Wir wohnen in Babylon: Rose Ausländers Gedicht Lehmbrot

Zur Aktualität von Rose Ausländers Gedicht „Lehmbrot“

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
„Die Luft kann nicht atmen“: Diese Erkenntnis kann nur Poesie mitteilen. In fünf Worten nennt Rose Ausländer, was das Wesen der großen Städte ist: „Die Luft atmet nicht mehr“, sie ist tot, sie ist in den Metropolen so miserabel, dass sie Mensch und Natur nicht mehr Leben ermöglicht. Finis, Ende. Warum? Rose Ausländer gibt einen Hinweis: Weil die Häuser „zusammengerückt“ sind und übereinander „klettern“.
2.
Wer in Metropolen, den stets wachsenden Städten lebt, kann die Erkenntnis der Poetin Rose Ausländer (geb. 1901 in Czernowitz – gestorben 1988 in Düsseldorf) nur bestätigen. Es sind vor allem von ständiger Gier getriebene Spekulanten, die jede noch freie grüne Fläche inmitten der Städte, ohnehin schon graue Steinwüsten, aufkaufen und auf die freien Flächen ihre teueren „Townhouses“ setzen. Alte Häuser werden abgerissen und die alteingesessenen Bewohner vertrieben, es muss Platz gemacht werden für den Luxus der Super-Reichen und deren sinnlosem Bedürfnis nach Zweit- bzw. Drittwohnungen….So sind, dem Neoliberalismus entsprechend, die Metropolen nichts als Orte aus Stein geworden, manchmal mit hübschen Fassaden und Kulissen (das wollen die Touristen!), aber insgesamt mit wenig Grün zum Spielen und Entspannen, die vertrauten Nachbarschaften wurden ausradiert. Nur ein Hinweis auf die prächtige Kulissenstadt Paris (im Zentrum zumindest als ständige Kulisse): Paris hat weniger Grünflächen als Madrid oder London – gerade mal sechs Quadratmeter pro Kopf. Das am Rande.
Das ist der aktuelle hermeneutische Hintergrund zu Rose Ausländers Gedicht.
Um der Deutlichkeit wegen den soziologischen Begriff der Bevölkerungsdichte zu verwenden: Es wird immer enger in den Städten, immer lauter, immer stickiger, der Verkehr heißt Stillstand, Parkplätze sind für viele schon der Güter Höchstes. Darum muss man kämpfen!
3.
Es sind merkwürdige Zustände, wenn schon die ersten Worte von Poesie ins kritische, selbstverständlich politische Nachdenken führen. Poesie ist eben alles andere als Schöngeisterei oder Hobby für „feine und reine Seelen“. Poesie offenbart störende Wahrheit.
Rose Ausländer wanderte 1921 nach New York aus und lebte dort viele Jahre. 1930 hatte die Stadt New York 6,9 Millionen Einwohner, 2020 sind es „nur“ 8,8 Millionen.
4.
Rose Ausländer sagt klipp und klar: Wir leben in Babylon: „Du musst wissen, wir wohnen in Babylon“. Das Symbol „Babylon“ hat sich als eine prägnante Vorstellung durchgesetzt: Die große Stadt, als Monstrum, sammelt alle negativen Eigenschaften auf sich, sie ist Ort des moralischen Verfalls, der Gewalt, der gesetzlosen Herrschaft, des Zusammenbruchs von Kommunikation, der totalen Vereinzelung. Eben: Babylon. Jerusalem als Symbol der Menschlichkeit steht dem – poetisch leider nur, nicht aber friedens-politisch! – gegenüber.
5.
Rose Ausländer hat, wie gesagt, etliche Jahre in den beengten Verhältnissen der Stadt New York gelebt, und sie kannte viele andere große Städte. 1972 veröffentlichte sie das Gedicht „Lehmbrot“, die ersten Worte dieses Hinweises sind dem Gedicht entnommen.

Lehmbrot (Text: S. 8 in dem Buch “Wir wohnen in Babylon”. Gedichte. Von Rose Ausländer, Fischer Taschenbuch 1992).

Häuser zusammengerückt
klettern übereinander
die Luft kann nicht atmen
Du musst wissen
wir wohnen in Babylon
Worte auseinandergewachsen
Unsere Stirnen übereinander
klettern Falten in Zeichen
wer deutet sie
Steine kauen wir
Wind legt sie uns
in den Mund
Wir bauen
Lehmbrot.

6.
Das Gedicht spricht vom Bauen in den großen Städten, alle heißen Babylon. Gebaut wird nicht ein menschenwürdiges Zuhause, gebaut werden nicht Orte, wo man gesund leben und sich gesund ernähren kann, nicht Heimat. Nein: In Babylon wird „Lehmbrot“ „gebaut“. Eine ungenießbare Pampe aus Sand und Ton. Eigentlich noch etwas besser als die Steine, die „wir kauen“, weil der Wind, der heftige, Zeichen der Klimakatastrophe, uns die „Steine in den Mund legt“. In den Metropolen, immer Namen Babylon, kann eigentlich kaum noch ein Mensch human, menschlich leben, denn dort werden „Steine statt Brot“ verteilt.
7.
In der Stadt, in der es sich nicht leben lässt, kann auch kein Gespräch, kein Dialog, kein sprachliches Miteinander leben. Denn die vielen Wörter sind, so Ausländer, „auseinandergewachsen“, sie haben keinen gemeinsamen verbindenden Sinn mehr. So wie die Häuser übereinander „klettern“ und als Wolkenkratzer dann förmlich mehrere Häuser übereinander stapeln und stellen, so sind auch „unsere Stirnen“, also unsere Köpfe, unser Verstand, übereinander gestapelt. Unsere Köpfe berühren sich in der Hochstapelei etwas, sie haben aber keine Kommunikation mehr miteinander.Zur Kommunikation gehört bekanntlich die gleiche Augenhöhe. Und die „Zeichen“, wie Rose Ausländer sagt, also die Symbole, das sind auch die Kunstwerke, die Literaturen, Religionen usw. haben „Falten“, sie sind entstellt, sind wegen der Falten nicht mehr verständlich als Zeichen, die auf anderes hinweisen, die faltenreichen Zeichen sind nicht mehr lesbar. Dies ist nichts anderes als ein Zusammenbruch des kulturellen Lebens, auch wenn es noch dem Schein nach fortgeführt wird in der Welt der gierigen Unterhaltungsindustrie der Metropolen.
8.
Ein Ende dieses verheerenden Zustandes ist nicht absehbar: „Wir bauen Lehmbrot“. Unsere Städte, in ihrem Bau-Wahn des Immer mehr und Immer höher und Immer teurer, sind bereits nicht mehr lebbar, sie sind ungenießbar. Die neoliberale Metropole verkommt als Babylon zum spekulativen Handelsplatz, wo nur noch die Leute des Luxus mal vorbeischauen. Sie wohnen ganz woanders. Aber auch nur in einem anderen Babylon.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

Fußnote: Einige Infos zur Bevölkerungsdichte:
Die Angaben stammen aus wikipedia-Beiträgen, bezogen auf das Jahr 2020. Die Dichte der Bebauung müsste noch in Bezug gesetzt werden zu den geringen Grünflächen und Parkanlagen…Aber diese Zahlen können einen Eindruck vermitteln von den Lebens- und Wohnbedingungen in den stetig wachsenden Metropolen.

Berlin-Schöneberg:
11.561 Einwohner pro Quadr. km

Berlin-Mitte
9.713 Einw. pro. Quatr. km

Berlin Kreuzberg
14.700 Einw. pro Quatr. km

München Schwabing
15.726 Einwohner Einw. pro Quadr. km

Kalkutta
21. 772 Einw. pro Quart. km.

Bronx, Stadtteil von NY.
13.585 Einw. pro Quatr. km.

Tokio:
15.351 Einw. pro. Quatr. km.

 

 

Verbot und Verzicht. Die „Politik des Unterlassens“ muss beendet werden: Ein Plädoyer des Politologen Prof. Philipp Lepenies.

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 19.6.2022.

