eure Ringe vom Finger, bevor man euch die Hand abhackt“, so in einer Predigt am 17.2. 1980. Werden die Worte Romeros das ökonomische Interesse des Opus verändern? Er sagte: „Der Kapitalismus ist das Unchristlichste an der Gesellschaft, die wir haben. Es gibt einen Götzenkult des Privateigentums“.

Dem Opus Dei Chef hingegen fallen jetzt in seiner Würdigung des seligen Oscar Romero nur diese Worte ein: „Er war ein frommer Mann, lebte völlig selbstlos und diente seinem Volk. Man konnte spüren, dass er um die Heiligkeit kämpfte“.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Dieser Beitrag erschien zuerst im März 2015 in leicht gekürzter Form in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM.

 

 

 

 

 

 

 

Das Göttliche ist auch weiblich. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb: Maria, das Göttliche ist auch weiblich

Die Fragen stellte Christian Modehn   Der Beitrag wurde am 17. 5. 2015 publiziert.

1. Die Verehrung Marias, der Mutter Jesu, ist fast ausschließlich in der katholischen (und orthodoxen) Spiritualität zuhause. In einer breiteren Öffentlichkeit wird über Maria, wie sie im Neuen Testament erwähnt wird, manchmal bloß geschmunzelt, etwa in einem (oberflächlichen) Verständnis der Jungfrauen-Geburt. Kann denn in einer neuen liberal-theologischen Perspektive die Auseinandersetzung mit der Gestalt Marias wichtig und sinnvoll sein?

Ich muss gestehen, dass ich persönlich mit der Gestalt Marias immer noch recht wenig anfangen kann. Die protestantische Prägung sitzt auch bei mir tief. Jesus Christus allein ist der Weg zu Gott, so hatte ich es von früh auf gelernt. Später dann, im Studium der Theologie, wurde es mir sogar zur tiefen Überzeugung, dass all diese Heiligen, allen voran die Gottesmutter Maria, die die katholische Kirche ins Christentum eingeführt hat, lediglich dazu angetan sind, die Macht der Kirche zu steigern. Die Heiligen – und allen voran eine die Kirche symbolisierende Maria – werden, so hatte ich gelernt, im Katholizismus zwischen Christus und die Gläubigen gestellt. Sie sind religiöse Mittlergestalten, die dafür aber auch gewisse Dienstleistungen von den Gläubigen verlangen. Im evangelischen Christentum hingegen, so hatte ich gelernt, ist der einzelne Gläubige, dann, wenn er allein auf Christus, den mit Gott eins seienden Menschen blickt, selbst unmittelbar verbunden mit Gott und in ihm des unbedingten Sinns seines Daseins gewiss.

Der Einspruch gegen die Heiligenverehrung, ja, gegen die die Kirche selbst in ihrer Mittlerstellung symbolisierende Maria, war der Grundimpuls der Reformation. Er beschreibt immer noch die grundlegende Bedeutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre und damit, nach protestantischem Selbstverständnis, des wahren Grundes christlicher Freiheit, Freiheit auch und gerade vom zwanghaften religiösen Regulierungswahn der Kirche.

Inzwischen bin ich gegenüber solchen theologischen Argumentationen sehr viel vorsichtiger geworden. Ich halte sie zwar auf der theologisch-argumentativen Ebene immer noch für richtig. Auch denke ich, dass sie religionskulturelle Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus, insbesondere was die unterschiedliche theologische Bedeutung, die der Kirche und vor allem dem Priesteramt zugeschrieben wird, immer noch ganz gut erklären. Dennoch, so denke ich heute, ist diese die kirchlichen Dogmen und Lehren erklärende Theologie unendlich weit weg von der gelebten Religion und den spirituellen Interessen der Menschen. Eine heutige liberale Theologie denkt aber nicht mehr von den Dogmen und kirchlichen Lehren her, sondern versucht die gelebte Religion der Menschen tiefer über sich zu verständigen und die spirituellen Bedürfnisse der Menschen aufzunehmen.

Der religiöse Sinn der reformatorischen Rechtfertigungslehre war es, dass wir, allein auf Jesus Christus blickend, dessen gewiss sein können, mit Gott auf dem Grunde der je eigenen Seele innerlich eins zu sein. In der alten liberalen Theologie, wie sie von dem Berliner Theologen Friedrich Schleiermacher um 1800 auf den Weg gebracht und um 1900 von dem Berliner Kirchenhistoriker Adolf von Harnack mit dem historischen Denken vermittelt wurde, begegnet in dem irdischen Jesus die beeindruckende und zu eigenen Gottvertrauen ermutigende Gestalt des mit Gott innerlich verbundenen Menschen. Der mit Gott einige Mensch ist in der alten liberalen Theologie der irdische Jesus, fraglos der Mann Jesus.

Unter den gewandelten, in Genderfragen ungleich sensibleren religionskulturellen Bedingungen der Gegenwart, könnte sich eine neue liberale Theologie durchaus offen zeigen für die Maria, die in die Vorstellungswelt des Christentums eingelassene, weibliche Symbolgestalt eines mit Gott innerlich verbundenen Lebens. Auch der biblische Bezug wäre dafür gegeben. Von Maria wird in einem der bekanntesten Texte der Bibel, der Weihnachtserzählung des Lukasevangeliums (Lk 2), das Wichtigste gesagt, was von einem Menschen überhaupt gesagt werden kann: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lk 2, 19), die Worte von der Geburt des Erlösers.

So ist es eben nicht der Mann Jesus allein, in dem wir dem zur Welt gekommenen Gott begegnen. Wir blicken ebenso auf Maria, die Frau, die Mutter, die uns zeigt, wie es zugeht, wenn in einem Menschen Gott zur Welt kommt. Das geht so zu, dass Menschen die Geschichte, die von ihrer Erlösung erzählt, in ihrem Herzen bewegen, sie sich das Wort von der liebevollen Nähe Gottes innerlich aneignen. Das zeigt Maria, die Gottesmutter. Sie zeigt, wie Gott im Menschen zur Welt kommt.

Gott wohnt nicht droben im Himmel, er herrscht auch nicht über die Menschen. Er wirkt die Geburt des wahren Menschen. Dabei erschließt sich, wozu des Menschen Dasein in dieser Welt bestimmt ist. Davon haben die Engel über dem Stall von Bethlehem, in dem Maria, die Gottesmutter, den Gottessohn zur Welt gebracht hat, gesungen: Vom Frieden auf Erden und dem Wohlgefallen, das allen Menschen, die guten Willens sind, werden soll.

2. Wer die religiöse Praxis an katholischen Marien-Wallfahrtsorten kritisch betrachtet, kommt oft zu der Überzeugung: Für viele religiöse Menschen dort ist Maria die weibliche Seite Gottes. Und die „brauchen“ sie förmlich. Ist diese Erfahrung etwas Erstaunliches, sollte sie vertieft werden in das Bekenntnis: Gott ist (auch) weiblich. Gott ist mütterlich? Oder sollten solche Gott-Vater- und Gott-Mutter Vorstellungen vom einzelnen eher abgewehrt werden?