1.
Verbot und Verzicht: Zwei Horrorbegriffe für sehr viele Menschen in Deutschland, vor allem in Kreisen der oft rechtsextremen Impfgegner und gleichzeitig aber auch, etwa beim Thema Tempolimit oder dem verpflichteten Tragen von Masken zum Schutz vor Corona, in Kreisen der
Liberalen und Neoliberalen, etwa in der FDP. Ein merkwürdiges Zusammentreffen? Der ideologische Hintergrund für diese leidenschaftliche Abwehr, über den hilfreichen Sinn von Verbot und Verzicht angesichts der Öko – und Klimakatastrophen und dem Hungersterben von Millionen nachzudenken, ist: Der Glaube an die absolute Freiheit des einzelnen Individuums, das ohne Rücksicht auf andere ökonomisch tun und lassen darf, was es als einzelnes Individuum will. Für diese weiten Kreise gibt es nichts Schlimmeres, als in einer Gesellschaft zu leben, die Verbieten und Verzichten nicht nur als Tugenden, sondern als notwendige politische Haltungen einfordert, nicht aus Gründen einer Staatsallmacht, sondern weil es um nichts Geringeres geht als das Überleben der Menschheit. Die Gegner einer ernsthaften Debatte über Verbot und Verzicht und der dann folgenden Gesetzgebung sprechen mit aller medialen Gewalt von „Bevormundungen“ und „Ökodiktatur pur“ (S. 11) oder gar von „absurder Spinnerei“ (etwa „Die Welt“ bzw. die „FAZ“).
2.
In dieser Situation der neoliberal propagierten totalen Abwehr von Verbot und Verzicht ist das Buch des Berliner Politologen Prof. Philipp Lepenies (F.U.) von großem Wert, die Lektüre wird dringend empfohlen. Lepenies dokumentiert das Thema sehr ausführlich auch historisch. Er zeigt die Wirkungsgeschichte der neoliberalen Ideen der „Masters of the Universe“ (S. 22), also von Friedrich August Hayek und Milton Friedmann, sehr deutlich bei Reagan oder bei Madame Thatcher. Hayek und Friedman und deren gut vernetzten Freunde (zu denen auch der Philosoph Popper gehörte) haben sich für die absolute freiheitliche Souveränität des Konsumenten eingesetzt und damit die Werte der „alten Handels-Welt“ mit ihren Werten des Konsumverzichts ins Abseits geschoben.
3.
Die sogenannten Ideale des Neoliberalismus,Propaganda der totalen Freiheit des eigentlich nur für sich lebenden (wohlhabenden) Individuums, haben sich „in den Köpfen festgesetzt“, so Philipp Leonies, (S. 19), „der „Neoliberalismus durchdringt unsere Art zu denken„ (S. 20). Philipp Lepenies geht so weit, „vom individuellen Tyrannen“ zu sprechen, „der jeden Eingriff in seine Konsumentscheidungen vehement ablehnt“ (S. 23). Der Autor erinnert auch an die hierzulande eher noch unbekannte, von Nietzsche inspirierte Schriftstellerin Ayn Rand, die aus St. Petersburg (Russland) in die USA emigrierte. Sie hat in ihren sehr viel gelesenen Schriften „einen antistaatlichen Extrem-Individualismus“ (S. 96) verfochten.
Viele Details sind spannend zu lesen, etwa die Vernetzungen der Neoliberalen in der „Mont Pèlerin Society“, die sich 1947 am Genfer See formierte. Sieben Mitglieder dieses elitären neoliberalen Zirkels wurden ausgerechnet mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, neben Hayek und Friedman auch George Stiegler, James Buchanan usw. (S.136). Lepenies weist darauf hin, dass die Vergabe-Praxis dieses Nobelpreises auch ideologisch gefärbt war…
4.
Ziel der Neoliberalen damals und heute ist: Staatliche Aktivitäten sollen auf ein Mindestmaß reduziert werden, der Staat solle nur Wettbewerb und Märkte uneingeschränkt fördern. (S. 110).
Mit einem gewissen Erstaunen, aber durchaus bei dieser politisch-ökonomischen Option verständlich, ist die Nähe etwa des Neoliberalen Meister Friedman zum Pinochet Regime in Chile (S. 139).
5.
Am wichtigsten schon wegen der aktuellen Dimensionen sind die zusammenfassenden Schlusskapitel des Buches, wenn Lepenies etwa an den großen Soziologen Zygmunt Bauman erinnert (S. 234): „Das Individuum befriedigt seine Konsumwünsche, die von der Produzentenseite bei ihm geweckt werden (S. 234).
6.
Wer bei der aktuellen Debatte einsteigen will, sollte also zuerst das Schlusskapitel lesen: „Politik im Geist des Unterlassens“ (S. 251 – 266). Darin plädiert Lepenies mit allem Nachdruck dafür, dass allein demokratische Verbote und Verzichtleistungen der Bürger (der Armen milder als der Millionäre) die tiefe Öko -, Klima – und Gerechtigkeits-Krise der gegenwärtigen Welt lindern könnten. Voraussetzung dazu wäre: Den Staat nicht, wie bei allen Neoliberalen in ihrer dogmatischen Befangenheit üblich, als Feind des Individuums zu betrachten. Denn für die Demokratie gilt: „Die Bürger SIND der Staat, sie SIND der Souverän“ (S. 255). Nur wenn dieses Feinbild Staat bei Neoliberalen überwunden wird, kann das grundlegend Menschliche wieder entdeckt werden, nämlich: „Die Gemeinschaft und die Zusammengehörigkeit“ (S,256). Solange Hayek und seine Freunde das internationale politische und wirtschaftliche Leben bestimmen, „wird die staatliche Untätigkeit angesichts der Klimakrise legitimiert“. (S. 257). Nur bei Überwindung der neoliberalen ideologischen Übermacht kann wieder ein Sinn für die richtige und berechtigte humane Moral IN der Politik entstehen (S. 258). Aber das wird angesichts der finanziellen Übermacht und medialen Bedeutung dieser Kreise schwer sein, denn diese Ideologen sind, wie Philipp Lepenies schreibt, „mit religionsähnlichem Eifer“ (s. 263) allüberall tätig. Sie glauben nicht an die universalen humanen Werte, schon gar nicht an den biblischen Gott der Gerechtigkeit, sie glauben an den für sie heiligen Markt, der alles zum Besten wendet. Aber dieser Glaube, so Lepenies“, ist „illusorisch“ (S. 264). Also ein Aberglaube. Und ein sehr mächtiger Aberglaube, leider. Nebenbei: Die Kirchen in Deutschland, den eigenen Worten nach Glaubende an den Gott der universalen Gerechtigkeit, können und wollen diesen Aberglauben nicht bekämpfen. Sie sind selbst viel zu sehr neoliberal verstrickt und entsprechend verdorben.

Über die kirchlich, katholisch zumal motivierten irrigen Ermahnungen zum Verzichten (besonders der “kleinen Leuten”) müsste weiter nachgedacht werden, ohne Verzicht-Propaganda (auf Luxus, Konsum, Sex (Zölibat) ist die alte katholische Welt kaum zu verstehen. Verzichten mussten immer die Armen, die Laien, nicht die Päpste, nicht der Klerus (er dufte nur offiziell keinen Sex haben!) , nicht die Fürsten, die Könige…Verzichten passte gut in die Klassengesellschaft damals und heute. Der Verzicht diente dem Erhalt der Klassengesellschaft, er hatte keine progressive Bedeutung wie heute.

Philipp Lepenies, „Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geist des Unterlassens“, Edition Suhrkamp Berlin, 2022, 266 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wenn auch die EU Krieg führt … gegen Flüchtende.

Ein Hinweis auf ein neues, wichtiges Buch von Christian Modehn (2022):  “Grenzenlose Gewalt” .

Ergänzt am 10.7.2022: Lesen Sie zuvor einen Bericht über die Massaker in Melilla (Spanien) am 24. Juni 2022: LINK

100 Millionen Menschen sind jetzt auf der Flucht. Diese Informationen veröffentlichte “Die ZEIT” vom 23. Juni 2022, Seite 52. Von diesen 100 Millionen sind 1,3 Millionen in Deutschland gestrandet, aufgenommen. 1,5 Millionen Flüchtende hat das sehr arme Land Uganda aufgenommen. 1,5 Millionen Pakistan. 1,8 Millionen Flüchtende aus Venezuela nahm Kolumbien auf, 8,2 Millionen Menschen sind in Kolumbien innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht vor Gewalt und Vertreibung.

23,7 Millionen Menschen waren auf der Flucht wegen Klimakrisen und Umweltkatastrophe in ihrer Heimat.

1.
Der Titel dieser Studie “Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende” könnte zunächst verstörend sein: Was denn, die EU führt Krieg gegen Flüchtende, wie das Buch „Grenzenlose Gewalt“  (Verlag Association A, Berlin 2022,) nahelegt? Sind jetzt nicht so viele Staaten der EU menschenfreundlich und hilfsbereit in der Aufnahme und Unterstützung von Flüchtenden aus der Ukraine, sie fliehen vor der tötenden Kriegsgewalt Putins.

2.
Die Flüchtenden aus der Ukraine sind mit dem neuen Buch „Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende” nicht gemeint. Diese sind sozusagen die „anderen“ Flüchtlinge, in der Sicht der meisten Polen und Deutschen möchte man etwas polemisch sagen, sie sind die „besseren Flüchtlinge“: Denn es sind Kinder und Frauen aus der Ukraine, und sie sind nicht schwarz, sie sind also nicht „völlig fremd“; und vor allem: Sie sind nicht muslimischen Glaubens, sondern meist Christen. Diese „besseren“ Flüchtlinge aus der Ukraine“ sind vor allem keine jungen Männer aus Nahost, Syrien, Iran usw., denen man in konservativen Kreisen im üblichen, tief sitzenden Vorurteil eine gewisse Gewaltbereitschaft unterstellt. Und die Flüchtlinge aus der Ukraine fliehen vor dem gemeinsamen europäischen Feind, sie fliehen vor Putin und seinem Regime. Und auch damit trösten sich viele hilfsbereite Westeuropäer: Viele ukrainische Flüchtlinge wollen wieder in ihre ukrainische Heimat zurückkehren. Sie sind also anders als die Menschen, von denen das wichtige und sehr instruktive Buch „Grenzenlose Gewalt“ handelt.

3.
Der Untertitel bringt den Inhalt des Buches von 311 Seiten (davon auf 30 Seiten 746 Fußnoten und wissenschaftliche Nachweise) auf den Punkt: „Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“. Die EU führt, so die gut belegte und gut begründete Studie, ihrerseits selbst Krieg, ohne diesen Krieg formal und feierlich „erklärt“ zu haben. Das Besondere ist: Dieser Krieg kennt nur eine starke, herrschende, sogar allmächtige Seite, diese ist die EU, ist Europa. Und die andere Seite in diesem Krieg sind Menschen, die aus dem unerträglichen Hunger, der Verfolgung, der ökologischen Katastrophe fliehen. Vor allem: Sie haben keine Waffen. Sie sind der anderen Seite (der EU) förmlich ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Es ist also der Krieg gegen Flüchtende aus Afrika, Asien und Nahost. Nebenbei: Auch in Zentralamerika flüchten Tausende in die USA, und die meisten scheitern vor allem an unüberwindlichen Mauern und Stacheldrahtzäunen, errichtet durch die US Regierung. Aber das ist ein anderes Thema.

4.
In diesem Krieg gibt es seit Jahren schon viele Tote: Tote allerdings nur auf der einen Seite: Viele tausend Flüchtlinge aus Afrika sind im Mittelmeer ertrunken, nicht nur der miserablen Qualität der Boote wegen, sondern auch, weil sie nicht gerettet wurden von Europäern (Stichwort: Frontex). Viele sind in der Sahara verdurstet, weil die EU die bewährten Wege durch die Wüste von Niger umgeleitet hat. Viele sind in LKWs auf der Flucht erstickt, oder sie sind im Wald, etwa an der Grenze Belarus und Polen, erfroren. LINK.
Die finanzielle Förderung von FRONTEX, der europäischen „Agentur für die Grenz- und Küstenwache des Schengen-Raumes“, wurde auf 1,3 Milliarden Euro pro Jahr angehoben und damit die fortschreitende Militarisierung der europäischen Grenzen für die Zukunft festgelegt“ (S. 37). Dazu eine ergänzende Info des SWR: „2019 und 2020 hat die Grundrechtebeauftragte bei dem Frontex Direktor Fabrice Leggeri beantragt, den Frontex- Einsatz in Griechenland zu beenden. Bisher ist er dem nicht nachgekommen. Dabei gibt es Hinweise auf Menschen­rechts­ver­letz­ungen vor der griechischen Küste. Recherchen internationaler Medien (darunter „Report Mainz“ des SWR) legen nahe, dass Frontex-Beamte in mindestens vier Fällen an illegalen Pushbacks beteiligt waren. Ein Video zeigt zum Beispiel, wie sich ein rumänisches Schiff mit der Beteiligung von Frontex vor ein überfülltes Schlauchboot mit Flüchtlingen nahe der Insel Lesbos schiebt. Anschließend fährt das Schiff mit hoher Geschwindigkeit nah am Schlauchboot vorbei und erzeugt so Wellen, die das Boot in Richtung Türkei bewegen sollen“ (Quelle: LINK)
Das Autorenkollektiv von „Grenzenlose Gewalt“ schreibt: „Die Festung Europa lässt nicht nur Menschen im Elend sitzen und sie an ihren Mauern abprallen, die Festung Europa tötet. Die dabei alltäglichen Menschenrechtsverstöße sind mitnichten Versehen oder unglückliche Unfälle, sie sind systemisch und systematisch und sie nehmen Tote billigend in Kauf“ (S. 41).
„Frontex kann nach eigenem Dünken schalten und walten, während sich die EU ihrer Verantwortlichkeit entledigt“ (S. 262).

5.
Dieser Krieg ist also ein besonderer, dessen Charakter das Buch ausführlich dokumentiert.. In Kürze nur diese Hinweise:
Diesen Krieg führt die EU als Trägerin des Friedensnobelpreises (2012). Die EU wurde dann offiziell von EU Beamten als „größter Friedensstifter der Geschichte“ gepriesen, etwa von Beate Gminder. Einige Jahre später wurde Frau Gminder zur „Erfinderin des Closed Controller Access Center of Samos“, einer „Käfighaltung von flüchtenden Menschen“ auf Samos, ein Urteil nicht nur des AutorInnenKollektivs des Buches „Grenzenlose Gewalt“, sondern auch vieler anderer Beobachter und Journalisten, die sich einen Sinn für Menschenwürde bewahrt haben. EU Chefin Ursula von der Leyen hat dieses inhumane Projekt zur Internierung von Tausenden von Menschen mit einer Viertelmilliarde Euro gefördert (S. 10): Pfarrer Hans Mörtter (Köln) hat dieses Lager besucht: „Die Menschen im Lager sollen die Botschaft nach Hause schicken: Hier ist die Hölle, kommt bloß nicht her, aber das funktioniert nicht, denn zu Hause ist die Hölle noch größer“, sagt Mörtter (S. 10)

6.
Diese Käfighaltung von Menschen auf Samos, diese ebenso widerlichen Zustände in den Lagern auf Lesbos, dieses dauernde Zulassen von Ertrinken von Flüchtenden im Mittelmeer durch europäische „Sicherheitskräfte“ sind Formen des Krieges der Friedensnobelpreisträgerin EU gegen hilflose Menschen, gegen Flüchtende. Dieser Krieg ist wirklich etwas Besonderes: Er wurde nicht formal erklärt, er wird von der den Krieg inszenierenden Partei, der EU, als „Schutz – Maßnahme“ hingestellt, die offenbar kein Ende kennt. Gerald Knaus, ständiger Gast im Fernsehen, vor allem in Talkshows, gilt als Spezialist für Kriegsfragen und Flüchtlingsfragen. Knaus hatte sich, so die AutorInnen, das bekannte und umstrittene EU-Türkei-Abkommen erdacht (S. 11), das den Türken Erdogan als Türsteher für die EU anheuerte. Später schickte Erdogan Flüchtlinge nach Griechenland, um mit diesen Menschen eine Art Deal zu betreiben…
Bisher hat die EU 6 Milliarden Euro Herrn Erdogan für die Abwehr und Zurückhaltung von Flüchtlingen gezahlt, dabei ist es ziemlich egal, welche kriegerischen Aktivitäten Herr Erdogan gegen Kurden und in Syrien realisiert.