Wenn wir Gott in seinem Verhältnis zur Welt denken, erscheint es wenig plausibel, Gott als weiblich oder männlich, oder auch als beides, aufzufassen. Gott ist der Sinn des Ganzen. Gott ist es, der in uns Menschen die Kraft freisetzt, für das Gelingen aller guten Dinge einzustehen. Dennoch kann ich der Vorstellung von der Gottesmutter einen tiefen religiösen Sinn abgewinnen. Die Vorstellung von Gott als dem Vater bleibt ja immer mit patriarchalen Herrschaftsverhältnissen verbunden. Auch wenn wir das Beschützende und Bewahrende im göttlichen Handeln an uns betonen und im Bild des Vaters, der den aus der Fremde zurückkehrenden, verlorenen Sohn liebevoll in seine Arme schließt, alle strengen und Angst machenden Züge getilgt haben, die männliche Seite Gottes bleibt doch diejenige, die die Distanz zwischen Gott und uns aufrechterhält.

Maria hingegen, sie ist die Frau. Maria ist die Mutter. Aus der Frau wird das neue Leben geboren. In Maria, der Gottesmutter, erscheint uns das Bild des vollkommen sich zu Gott verhaltenden menschlichen Lebens. Oder besser noch, in Maria erscheint uns das Bild des wahren Menschen, des Menschen, in dem Gott zur Welt kommt, des Menschen, zu dem zu werden wir alle bestimmt sind.

Eine neue liberale Theologie hat allen Anlass, deutlich zu machen: Gott ist in unseren Vorstellungen von ihm bzw. von ihr nicht nur männlich, sondern auch weiblich. Die weibliche Seite Gottes ist die, die uns die Einheit mit ihm fühlbar macht. Der mütterliche Gott ist die, die uns die Gewissheit schenkt, dass wir im Grunde unseres Daseins anerkannt, ja geliebt werden, aus einer Liebe leben, die nichts auf dieser Welt je uns nehmen kann. Alle leben in und aus dieser Liebe, alle, die aus Gott geboren sind.

3. Die Marien-Frömmigkeit im allgemeinen führt zur Frage an Protestanten, zumal eher kopflastige, vernunft-betonte liberale Protestanten: Brauchen sie nicht mehr Emotionen, mehr Bilder und Mythen, auch im Gottesdienst? Das ist ja keine taktische Frage angesichts der Erfolge der emotionalen Pfingstkirchen. Und die emotionalen Taizé-Lieder können ja auch nicht „die“ Lösung sein.

Dass wir aus Gott geboren sind und es die Kraft des göttlichen Geistes ist, aus der in Wahrheit wir unser Leben als ein sinnbewusstes und zielorientiertes führen, das können wir nicht gegenständlich vor uns bringen. Das können wir nicht wissen, nicht rational zum Gegenstand unserer Erkenntnis machen. Gott, der die Quelle unseres sinnbewussten Lebens ist, dessen mütterliche Nähe vor allem, können wir nur fühlen. Aber, was heißt hier „nur“? Das Gefühl ist es, das uns in einen unmittelbaren Kontakt zu uns selbst bringt. Fühlend sind wir uns selbst gegenwärtig, allerdings, ohne dass wir diese Selbsterschlossenheit in ihrem göttlichen Grunde zu bestimmen in der Lage wären. Genau dazu brauchen wir die religiösen Symbole und mythischen Bilder, die rituellen Inszenierungen und ästhetischen Performanzen, alles das, was der religiöse Kult zu ermöglichen versucht. Die Bilder der Religion sind es, die die Objekte der religiösen Anschauung schaffen. Die Musik und die Bewegung des Körpers sind es, die jene innere Erregung schaffen, die es macht, dass wir uns zu dem göttlichen Grunde unseres sinnbewussten Daseins auch bewusst verhalten.

Die bildende Kunst hat wunderbare Marienbilder geschaffen. Wenn wir es lernen, der emotionalen Seite der religiösen Erfahrung wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken, dann dürfte Maria als die Mutter des Gottes, der im eigenen Herzen zur Welt kommt, auch in den protestantischen Spielarten der christlichen Religionskultur größere Aufmerksamkeit finden.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Pflichtlektüre” zu Oscar Romero: „Die Linken kämpfen, um die soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen“

“Pflichtlektüre” zu Oscar Romero:  „Die Linken kämpfen, um die soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen“

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn

Der katholische Erzbischof Oscar Romero (San Salvador) wird nun endlich auch von der römischen Kirche öffentlich geehrt und öffentlich als Vorbild empfohlen. Er wurde von reaktionären Katholiken (Todesschwadronen) ermordet. Im Vatikan heißt es seit Februar 2015 eindeutig, Romero wurde „aus Hass auf den (also auf seinen) Glauben“ ermordet, den Glauben eben an die Universalität der Menschenrechte und der befreienden Botschaft des Evangeliums. Das war der Glaube Romeros! (Zum Thema “Oscar Romero und das Opus Dei” klicken Sie bitte hier)

Am Samstag, den 23. Mai 2015, findet in der Hauptstadt des zentralamerikanischen Staates El Salvador die offizielle „Seligsprechung“ des von so vielen Lateinamerikanern (und vielen anderen auch außerhalb der römischen Kirche) verehrten Befreiungstheologen statt.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin verteidigt die universalen Menschenrechte und auch auf die bleibende Aktualität der Befreiungstheologie. Denn sie ist ein qualitativ neue, andere Art, von Gott zu sprechen, deswegen ist sie auch philosophisch hoch interessant!

Nun ist dieser Tage die große Biographie zu Oscar Romero neu erneut publiziert worden, verfasst von dem us-amerikanischen Jesuiten James R. Brockman. Er hat dieses Buch mit dem Titel „Oscar Romero“ schon 1989 in den USA, in dem berühmten, dem hervorragenden Verlag Orbis Books, Maryknoll, veröffentlicht.

Die Neuausgabe der deutschen Übersetzung erschiennun – unser Dank ! – im Verlag TOPOS Premium, es hat 448 Seiten und kostet 26,95 EURO.