7.
Aber: Diese totale Abwehr von Flüchtenden, dieses Sich-Einmauern Europas, dieses Stacheldraht-Bauen usw. wird nicht die Menschen hindern, aus den Kriegen ihrer Herkunftsländer, der Verfolgung durch dortige Diktatoren nach Europa zu kommen, in den christlichen Kontinent, der so gern von universal geltenden Menschenrechten schwadroniert.

8.
In 6 Hauptkapiteln wird akribische Recherche dokumentiert, die jeder und jede lesen sollte, die hier also nicht zusammengefasst werden kann.

– Wie man eine Festung baut.
– Europas Außengrenzen: Systematische Abschottung und Gewalt.
– Kriminalisierung von Flüchtenden.
– Behinderung von Fluchthilfe.
– Asylverfahren in der EU.
– Gute Aussichten? Panorama der Gewalt.

9.
Instruktiv sind die Erkenntnisse zu der schon üblich gewordenen (durch rechte und rechtsextreme Propaganda verstärkten) Kriminalisierung der Migration (S. 209): Es wird selbstverständlich und pauschal von „Illegaler Migration gesprochen. „Wir leben in einer Zeit, in der es normal ist, dass Menschen inhaftiert werden , nur weil sie migrieren…“ (S. 210). Auch das Thema „Schleusen“ und Schleuser“ wird dokumentiert. Der EU geht es nicht darum, wie Schleuser Flüchtende schleusen, auch nicht darum, wie viel Geld diese Schleuser für ihre Dienste nehmen, es geht der EU nur darum, „DASS sie schleusen“ (S. 214), also dass sie überhaupt auf den Gedanken kommen, Flüchtende nach Europa zu „geleiten“. Schleuser sind deswegen in EU Sicht Kriminelle, weil sie Flüchtenden helfen. Deswegen werden Schleuser als Kriminelle behandelt, viele sind wohl kriminell etwa hinsichtlich extrem hoher „Honorar“ – Forderungen. Aber Flüchtende sagen auch: „Es gibt ja sonst keinen legalen Weg, Europa zu erreichen“ (S. 216, Refugee Protest Movement, Vienna).

10.
Ganz übel ist die öffentlich schon selbstverständliche gewordene Diskreditierung derer, die zivile Seenotrettung leisten. Amnesty International spricht sogar von „einer Diffamierungskampagne“ (S. 221):

11.
Zum Schluss bietet das Buch einen Epilog, einen kurzer Essay, der italienischen Philosophin Prof. Donatella Di Cesare (Rom). Sie ist Spezialistin für eine „Philosophie der Flüchtlinge“. Sie weist u.a darauf hin, dass Europa einige sehr billige Arbeitskräfte aus den Kreisen der Flüchtenden braucht, also darf die EU nicht alle Flüchtenden im Meer ersaufen lassen und wieder nach Libyen, in die dortigen Lager, KZ ähnlich, zurückschicken. Billige und weithin rechtlose Arbeitskräfte werden etwa auf den Obstplantagen in Spanien gebraucht. Das Obst und Gemüse von dort ist sehr wahrscheinlich von unterbezahlten und miserable untergebrachten Flüchtlingen geerntet worden.
Aber dem von vielen Medien verbreiteten und von vielen geglaubten totalen Negativbild der Flüchtlinge, auch der so genannten bedrohlichen Flüchtlingsströme, wurde und wird „nichts entgegengesetzt“, meint Di Cesare. Den rechtsextremen Parteien gelingt es, ihr ideologisches Gift „tröpfchenweise in den alltäglichen Sprachgebrauch einzuspeisen und den Einwanderer zum Sündenbock für alle Missstände, zum Feind Nummer eins, zu machen“(S. 275). Ist es bereits eine faschistische Haltung, wenn viele Europäer den Wert der sozialen Gerechtigkeit nur noch auf die Innenräume ihrer eigenen Nationen gelten lassen wollen?

12.
Diese akribische wissenschaftliche Dokumentation „Grenzenlose Gewalt“, wird als Vorlage dienen für ein internationales Tribunal, das auch der bekannte ANTI-Mafia-Kämpfer, der Bürgermeister von Palermo Leoluca Orlando, angeregt hatte beim Festival „Lesen ohne Atomstrom“ (Hamburg). Dort sagte er im Jahr 2021: „Die Kriminellen (hinsichtlich des Krieges gegen Flüchtende) sind die Staaten, die heutigen Staatsführer“ (S. 14).

13.
Die Studien dieses Buches offenbaren die tiefe politische und geistige Krise der EU, die sich auf Demokratie und Menschenrecht so oft beruft und diese auch manchmal realisiert,. Aber die EU und Europa mauert sich in einer nationalistischen und feindlichen Abwehrhaltung gegenüber Flüchtenden aus Afrika und Asien ein. Es ist die Angst vor den Fremden, die das Denken und Handeln der meisten Europäer bestimmt, und die Unfähigkeit der reichen Welt, also auch Europa, dem zunehmenden Elend, dem Verhungern von Millionen arm gemachter Menschen im Süden dieser Welt, konsequent durch eine gerechte Politik und Wirtschaftspolitik Einhalt zu gebieten. Diese reiche Welt hat sich daran gewöhnt, dass sie täglich in den seriösen TV Programmen für einige Minuten Bilder krepierender Menschen etwa in Afrika sieht und danach stundenlang Krimis und Fussball schauen muss. Sie hat sich daran gewöhnt, dass in den meisten afrikanischen und arabischen Staaten Diktatoren die Menschenrechte missachten … und ihre Bewohner in die Flucht treiben. Die Fluchtbewegungen aus dem Süden sind auch von Europa, auch von der EU, gemacht, mitverursacht, zugelassen und manchmal wohl auch – zur „Lieferung“ billiger Arbeitskräfte – sogar gewollt.

Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende. Von dem AutorInnenkollektiv mEUterei. Lesen ohne Atomstrom. Verlag Association A, Berlin, 2022, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Liberale Theologie ist Befreiungstheologie!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.6.2022.

1.
Der Autor des Tagesspiegels Malte Lehming schreibt auf Seite 1 dieser Zeitung (am 8.Juni 2022) unter der Überschrift: “FDP in der Regierung: Aus liberal wird unsozial“. Dies ist ein treffendes und von sehr vielen geteiltes Urteil angesichts der politischen Verfehlungen der FDP in der Bundesregierung. Die Liste ist lang, sie reicht von der Abwehr der Maskenpflicht in Corona-Krisen-Zeiten über das bei Lobbyisten übliche Nein zum Tempolimit bis zum Plädoyer für die Subventionierung des Tankrabattes zugunsten des Profits der Ölkonzerne und dem FDP-üblichen Nein zur Vermögenssteuer usw. Manche interpretieren diese Haltung treffend: Die wenigen Reichen noch reicher machen und die Armen in ihrem Elend ein bißchen, “großzügig-geizig”  unterstützen! Malte Lehming schreibt: „Offenbar ist es besser für viele Liberale der FDP, falsch zu regieren als nicht zu regieren“.

2.
Nun versteht sich die FDP, ideologisch und auch philosophisch betrachtet, explizit als liberale Partei.

Und das Wort „liberal“ hat auch in der Theologie oft eine Rolle gespielt. In vergangenen Tagen wurden wir oft gefragt: Welches Verständnis von liberal bei dem Stichwort liberale Theologie gilt denn in den religionsphilosophischen und theologischen Hinweisen von Christian Modehn?

3.
Liberale Theologie verstehen wir in unseren Hinweisen als eine in Europa, in Deutschland, not-wendige Befreiungstheologie.
Damit bleibt aber die Verbundenheit mit bestimmten Traditionen der europäischen liberalen Theologie. Diese war und ist geprägt vom Anspruch, auch innerhalb der Theologie, wenn sie denn Wissenschaft an den Universitäten sein will und sein soll, wissenschaftlich zu arbeiten: Also im Studium der Bibel die historisch-kritische Methode zu wählen; allem Fundamentalismus zu wehren; auch die Entstehung der kirchlichen Dogmen historisch-kritisch zu studieren und diese als Ausdruck des religiösen Glaubens einer bestimmten Zeit zu relativieren. Und auch die Institutionen der Kirchen werden als relative, stets zu reformierende Strukturen verstanden, die keine andere Aufgabe haben, als zu individuell geprägtem Glauben des einzelnen und der Gemeinden zu ermuntern. Liberale Theologie ist also, wie das ursprüngliche liberale politische Denken, herrschaftskritisch. Sofern die Institutionen der Kirchen den Glauben der Gemeinden und der einzelnen behindern und Reformen stören, verhält sich liberale Theologie – in unserem Sinne – kritisch bis ablehnend zu diesen „unbeweglichen, versteinerten Kirchen-Institutionen“. Jeder und jede religiöse Person möge dann den eigenen Weg gehen! Religiöser Glaube ist nichts Masochistisches. Eine Vorstellung, die sich sogar bei dem katholischen Theologen Karl Rahner SJ findet in seiner Konzeption einer transzendentalen Theologie. Für ihn sind die Dogmen der Kirchen sozusagen Schöpfungen der glaubenden Menschen, die sich als Schöpfer dieser Glaubensüberzeugungen dann in diesen, weil es ja „ihre“ sind, wiederfinden können… Immerhin, das ist für katholische Verhältnisse schon viel.
4.
Eine heutige liberale Theologie verdankt zweitens – in unserer Sicht – viel den Impulsen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Diese ist ein Projekt der Emanzipation der Armen innerhalb einer vom Kolonialismus und Klerikalismus verdorbenen Kirchen-Organisation. Der ursprüngliche liberale Geist der Gleichberechtigung kommt also in der Befreiungstheologie zum Ausdruck: Es ist das Engagement für Freiheit und Gerechtigkeit gerade der Armen und Ausgegrenzten, das im wahrsten Sinne „liberal – befreiend“ ist. Diesem Projekt wissen sich heute freilich nicht konservative oder sich liberal, also neokapitalistische Parteien verbunden, sondern linke Parteien. Der neue Geist des Liberalen lebt also bei den demokratischen und selbstkritischen linken Parteien. Und theologisch gilt: Wenn etwa in den Basisgemeinden Lateinamerikas Frauen und Männer, also „Laien“, Gemeindevorsteher sind und als solche auch selbstverständlich die Eucharistiefeier leiten sollten, dann kommen da liberale Prinzipen zum Ausdruck. Die in der Forma allerdings bei der nicht-liberalen katholischen Kirchenzentrale im Vatikan keine Geltung haben.

5.
Eine heutige liberale Theologie in Deutschland kann also ein Störfaktor für die kirchlichen Institutionen sein, wenn (und weil!) diese Institutionen als Bürokratien den lebendigen und freien Glauben der einzelnen und Gemeinden behindern. Diese Kritik der machtvollen Institutionen ist aber kein Selbstzweck, wie etwa die permanente Kritik liberaler politischer Parteien am starken und als zu mächtig interpretierten Staat. Es gibt hingegen für liberale europäische Theologie auch kirchliche, amtliche Strukturen bzw. mindestens einzelne Gemeinde, die dem liberalen vernünftigen Grundimpuls entsprechen.

6.
Damit ist deutlich: Eine heutige liberale Theologie (in Deutschland) als europäische Form einer Befreiungstheologie hat gar nichts mit liberalen Parteien, gar nichts mit der FDP, zu tun. Eine heutige europäische liberale Theologie als Befreiungstheologie kann den Ideologien und Lobby-Bindungen der FDP nur Widerspruch leisten und … andere, linke und ökologische Parteien unterstützen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

E.T.A. Hoffmann vor 200 Jahren gestorben: Er zeigte das Unheimliche im Dasein.

Ein Hinweis von Christian Modehn zum 25. Juni 2022.

Ernst Theodor Amadeus Wilhelm Hoffmann ist  der “europäisch und weltweit einflussreichste deutschsprachige Romantiker”, so der Literaturwissenschaftler Prof. Rüdiger Görner in seiner Studie “Romantik. Ein europäisches Ereignis” (Fußnote 1). Den dritten Vornamen “Amadeus” nahm Hoffmann an, weil er Mozart so verehrte…

1.
Ernst Theodor Amadeus Wilhelm Hoffmann (geb. am 24.1. 1776 in Königsberg – gestorben am 25.6.1822 in Berlin):
Keine Etikette passt auf ihn, er lässt sich nicht einsortieren, nicht so leicht festlegen: Dazu war er vielfach zu sehr begabt, als Schriftsteller und Dichter, als Musikkritiker und Komponist, Jurist und bildender Künstler, Bühnenfachmann… und … überschwänglicher Weinliebhaber. Ein “Gesamtkünstler”, wie Rüdiger Görner betont (Fußnote 3). Heinrich Heine hat wohl recht, wenn er Hoffmann anderen Autoren der Romantik vorzieht, weil Hoffmann trotz seiner maßlosen Phantasie, die auch Fratzen und Gespenster wahrnahm, „sich immer an der irdischen Realität festklammerte“ und nicht „in der blauen Luft schwebte, wie Novalis“. Hoffmann gilt auch zurecht als einer der großen Berliner Autoren, seine literarisch besonders fruchtbaren Jahre lebte er in Berlin, von 1814 bis zu seinem Tod 1822. E.T.A. Hoffmann, eine herausragende Gestalt  der deutschen Dichtung.
2.
Anläßlich seines 200. Todestages am 25. Juni 2022 ist die beste Form der Erinnerung, wieder einmal aus seinem sehr umfangreichen literarischen Werk einige besonders inspirierende Texte zu lesen, viele Text sind berühmt und werden immer noch viel gelesen, wie „Die Elixiere des Teufels“ oder „Das Fräulein von Scuderi“. Wieder zu entdecken sind sicher auch einzelne irritierende Texte der „Nachtstücke“ (1817), wie „Das öde Haus“ oder „Der Sandmann“. Politisch – kritisch gegen den Polizeistaat Preußen schreibt Hoffmann in seiner Geschichte „Meister Floh“. Und von dem Buch „Serapionsbrüder“ ließ sich eine Gruppe von Autoren sogar kurz nach der Russischen Revolution inspirieren und nannte sich 1921 stolz „Serapionsbrüder“. Wo Phantasie und – wenigstens gedanklicher – Ausstieg aus den gegebenen Verhältnissen wichtig werden, können Ideen von E. T. A.Hofmann inspirieren.
3.
Hofmann nahm sich die Freiheit, oft durch Wein und Sekt unterstützt, seiner Phantasie großen Raum zu gewähren, in den irdischen Realitäten das Phantastische, Bedrohliche, Erstaunliche, Fremde wahrzunehmen. Er ließ sich gedanklich und vor allem im Traum forttragen und in andere Welten entführen. Und er nahm dabei seine Leser mit. Die starre Welt angestaubter Begriffe der rationalisierten Bürokratie mochte er gar nicht, einem Verstand, der nur kalt rechnet und die Welt entzaubert, schenkte er kein Vertrauen. Natürlich glaubt Hoffmann nicht an seine Gespenster, die Hexen oder Wiedergänger, sie sind Metaphern für den Streit und die Auseinandersetzung von universellen Kräften, die sich im Geist und den Geistern finden. Bei allem Interesse am „Ungewöhnlich-Schaurigen“ ist er ein Meister der genauen Beobachtung der Menschen in der Gesellschaft. Nichts ist ihm verhasster als die Langeweile, die in der Lebenswelt der braven Bürger, der so genanten Philister, sich immer mehr durchsetzt. Darum wurde zurecht vorgeschlagen, Hoffmann als einen „Romantiker des phantastischen Realismus“ zu würdigen. Sogar noch André Breton und Charles Baudelaire haben sich auf ihn bezogen.
4.
E.T.A. Hoffmann wird oft in die „Epoche der Romantik“ eingereiht. Aber Romantik ist kein eindeutiger Begriff, und manche populäre Kennzeichen „der“ Romantik treffen auf ihn nicht zu: Nur einige Beispiele: Sentimental ist seine Sprache nicht; er liebt die Satire; provokativ will er sein; vom Katholizismus hält er im Unterschied zu vielen Romantikern nicht viel, obwohl er sich in die Klosterwelt und Heiligenkulte gut eingearbeitet hatte. Man denke an seinen Roman „Die Elixiere des Treufels“, der 1812 in Bamberg entstand, nach einem Besuch im dortigen Kapuzinerkloster.
5.
Hoffmanns persönlicher, undogmatischer Glaube an ein „Leben nach dem Tod“ wird von ihm kurz vor dem Tod in dem Fragment „Die Genesung“ mit der Farbe grün beschworen. „Denn grün ist in diesem Monat Mai (der Niederschrift der „Genesung“) das Kleid der Erde, in der er bald ruhen wird. Hoffmann schreibt: O! Grün, Grün! Mein mütterliches Grün! – Nimm mich auf in deine Arme“ (zit. in E.T.A. Hoffmann, Rowohlt Monographien, 1966, S. 155). Die Autorin dieser Monographie, Gabrielle Wittkop-Ménardeau, sieht in diesen Worten „eine Sehnsucht nach der Verschmelzung mit der universalen Seele“ (ebd.) Werner Bergengruen weist auch darauf hin, dass Hoffmann von einem Glauben an die Vorsehung Gottes als einer ewigen Macht bestimmt sei. (Nachwort in der Ausgabe „Die Elixiere des Teufels“, Buchgemeinschaftsausgabe o.J., S. 349).
5.
An Hoffmanns Vorschläge, das „Wesen“ der Musik besser zu verstehen, sollte heute erinnert werden. Dabei spielt eine für die Musikphilosophie relevante Rezension eine große Rolle, die Hoffmann anläßlich der Aufführung von Beethovens 5. Sinfonie (1808) verfasst hatte. Die Instrumentalmusik wird von ihm besonders beachtet. Musik sei, „begriffs-, objekt- und zwecklos“, sie spreche „das Wesen der Kunst am besten und rein aus“. „Was sich in Worten nicht sagen lasse, das mache Musik zugänglich“…“Musik führt hinaus in das Reich des Unendlichen“ (zit.„Philosophie der Musik“, in: Enzyklopädie Philosophie Band II, Felix-Meiner-Verlag Hamburg, S. 1984). Oft wird dieses Wort Hoffmanns zitiert: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben“.