Dieses Buch ist für alle, die Oscar Romero und sein Werk verstehen wollen, eine Art Pflichtlektüre, auch wenn die Darstellung eben schon 1989 endet, also etwa die Phase der vom Vatikan betriebenen Zerstörung einiger Werke von Erzbischof Romero durch seinen späteren Nachfolger, den spanischen Opus Dei Bischof Saenz Lacalle, nicht mehr erwähnt werden kann. „Die Kirche ist in El Salvador unpolitisch“ war Saenz Lacalles Motto…

Der Vorteil der neuen Ausgabe des großen Buches von James R. Brockman ist, dass einer der entscheidenden Berater Oscar Romeros, der Jesuit und weltbekannte Theologe Jon Sobrino, ein kurzes Geleitwort geschrieben hat, vielleicht zu knapp nach unserer Meinung. Pater Sobrino erwähnt auch die Gegner Romeros im Vatikan, etwa, so wörtlich die „Grobheit“ des reaktionären Kardinals Lopez Trujillo, der die Seligsprechung Romeros Jahre lang unterbinden konnte, wie jetzt im Vatikan – ohne Schuldbekenntnis – zugegeben werden muss. Dass die Clique um einen einzelnen Herrn, Kardinal, so viel Macht hat, wäre mal eine eigene kirchenkritische Erörterung wert…

Wichtig bleibt als Leitlinie ein kurzes Zitat aus einer Predigt Oscar Romeros am 9. März 1980, also wenige Tage vor seiner Ermordung durch die rechtsextremen, von den USA mit ausgebildeten und finanzierten Todesschwadronen:
Romero sagte, so zitiert Brockman auf Seite 379:
„Wir übersehen auch nicht die Sünden der Linken (also den massiven, gewaltsamen Widerstand, CM). Aber sie stehen in keinem Verhältnis zur Gesamtmenge der repressiven Gewalt. Die Taten der politisch-militärischen Gruppen der Linken erklären die Unterdrückung nicht!… Die Morde der paramilitärischen Truppen sind Teil eines umfassenden Programms zur Vernichtung der Linken, die von sich aus keine Gewalt ausüben und fördern würden, wäre es nicht der sozialen Ungerechtigkeit wegen, die sie beseitigen möchten“.

Diese grundlegende Überzeugung Erzbischof Romeros hat im Vatikan und in führenden Kirchenkreisen damals kaum jemand verstanden, im Gegenteil…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Kritik an Seligsprechung Oscar Romeros: Stellungnahme der Basisgemeinden

Basisgemeinden kritisieren die Feier der Seligsprechung Oscar Romeros

Ein Hinweis von Christian Modehn

Auf den leidenschaftlichen Vorkämpfer für die Menschenrechte in El Salvador und Lateinamerika insgesamt hat der Religionsphilosophische Salon Berlin schon mehrfach hingewiesen. Zum Thema “Oscar Romero und das Opus Dei” als vollständigem Text klicken Sie bitte hier.

Nun wird Oscar Romero, katholischer Erzbischof in San Salvador (von 1977 bis 1980), am 24. März 1980 am Altar während der Messe auf Befehl der rechtsextremen Militärs und ihrer Verbündeter erschossen, selig gesprochen, also der besonderen offiziellen Verehrung der Katholiken, wahrscheinlich vieler anderer Menschen anempfohlen. Die Feier soll am 23. Mai 2015 in der Hauptstadt stattfinden.

Es gibt im Vorfeld dieses Ereignisses ideologisch-theologisch-politisch motivierten Streit: Verschiedene Organisationen von Basisgemeinden (wie z.B. „Articulación Nacional de las Comunidades Eclesiales de Base“ –CEBES- oder das „Comité Nacional Monsenor Romero“) werfen den Bischöfen im Land vor, ein Motto für die Feierlichkeiten gewählt zu haben, das der Person Bischof Oscar Romeros nicht entspricht: Die bischöflichen Verantwortlichen für die sicher internationale beachtete Feier am 23. Mai in San Salvador haben das Motto ausgegeben: „Romero – martír del amor“, also: „Bischof Romero – ein Märtyrer der Liebe“. Hingegen hat selbst der Vatikan bei der Ankündigung der Seligsprechung Romeros das Motto ausgegeben: „Romero ist gestorben aus Hass auf den Glauben“ („por odio a la fe“). Also: Bischof Romero wurde ermordet (von Katholiken) aus Hass auf seinen, also Romeros, Glauben. Das heißt: Die Mörder und ihre Auftraggeber im Militär haben den Glauben, so wie ihn Romero praktisch lebte, nicht respektieren können! Sie haben diesen auch politisch eindeutigen Glauben Romeros gehasst. Eben weil dieser Glaube sich ausdrückte in der radikalen Verteidigung der Menschenrechte und vor allem der Rechte der arm gemachten Bevölkerung, der absoluten Mehrheit im Land El Salvador.

Nun soll bei der Seligsprechung dieser radikale Glaube also neutralisiert werden, in dem die Bischöfe als Verantwortliche für die Feier am 23. Mai erklären: Romero sei ein „Märtyrer der Liebe“. Damit wird die Radikalität der Überzeugungen Romeros verwaschen und neutralisiert! Natürlich hat wohl Bischof Romero alle Menschen geliebt. Aber die mordenden Militärs im Land eben nur unter der Bedingung, dass sie den Krieg gegen die Armen beenden und die Menschenrechte umfassend achten.

Einer der Sprecher der Basisbewegung der Armen, die Erzbischof Romero von sich aus, auch ohne vatikanische Zustimmung selbstverständlich, seit seiner Ermordung als einen der ihren, als Heiligen verehren, José Roberto Lazo Romero, hat betont: „Mit dem neuen Motto werde Erzbischof Romero zu einem total passiven (d.h. unpolitischen) Heiligen stilisiert“.

José Roberto Lazo Romero hat außerdem beklagt, dass für die Feier am 23. Mai 2015 eine eigene Sitzordnung, „Abteilung“, der Armen und der Bauern, vorgesehen sei, so, als sollten die Armen und die Bauern nur die Teilnehmer Statistik erhöhen. Jose Robero Lazo Romero nannte das Verhalten der Hierarchie freundlicherweise bloß unsensibel. „Man könne keine Feier gestalten, mit der alle einverstanden sind“, meinte hingegen einer der offiziellen klerikalen Sprecher, Padre Simeon Reyes.   Quelle: elmundo.com.sv/polemica….   am 17. Mai 2015.

Diese Neutralisierung Romeros, um nicht zu sagen, diese Verfälschung seines Wesens, wird vom Opus Dei und seiner römischen Zentrale, nachdrücklich betrieben: Am 17. Mai 2015 veröffentlichte die dortige Opus Dei Zentrale einen Text aus dem Jahr 1995, den das Opus Dei Mitglied, der Priester Fernando Saenz (er wurde später Erzbischof in San Salvador) geschrieben hatte, nach einer letzten Begegnung mit Romero am Tag seiner Ermordung: Saenz schreibt und das Opus Dei verbreitet das noch heute:

„Immer wenn ich an diesen Tag zurückdenke, kommen mir diese weniger bekannten Tugenden des Erzbischofs in den Sinn: seine Sorge um die Priester, seine aufrichtige Frömmigkeit, seine Einfachheit“. So wird Romero zu einem bloß frommen, kirchentreuen Oberhirten gestylt, fern ab von jeglicher Politik.

Die offizielle klerikale Linie zur Seligsprechung in San Salvador mit dem Motto „Märtyrer aus Liebe“ hätte das Opus Dei nicht anders formulieren können.

Zur Vertiefung:

1.ADVENIAT hat im Jahr 2010 erfreulicherweise über Jose Lazo Romero berichtet: http://www.adveniat.de/aktionen-kampagnen/jahresaktion10/gaeste2010/jose-lazo.html

2.Für alle, die Spanisch lesen können, noch ein Kommentar der Jesuiten in San Salvador vom 15. 5. 2015:  „basta con escarbar un poco para darse cuenta de que algunos de los que ahora vitorean la beatificación de Romero pretenden convertirlo en una figura insípida en nombre de la diplomacia, de la reconciliación o de la despolarización de la sociedad. No es justo invocar la reconciliación sin antes pedir perdón por el asesinato de Romero y de tantos otros salvadoreños inocentes. No es honesto ni cristiano prepararse para encender cirios ante la foto de Romero y seguir negando la verdad que él denunció. Honrar la memoria del arzobispo pasa por reconocer las razones que lo llevaron a la muerte en aquella difícil situación en la que le tocó vivir. Monseñor Romero denunció las injusticias que sufría el pueblo y señaló a quienes las cometían. Exhortó a los ricos a compartir ante la pobreza de la mayoría de la población. Condenó la violencia como mecanismo para resolver los problemas y animó a procurar la justicia social para evitar un derramamiento de sangre. Exigió, en nombre de Dios, desobedecer las órdenes de los jefes castrenses y policiales que mandaban asesinar a gente inocente. En verdad, monseñor Óscar Romero es para todos. Pero solo puede serlo desde el reconocimiento de su vida, su mensaje y las causas de su martirio. No se puede ocultar que es un mártir por odio a la fe y, por eso, mártir de la justicia; como dijo el papa Francisco, es un mártir por el odio que le granjeó seguir con fidelidad el camino de Jesús, optar clara y decididamente por las víctimas de la violencia y de la injusticia. Y por esa razón es un santo. Ese hecho es el que se reconocerá el sábado 23 de mayo y el que celebrará el pueblo que siempre ha querido y honrado a Óscar Arnulfo Romero“    Quelle: http://www.uca.edu.sv/noticias/texto-3655

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard

Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard

Von Christian Modehn

Sein Tod hat die breite Öffentlichkeit kaum berührt. So ist es heute in Deutschland, wenn Philosophen sterben, selbst wenn sie sich in ihren Essais um allgemeine „Erreichbarkeit“ ihrer Argumente bemühten, also durchaus eine gewisse „Öffentlichkeit“ bedienen wollten. Odo Marquard hat die meisten seiner Texte, durchaus bezeichnend für ihn, im (populären) Reclam-Verlag Stuttgart (in den griffigen gelben Heften zu erschwinglichen Preisen) publiziert. Er wollte wohl heraustreten aus dem Elfenbeinturm, in dem sich so viele Philosophieprofessoren in Deutschland heute verstecken und ihre Bücher eher für Fachkollegen als für kulturell Interessierte, Philosophierende, schreiben. Marquard wollte kein philosophisches Getto. So wurde er direkt oder indirekt inspirierend bei der Einrichtung philosophischer Praxen und philosophischer Salons, also jener Orte, in denen das philosophisches Denken, eben das elementare Philosophieren, belebt wird. Es ist sicher bezeichnend, dass Gerd B. Achenbach, der Gründer der ersten philosophischen Praxis in Deutschland (1982 gegründet!), bei Odo Marquard in Gießen promoviert wurde. Und es ist weiter bezeichnend, dass man Marquards zahlreiche Essais („Ende des Schicksals“, „Philosophie des Stattdessen“, „Zukunft und Herkunft“, um nur einige zu nennen) mit der nötigen Konzentriertheit, aber doch eben als bloß Philosophierender noch mühelos lesen konnte, eben weil sie in jede Jackentasche passten, auf Reisen, in Wartesälen, auf Parkbänken…Dabei waren seine Gedanken alles andere als „leichte Kost“, schon gar nicht philosophisches fast food, auch wenn Marquard oft locker und ironisch, manchmal gar an der Grenze des Albernen formulierte: Er war alles andere als ein „Populärphilosoph“, auch wenn er, wie gesagt, nachvollziehbar schreiben konnte und schreiben wollte. Am 9. Mai ist der vielfach ausgezeichnete „Transzendentalbelletrist“, wie er sich selbst nannte, im Alter von 87 Jahren gestorben: Odo Marquards hat immer Wert darauf gelegt, Schüler des Philosophen Joachim Ritter zu sein, tausend mal hat er davon gesprochen, um immer nur klarzumachen, dass er einem konservativen Denken verpflichtet sei und deswegen nichts von den Veränderern, den linken „Revoluzzern“ schon gar nichts, halte. Seine ironisch formulierte Polemik gegen den Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas war heftig (und falsch in unserem Sinne). Marquard selbst publizierte eine „Apologie der Bürgerlichkeit“, das war wohl für ihn eine Variante einer bei ihm konservativ verstandenen Skepsis.

Ich habe etliche Essais von Marquard dann doch gern gelesen, weil sie eben sprachlich hübsch waren und schnell zum Widerspruch reizten: Man denke etwa an seine Warnung vor dem Willen, vieles zu verändern in der Gesellschaft: Die Beweislast, dass die veränderte Situation besser ist als die gegenwärtige, trage der Veränderer, so Marquard, darin durchaus beruhigend fürs Bestehende eintretend und darin eben der skeptischen Tradition verpflichtet. Damit wollte er warnen vor allzu heftiger Gesellschaftskritik, vor der Bindung an Utopien, überhaupt an Hoffnungen, dass „es später doch einmal besser werden muss“. Diese These hat mir nie eingeleuchtet: Weil doch das Leiden so vieler Menschen an dieser Gesellschaft so groß ist, dass diese Unerträglichkeit doch überwunden werden muss! Und die Leidenden schreien ja förmlich danach. Die neue, andere Situation kann nicht noch schlimmer sein als die gegenwärtige, sagten mir Slumbewohner in Santo Domingo. Da zeigt sich ohnehin die strukturelle Begrenztheit des Denkens von Odo Marquard: Er dachte im Horizont des alten Europa, vielleicht des alten Deutschland, der Bundesrepublik: Globalisierung und Elend in der Dritten Welt und Ökologische Katastrophen und Rechtsextremismus und Islam und so weiter und so weiter kamen bei ihm nicht vor. Er war in meiner Sicht doch der biedere Philosoph, irgendwie auch der etwas brillante Schöngeist, der mit seinen Essais durchaus seine klassische philosophische Kompetenz zeigte, aber doch in der bürgerlich-konservativen Welt befangen blieb.

Nebenbei: Meines Wissens hat Odo Marquard bei seinen ständigen Hinweisen und Lobeshymnen auf seinen hoch verehrten Lehrer Joachim Ritter in Münster niemals daran erinnert, dass dieser Ritter (offenbar in der Jugend ein Kommunist) am 11. November 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat gehörte; und dass Ritter 1937 in die NSDAP, die NS-Studentenkampfhilfe, den NS-Lehrerbund und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eintrat. Diese „Herkunft“, auch so ein Lieblingswort Marquards, wurde von ihm nicht thematisiert. Marquard war eben dann doch kein konsequenter Aufklärer, denn Aufklärung war ja auch nicht gerade seine Lieblingsphilosophie.