E.T.A. Hoffmann, der cor allem Komponist sein wollte, aber gerade als  Musiker nicht so hoch geschätzt wird wie als Schriftsteller.
6.
Es muss noch betont werden, dass E.T.A. Hoffmann anders als viele deutsche (katholische) Romantiker kein politischer Reaktionär war. Er war als Jurist, als Kammergerichtsrat in Berlin, unter den „liberal Gesinnten“ angesehen, er verteidigte die rechtsstattlichen Prinzipien gegenüber seinen Vorgesetzten, er litt unter den Disziplinarverfahren. Während der so genannten Demagogen-Verfolgungen nach 1817 gehörte er zu den Verteidigern der Reformen!
Wenn Hoffmann auch manchen seiner Zeitgenossen als skurril, zu phantastisch, zu sehr dem Wein ergeben erschien: Nicht nur als Dichter, nicht nur als Komponisten, auch politisch musste man ihn viel mehr lesen und ernst nehmen.
7.
Wer über die Grenzen des Verstandes nachdenkt, wenn er sich ins technische Handhaben einschließt, wer sich fragt, wohin das Transzendieren des Geistes führen kann, sollte E.T. A. Hoffmann lesen. Seine Phantasie ist überraschend und störend, sie zeigt unbekannte Seiten des geistigen Lebens, aber sie plädiert nicht für den Aberglauben. Seine literarischen Werke sind außergewöhnlich, manches ist Ausdruck einer seelischen „Übersensilibilität“ und Überspanntheit, sicher auch gefördert durch seinen sehr großzügigen Konsums von Wein etc. Er hat sich in seinem ganzen Werk “mit psychischen Phänomenen und psychopathologischen Problemen beschäftigt” (Fußnote 2). … “Sein Wissen über den Wahn präsentierte er  – darin folgte er einem Hauptgebot der Romantik – künsterlisch in Form von Erzählungen”. Mechanistische Erklärungen für wahnhafte Zustände lehnte er ab, zugunsten eines holistischen Zugangs zu den Problemen…

Der Dichter E.T.A. Hoffmann ist nicht ins Charismatische und Unverständliche einer unvernünftigen, „außer-logischen“ Sondersprache (Dada) „abgedriftet“, er hat vielmehr versucht, die unheimliche Tiefe des Daseins zu ergründen, als Widerstand gegen die Banalisierung der Wirklichkeit. Philosophen haben auch die Tiefe des Daseins zu ergründen gegen alle Normalisierung und Verflachung des Geistes. Aber ihre Rede bleibt eher nüchtern.

Fußnoten

(1) Rüdiger Görner, “Romantik. Ein europäisches Ereignis”, Reclam Verlag, 2021, 384 Seiten, dort S. 107).

(2) ders., S. 200 und 201.

(3) ders., S. 250.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Pfingsten – Fest der Philosophen? Ein Vorschlag von Hegel!

Ein Hinweis von Christian Modehn.
Dieser Beitrag wurde im Mai 2021 publiziert, aus aktuellem Anlass im Juni 2022 noch einmal.

1.
Der Beitrag versucht, Pfingsten, das Fest des Geistes, des heiligen, vernünftig zu erklären: Pfingsten ist nicht das Fest, das dem charismatischen Trallala von Charismatikern und Pfingstlern überlassen werden darf. Pfingsten ist ein Fest der absoluten Bedeutung und Würde eines jeden Menschen und deswegen auch ein Impuls, politisch Gerechtigkeit zu gestalten: Im Sinne der wesentlichen Gleichheit und Würde aller Menschen.

2.
Für den Philosophen Hegel (1770 – 1831) ist Pfingsten als Fest des Geistes von höchster Bedeutung. Pfingsten kann im philosophischen Sinn ein Tag des geistvollen Gesprächs sein, ein Tag der Debatte, der Feier (für Hegel niemals ohne Wein !) und der Reflexion darüber, wie eine geistvolle, also menschenwürdige Gesellschaft mit einem Rechtsstaat gestaltet werden kann. Pfingsten also: Ein Fest der Vernunft.

3.
Wer philosophisch nach der Bedeutung des Pfingst-Festes fragt, also jenes Feiertages der Erinnerung an die Gabe des „heiligen Geistes“ an die Gemeinde nach dem Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth gedenkt, der sollte sich auch an den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnern.
Er ist der Philosoph des Geistes: Seine Philosophie hat den Geist als ihr Thema und sonst eigentlich nichts, könnte man sagen. Diese Erfahrung der alles gründenden Bedeutung des Geistes könnte man auch „Voraussetzung“ des Denkens Hegels nennen. Dabei ist es selbstverständlich: Eine reflektierte und kritisch betrachtete Voraussetzung als Philosoph zu haben ist an und für sich jeder Philosophie eigen, auch für die „Materialisten“. Vielen Menschen ist, wie schon einige Jahre nach Hegels Tod, der Geist, auch das Erleben des eigenen Geistes, so fern und fremd, dass es einer neuen Anstrengung bedarf, sich auf die Geist-Philosophie einzulassen und sie als Hilfe zu sehen, das eigene Leben transparenter werden zu lassen.

4.
Um gleich den Kern der Hegelschen Geist – Philosophie anzudeuten: Die Philosophie hat im Hegelschen Selbstverständnis „keinen anderen Inhalt als die christliche Religion. Aber die Philosophie (Hegels) gibt (d.h. gestaltet C.M.) den christlichen Inhalt in der FORM DES DENKENS. Die Philosophie stellt sich so nur über die Form des Glaubens, der Inhalt ist derselbe“ (in: „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, II., Suhrkamp, S. 341).
Mit anderen Worten: In der Philosophie wird der christliche Glaube in die Klarheit und Systematik des Denkens und des Gedankens geführt, der Glaube wird in eine gedankliche, begriffliche Form verwandelt und so „aufgehoben“, also bewahrt und auf eine neue Ebene gehoben. Unter dieser Bedingung schaut Hegel die überlieferten Begriffe und Ereignisse der christlichen Religion an. Dabei wird der Begriff, das Denken, zum Kriterium in der „philosophischen Übersetzung“ christlicher Ereignisse: Hegel schreibt: „Das Denken ist der absolute Richter, vor dem der Inhalt (auch der Religionen) sich bewähren und beglaubigen soll“ (ebd., S. 341).