Man hat trotzdem Marquards Essais gern gelesen, weil sie zum Widerspruch aufforderten! Marquard selbst hat ja die von ihm betriebene Skepsis als „Zerstörung von Zustimmungen“ beschrieben (in „Skepsis und Zustimmung, 1994, Seite 10). Und das konnte man bei ihm lernen. Sein Insistieren auf der „endlichen Endlichkeit“ war schon penetrant und in meiner Sicht unphilosophisch-unkritisch, selbst wenn Marquard förmlich als Entschuldigung beteuerte, von Hegels Denken sich abgewandt zu haben: Aber es tut trotzdem gut an Hegel zu erinnern und ist von der Sache her wohl geboten, dass Endlichkeit ALS Endlichkeit eben nur in dem Darüberhinaussein, also im Transzendieren, überhaupt nur sein kann. Wir sind also als Endliche immer schon ins Unendliche einbezogen. Aber davon wollte Marquard partout nichts wissen: Er wollte die ins einer Sicht prinzipielle Endlichkeit unseres Daseins und Denkens dadurch erträglich machen, dass er diese prinzipielle Endlichkeit aufteilte, in viele kleine Endlichkeiten, um so das Leben noch im Alter – kurz vor dem Tode – halbwegs erträglich zu machen: „Endliches zeigt sich als das Menschliche nicht dadurch, dass es aufhört, das Endliche zu sein, sondern dadurch, dass bekräftigt wird, dass es das Endliche ist. Endliches wird humoristisch nicht durch Unendliches, sondern durch anderes Endliches distanziert, in dem man – sozusagen – die Endlichkeit auf die Schultern möglichst vieler Phänomene verteilt: Geteilte Endlichkeit ist lebbare Endlichkeit.“ (IN „Endlichkeitsphilosophisches“. Über das Altern. Hrsg. v. Franz Josef Wetz. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2013)

Dieser Vorschlag, hübsch formuliert, klingt wie eine verhaltenstherapeutische Weisung, er löst aber nicht das philosophische Problem der in jeder Endlichkeitserfahrung eben mit-gegebenen Unendlichkeitserfahrung: Da war der ebenfalls kürzlich verstorbene große Philosoph Michael Theunissen (Berlin) sehr viel reflektierter und sehr viel gründlicher im Denken als unser „Transzendentalbelletrist“. (Nebenbei: Auch an den großen Michael Theunissen wurde leider kaum erinnert).

Inspirierend, aber eben zur Kritik inspirierend bleibt auch der Essay Marquards „Lob des Polytheismus“ von 1978, der zweifellos eine gewisse Breitenwirkung hatte. Dort deutet er – durchaus kreativ, das wollte er ja immer sein – die demokratische Gewaltenteilung als „entzauberte Wiederkehr des Polytheismus“ und behauptet, das Individuum als Individuum könnte im Monotheismus gar nicht entstehen (in: „Abschied vom Prinizipiellen“, 1981, Seite 108). Da wird dann die später in rechtsextremen Kreisen (der Neuen Rechten, der nouvelle droite in Frankreich etwa) verbreitete These in Umlauf gebracht: Der Mensch müsse im Monotheismus „dem einzigen Gott nur parieren“, wie es Marquard polemisch ausdrückt. Dass durch die Vorstellung des einen Gottes die Menschen als gleichwertige „Menschheitsfamilie“ gesehen werden, dass also im Einheitsdenken die Menschenwürde eines jeden einzelnen gerettet wird und also im Monotheismus der Ursprung der Menschenrechte liegt, all das kann und will Marquard in seinem „Lob des Polytheismus“ nicht sehen und zugeben. Es mag wie ein (schwerer) faux-pas erscheinen, dass Odo Marquard in dem Beitrag ein paar Zeilen später in Hinweisen zur Mythenrezeption (Seite 109) in einem Atemzug „Roland Barthes und Alfred Baeumler“ einfach so hintereinander nennt: Als wäre Alfred Baeumler ein gleichermaßen kritischer und wichtiger Kopf wie der große Roland Barthes. Es wird nicht mit einem Wort erwähnt, dass der (sachlich wohl unnötigerweise) zitierte Alfred Baeumler der führende und prominente Kopf der Nazi-Philosophen war. Er gehörte zu den wenigen NS Philosophen, die nach 1945 nicht an eine deutsche Hochschule zurückkehrten. Muss Marquard wirklich dann in Fußnote 32 auf eine Arbeit Baeumlers hinweisen? Ohne weiteren Kommentar?

Trotz aller Kritik: Die Essais von Marquard bleiben (manchmal leicht) lesbar, trotz aller Egozentrizität mancher Formulierungen und der gewollt witzigen Bonmots. Marquards Essais, er schrieb ja eigentlich nur Essais, also in gewisser Weise kurze Studien, vielleicht manchmal auch Fragmente, bleiben inspirierend, gerade weil sich an ihnen so schnell der Widerspruch, das Nein, entwickelt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Was ist “ein Hauch von Transzendenz”? Die Sunday assemblies, die atheistischen Gottesdienste”

„Ein Hauch von Transzendenz“: Die Sonntagsfeiern ohne Gott

Von Christian Modehn. (Dieser Beitrag erschien in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK-Forum, am 8.5.2015,  in einer etwas kürzeren Fassung.)

In den Song „99 Luftballons“ stimmt die Gemeinde voller Inbrunst ein: Mit diesem (etwas angestaubten) “Hit” der achtziger Jahre wird die „Sunday Assembly“ in Berlin eröffnet. 60 TeilnehmerInnen, auch jüngere Menschen, sind zusammen gekommen, interessiert, in dieser Gruppe „das Leben zu feiern“, wie es im Programm heißt. Die meisten nennen sich „nicht-religiös“ oder „konfessionslos“. Aber sie brauchen – wie die Frommen – das Gemeinschaftserlebnis, das „zwecklose Miteinander“, eine Art Sonntagsgottesdienst ohne Gott, zur ausgeschlafenen Zeit, um 14 Uhr.

Zu Beginn erheben sich alle von ihren Plätzen. Einige strecken enthusiastisch ihre Arme in die Höhe, dankbar, dass man hier gemeinsam singen darf. Wie in einer Kirche blicken alle nach vorn. Dort befinden sich weder Altar noch Kerzen oder Bilder, sondern nur ein Tisch, ohne Decke, ohne Blumen sowie ein Pult mit dem Mikro. Von hier aus werden die Ansprachen gehalten, heute über den „Weg der weißen Wolken“ und „Die Reise des Helden“. Die Vorträge werden wie in einer liturgischen Ordnung von Songs umrahmt, dafür tut eine Vorsängerin ihr Bestes.

Wir befinden uns in dem schlichten Sitzungssaal des „Akademischen Verein Hütte“ in Charlottenburg. Hier hat die „Sonntagsversammlung Berlin“ – zur Miete – Unterschlupf gefunden. Sie ist eine Filiale der inzwischen weltweiten Bewegung der „Sunday Assemblies“: Von London aus gesteuert, werden sie in 86 Städten angeboten. Auf dem Flyer der Londoner Zentrale werden die für alle Assemblies gültigen „atheistischen Glaubensprinzipien“ formuliert. Man will „keine Doktrin verbreiten“ und auf „kämpferischen Atheismus“ verzichten, um offen „für alle“ zu sein. Aber sind die „Prinzipien“ kohärent? „Wir glauben nicht an Übernatürliches“. Trotzdem soll auch „ein Hauch von Transzendenz“ in den Alltag wehen“.

Wo kommt dieser „Hauch“ von Transzendenz zum Wehen, fragt sich der Besucher angesichts der vielen bloß gut gemeinten, meist englischen Songs und der eher nüchternen (Volkshochschul-)Vorträge. In der Feierstunde selbst findet die „Pflege der Gemeinschaft“ kaum statt. Das Gespräch etwa mit den Sitznachbarn ist kurz und knapp. Die Teilnehmer dürfen auch nicht spontan zum Mikro gehen. Wie in der Kirche bestimmen einzig die „Liturgen“ das Geschehen. Muss eine Lebensfeier also reglementiert sein?

Schließlich wird auch die Kollekte eingesammelt. Denn die Gemeinde arbeitet ehrenamtlich, erhält von der offenbar finanziell gut ausgestatteten Londoner Zentrale keine Zuschüsse. In den „Vermeldungen“ wird auf weitere Veranstaltungen hingewiesen, etwa einen philosophischen Gesprächskreis und eine Meditationsrunde.

Nach der Feierstunde bleiben einige im Nebenraum bei Kaffee und Kuchen beisammen. Etliche Teilnehmer betonen, unbedingt diese Gemeinschaft zu brauchen und eine gewisse Feierlichkeit außerhalb der Kirchen erleben zu wollen. Einige finden das Motto der Assemblies hübsch: „Lebe besser, hilf öfter, staune mehr“. Was diese Prinzipien im Berliner Alltag bedeuten, wird nicht erläutert. Was nützen sie den Obdachlosen oder den Flüchtlingen?

Um die Organisation kümmert sich in Berlin die Autorin Sue Schwerin von Kroswig. Sie hatte sogar zur „Wintersonnenwende“ eine eigene Veranstaltung vorbereitet. Im Katholizismus groß geworden, hat sie, wie sie sagt, für Rituelles eine gewisse Sensibilität. Von daher wird die Vorliebe für ein rituelles Gerüst, aus der katholischen Messe bekannt, verständlich.

Im September 2014 fanden in Berlin die ersten nicht-religiösen Feierstunden statt; auch in Hamburg ist man erfolgreich. „Wir stehen finanziell ganz gut da“, berichtet der dortige Leiter Rainer Sax. Über seine Gemeinde sagt er: „Unter den Nichtreligiösen sind erstaunlich viele Esoteriker. Wir wissen noch nicht so recht, wie wir damit umgehen“. Wie weit sind rituelle Erweiterungen im Angebot dieser „Gottlosen Kirche“ möglich? Wird es Namensfeiern geben, die den christlichen Taufen nachempfunden sind? Oder Hochzeitsfeiern? In dem Bereich haben die Humanisten schon ihre rituellen Angebote. Der „Humanistische Verband Deutschland“ steht den assemblies wohlwollend, aber nicht gerade enthusiastisch gegenüber.

Die assemblies wurden in London im Januar 2013 von beiden Komikern Sanderson Jones und Pippa Evans gegründet. Jones hat eine schlichte Antwort auf die Frage, nach der inhaltlichen Konzeption: „Wir haben uns die besten Elemente einer Kirche genommen, und lassen Gott einfach weg“. „Aber das ist doch so, als könne man eine Oper aufführen, und die Arien einfach weglassen oder zum Steak Essen einladen und aufs Fleisch verzichten“, sagt ein kritischer Beobachter schmunzelnd, „aber einigen gefällt das“.

Selbst in den so christlichen Vereinigten Staaten kommt die Assembly Idee gut an. Dort gibt es aber die ersten Abspaltungen vom „Mutterhaus“ in London: Viele Gottlose dort sind nicht bereit, den offenbar universal vorgeschriebenen Weisungen des Gründer-Pärchens zu folgen.

Werden die assemblies trotz ihrer doch eher oberflächlichen Botschaft bzw Inhalte und trotz ihrer doch äußerst bescheidenen „Riten“ erfolgreich sein? Die Sehnsucht nach Kontakten ist wohl so groß, dass sich viele Menschen zumal in den Großstädten auf diese unverbindlichen Feiern einlassen werden. Für theologisch und philosophisch Interessierte bleibt die Frage: Ist dies wirklich eine auf der Höhe der Reflexion sich bewegende “atheistische” Botschaft? Wird über die permanente Verklammerung von Theismus und Atheismus überhaupt nachgedacht, so dass eigentlich Atheismus nur die andere Seite des Theismus ist, also “heillos” mit diesem verbunden bleibt. Gäbe es denn eine Position jenseits von Theismus UND Atheismus? Wäre dies nicht ein dringendes Thema auch für die assemblies? Oder ist dieses Thema vielleicht zu anspruchsvoll? Es führt in die Mystik, in eine Ebene des Unanschaulichen, des Geheimnisses (das, allen philosophischen Laien sei dies gesagt, selbstredend etwas ganz anderes ist als das Rätsel). Anders gesagt: Müssen diese assemblies so intellektuell bescheiden, so anspruchslos, volkshochschulmäßig bleiben? Das frage ich als Theist, der den Theismus auf eine höhere, mystische Ebene, wenn man so will, überwinden will.

Die andere Frage ist: Warum haben die assembly Teilnehmer keinerlei Erwartungen mehr an die Kirchen? Sollten die Kirche nicht interessiert sein, Näheres von diesen Menschen zu erfahren? Und die Kirchen? Sollten sie sich nicht herausgefordert sehen, endlich zur Gemeinschaft für alle zu werden und jeden Menschen in der Gemeinde, in jeder Gemeinde, vorbehaltlos zu akzeptieren, auch im Gottesdienst, und selbstverständlich auch beim Abendmahl. Sind die Chrisen etwa die verfügenden „Herren“ des Abendmahls? Die Kirchen sollten sich bemühen, eine von jeglicher esoterischer Sondersprache befreite, also eine möglichst vielen verständliche Sprache zu sprechen. Dann könnten sie auch neu Gottesdienste feiern, warum sollten die nicht „Feiern des Lebens“ heißen? Eine neue „liberale Theologie“ könnte dabei hilfreich sein.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon

 

Jede Religion ist esoterisch. Über die Rolle Vernunft bei esoterischen Lebensweisen

Jede Religion ist esoterisch

Oder: Warum private Überzeugungen übersetzt werden sollten und das Esoterische das Exoterische braucht

Hinweise von Christian Modehn

In unserem religionsphilosophischen Salon am 24.4. 2015 hatten wir uns ein recht umfangreiches Thema vorgenommen. Es ist zudem sehr komplex. Aber es ist ein notwendiges Thema, auch für eine „philosophische Lebensgestaltung“. Und die liebt bekanntlich nicht den Nebel des Ungefähren und Verschwommenen, des Mutmaßlichen und Rätselhaften, sondern eben Klarheit, so weit sie möglich ist.