5.
In seiner „Philosophie der Religion“, in Berlin als Vorlesung mehrfach vorgetragen, spielt deswegen auch das philosophisch zu verstehende Pfingst–Ereignis eine zentrale Rolle. Hegel erörtert dieses Thema ausführlich im Kapitel „Die Idee im Element der Gemeinde: Das Reich des Geistes“, in dem es – theologisch formuliert – um die Wirklichkeit der Kirche, der Gemeinde, geht. Das heißt: Nach der unmittelbaren Erfahrung der historischen Gestalt Jesu ereignet sich also mit dem Pfingstfest der Übergang des Verstehens weg vom äußeren, historischen Ereignis hin zu einem „geistigen Element“, wie Hegel schreibt (ebd., S. 301). Indem das Neue Testament lehrt, der Geist sei „ausgegossen“ in die Gemeinde und letztlich über alle Menschen, übersetzt der Philosoph diese Erfahrung in die Worte: “Die Subjektivität erfasst nun ihren unendlichen Wert: Vor Gott sind alle Menschen gleich“: Damit werden auch politische Perspektiven der freien Gestaltung von Staat und Gesellschaft eröffnet, die Hegel ausführlich entwickelt. Die vernünftige Freiheit muss die Welt bestimmen, wahre Versöhnung, also „Erlösung“ im christlichen Sinne, „besteht in dem sittlichen und rechtlichen Staatsleben“ (S. 332).
Aber entscheidend bleibt: Pfingsten ist das Symbol dafür, dass Gott und Mensch, Gott und die Menschheit, sich nicht mehr als Fremde und Ferne entfremdet und unversöhnt gegenüberstehen. Pfingsten ist das Symbol für die innerste Einheit von Göttlichem und Menschlichen, von Gott und Welt. Dies allein könnte man sagen ist der Focus, auf den sich Hegels Philosophie ALS Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie konzentriert.

6.
Uns interessiert hier im Zusammenhang des Pfingstfestes Hegels deutlicher Hinweis auf die in den Menschen „gegenwärtige Göttlichkeit“ (durch den Heiligen Geist) (S. 305). In der Gemeinde (Kirche) sammeln sich diese nun mit dem göttlichen Geist beschenkten Menschen.
Man muss als philosophischer Leser den anspruchsvollen philosophischen Aussagen tatsächlich standhalten, etwa wenn Hegel sagt: „Dies ist der Glaube der Gemeinde: Der einzelne Mensch wird gewusst als Gott und (d.h. präziser, CM) mit der Bestimmung, dass er der Sohn Gottes sei, mit all dem Endlichen befasst, das der Subjektivität als solcher in ihrer Entwicklung angehört“ (S. 312). Der Mensch ist als endlicher Mensch zugleich Sohn Gottes, ein gewaltiger Anspruch, der schon im Neuen Testament grundgelegt ist. Und den Hegel nur philosophisch reflektiert.

7.
Im Gedenken an Pfingsten wird der Mensch, jeder Mensch, zu einem mit Gott verbundenen Wesen erhoben. So ist, wie Hegel schreibt, „die Versöhnung an und für sich vollbracht“ (S. 318). Gott und Mensch sind nicht länger Fremdes. Sie sind – in gewisser Hinsicht – eins.

8.
Aber Versöhnung ist für Hegel stets praktisch-politisch, es geht entschieden um die Gestaltung der Freiheit in der Welt (Staat, Gesellschaft). Pfingsten ist insofern ein politisches Fest der Freiheit. Dabei traut Hegel diese Leistung, den Rechtsstaat mit zu gestalten, ausschließlich der protestantischen Religion zu. Der römische Katholizismus ist für ihn nach wie vor zu stark in der mittelalterlichen Welt befangen und in seinem Glauben zu veräußerlicht (Wunderglauben, Reliquien…) und als klerikale Organisation auch korrupt. Das heißt nicht, dass Hegel nicht auch die Engstirnigkeit des zeitgenössischen Protestantismus kritisiert hätte oder gar am Katholizismus wichtige erfreuliche Elemente gesehen hätte, wie etwa eine gewisse Vorliebe fürs philosophische Denken im Mittelalter. Zu Hegel und der Katholizismus: LINK .

9.
Trotz der Erkenntnis, dass „an sich“ die Versöhnung, also die innere Einheit von Gott und Mensch, geschehen ist, bleibt doch die Tatsache: Dass in der weltlichen, der politischen Wirklichkeit (auch zur Zeit der Vorlesungen Hegels in Berlin) noch Verwirrung, Zwiespalt und Entfremdung fortbestehen. „Diese Versöhnung ist selbst nur eine partielle, ohne äußere Allgemeinheit“ (S. 343, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II.). Dies muss Hegel am Ende seiner Vorlesungen mit Melancholie, wenn nicht Hilflosigkeit eingestehen. Mit anderen Worten: Der Geist von Pfingsten als Geist der Versöhnung und Freiheit muss sich noch umfassend durchsetzen und greifbare, soziale Gestalt werden!

10.
Uns interessiert noch ein Aspekt, der bisher in der Hegel-Forschung nicht so starke Berücksichtigung findet: Die eher versteckt, implizit anwesende mystische Dimension seines Denkens. 1830 sagte Hegel in einer Rede anlässlich der „Erinnerung an die Augsburgische Konfession von 1530“: „Gott wollte den Menschen zu seinem Ebenbild und seinen Geist, der ein Funke des ewiges Lichts ist, diesem (göttlichen) Licht zugänglich machen“. (S. 33, in den „Berliner Schriften“, Ausgabe Meiner, S 33).
Der menschliche Geist als „Funke des ewigen Lichtes“: Diese Formulierung erinnert an den mittelalterlichen Philosophen und „Mystiker“ Meister Eckhart, für den sich die geistige Verbindung des Menschen mit Gott in dem Begriff “göttlicher Funke“ ausdrückt. In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ erwähnt Hegel Meister Eckart ausdrücklich als Vorbild im Verstehen der christlichen Religion als einer Lehre, die die Einheit von Göttlichem und Menschlichen entfaltet. Diese Einheit ist „das Innerste“ des Christentums. „Meister Eckart, ein Dominikanermönch, sagt unter anderem in einer seiner Predigten über dies Innerste: Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe…“ (S. 209). Und Hegel legt allen Wert darauf zu betonen, dass diese Einheit von Gott und Mensch alles andere als „Pantheismus“ sei.
 In seinen Vorlesungen zur „Geschichte der Philosophie“ bietet Hegel nach der Darstellung der in seiner Sicht oberflächlichen und verstandesmäßig abstrakt argumentierenden mittelalterlichen Scholastik auch ein knappes Kapitel zur „Mystik“ (in der Suhrkamp Werkausgabe II, S. 583 ff.) Dabei nennt er Meister Eckart nicht, hingegen z.B. ausführlicher Raimundus Lullus. Im Unterschied zur Scholastik sieht Hegel in den Mystikern „edle Männer, die der scholastischen Sucht nach Verendlichung aller Begriffe „gegenüberstanden“ (S. 583). Er nennt Mystiker „fromme, geistreiche Männer“, die „echtes Philosophieren betrieben haben”.
Dieser „göttliche Funke“ führt, so Hegel in seinem Vortrag im Jahr 1830, nicht nur in eine höhere Erkenntnis, sondern vor allem in die Liebe zu Gott.
Die mystische Erfahrung bleibt für Hegel immer bedenkenswert.

11.
Eine Zusammenfassung: Hegel hat also zu Pfingsten einen vernünftigen Vorschlag zu unterbreiten: „Pfingsten ist das Fest der Anwesenheit des Göttlichen, des Ewigen, modern formuliert: der tragenden Sinnerfahrung, in jedem Menschen“. Pfingsten ist das Fest des Ewigen, anwesend in einem jeden. Das Ewige als das Göttliche überdauert das Endliche, auch der Geist des endlichen Menschen hat dadurch „ewige Dauer“.
 Aber diese geisterfüllte Lebensform muss der Mensch sich „erarbeiten“: „Ich soll mich dem gemäß machen, dass der Geist in mir wohne, das ich geistig sei. Die ist meine, die menschliche Arbeit. Dieselbe ist Gottes von seiner Seite. Er bewegt sich zu dem Menschen und ist in ihm durch Aufhebung des Menschen. Was als mein Tun erscheint, ist alsdann Gottes Tun. Und ebenso auch umgekehrt“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, I, Suhrkamp Verlag, S. 219).

12.
Nebenbei: Es ist bemerkenswert, dass Voltaire, wahrlich alles andere als ein Verteidiger der alten kirchlichen Dogmatik, in seinem „Philosophisches Wörterbuch“ (1764) schreibt: „Möglicherweise gibt es in uns etwas UNZERSTÖRBARES, das empfindet und denkt, ohne dass wir die geringste Vorstellung davon haben, wie dieses Etwas beschaffen ist“ (Reclam, Leipzig, 1967, S. 82). Hegel hat diese Vorstellung erklärt und auf den begriff gebracht“.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ein „Legionär Christi“ wird Kardinal.

Der Orden der Skandale, der Orden mit einem „zutiefst unmoralischen“ Ordensgründer, wird offiziell rehabilitiert und von Papst Franziskus belohnt.

Ein Hinweis von Christian Modehn.    Es gibt in diesen Kriegszeiten gewiss sehr viel dringendere Themen als schon wieder dieses leidige Thema “Legionäre Christi”.  Aber Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist als Religionskritik auch verpflichtet, problematische Entwicklungen in den Kirchen wahrzunehmen und darzustellen. Dazu gehören auch Entwicklungen, die sich hinter einer üblichen Kardinalsernennung verbergen. In der Form von Kardinalserennungen zeigt der Papst, zeigen die Päpste, immer ihre Allmacht: Sie können in absoluter Eigenmächtigkeit Kleriker zu Kardinälen ernennen, die später einmal den Pontifex MAXIMUS wählen, also den allerhöchsten und unfehlbaren Pontifex, den ersten aller Bischöfe.

1.
Der katholische Orden „Legionäre Christi“ und die von ihm geleitete Bewegung von Laien „Regnum Christi“ wurde begründet und Jahrzehnte lang geleitet von einem Priester, der in der kritischen Presse als „Verbrecher“ bezeichnet wird. Sein Name ist Marcial Maciel (1920-2008). Seine Untaten sind kaum aufzuzählen: Er war als pädosexueller Verbrecher zugleich auch ein Erbschleicher bei seinen sehr wohlhabenden Freundinnen. Der Ordengründer Maciel hat, so sagt der Orden jetzt selbst, mindestens 60 Kinder und Jugendliche mißbraucht, sogar seinen eigenen Sohn. Er hat aus seinem Orden ein mächtiges Finanzimperium gemacht, in dem er als „Generaldirektor“ (so der offizielle Titel in diesem Orden) schaltete und waltete wie ein Diktator. Er war nachgewiesen ein Freund von Papst Johannes Paul II. Denn er hatte die entscheidende Tugend: Nach außen treu und absolut die dogmatische Welt des Vatikans verteidigen. Diese Tatsachen sind bekannt und sie wurden, seit 2009 vom Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin, dokumentiert und kommentiert. LINK.

2.
Jetzt ist dieser Orden, der seinen verbrecherischen Gründer namentlich in der Öffentlichkeit nicht mehr nennt, rehabilitiert. Ihm werden jetzt sozusagen höchste Weihen verliehen: Papst Franziskus hat entschieden, den führenden Verwaltungschef des Staates „Vatikan-Stadt“, den 77 jährigen spanischen Legionär Christi, Bischof Fernando Vérgez Alzaga, zum Kardinal zu ernennen. Durch eine solche höchste Erhebung eines Mitglieds der Legionäre Christi wird der Orden selbst öffentlich geehrt, er kann sozusagen als normal, als respektiert gelten: Die Verbrechen des Gründers werden förmlich zugedeckt und ins allgemeine Vergessen geschoben. Vergez Alzaga ist ein der Verwaltung des Staates Vatikan schon seit vielen Jahren (seit 1972) dienender Technokrat und Finanzfachmann. Solche Leute brauchte Papst Franziskus, er hat den Legionär schon im August 2013 (als die Verbrechen des Ordensgründers noch weltweit dokumentiert wurden) zum Generalsekretär des „Governatorats der Vatikanstadt“ ernannt und somit zum stellvertretenden Regierungschef des Vatikanstaates.

3.
Vielleicht wird also in absehbarer Zeit ein Mitglied dieses hoch belasteten Orden sogar Papst? Prinzipell wäre das möglich. Dann würde die ganze Kirche, auch der Vatikan, vielleicht noch reicher und wohlhabender…Die Ernennung eines Legionärs Christi jetzt (Mai 2022) zum Kardinal ist ein weiterer Hinweis auf die theologische Unentschlossenheit und Unausgeglichenheit von Papst Franziskus. Er kann nicht oder er will nicht konsequent einen Kurs der Kirchenreform steuern und dabei etwa auch einen Orden, wie die Legionäre Christi mit ihrem verbrecherischen Gründer Pater Marcial Maciel “rechts liegen und einschlafen lassen”. Eigentlich hätte dieser Orden schon 2005 aufgelöst werden müssen, sagten viele mißbrauchte Ex-Legionäre Christi damals, aber … die Legionäre Christi hatten (und haben) im Vatikan zu viele Freunde. Nebenbei: Nach den Pädophilen-Skandal im Orden der Schulpriester (Piaristen),  wurde diese Gemeinschaft,kurz nach der Gründung,  für einige Zeit aufgelöst. LINK.

4.
Die Ernennung eines Legionärs zum Kardinal ist, milde gesagt, ein heftiger Einschnitt, manche Beobachter nennen diese Ernennung einen Skandal.
Ist erst mal ein Legionär Christi ein Kardinal, dann genießt der Orden wieder eine Reputation. Er ist förmlich “normalisiert”. Dann können die vielen jungen konservativen Legionäre in die Bistümer (warum nicht auch Deutschlands?) strömen und hier ihre konservative Theologie verbreiten, die letztlich darauf hinausläuft: Mehr Mitglieder für den Orden zu finden und neue Geldquellen für den Orden ausfindig zu machen … sagen einige kritische Beobachter.

5.
Und der Papst ignoriert auch zentrale Entwicklungen der politischen Gegenwart: Angesichts des Krieges Putins gegen die Ukraine wäre die Ernennung eines der vielen katholischen Bischöfe der Ukraine zum Kardinal ein Zeichen gewesen, auch gegen den Kriegs-Verbrecher Putin. Aber nein, Papst Franziskus ernennt, prinzipiell sehr originell und sehr löblich, den Apostolischen Vikar (so der bescheidene Titel, er ist kein „Bischof“) ausgerechnet der Mongolei zum Kardinal. In der Mongolei leben ca. 1.300 (eintausenddreihundert) Katholiken. Die Mongolei ist “nur” 5.300 km von der Ukraine entfernt, so können sich die verzweifelten Menschen in der Ukraine ein bißchen mit-freuen … über den Kardinal im mongolischen Ulan Bator.

Weitere Informationen über die Legionäre Christi und ihren kriminellen Ordensgründer und Freund des heiligen Papstes Johannes Paul II, Pater Marcial Maciel: Siehe LINK:

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Vatican news schreibt am 29.Mai 2022:
Fernando Vérgez Alzaga L.C.: Der Legionär Christi wurde am 1. März 1945 in Salamanca (Spanien) geboren. Er war bereits seit 1972 in verschiedenen Funktionen an der Kurie tätig, darunter Büroleiter an der vatikanischen Güterverwaltung und Telekommunikations-Chef des Vatikans. Seit 2013 war er zunächst Sekretär des vatikanischen Governatorates, also der Behörde, die für die Verwaltung des Vatikanstaats verantwortlich ist. Im Oktober 2021 wurde er dann Nachfolger von Kardinal Giuseppe Bertello an der Spitze des Governatorates.