Jeder/jede hat seine persönliche „Lebensphilosophie“ mit einem Mittelpunkt/Zentrum allen persönlichen Interesses. Diese eigene, Lebensphilosophie enthält oft esoterische Elemente und Inhalte. Aber sie sollte, wenn sie kommuniziert wird, in exoterischer Sprache, also in allgemeinen Vernunftbegriffen, ausgesprochen werden. Nur so verstehen die anderen, was ich (oder mein Freundeskreis) tatsächlich „präzise“ meine und wichtig finde. Ein bloßes Wiederholen meiner esoterischen Begriffe fördert kein wechselseitiges Verstehen und steht einer vernünftigen Gestaltung von Welt und Gesellschaft im Wege: Was nützt es, wenn jemand behauptet, ein Engel hätte ihm befohlen, dieses oder jenes gesellschaftlich zu tun? Oder gar ein Gott hätte es ihm einflüstert, also offenbart.

„Esoterisch“ bezieht sich auf das griechische Wort ἐσωτερικός, esōterikós, also innerlich‘, dem inneren Bereich zugehörig‘.Und mit diesem inneren Bereich, unserer privaten „Welt“ und mit unserer inneren Sprache haben wir immer zu tun. Diese innere Welt kann sich dann ausweiten zu einem großen Gebäude von Weltanschauungen usw. ein religiöser Mensch kann so tief die Sprache seiner Religion übernehmen, dass er alle Weltdeutung in dieser Sprache vollzieht. Das aber führt letztlich zu einer sektenhaften Abgeschlossenheit des eigenen Daseins.

Man könnte eigentlich annehmen, Esoterik spiele in der „total technisierten“ Gegenwart keine Rolle (mehr). Der Soziologe Max Weber sprach von der Entzauberung der Welt und meinte, „dass es prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da (in die Welt CM) hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt“. (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919). Heute jedoch gilt: Je mehr die Entzauberung der Welt als das Vertreiben des Numinosen um sich greift, um so stärker werden die Interessen an Wahrsagerei, Magie, Astrologie, new-age-Praktiken wie „Rückführungen“ usw. Es fällt den meisten Menschen in Europa schwer, ausschließlich in einer verstandesmäßig organisierten Welt zu leben. Sie meinen, der Verstand sei zu nüchtern, zu kalt, lasse die Gefühle unbefriedigt etc. Es müsste – gut hegelisch – der Unterschied zwischen Verstand und Vernunft herausgearbeitet werden. Vernunft ist das Umfassendere, Gründende, Verstand eher das technisch-praktische Organisieren: Aber ist die „innere“ Qualität der Vernunft tatsächlich „kalt“? Ist nicht das Gegebensein der Vernunft selbst schon etwas Erstaunliches? Führt Vernunft, tief genug reflektiert, nicht auch in eine „vernünftige innere Welt“? Aber für solche Reflexionen braucht man Zeit und Stille. Und die wollen nur wenige Menschen. Deswegen greifen sie schnell auf das große Warenangebot des kommerziell vorgefertigten Esoterischen zurück, um etwa abends, nach dem Stress, in eine andere (verklärte?) Welt einzutreten. Viele meinen, Esoterisches sei a priori heilsam, also der Gesundheit dienlich, möglichst auch als Melange mehrerer esoterischer Traditionen. Weil die Schulmedizin oft als kalt und inkompetent erlebt wird, erhofft man sich Heilung aus dem Gegenteil, der Esoterik. Diese hat nur deswegen einen so großen Zuspruch, weil das Gesundsein (und das lange Leben) unter allen nur denkbaren Werten im Westen an oberster Stelle steht. Deswegen zählt eine Religion, die nicht unmittelbar gesund macht, auch nur noch recht wenig…

In jedem Fall muss philosophisch die Vernunft in ihrer Tiefe auch als „Gabe“ verstanden verteidigt werden, sie ist mehr als eine kalte Form von Technik und „Gebrauchsanweisungen“. Die Reflexion auf die Vernunft selbst, auf ihren Grund, kann doch Erschütterungen und starke „innere“ Wahrnehmungen auslösen. As muss später weiter vertieft werden!

Viele Esoteriker waren zuvor Naturwissenschaftler, wie etwa der Kirchengründer und „Seher“ Emanuel Swedenborg. Ihm reichte die rationale Welt nicht, er erlebte das subjektive Wunder, Wunderbares zu sehen. Er hatte Gespräche mit Engeln und Geistern, die er nach seiner eigenen Aussage tatsächlich erlebte. Ihm war bewusst, dass er damit auf viel Unverständnis stoßen würde: „Ich sehe voraus, dass viele, welche das hier Folgende und die Denkwürdigkeiten hinter den Kapiteln lesen, dieselben für Erfindungen der Phantasie halten werden; allein ich versichere in Wahrheit, dass sie keine Erfindungen, sondern wirklich Geschehenes und Gesehenes sind. Gesehen nicht in irgendeinem Betäubungszustande des Gemüths, sondern im Zustande des völligen Wachens.“

Das ist dann ein durchgehendes Argument aller Esoteriker: Es ist sozusagen ihr Standard-Argument gegenüber den Exoterikern, dass sie an das Vertrauen der Leser appellieren. „Glaubt es bitte, denn ich bin es, der es euch sagt“. Tatsächlich geben sich viele mit solchen autoritären Vertrauens-Appellen zufrieden und folgen blind dem „Meister“. Welchen Stellenwert kann/darf also Esoterisches in meinem Leben spielen? Darf sie die prägende geistige Kraft sein? Etwa die Astrologie: Richte ich mich nach den Sternen oder denke ich noch selber über meine eigenen Entscheidungen?

Esoterik hat im religiösen Bereich stets einen kritischen Aspekt, sie ist Kritik an veräußerlichter, dogmatischer Religion. Von den dogmatischen, religiösen Führern wird sie deswegen kritisiert, oft verfolgt. Wahrscheinlich ist Friedrich Hölderlins Leben und Werk nur in dem Zusammenhang zu verstehen: Er litt unter dem rigiden Kirchenregiment in Tübingen, wandte sich der griechischen Welt zu und entdeckte -verehrend- die Mythen des klassischen Griechenlands als eine neue, bessere, tiefere religiöse Welt.

Die Beziehung „Mythen und Esoterik“ wäre weiter zu vertiefen…

Oft verfolgen auch Esoteriker, im Glauben, absolut die Wahrheit zu haben, jene Wissenschaftler, die das Esoterisch-Fromme ins Exoterische übersetzen wollen. Dafür gilt es tausende von Beispielen, man denke etwa an den Religionshistoriker Ernest Renan im 19. Jahrhundert: Er wurde massiv beleidigt und bedroht, weil er ein historisches, und nicht bloß ein frommes erbauliches und wunderbares Jesus Bild beschrieben hatte. Man denke an den Widerstand vieler muslimischer Kreise, wenn der Koran als ein literarischer Text behandelt wird und historisch-kritisch ausgelegt wird und die Frage gestellt wird: Kann denn Gott als Gott sich in einem einzigen Buch sozusagen „begrenzen“ lassen. Man denke an die Ausschluss-Verfahren des Vatikans gegen Hans Küngs Neuinterpretation zur „Unfehlbarkeit des Papstes“…

Wir begegnen dem Esoterischen auch in der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft: Etwa das Glaubens-Dogma von Madame Thatcher: „Es gibt zum Neoliberalismus keine Alternative“: Das erinnert an die ebenso esoterische These von der allein selig machenden Kirche. Politische, ideologische Propaganda ist esoterisches Blendwerk, etwa das Buch Hitlers oder die antisemitischen Kampfschriften (Die Weisen von Zions) usw. Auch die heftige Polemik gegen die Feimaurer hat oft ihre Wurzeln in biblischen Bücher, etwa der Apokalypse des Johannes, dies ist ein ein hochkomplexer Text, der von Frommen wie ein Zeitungsbericht gelesen wird und entsprechend politisch umgesetzt wird.

Entscheidend ist die Erkenntnis: Jede Religion ist esoterisch, selbstverständlich auch die christliche ist esoterisch, denn sie basiert auf Schriften, in denen fromme Menschen von einst ihre eigenen frommen Überzeugungen unmittelbar darstellen: Nur einige Beispiele zur esoterischen christlichen, kirchlichen „Lehre“: „Gott ist dreifaltig“, „ Jesus wurde von einer Jungfrau geboren“, „Maria ist die Himmelskönigin“. „Jesus starb für unsere Sünden am Kreuz und erlöste uns durch seinen Tod“, „Der Papst ist der Stellvertreter Christi auf Erden“ usw. Jesus von Nazareth hat, soweit wir das histroisch rekonstruieren können, hat nur gelegentlich esoterisch gesprochen, etwa im Zusammenhang des bevorstehenden Reiches Gottes usw. Aber seine ethischen Weisungen (Nächstenliebe) sind so allgemein vernünftig einsichtig, dass sie nichts esoterisches haben. Die spätere Kirchenlehre hat aus Jesu Überlieferung ein hoch komplexes esoterisches Lehrsystem gemacht. Alle diese dogmatischen oder bloß volkstümlichen Überzeugungen (etwa das Antlitz Christi in Turin usw.) erschließen sich nicht einem vernünftigen Verstehen. Sie sind nichts als Ausdruck – durchaus subjektiv legitimer- persönlicher Glaubensüberzeugungen einer Gemeinschaft.

Der Unterschied zwischen kleineren und größeren esoterischen Religionen bzw. Kirchen ist entscheidend: Größere Religionen mit vielen Millionen Mitgliedern neigen dazu, im Rahmen der Theologie argumentativ von ihren esoterischen Grundüberzeugungen Brücken zu bauen ins Exoterische, also Vernünftige und allgemein Kommunizierbare. Wobei dann Gott nicht bewiesen werden kann, aber es kann gezeigt werden, dass es nicht unvernünftig ist, an eine transzendente „Wirklichkeit“ zu glauben. Hingegen schließen sich die kleinen esoterischen Glaubensgemeinschaften, etwa die Zeugen Jehovas oder die Christliche Wissenschaft oder die Heiligen der Letzten Tage, völlig von vernünftigen Argumenten ab. Sie kennen nicht die Spur eines Versuchs, allgemein vernünftig argumentierend ihre Lehre darzustellen. Deswegen sind diese Kreise auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Diskurse nicht präsent. Und sie wollen das selbst auch gar nicht. Die christlichen Kirchen etwa in Deutschland genießen gesellschaftlich ein so hohes Ansehen, dass sie – obwohl auch ihre Lehren esoterisch sind – in exoterische Kreise, wie etwa in den Ethik Rat usw. berufen werden. Die Theologie der großen christlichen Kirchen ist, abgesehen von den historischen Fächern, eigentlich eine Interpretation esoterischer Lehren. Oft, wie im Katholizismus, steuern die Meister der esoterischen Lehren, etwa die Bischöfe, dann noch die theologische Forschung. Katholische Esoteriker bestimmen also die esoterische dogmatische Deutung. Sie sagen: „Der Heilige Geist geht vom Vater und vom Sohn aus“ (und nicht bloß vom Vater, wie die Orthodoxen glauben). Schon dieses zentrale trinitarische Thema zeigt, wie tief esoterisch die christlichen Lehren sind, die noch heute in diesen Worten im Glaubensbekenntnis an jedem Sonntag nachgesprochen werden von der aufgeklärten (?) Gemeinde…

Ein eignes Thema ist der Unterschied zwischen Mystik und Esoterischem. Allgemein könnte man in einer ersten Annäherung sagen: Der christliche Mystiker spricht von seinem inneren und eigenen Glauben; er will an dem Glauben zwar festhalten, kann sich aber nicht mehr der gängigen Begriffe der herrschenden Theologie und Kirche bedienen. Er bevorzugt die negative Theologie, das Nein zu dogmatischen Sätzen, er will sie tiefer verstehen. Während der ursprünglich noch aus dem dogmatischen Christentum stammende, aber ihm entwachsende Esoteriker meist eine Überfülle positiver Inhalte und Weisungen verbreitet. Man denke an die katholische Esoterikerin Gabriele Bitterlich, die Seherin und Begründerin des offiziell-katholischen Engelwerkes und des offiziellen „Kreuzordens“: Sie hat, über den Daumen gepeilt, ca. 150 verschiedene Engel namentlich gesehen und nennen können. Esoteriker zeichnen sich dadurch aus, dass sie enorm viel vom Himmlischen zu wissen behaupten. Dass das tiefe Lebensgeheimnis inhaltlich kaum in Worte zu fassen ist, wie die seriösen Philosophen sagen, vgl. Karl Jaspers, können Esoteriker nicht ertragen: Sie erdrücken die Menschheit mit einer stetig wachsenden Masse an Ahnungen, Offenbarungen, Einsichten usw. Esoteriker passen insofern gut in die „Überfluß-Gesellschaft“. Sie sind deren ideologischer Ausdruck. Mit dieser Masse an Esoterik-Lehren können die Meister immer noch viel Geld, sehr viel Geld verdienen. Wie sagte Kant so schön: „Wir leben noch nicht in einer aufgeklärten Welt“…

FORTSETZUNG folgt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin