Buddhismus und Christentum: Was beide Religionen miteinander verbindet. Ein neues Buch von Perry Schmidt-Leukel.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Bestimmte populäre Klischeevorstellungen (auch „Generalisierungen“ genannt) über das angebliche „Wesen“ „der“ Religionen haben sich leider durchgesetzt: Zum Beispiel: „Der“ Buddhismus sei eigentliche eine atheistische Weltanschauung, die „Erlösung des Menschen“ werde für Buddhisten in einem „Nichts“ enden. Hingegen sei das Christentum gebunden an den „personalen“ Gott, der als Heil und Erlösung ein Leben im Himmel verspricht.

2.
Gegen diese Klischee-Vorstellungen hat der Religionswissenschaftler Prof. Perry Schmidt-Leukel (Universität Münster) vielfach schon wichtige Publikationen vorgelegt. Sein neues Buch hat den Titel „Das himmlische Geflecht“, ein vielleicht auch leicht ironisch zu verstehender Titel, der andeuten soll: Wenn man den Blick in die himmlische, göttliche und alles gründende Sphäre lenkt, dann sind die verschiedenen Religionen viel stärker miteinander verbunden, als man populär annimmt. Darum der Untertitel: „Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. In dem Buch geht es um überraschende, durchaus der Sache angemessen anspruchsvolle Überlegungen, die vom Leser hohe Konzentration erfordern.

3.
„Anders“ ist dieser Religionsvergleich, weil er die innere Pluralität der jeweiligen Religionen stark herausstellt. Und dabei entdeckt: Zwischen einzelnen Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und einzelnen Lehren bestimmter christlicher Traditionen besteht (trotz der kulturell und sprachlich bedingten Distanz) doch eine Nähe, eine überraschende Verbundenheit, wenn nicht Gleichheit der Überzeugungen! Dabei ist dem Autor klar: Traditionell bestimmte und begrenzte Interpretationen der jeweiligen Religion können auch zur Einsicht „unversöhnlicher Gegensätze“ führen. Aber Schmidt-Leukel ist es wichtiger, Komplementaritäten in den lehrmäßigen Überzeugungen beider Religionen herauszuarbeiten!

4.
Das neue Buch Schmidt-Leukels ist also ein neuer Vergleich zwischen Christentum und Buddhismus, der sich allerdings auf die objektiv greifbare Ebene der Lehren und Schriften begrenzt. Und da präsentiert der Autor eine große Fülle und Vielfalt. Es geht ihm also nicht um den von konkreten Menschen gelebten Glauben, der sich als je eigener Glaube oft als eine sehr persönliche „Synthese“ von Christentum und Buddhismus versteht. Also etwa: „Ich bin katholisch und gleichzeitig Zen-Buddhist“. Diese religiöse bzw. spirituelle „Doppel-Identität“ (ein „persönliches Oszillieren zwischen den Unterschieden“, S. 355) ist eines der seit langem schon diskutierten Themen Schmidt-Leukels.

5.
Das Buch zeigt also ausführlich: „Es steckt immer irgendein Stück Christentum im Buddhismus und irgendein Stück Buddhismus im Christentum“ (S. 350).

6.
Diese Forschungslinie nennt Schmidt-Leukel mit einem eher ungewöhnlichen, schwierigen, aus der Mathematik stammenden Begriff „fraktal“. Aber die mit diesem schwierigen Begriff gemeinte Sache erschließt sich auch, wenn man sich nicht auf den Begriff fixiert und die einführenden, sehr anspruchsvollen methodischen oder „Meta“-Überlegungen (S. 18-89) den Spezialisten erst mal überlässt.

7.
Es bleibt also interessant, wie diese Linie (siehe Nr. 5) an sechs zentralen Lehren beider Religionen konkretisiert wird, also: „Weltflucht oder Weltzuwendung?“, „Impersonales Absolutem oder personaler Gott?“, „Verblendung oder Sünde?“, „Erwachter Lehrer oder inkarnierter Gottessohn?“, Selbsterlösung oder Fremderlösung?, „Glückseliges Entwerden oder glückselige Gemeinschaft?“.

8.
Nur auf eines dieser Kapitel soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden: Gibt es Gemeinsamkeiten in der buddhistischen Lehre von Buddha als dem erwachten Lehrer und der christlichen Überzeugung von Jesus als dem inkarnierten Gottessohn?
Schmidt-Leukel weiß: Bisher wurde zwischen dieser genannten populären Deutung Buddhas und Jesus Christus „ein Gegensatz“ (S. 225) gesehen. Der manchmal noch gelesene katholische Theologe Romano Guardini habe in seinem Werk „Der Herr“ (veröffentlicht in der Nazi-Zeit 1937) ein gewisses Verständnis für Buddha gehabt, erläutert Schmidt-Leukel. Aber, so Guardini, Buddhas „Wert“ stehe doch hinter Christus zurück. Buddha sei bestenfalls wie Johannes der Täufer als ein Vorläufer Christi zu verstehen (S. 227). Schmidt-Leukel zeigt hingegen, dass Gautama (der Buddha) häufig als Lehrer, großer Lehrer bezeichnet wird und dabei eine „autoritative Verkündigung der Wahrheit“ (S. 237) gelebt hat, wie in einem Akt der Offenbarung“ (ebd.). Jesus wird in den vier Evangelien „41 mal Lehrer genannt wird, kein anderer Titel wird ihm häufiger beigelegt, Jesus ist der Lehrer der Wahrheit (S. 235). Wenn beide, der Buddha und Jesus, also Lehrer sind und als Lehrer verehrt werden, ist Jesus Christus dann noch einmalig, wie Christen oft behaupten? Man muss wohl die sehr deutliche Aussage des großen Zen-Meisters Thich Nat Hanh respektieren: Er sagte: „Natürlich ist Christus einmalig, aber wer ist nicht einmalig? Sokrates, Mohammed, der Buddha, Sie und ich, wir alle sind einmalig“ (S. 245)

9.
Das neue Buch Schmidt-Leukels „Das himmlische Geflecht“ bietet ausführlich neue Erkenntnisse für ein neues Verständnis des Miteinanders von Buddhismus und Christentum. Schmidt-Leukel befreit also von dem Eindruck, beide Religionen würden sich fremd oder gar feindlich oder als Konkurrenten gegenüberstehen.
Beide Religionen stehen einander nahe, sie sind viel ähnlicher als oft angenommen, sie haben eine interne Vielfalt, bei der sich gerade die beiden Religionen gemeinsamen Lehren zeigen. Eine solche Religions-Theologie kann auch politische Wirkungen haben und eher das friedliche Miteinander fördern.

10.
Die Verbundenheit von Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und bestimmter christlicher Traditionen ließe sich auch auf andere Religionen ausweiten, etwa auf den Islam oder bestimmte Formen des Hinduismus. Und wie sieht es im Verhältnis der vielen christlichen Kirchen untereinander aus? Da ist es längst erwiesen, dass ein so genannter Reform-Katholik (des „synodalen Weges“) einem progressiven Lutheraner oder Reformierten näher steht als etwa einem Katholiken des Opus Dei oder der Legionäre Christi. Und ein liberal-theologischer Remonstrant kann einem Humanisten oder einem Unitarier (Anti-Trinitarier) näher stehen als einem „rechtgläubigen“ Calvinisten.
Aber da spielen dann doch normative Kategorien eine Rolle: Bisher ist offensichtlich niemand auf den Gedanken kommen, etwa gemeinsame Glaubensinhalte etwa zwischen den Zeugen Jehovas und den Pfingstgemeinden oder dem Katholizismus herauszuarbeiten? Oder gemeinsame Glaubensinhalte von Mormonen und Anglikanern? Offenbar haben im allgemeinen religionswissenschaftlichen und theologischen Bewusstsein etwa die „Zeugen Jehovas“ oder die „Mormonen“ a priori gar nicht den „Wert“, in einen interreligiösen Vergleich gezogen zu werden. Ist dieses Urteil gerecht, spielen da die Definitionen von „Sekte“ eine Rolle? Aber können nicht auch Teile, oft maßgebliche Teile einer Großkirche eine „Sekte“ sein? Ist etwa das Selbstverständnis des Papstes und des vatikanischen Klerus (auch in der totalen Ablehnung des Priestertums für Frauen) nicht auch Ausdruck einer Sekten-Mentalität? Aber dieses Faktum wird im Interreligiöser Disput nicht benannt. Warum? Weil eben die Institution römische Kirche oder auch orthodoxe Kirche so alt ist und als so „ehrwürdig“ propagiert wird. Da kann nichts von einer Sekte sein…

11.
Noch einmal zu den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten im Buddhismus und Christentum. Man müsste philosophisch nach dem einen gemeinsamen Geist der Menschen fragen, der über alle verschiedenen Kulturen und Sprachen hinaus sich im Laufe der Geschichte Ausdruck schafft in verschiedenen Religionen und religiösen Lehren. Wenn das so ist: Dann stehen die sich aufgrund des „letztlich“ einen schöpferischen Geistes sehr nahe, trotz aller sprachlichen Differenzen und zeitlichen „Abstände“.

12.
Die vielen Religionen als Ausdruck des EINEN, allen Menschen gemeinsamen Geistes zu verstehen, war die Leistung Hegels. An ihn wäre in dem Zusammenhang zu erinnern. Und Hegels Thema, dass es einen gedanklichen Fortschritt in der Geschichte der (Lehren der) Religionen gibt, wäre neu zu stellen. Fortschritt war ja für Hegel immer ein Fortschritt im Bewusstsein (!), also im Wissen, der Freiheit. Er meinte, es gebe auch in der Religionsgeschichte (des einen Geistes) einen Fortschritt hinsichtlich des Erkennens und Wissens der göttlichen Wirklichkeit.
Kriterium war für ihn: Stiftet und fördert eine Religion die Freiheit und Würde des religiösen Menschen? Ich halte dieses Kriterium der Unterscheidung in der pluralen religiösen Welt für sehr wichtig. Falls nicht, dann möchte man auf jede Religionskritik verzichten. Das aber wäre eine Form einer post-modernen Religionstheorie, einer Theorie, für die alle Religionen gleich gut, gleich hübsch, gleich human sind. Dass dies faktisch nicht der Fall ist, dürfte klar sein. Wer also faktische Religionen kritisiert, verurteilt sie nicht, will sie nicht bekämpfen. Er will nur für ein differenziertes Denken sorgen. Und hoffentlich für die ständige Reform, „Weiter-Entwiocklung“ dieser Religionen.
Dies sind Fragen, die sich mir nach der Lektüre des sehr empfehlenswerten, höchst anspruchsvollen Buches von Perry Schmidt-Leukel ergeben.

Perry Schmidt-Leukel, „Das himmlische Geflecht. Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. Gütersloher Verlagshaus, 2022, 415 Seiten, viele Literaturangaben auch zu vielen lesenswerten Arbeiten des Autors, ein Personenregister, 26 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Warum noch Mitglied der römisch-katholischen Kirche in Deutschland bleiben?

Hinweis auf eine „ewige“ Diskussion.
Von Christian Modehn.

1.
Über diese Frage wird auch außerhalb der Kirche heftig diskutiert: Warum noch als Katholik(in) in Deutschland Mitglied der römisch-katholischen Kirche bleiben? Und diese Frage ist hoch aktuell: Es geht darum zu erkennen, was eine sich fest strukturiert gebende globale Welt – Instuitution, die Römisch-katholische Kirche, noch im 21. Jahrhundert sein kann. Denn in vielerlei Hinsicht wird jetzt deutlich, dass kulturelle, also auch religiöse Gemeinschaften,  lebendig bleiben, wenn sie regional auf ihre eigene Art leben. Aber doch mit vielen anderen, ebenfalls regional je verschieden agierenden Organsiationen, Kirche etc., verbunden sind.

2.
Die Antworten, zumal der Hierarchen, der Bischöfe und Erzbischöfe, bedienen sich immer derselben Sprüche: Man sollte Mitglied der römischen Kirche bleiben, weil diese doch so beeindruckend universal sei mit ihren 1,2 Milliarden Mitgliedern. Vor allem wird der Begriff Einheit beschworen: Diese 1,2 Milliarden Katholiken seien unter dem Papst „EINS“. Was für eine gewagte Behauptung! Wer hat überprüft, ob der katholische Bewohner amazonischer Wälder in identischer Weise wie der katholische Börsenspekulant in New York oder der Schwule in Frankfurt an den Gott der Trinität glaubt oder an Jesu „Erlösung für uns durch seinen Kreuzestod“?
Die Erkenntnis also lautet: Diese These von der Einheit der römischen Kirche ist eine Ideologie, die den theologischen Status Quo Alas Herrschaft des Klerus stützen soll.

3.
Seit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (das war 1965, also vor 57 Jahren) werden von „Reformkatholiken“ immer in allen denkbaren Variationen dieselben Argumente vorgebracht: Gegen den Zölibat, für mehr Toleranz und Pluralität, für mehr Gleichberechtigung von Frauen und Schwulen, mehr ökumenische Zusammenarbeit und so weiter und so weiter. Alle diese Forderungen blieben bislang erfolglos. Aber das macht den „Reformkatholiken“ nichts aus, sie haben ewige Ausdauer und pflegen ihre ekklesiale Leidensbereitschaft, populär Masochismus genannt.
Das beste und in gewisser Weise (karrieremäßig, finanziell etc.) erfolgreichste Beispiel ist Hans Küng, der als von Rom diskreditierter katholischer Theologie-Professor nach dem „Rauswurf“ (1979) aus der katholisch-theologischen Fakultät der Uni Tübingen mit Trotz stets fürs Verbleiben in der römischen Kirche plädiert hat. Und stets (illusorische) Hoffnung auf Reformen an der katholischen Basis weckte. Und dabei wurde Küng sehr bekannt …

4.
Pater Klaus Mertes SJ wird anläßlich des Stuttgarter Katholikentages in einem längeren Interview mit der TAZ vom 25./26.Mai 2022 S. 4 f. gefragt, ob die katholische Kirche (in Deutschland, aber auch weltweit) vor einer neuen Reformation stehe. Mertes antwortet: „Wir befinden uns in der Tat in einer Zeit, die mit der Reformation vergleichbar ist. Wenn Rom sich in all diesen Sachen (gemeint sind also die Reformvorschläge des „Synodalen Weges“ etc. CM) nicht bewegt, dann wird es explodieren“.

5.
Ein erstaunliches Wort: „Dann wird es explodieren“. Wer oder was explodiert denn, es wird leider voin den Journalisten der TAZ nicht nachgefragt! Offenbar ist die katholische Kirche als Institution gemeint, vor allem der Vatikan, den Mertes vorher „hermetische Loyalitätskartelle“ nennt (S. 5). Er meint also die Allmacht des Klerus. Und dann wird „es“ „explodieren“. Was meint das Wort explodieren? Offenbar eine Reformation, die den Namen verdient, keine Reförmchen, sondern eine Reformation, die bekanntlich als Reformationsbewegung seit dem 13. Jahrhundert (Petrus Waldes, Hus, Luther, Calvin, Arminius etc.) immer eine Abspaltung von der römisch-katholischen Institution war. Nur Franz von Assisi hat sich dem Papst gebeugt! Also, dies sagt der Jesuitenpater Mertes, eine Explosion könne bevorstehen.

6.
Aber dann folgt nach dieser objektiv treffenden und richtigen Analyse: Die angstvolle Einschränkung und die Zurücknahme der „Explosion/Reformation“ durch Mertes. Er sagt: „Die Einheit der Kirche auch in ihrer institutionellen Form ist ein hohes Gut, weil die katholische Kirche nur so eine globale wirkende Institution ist, die wie kaum eine andere wirklich fähig ist, globale Themen zu setzen“ (S.5).
Kurzum: Man sollte, bitte schön, Katholik in Deutschland bleiben und bitte weiterhin leiden an der Kirche, aus dem einen Grund: Damit die universale Organisation römische Kirche weiterhin wirksam bleiben könne.

7.
In dieser Aussage ist einiges problematisch: Warum sollen Katholiken in Deutschland, wenn sie seit Jahrzehnten zutiefst unzufrieden sind mit der Kirche, nicht von ihrem Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit Gebrauch machen? Also auch von ihrer demokratischen Freiheit, aus dieser Kirche auszutreten und möglicherweise einer anderen, etwa einer protestantischen Kirche beizutreten? Und eine „Freie katholische Kirche in Deutschland“ (FKD) aufbauen?

8.
Es wirkt schon sehr ideologisch gefärbt, zu empfehlen: Unzufriedene Katholiken sollten in dieser Kirche ausharren, bloß damit die global wirkende Institution als solche im Glanz der 1,2 Milliarden Mitglieder erhalten bleibt, natürlich auch mit dem stets reich fließenden Geld aus Deutschland.

9.
Die entscheidende Frage lautet: Wo hat denn der Vatikan globale Themen gesetzt, wie Pater Mertes behauptet? Waren die Reden der Päpste bei der UNO oder die Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag so fantastisch, so politisch wirksam? Doch wohl nicht. Ist die aktuelle Russland Politik von Papst Franziskus etwa ein Glanzstück, der sich viele Wochen lang als Putin – Versteher zeigte, offenbar um so die katholische Kirche in Russland zu schützen. Genannt wird von Pater Mertes die Enzyklika „Laudatio si“ von Papst Franziskus SJ, mit der sich, so Mertes, angeblich 1,2 Milliarden Katholiken auseinandersetzen. Woher weiß das der Pater? Wie viele Kirchengemeinden haben denn, bitte nachweislich, im Sinne des Papstes Ökologie oder Friedenserziehung zum Schwerpunkt gemacht … anstelle den Römsichen Katechismus zu studieren (wie etwa die neokatechumenal geprägte Gemeinde St. Matthias in Berlin-Schöneberg)?

Mir ist bekannt, dass diese Enzyklika “Laudato si” von vielen Kennern heftig kritisiert wurde. Wo sind denn diese Ideen dieser Enzyklika von katholischen Politikern etwa in Lateinamerika real „umgesetzt“ worden, etwa von Bolsonaro oder katholischen Gewaltherrschern in Afrika oder auf den Philippinen? Ich habe den Eindruck, man erzählt ideologisch Gemachtes, um die Katholiken „bei der Stange zu halten“. Denn auch das ist Tatsache: „Global agieren“ können immer katholische Hilfswerke oder katholische Ordensgemeinschaften (etwa der wichtige „Jesuiten Flüchtlingsdienst“). Diese katholischen NGOs werden vielleicht sogar finanzielle (und personelle) Unterstützung von EX-Katholiken erhalten, weil deren humane Arbeit als wertvoll und hilfreich erlebt wird.

10.
Was wäre also so furchtbar, wenn sich wirklich eine Reformation (eine EXPLOSION, wie Mertes sgat) ereignete? Wenn sich also eine „Freie katholische Kirche in Deutschland“ (FKD) bilden würde, bestimmt von den bekannten und tausendmal besprochenen Impulsen der katholischen Reformation? Wie viele römisch-katholische Bischöfe würden auf ihre bisherigen Privilegien verzichten und sich der FKD anschließen?

Die Mitglieder hätten jedenfalls alle Freiheit, ihren Glauben auf ihre Weise nun endlich einmal frei und demokratisch zu leben. Sie hätten mehr Zeit für reife menschliche Gemeinschaft, für Spiritualität, sie könnten sich von dem ewigen katholischen Dauerthema: „Das masochistische Leiden der Katholiken wegen der Hierarchen“ befreien.
„Katholisch sein“ wäre dann etwas anderes als das ewige römisch-katholische „Sich ärgern und zornig werden über die Zustände dieser klerikalen Kirche“. Das könnte römische Katholiken weltweit inspirieren als Vorbild!

11.
Wie viele KatholikInnen in Deutschland denn tatsächlich dieser reformierten, der Freien  katholischen Kirche in Deutschland beitreten würden, ist natürlich unklar. Ich vermute, es würden nicht gerade viele Millionen sein! Denn die Angst vor einem Bruch mit der lange internalisierten „Mutter Kirche“ ist zu groß. Manche sagen doich immer noch allen Ernstes: Ich liebe diese Kirche! Man soll Gott und den Nächsten lieben, nicht aber eine weltliche Institution, eine Kirche. Solange die römisch – katholische Kirche sich immer noch als Gründung des lieben Gottes versteht, ist “nichts Vernünfrtiges zu machen”, um es mal populär auszudrücken.

Und die Festangestellten bleiben sowieso lieber an den immer noch voll gefüllten „Fleischtöpfen Ägyptens“ hängen (wegen der Kirchensteuer) als sich auf Neues einzulassen. Weil man Katholischsein mit Jammern identifiziert hat, fühlt man sich halt beim Jammern ad aeternum recht wohl. Eine Jammer-Gemeinschaft also wird wohl fortbestehen….
Noch einmal: Die Idee der behaupteten dogmatischen Einheit der Kirche unter der Herrschaft des Klerus und des Papstes ist durch diese Jahrhunderte alte Indoktrination ein so absolut hohes Gut, dass nur wenige Katholiken diese Einheitsideologie überwinden können. Pluralität wird immer als Zerstrittenheit, nicht als Chance gesehen. Man spricht in Rom und anderswo von Protestantisierung … als Schimpfwort….

12.
Dieser Beitrag ist bewusst etwas zugespitzt. Er hat nicht zum Thema gemacht, dass der Hauptgrund für die ständig zunehmende Distanz so vieler tausend gebildeter Katholiken von der römischen Kirche in Westeuropa einen theologischen Grund hat: Es ist die, pauschal gesagt, völlig veraltete fixierte Dogmatik (aus dem 4. Jahrhundert, Schwerpunkt Trinität, Erbsünde, Hierarchie) und die Fixierung auf neo-platonische – bzw. kleinbürgerliche Moral. Auch die antiquierte Sprache der ewig in gleicher Form zelebrierten Messfeier ist – schon aus sprachlichen Gründen – ein Skandal. Die Messfeier gilt für die Hierarchen nur deswegen als der „absolute“ Höhepunkt des Glaubens, weil eben nur die zölibatären Priester diese Messe feiern dürfen! Man ahnt, wie aus Theologie eine Ideologie des Machterhalts der Hierarchie wurde. Aber wird dieses Thema besprochen von den Theologen an den theologischen Fakultäten? Nein, davor hat man Angst! Denn letztlich sind katholische Theologen ,selbst an staatlichen theologischen Fakultäten, noch immer von den Herren Bischöfen (und via Nuntius auch von Rom) abhängig! Wer nicht spurt, bekommt Probleme, wird entlassen…

13.

Das Thema dieses Hinweises ist hoch aktuell: Es geht darum zu erkennen, was eine sich fest-strukturiert gebende globale Welt-Instuitution, die Römisch-katholische Kirche, noch im 21. Jahrhundert sein kann. Denn in vielerlei Hinsicht wird jetzt deutlich, dass kulturelle, also auch religiöse Gemeinschaften, nur dann lebendig und kreativ bleiben, wenn sie regional auf ihre eigene Art leben können. Aber doch mit vielen anderen, ebenfalls regional je verschieden agierenden Organsiationen, Kirchen etc., verbunden sind.

Eine Glaubensgemeinschaft, die universal für alle Menschen dieses Globus den einen und selben dogmatischen Glauben und die dogmatische Ethik, sprachlich fixiert, in Begriffen des 4. Jahrhunderts oder des Mittelalters vorschreibt, kann faktisch keine Zukunft haben.

Ein solches Weltkonstrukt mit einem jetzt 86 Jahre alten Chef (Papst genannt) für 1,2 Milliarden Katholiken, kann nicht mehr gut leben. Und es hat wohl nie konstruktiv – hilfreich funktioniert. Die Inquisition ist nur eines von vielen Beispielen für das frühe Scheitern dieses Herrschaftssystems. Eine Kirche mit einer Regierung, ausschließlich von (alten) Männern, und dann noch absolut zentriert in einer europäischen Stadt (Rom), hat keine Zukunft. Zumal es sich um eine Autokratie oder “Monarchie” (Papst als Staatschef) handelt,  die die nicht die geringsten Spuren von Demokratie aufweist.

Diese Kirche fordert von allen anderen Organisationen den Respekt der Menschenrechte, also der Werte der Demokratie, aber sie selbst als Kirche lebt diese Menschenrechte NICHT in ihrem eigenen “Innenbereich”. Das versteht kein vernünftiger Mensch mehr, zumal keine Frau. Nur wenn man als Papst sagt, das eigene kirchliche Verhalten und die kirchliche Gesetzgebung sei von Gott höchstpersönlich so gewollt, hat diese Kirche in gewissen Kreisen vielleicht noch Rückhalt. Aber je gebildeter die Menschen (auch die Katholiken) werden, um so mehr wird die Bindung an diese Kirche nachlassen. Und die Sturheit der Hierarchen fördert diesen Prozess!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Pfingsten, Christi Himmelfahrt, Ostern: Ein “Ereignis”. Und ein Fest!

Zum Text siehe:  LINK

Putin – der Faschist. Und die neue Form eines totalen Krieges.

Der Diktator und seine Ideologie.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.5.2022.

1.
Eine allgemeine philosophische Erinnerung: Jegliches politisches Tun, also auch jede Untat, also ein Krieg, hat den Ursprung in einer geistigen Haltung, in einer Option bzw. Präferenz für bestimmte Werte und Unwerte. Diese „fügen“ Politiker in reflektierter und freier Entscheidung in die Wirklichkeit „ein“, wie Hegel sagte. Diese Werte bzw. Unwerte werden also politisch bzw. auch kriegerisch verwirklicht.
Diese Einstellungen und Überzeugungen kann man Ideologien nennen. Dabei ist in der demokratischen Welt der Begriff „Ideologie“ eher negativ geprägt, von einer „demokratischen Ideologie“ würde kein Demokrat sprechen, hingegen von einer kommunistischen oder einer faschistischen Ideologie. Kommunisten oder Faschisten würden ihre eigene inhaltliche Überzeugung nicht Ideologie nennen, sondern „Wissenschaft“ bzw. „Weltanschauung“; die Nazis wehrten sich etwa gegen den Einbeziehung ihrer eigenen Ideologie in den allgemeinen Ideologiebegriff. Sie haben deswegen „ideologisch“ durch „theoretisch“ zu neutralisieren versucht.

Hier soll der Begriff Ideologie erneut darauf aufmerksam machen, dass alles Handeln der Politiker und Kriegsherren, von geistigen Konzepten bestimmt ist. Also auch der Krieg Putins gegen die Ukraine oder eben auch die westliche Demokratie und universal geltenden Menschenrechte.

2.
Putin ist von einer Ideologie bzw. von einem Gemisch verschiedener ideologischer Elemente beherrscht. Selbst wenn es in seinem Russland noch eingeschränkt Wahlen gab und bis vor kurzem eine gewisse scheinbare und begrenzte Pressefreiheit, war sein Regime nie eine Demokratie im emphatischen Sinne. Putins alles bestimmende Werte-Ordnung (bzw. Unwerte-Ordnung) als Ideologie formuliert, heißt Faschismus. Ich habe früher schon von Putins Nihilismus gesprochen, LINK, aber Nihilismus ist wohl eher ein zentraler Teilaspekt der umfassenden faschistischen Haltung und Praxis Putins.

3.
Putin – der Faschist: Diesem Urteil stimmen längst viele Politologen und Russland-Kenner (wie etwa der deutsche Politiker und Russland-Kenner Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, siehe „Phoenix“ am 20.5. 2022 um 18.00 bis 18.30) zu. Der us-amerikanische Historiker Prof. Timothy Snyder spricht in der ZEIT (vom 19. Mai 2022, Seite 10) eine deutliche Sprache: Auf die Frage, inwiefern und seit wann das russische Regime faschistisch sei, antwortet Snyder: „Seit Februar dieses Jahres 2022 führt Russland einen Zerstörungskrieg mit dem Ziel der Vernichtung eines anderen Volkes. Zudem gibt es immer stärkere Unterdrückung im Innern und einen Kult des Anführers, des Sieges, des Todes…. Putin sprach seit 2010 von kulturellem Raum, Russland müsse andere Räume absorbieren.“ Damit werden wichtige Elemente faschistischen Denkens und Handelns genannt.
Putin ist für Snyder aber mehr als ein „einfacher Faschist“. Vielmehr: Putin denkt und handelt in einer extremeren Form, als „Schizofaschist“. Das heißt: Er handelt selbst nach den Maximen des Faschismus, nennt aber seine nicht-faschistischen Feinde Faschisten, um von seinem eigenen Faschismus abzulenken. Um die Kriegsbegeisterung der Russen gegen die Ukraine zu entfachen und zu stärken, war es für ihn naheliegend, den Feind Ukraine (und sogar den jüdischen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj), faschistisch zu nennen. Eine solche Zuweisung beeindruckt immer in Russland: „Antifaschist“ zu sein, war im Sowjetkommunismus (auch in der DDR) die höchste Tugend.

“Der Spiegel” berichtet  am 22.5.2022, dass zahlreiche Neo-Nazis für Russland und für Putin in der russischen Armee gegen die Ukraine kämpfen. LINK.

In seinem Buch “Über Tyrannen” (C.H.Beck Verlag München, 8. Auflage 2022) betont Timothy Snijder, wie Putin 2015 dem verängstigten Frankreich ein “Cyberkalifat” vorgaugelte, “damit die Franzosen den Terror noch mehr fürchteten, als sie es ohnehin berteits taten. Ziel war es vermutlich, dem rechten (rechtsextremen !, CM) Front National Wähler in die Arme zu treiben, einer Partei, die von Russland finanziell unterstützt wird” (S. 107). Putin hat also als Faschist das ideolohgisch naheliegende Ziel,”ein demokratisches System zu destabilisieren und der extremen Rechten (also seinen Freunden, CM) Rückenwind zu verschaffen” (S. 108).

4.
Weitere Kennzeichnen des Faschismus: Sie nennt der vielfach ausgezeichnete britische Journalist Paul Mason in seinem Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ (Suhrkamp, Berlin, 2022) etwa S. 322 ff. „Da die Entmenschlichung den Kern seiner Ideologie darstellt, beginnt der Faschismus im Verlauf seiner Radikalisierung und Mobilisierung für den Krieg, über einen Genozid nachzudenken…“ (S. 324). Das trifft auf Putin zu…Wer als Faschist denkt und handelt, betont Mason, hat vor allem „Angst vor der Freiheit, die durch eine Ahnung von Freiheit geweckt wird“.Das heißt: Auch der Faschist spürt ansatzweise, was Freiheit (demokratische Freiheit etwa) für ihn bedeuten könnte: Aber davor hat er Angst und schließt sich in einem repressiven und totalitären System ein. Hinweise, die an Putins Angst erinnern vor der demokratischen Freiheit, wie sie die Ukraine und die westliche Welt lebt. Diese demokratischen Werte sollen niemals Russland bestimmen! Das steht für Putin fest, dafür kämpft er. Paul Mason schließt sich der Definition des Faschismus des Historikers Robert Paxton an: „Man muss nicht zusammenfassen, was der Faschismus ist, sondern was er tut“ (S. 326).
Putin als Faschist – diese Erkenntnis wird, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auch von der Internetzeitung „Infosperber“ aus der Schweiz unterstützt. LINK

Dort wird Jason Stanley zitiert, Professor für Philosophie an der Yale-Universität, USA. Auch er „bezeichnet Putin als faschistischen Autokraten und anerkannten Anführer der weltweiten extremen Rechten“.
Weitere Beispiele: Der „russische Ökonom Wladislaw Inosemzew, Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau, sagt in der NZZ: Putin ist «ein lupenreiner Faschist». LINK

Wikipedia berichtet: Im Frühjahr 2022 erklärte Inosemzew, Putin erfülle „mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht“ und nannte in diesem Zusammenhang vier Säulen: „Militarisierung als Kernstück der Ideologie; eine fortschreitende Etatisieren der russischen Wirtschaft im Sinne einer durch Bürokraten beherrschten Wirtschaft; eine Umstrukturierung der Verwaltung hin zu einem absoluten hierarchischen Durchgriff von Macht und Gewalt sowieSymbolik und Propaganda“.
Und weiter: Der Historiker Zee Sternhell hat mehrere Studien zum Faschismus veröffentlicht. In der Zeitschrift „Philosophie Magazine“ (Paris) sagte Sternhell schon im Mai 2014: „Der Faschismus will die Welt verändern, (d.h. die Demokratie abschaffen, CM), eine moralische Revolution bewerkstelligen, eine Nation errichten mit Hilfe der Mythen, dabei aber will der Faschismus die ökonomischen Strukturen intakt lassen. Es geht nicht mehr darum, die Bourgeoisie niederzuschlagen, sondern sie in den Dienst der Nation zu stellen“ (S. 44). Sternhell fährt fort: „Die faschistische Ideologie lebt bis heute weiter. Es gibt keinen Grund zu denken, der Faschismus sei mit den Trümmern in Berlin 1945 begraben worden“ (S. 45).

5.
Für den Faschismus (bzw. der Schizo-Faschismus) Putins ist auch auch eine religiöse Überzeugung und eine philosophische Ideologie wichtig: Die Bindung an die zwanghafte Vorstellung, dass allein Russland noch die Welt retten könne angesichts der angeblich moralisch verkommenen westlichen demokratischen Gesellschaften. Diese Überzeugung bindet Putin auch an die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihren gleiches denkenden Patriarchen Kyrill I. von Moskau. „Eine der Haupt­quellen Putins sind auch faschistische Denker der russischen Gegenrevolution, insbesondere die Schriften des Philosophen Iwan Iljin. Er war ein adliger russischer Emigrant, der in den Zwanziger- und Dreissiger­jahren in Berlin und danach bis zu seinem Tod 1954 in der Schweiz lebte. Er war ein glühender Verehrer von Mussolini und Hitler und pflegte auch in der Schweiz Verbindungen zu prominenten Nazis.»
„In wichtigen, programmatischen Reden hat sich Putin immer wieder auf Iljin berufen“ (Infosperber).
Iljin (1883-1954) ist sozusagen der beliebte und viel zitierte „Hausphilosoph“ Putins, Iljin hat von Russlands Unschuld geträumt, das von westlichen Herrschern missbraucht wird, er fantasierte, dass Russland ohne die Erbsünde belastet ist usw. Er kann das Trauma Putins überwinden helfen, das er mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches – in Dresden – erlebte. Siehe dazu den instruktiven Beitrag von Norbert Matern: LINK
Timothy Sneijder sagt in der „Zeit“ vom 19.5.2022: „Putins Lieblingsautor Iwan Iljin beschreibt eine verworrene und zerbrochene Welt, die Russland mit Gewalt heilen müsse, und zwar mithilfe eines starken Führers, der die Demokratie zum reinen Ritual macht. Das Projekt heißt: Die Welt ist nicht sie selbst, solange sie nicht russische Werte lebt.“
Das ist interessant und wird viel zu wenig beobachtet: Etliche Bücher von Iljin sind in der Edition „Hagia Sophia“ in Wachtendonk erschienen, ein Verlag, der sich auf der Linie der christlichen Orthodoxie befinden will: Gregor Fernbach Verlag Hagia Sophia in 47669 Wachtendonk, dort erscheinen auch Titel unter der bekannten Putinschen Ideologie „Eurasia“. Das Buch von Georg Redete aus dem Verlag Hagia Sophia wird auch in dem rechtsextremen Antaios Verlag vertrieben. Der Leiter des Verlages „Hagia Sophia“ ,Gregor Fernbach, war ein Referent einer Tagung über Russland, organisiert von der neurechten Zeitschrift „Eigentümlich frei“ am 15. Nov. 2014 in Zinnowitz/Ostsee.

6.
Warum ist es wichtig, Putin als einen Faschisten eigener Prägung zu wissen? Dadurch werden Illusionen endgültig zerstört, die lange Jahre das Denken westlicher Politiker und Bürger bestimmten: Putin sei nur eine Art Nachfolger Jelzins und damit befasst aus dem großen russischen „Reich“ ein demokratisches System zu schaffen. Anders lassen sich auch die in heutiger Sicht total naiven Beifallsstürme im Deutschen Bundestag nach der auf Deutsch gesprochenen, sich demokratisch gebenden Rede Putins nicht bewerten (am 25.9.2001). Später haben westliche Politiker eine Art Putin – Blindheit praktiziert – allein weil sie sich ökonomische Vorteile von guten Beziehungen zu dem „guten Putin“ erhofften. Jetzt sollte Klarheit herrschen: Putin ist ein Faschist, sein Regime ist faschistisch. Entsprechend deutlich und heftig muss er bekämpft werden auch als Kriegstreiber gegen die Ukraine. Die Frage ist also: Wie können demokratische Staaten eine faschistischen Diktator besiegen, der über all die Jahre Krieg in Tschechenien, Georgien, Syrien, Krim, Donbas) führte? Wie kann ein die Ukraine und die ganze westliche Welt bedrohender „infamer“ (sagt Bundeskanzler Olaf Scholz) Diktator besiegt werden? Putin muss immer als KGB Mann verstanden werden, zu den obersten indoktrinierten Untugenden des KGB und seiner Nachfolge-Organisation gehört die Lüge.

7.
Die demokratische Welt erkennt: Dieser Krieg Putins gegen die Ukraine ist nicht regional begrenzt! Dieser Krieg Putins ist ein totaler Krieg, der die ganze Welt durcheinander wirbelt, ökonomisch, ruinös für die Volkswirtschaften mit immer höheren Ausgaben für Waffen, mögliches Ansteigen eines Rechtsradikalismus, Sehnsucht nach dem starken Führer allerorten. Die Hungersnöte in Afrika wegen fehlender Weizenlieferungen werden hoffentlich auch diese bislang sich neutral gegen Putin verhaltenden Staaten zu Putin-Kritikern werden lassen! Sicher aber ist: Putin will in seinem eigenen Krieg, der nur als auf neue Weise totaler Krieg genannt werden kann, Hunger-Flüchtlinge aus Afrika in die westlichen Länder treiben. Auf diese Weise, durch Hungersnöte, von Putin inszeniert, sollen die westlichen Gesellschaften, selbst in finanzieller Bedrängnis wegen der enormen Rüstungsausgaben und der Inflationen, verunsichert werden, d.h. Putin will den Rechtspopulismus und den Rechtsextremismus und den Faschismus in Europa fördern. Und Demokratie auf diese Weise zerstören. In den USA sind faschistische Tendenzen schon jetzt mächtig, bekanntlich auch in Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Österreich, Brasilien … und Deutschland usw…

8.
Für die eher explizit philosophischen Debatten ist wichtig: Paul Mason nennt in seinem genannten Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ als einen philosophischen „Ursprung“ des Faschismus auch die Haltung des „Irrationalismus“ (S. 170 f.) und er denkt dabei vor allem auch an den Philosophen Friedrich Nietzsche. „Nietzsches Werk stellt das umfassendste Bekenntnis zum Irrationalismus dar, das je verfasst wurde“ (S. 173). Irrationalismus bedeutet bei Nietzsches: Es gibt keine allgemeine, universale und kategorisch geltende Wahrheit, es gibt keinen Fortschritt, keinen Sinn in der Geschichte, keine Begründung für die Gleichberechtigung der Frauen, keine Begründung für einen Widerstand gegen den Kolonialismus. „Nietzsche gelangt wieder und wieder zu dem Ergebnis: Die Gewalt der Elite ist gerechtfertigt“ (ebd.) Aber Mason betont: „Wir können Nietzsche – und anderen Philosophen wie Spengler oder Bergson – nicht die Schuld am Faschismus geben… Aber diese philosophische Bewegung des Irrationalismus gab der reaktionären Politik einen modischen, rebellischen Anstrich“. (183).
Diese Interpretation Paul Masons, Nietzsche könne als ein Wegbereiter des Faschismus verstanden werden, wird übrigens von Philosophen unterstützt, etwa von Prof. Vittorio Hösle (Indiana, USA). In seinem Buch „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (C.H. Beck Verlag München, 2013) ist ein Kapitel Nietzsche gewidmet mit dem Titel „Die Revolte gegen die universalistische Moral: Friedrich Nietzsche“ (S. 185-207). Hösle schreibt: „Warum Nietzsche ein langes Kapitel widmen? Weil dieser Mensch wirklich Dynamit war. Kein anderer Denker hat so viel zerstört wie dieser philosophische Terrorist“ (S. 186). „Ein Widerwillen gegen Demokratie und soziales Denken ist eine der wenigen Konstanten Nietzsches“ (S. 189). „Es liegt nahe, den Nationalsozialismus als Versuch des Heroismus im Bösen zu deuten, von dem Nietzsche auch inhaltlich einige Ideen vorwegnimmt“ (S. 199).

9.
Anstelle eine vorläufigen Schlusswortes: Was können wir gegen den Faschismus (Putins) tun? „Es braucht eine wehrhafte Demokratie mit Gesetzen, die es erlauben, faschistischen Bestrebungen Grenzen zu setzen. Außerdem brauchen wir eine neue Version der Volksfront – ein Bündnis zwischen der Mitte und der Linken ist Erfolg versprechender, als wenn diese einzeln kämpfen. Und es braucht ein antifaschistisches Ethos aller Kräfte. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Den Linken, die Olaf Scholz und Emmanuel Macron als ihre größten Feinde sehen, will ich sagen: Wacht auf! Der Feind steht schon vor der Tür. Der Feind sind die Leute, die unsere Demokratie zerstören wollen“. Das sagt der Faschismus-Forscher Paul Mason in einem Interview mit der TAZ vom 21.5.2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihr Patriarch Kirill I. von Moskau. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Edgar Dusdal, verfasst Ende April 2022.

Edgar Dusdal ist Pfarrer der Evangelischen Gemeinde in Berlin-Karlshorst. Dort befindet sich auch das „Deutsch-Russische Museum“. Seit Beginn des Krieges Russlands bzw. Putins gegen die Ukraine heißt das Haus „Museum Berlin-Karlshorst“. Am Museum wurde mit Kriegsbeginn die Ukrainische Flagge gehisst.

„Russland, Ukraine, Belarus, das ist die Heilige Rus!“ So betont es seit Jahren immer wieder das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Patriarch Kyrill I. Sogar auf Rockkonzerten tritt er, für uns ungewöhnlich, mit dieser Botschaft auf und wird dafür von seinen Zuhörern gefeiert.
Die russisch-orthodoxe Kirche meint ihre historische Rolle wieder wahrnehmen zu müssen, die sie vor der Oktoberrevolution 1917 innehatte. Aus ihr leitet sie den Anspruch ab, das heilige Russland vor den Versuchungen des Antichristen zu bewahren und die Einheit von Orthodoxie, Autokratie und Volkstümlichkeit zu garantieren – eine Formel, die unter Zar Nikolaus I. erstmals artikuliert wurde und seit Mitte des 19. Jahrhunderts die drei Säulen bezeichnet, auf denen das russische Imperium ruhe: ein starker Staat, eine starke kirchliche Stütze desselben und die Gemeinschaft des gläubigen Volkes.

Die liberale Kirchenhistorikerin Jelena Beljakowa formuliert es für die Entwicklung Ruslands seit dem Ende der Sowjetunion so: „Es hieß immer, Russland brauche eine nationale Idee, die alle eint. Nun ist sie gefunden. Es ist die Orthodoxie. Die Macht nutzt die Kirche als ideologische Basis: Die Idee des Isolationismus, des russischen Sonderweges, der Gegenüberstellung zu Europa. Die Kirche in Person von Patriarch Kirill vertritt diese Ideen aktiv.“

In einer Rede vor der Staatsduma Anfang 2015 sprach Kirill von einer „großen politisch-religiösen Synthese“, die es zu verwirklichen gelte. Den westlichen Gesellschaften stellte er das Ideal einer „Solidargesellschaft“ gegenüber. In diesem Rahmen rief er die politischen Parteien auf, ihren Wettbewerb einzustellen. Kirche und Politik hätten mit einer Stimme zu sprechen. Mit Putin hat Kyrill diese einheitliche Stimme gefunden.
Die westliche Zivilisation sieht Kyrill an sich selbst zugrunde gehen. Dem Kult um eine Freiheit, die alles verspricht, aber nichts hält, stattdessen in ihrem Namen durch Gay Pride-Paraden, eine vorgegaukelte Emanzipation der Frau und die Auflösung der Familie bereit ist, alle moralischen Werte zu zerstören, steht positiv die russisch-orthodoxe Kirche gegenüber. Dazu führte Kyrill aus:
„Den Tendenzen zu Chaos und Konflikt setzten wir eine große religiös-politische Synthese entgegen, ein soziales Ideal. In dieser Synthese arbeiten die verschiedenen ethnokulturellen, sozialen, beruflichen, religiösen Altersgruppen um des Allgemeinwohls willen zusammen. Auch das Volk und die Macht arbeiten zusammen, statt Konflikte auszutragen. Die Ethnien und die Religionen und selbst die politischen Parteien verzichten auf Konflikte. Ich bezeuge und danke Gott, dass die heutige Zusammensetzung der Staatsduma praktisch das verkörpert, wovon ich jetzt gesprochen habe.“
Dass Putin zuvor verhinderte, dass oppositionelle Parteien überhaupt zur Wahl antreten konnten, wird durch Kyrill mit diesen Worten noch einmal religiös legitimiert.

Und so wie Kyrill die Politik Putins religiös beglaubigt, räumt Putin im Gegenzug der Kirche eine wichtige Rolle in der Gesellschaft ein. In einer Rede zur Lage der Nation betont er:
„Die moralischen Grundlagen des orthodoxen Glaubens haben unseren nationalen Charakter und die Mentalität der Völker Russlands in vieler Hinsicht geprägt, haben die besten schöpferischen Eigenschaften unseres Volkes geweckt und Russland geholfen, einen würdigen Platz in der europäischen und in der Weltzivilisation einzunehmen. Für die russische Staatlichkeit, für unser Nationalbewusstsein, ist die Orthodoxie eine geistige Stütze geworden.“ Und weiter: „Wir müssen jene Institute, die für traditionelle Werte stehen und historisch bewiesen haben, dass sie in der Lage sind, sie von Generation zu Generation weiterzugeben, mit allen Mitteln unterstützen.“

Auf dem Allrussischen Weltkongress 2016 in Moskau  betonte Kyrill I. dazu noch: „Die traditionellen Werte des heiligen Russland haben Vorrang vor dem Konzept allgemeingültiger Menschenrechte. Russland befindet sich im Kriegszustand mit dem Westen.“ Seinen Bischöfen gegenüber äußerte Kyrill: „Gegen das russische Volk werde ein gut geplanter, unblutiger Krieg geführt, der seine Vernichtung zum Ziel hat. Im Westen ist eine gewaltige Industrie der moralischen Verkommenheit am Werke. Die russische Orthodoxie ist die einzige Kraft, die dem etwas entgegensetzen kann.“
Putin begrüßt das gedeihliche Wirken der Kirche. Wenn er in Kirchen Kerzen anzündet, für die im Donbass für Neurussland gefallenen Soldaten, dann ermutigt er auch die Freiwilligen, die dort auf russischer Seite kämpfen. Es gibt sogar einen Zusammenschluss von Kämpfern, die sich als „Armee der russischen Orthodoxie“ bezeichnen und meinen, in einem heiligen Krieg zu stehen.

Die Allianz zwischen Kirche und Staat hat also, wie wir gerade sehen, auch außenpolitische Konsequenzen. Denn die russische Führung zieht die Religion heran, um damit Russlands Anspruch auf die orthodoxen Nachbarländer Weißrussland und die Ukraine zu erheben. Besonders auf Kiew, wo einst die heilige Rus, das mittelalterliche russische Reich gegründet wurde. Präsident Putin begründet auch den Anspruch auf die im Frühjahr 2014 annektierte Halbinsel Krim unter anderem mit der Orthodoxie. In seiner Rede zur Lage der Nation Ende 2014 sagte er:
„Auf der Krim befindet sich der geistige Quell der russischen Nation und des zentralisierten Russischen Staates aus den unterschiedlichen Stämmen der slawischen Welt. Denn auf der Krim nahm Fürst Wladimir das Christentum an und taufte dann die ganze Rus. Für Russland hat die Krim eine sakrale Bedeutung. So wie der Tempelberg in Jerusalem für Muslime und Juden. Und ebenso werden wir uns dazu verhalten. Heute und für immer.“
Allerdings, und das muss man wissen, handelt es sich bei der Taufe von Fürst Wladimir I., durch die er 988 auf der Krim den byzantinischen Glauben annahm, eher um eine Legende. Wahrscheinlicher ist es, dass er im Dnepr getauft wurde und im Anschluss an seine eigene Taufe seine Untertanen prügeln ließ, damit auch sie die Taufe annahmen. Es ist erst Katharina die Große, die die Krim 1783 für Russland eroberte.
Bei Kyrill I. liest sich das so: „Die heilige Taufe am Dnepr hat ein großes christliches Volk geboren, das Volk zu dem wir gehören, die heilige Rus, das ist die Kiewer Rus.“
Der ursprüngliche Name des Fürsten Wladimir lautet übrigens Valdamarr Sveinaldsson, handelt es sich bei ihm doch um einen schwedischer Wikinger, oder Waräger, wie sie in Kiew genannt wurden. Denn bei der Kiewer Rus handelt es sich um eine Gründung der Waräger, Kriegshändlern aus Schweden, die in die weitverzweigten Flussnetze Russlands eindrangen und ein riesiges Tribut-Imperium errichteten.
Diese Leute aus dem Land jenseits des Meeres wurden die Rus genannt. Das Wort wurde (wahrscheinlich) von „Ruotsi“ – die Ruderer – abgeleitet. Doch von dieser sogenannten „normannistischen These” möchte Putin nichts wissen. Er renationalisiert diese verrufene Gründungsgeschichte der Kiewer Rus. Deshalb legt er besonders großen Wert auf das Bekenntnis zur Orthodoxie. Denn in ihr findet er die entscheidende Klammer für seine These von der historischen Einheit von Russland, der Ukraine und Belarus, die auch Kyrill I. zu behaupten nicht müde wird.
Der Historiker Leonid Reschetnikow, immerhin Direktor des russischen Instituts für strategische Forschung, äußert sich in einem Film über die Bedeutung der Krim für Russland wie folgt:
„Hier begann die historische Mission des russischen Volkes, das Licht Christi, unser Verständnis vom Leben um unsere orthodoxe Zivilisation der ganzen Welt zu bringen. In dieser Kapelle wurde Fürst Wladimir getauft.  Wir haben diese Quelle lange vergessen und müssen sie säubern, sonst begreifen wir die Mission Christi nicht, mit der er das russische Volk betraut hat, und die durch die Wiedervereinigung mit der Krim  unter Präsident Wladimir erfüllt wurde. Putin ist nicht nur ein geopolitisches Ereignis, es ist ein göttliches Ereignis, ein Neubeginn der göttlichen Mission, die das russische Volk seit 1000 Jahren erfüllt.“
Dass sich Putin ähnlich geschichtstheologisch äußert, konnten wir bereits oben lesen. Es sind diese Elemente, die die Eroberung der Krim legitimieren, ja zu der es sogar einen göttlichen Auftrag gibt: Es ist eine göttliche Mission, mit der Russland betraut ist, denn wie Putin bemerkte, hat die Krim für Russland eine sakrale Bedeutung. Und um die Qualität dieser Bedeutung zu charakterisieren, zieht Putin den Vergleich mit dem Tempelberg und dessen Bedeutung für Juden und Moslems heran.
Und es wirkt wie eine Steilvorlage, dass der Direktor des russischen Instituts für strategische Forschung durch die Namensgleichheit den ersten Wladimir als Begründer der orthodoxen Mission bezeichnet und den zweiten Wladimir (Putin) zum Erneuerer dieser göttlichen Mission stilisieren kann.
Doch nicht die Krim, sondern Kiew ist die Wiege der russisch-orthodoxen Kirche. Dort befindet sich das Patriarchat, Kiew wird zum neuen Jerusalem. Als das ostslawische Reich, die Kiewer Rus, durch die Mongolen zerstört wird, ist das der Anfang für den Aufstieg der Moskowiter, die bald auch das Patriarchat 1589 übernehmen. Russland, Weißrussland und die Ukraine gehen seit der Zerstörung der Kiewer Rus unterschiedliche Wege, die nachzuzeichnen hier nicht der Ort ist.
Der Mönch Filofei formuliert den neuen religiösen Anspruch Russlands und Moskaus 1520 mit folgender Theorie: „Der Zar ist auf der ganzen Erde der einzige Herrscher über die Christen, der Lenker der heiligen göttlichen Throne, der heiligen Kirche, die statt in Rom und Konstantinopel in der gesegneten Stadt Moskau ist. Sie allein leuchtet auf der ganzen Welt heller als die Sonne. Denn wisse: Alle christlichen Reiche sind vergangen gemäß den prophetischen Büchern. Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht. Und ein viertes wird es niemals geben.“ Moskau ist also das Dritte Rom. Zentrum des wahren Christentums und Erbe und Verfechter des Glaubens in der Welt. Bis 1917 spielte diese Idee eine große Rolle für das Sendungsbewusstsein der Orthodoxie, wie für das Zarentum. Im 19. Jahrhundert verband sich die Rom-Idee mit dem Panslawismus, der Befreiung aller slawischen Völker vom osmanischen Joch durch Russland. Selbst der Sowjetkommunismus kann noch als säkulare Form dieses Sendungsbewusstseins angesehen werden. Der russische Imperialismus speiste sich also schon immer auch aus den Quellen der Orthodoxie. An diese Traditionen knüpfen sowohl Putin als auch Kyrill I. an.
Einen Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, also am Mittwoch den 23.Februar, fand in Russland der „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ statt. Patriarch Kyrill I. gratulierte Putin aus diesem Anlass: Versehen mit der Anrede „Exzellenz, lieber Wladimir Wladimirowitsch“ schreibt der Patriarch: „Heute ehren wir die Leistung derer, die einen verantwortungsvollen Militärdienst leisten, über die Grenzen ihres Heimatlandes wachen und sich um die Stärkung seiner Verteidigungsfähigkeit und nationalen Sicherheit kümmern.“ Eigenschaften wie Tapferkeit, Mut und Entschlossenheit, „glühende Liebe zum Vaterland und Bereitschaft zur Selbstaufopferung“ hätten jahrhundertelang das russische Volk ausgezeichnet, „das durch den Schmelztiegel vieler Prüfungen“ gegangen sei.
Die russisch-orthodoxe Kirche habe immer versucht, einen bedeutenden Beitrag zur patriotischen Erziehung der Landsleute zu leisten, betonte der Patriarch und hebt hervor: „Die Kirche sieht im Militärdienst eine aktive Manifestation der Nächstenliebe,… ein Beispiel für die Treue zu den hohen moralischen Idealen der Wahrheit und Güte.“
Kyrill I. bekundete zwar   seinen „tiefen Schmerz“ über den Krieg, doch äußerte er kein Wort dazu, dass Putin einen ungerechten Angriffskrieg führt. Statt dessen gehören für ihn die ukrainischen Soldaten zu den „Kräften des Bösen“.
So bleiben weiterhin seine Worte bestehen, in denen er die Wahl Putins zum Präsidenten als „Wunder Gottes“ bezeichnete und dessen „Aufmerksamkeit für das spirituelle Leben der Menschen, für Ihr Verhältnis zwischen Politik und Moral“ würdigte. Dass Putin ein auf Geschichtsverfälschungen und Lügen aufgebautes Politikverständnis praktiziert, werden wir von Kyrill wohl kaum erfahren.
Stattdessen betonte er, sich an Putin wendend:
„Sie haben für sich den Weg des spirituellen und moralischen Dienstes gewählt und Sie gehen ihn mit Würde, Weisheit und einem tiefen Verständnis der Verantwortung für das Schicksal unseres Volkes, für das Schicksal Russlands.“ Putin, so Kyrill, sei von Gott gesandt und habe „die schiefe Kurve der russischen Geschichte begradigt“.
In der Christ-Erlöser Kirche nannte Kyrill den Krieg, der Sprachregelung Putins folgend, nicht Krieg, sondern einen Kampf, allerdings einen „Kampf, der keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat“. Das heißt, das was wir vor unseren Augen physisch sehen, ist nicht die eigentliche Realität. Diese liegt hinter den Kampfhandlungen verborgen und zeigt sich nur den Wissenden. Und denen offenbart sich, dass hier das Volk Christi gegen die Anhänger des Antichristen kämpft. Damit wird für Kyrill der Krieg zu einem heiligen Krieg, in dem die höchsten Werte der Orthodoxie auf dem Spiel stehen.
Wissen sollte man noch, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Kirche, nach dem Soziologen Detlef Pollack „zum Hoffnungsträger einer gedemütigten Nation“ wurde. „Demnach stieg die Zahl derer, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, die Zahl der Gläubigen wuchs von 44 auf 78 Prozent. Die orthodoxe Kirche sei zur Trägerin nationaler Identität geworden. „Seit Jahrzehnten meint eine Mehrheit, um ein wahrer Russe zu sein, müsse man orthodox sein“.
Zu Putins und Kyrills Weltbild gehört es, dass Russland das angegriffene Opfer westlicher Mächte sei. „Kultureller Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt gefährden in diesem Weltbild die Identität der russischen Kultur“, unterstreicht Pollack. „Russland muss sich schützen und für seine bedrohte Identität eintreten.“

Für Putin und Kyrill sei Russland eine unbesiegbare Nation, deren einstige Bedeutung seit dem Ende der Sowjetunion aber bedroht sei. „Aus dem Gefühl der Bedrohung entsteht ein Bedürfnis nach kultureller Selbstbehauptung, eine hochgefährliche Mischung von Demütigungsgefühlen und Überlegenheitsansprüchen.“ „Anstatt die Wirtschaftsleistung zu stärken, verfolgt die Regierung das Projekt einer Stärkung des Nationalbewusstseins, das die eigene Kultur überhöht und für alle Probleme im Land den Westen verantwortlich macht.“
Doch das heilige Russland, und darin stimmen Putin und Kyrill überein, dürfe durch andere Kulturen nicht beschmutzt werden.

Es wäre allerdings eine zu einseitige Darstellung, wenn man es bei diesem Befund beließe. Zumindest unter den russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland gibt es viele, die sich vom Kurs ihrer Heimatkirche distanzieren, ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland helfen, auch wenn sie das nicht groß öffentlich machen, Geld sammeln, Unterkünfte bereitstellen und bei ihrer Integration hier behilflich sind. Dazu zählen auch russisch-orthodoxe Gemeinden in Berlin.

Copyright: Edgar Dusdal, Berlin-Karlshorst.

Grau ist das Leben – Wem nützt die „Grauzonenkunde“ von Sloterdijk?

Das neue Buch von Peter Sloterdijk.

Ein Hinweis von Christian Modehn.
1.
Wer einige Bücher von Peter Sloterdijk gelesen hat, kann kaum der Versuchung widerstehen, sich vom sprachlichen Erfinder – Ehrgeiz des Denkers anstecken zu lassen. Also, in seinem Sinne formuliert, ins découvrierend Scriptorische abzugleiten, ohne dabei einem enthusiasmierenden Gestus zu verfallen. Dies gilt um so mehr angesichts des Titels des neuen Sloterdijk-Opus „Wer noch kein Grau gedacht hat…“ mit dem Untertitel „Eine Farbenlehre“. Also ein „Lehrbuch“?
Soweit ich sehe, steht das neue Buch Sloterdijks in keiner expliziten Relation zu der für einen Grau – Denker eigentlich leitenden Erkenntnis, sie stammt von Goethe: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“ (Mephisto). Wer diese Maxime beherzigt, wird eher Gärtner als Philosoph.
Und auch dies noch vorweg und eher nebenbei: Auch vom Niedergang der Partei „Die Grauen“ ist keine Rede. Und auch von den berühmten „grauen Zellen“, nicht nur als der notwendigen Lektürebedingung, ist, soweit ich sehe, nicht die Rede.
2.
Um die Struktur des Inhalts „magno animo“ und mit „thymós“ (ein Lieblingswort Sloterdijks) zusammenzufassen: Es geht um eine bemühte Art, die Farbe grau bzw. das Changierende der Grau-Töne mit feuilletonistisch-philosophierender Passion auszuleuchten, wenn nicht gar „schmackhaft“ zu machen in der Lebenswelt. Die Farbe grau wird von Sloterdijk als treffender Ausdruck (westlicher, demokratischer, kapitalistischer, neoliberaler ??) heutiger Mentalitäten verstanden. Also grau wird als Metapher, Stimmung, Herrschaft der Bürokratie, als graue Religion usw.  beschieben. Dabei sind die fünf Hauptkapitel zu einer speziellen Dimension des Grauen keineswegs streng strukturierte, lehrbuchmäßige „Abhandlungen”. Hinzu kommen noch vier, vom Thema her noch weiter gehende knappe Abschweifungen, von Sloterdijk vornehm „Digressionen“ genannt. Sloterdijk will sich also, um noch einmal eine erfinderische Sprachkraft zu wiederholen, als „Griso-loge“ bzw. als „Avocat oder Defenseur de la Grisaille“ etablieren. Ich lasse, wie bei Sloterdijk meist üblich, diese meine Begriffe unübersetzt stehen und sage in seinem Sinne: „Tant pis“ für die Ungebildeten bzw., wie er selbst diese Menschen nennt, „die einfacheren Gemüter“ (S. 275). Arroganz gilt halt in gewissen Kreisen als Tugend…
3.
Die fünf Hauptkapitel sind Essays: Oft wirken die immer auf grau bezogenen Argumente im Texte konstruiert und gewollt, so wenn – als Petitesse erwähnt – in den Hinweisen zu den „grauen Eminenzen“ der berühmte französische Kapuzinerpater Joseph (unter König Ludwig XIII.) von Sloterdijk in einen „braungrauen Kapuziner-Habit“ (S. 69, auch s. 72) gesteckt wird. Dabei war und ist die „Kutte“ der Kapuziners eindeutig nur braun, aber in den Zusammenhang passt es Sloterdijk besser eine leichte Farbverschiebung in den argumentativen Duktus des nun einmal allüberall dominant Grauen. Wikipedia – auch als Quelle Sloterdijks (?) – spricht zwar auch vom grau-braunen Habit des Kapuziners Joseph, aber das ist eindeutig eine falsche Information! Soweit diese Petitesse.
Auch für die Ethik bringt Sloterdijk selbstverständlich grau zur Geltung: „Es ist die Nuance von Grau-in-Grau, die immerzu und in allem entscheidet, woran wir uns zu halten haben“ (S. 286). Das klingt wie eine Art grauer kategorischer Imperativ: „woran wir uns zu halten haben“… Das passt gar nicht so zu Sloterdijks sonst üblichen skeptisch-relativistischen-zynischen „methode à penser“. Aber die letzten Sätze des Buches (ebenfalls S. 286) beruhigen doch vor möglichen tiefen Grau-Depressionen, indem Sloterdijk auf die Mischung von Hell und Grau, Dunkel etc. hinweist. Immer ist also – trostvoll –  etwas Helles dabei. Nur bitte “keine Alleinherrschaft des Lichtes”, warnt der Philosoph. Das wäre wohl zu “göttlich”?
4.
Peter Sloterdijk legt nun also, eine „Farbenlehre“ vor. Über die Aktualität dieses nun ausgerechnet in diesen Zeiten gewählte graue Thema wird man lange vergeblich grübeln. Aber, man tröste sich mit Allgemeinheiten: Philosophieren als Form des auch unterhaltsamen Feuilletons ist immer möglich, Philosophieren lässt sich im allgemeinen nicht politisch unmittelbar einspannen…Also: „Wer noch kein Grau gedacht hat…“ Der Titel (Cézanne nachempfunden) bricht ab, führt ins Weite, aber er ist schon im ersten Moment eine Einladung, ihn aus aktuellen Notwendigkeiten weiter zu formulieren: Ich schlage vor. „Wer noch kein Grau gedacht hat….der betrachte die von Russen zerstörten Städte der Ukraine und ihrer angstvollen Einwohner“. Oder: „Er/sie schaue sich alle von sonstigen Kriegen und auch Hungerkatastrophen zerstörten Städte und Landschaften denkend an, in Syrien, Afghanistan, Jemen, in den Slums von Lateinamerika, die durch Bürgerkriege zu grauen Todeszonen wurden.

Auch dies wird eher vergessen in diesem „Lehrbuch“: Grau war die Farbe der KZS und der Gulags. Grau war der Rauch, der aus den Öfen in Auschwitz in den schönen blauen polnischen Himmel stieg oder in Dachau noch früher in den schönen heilen bayerischen Himmel. Die Farbe grau dominiert auf allen Schlachtfeldern, weil das rote Blut der Opfer sich mit dem Erdboden vermischt. Von diesem grau und dem politisch gemachten Grauen ist in dem Buch kaum die Rede.

So ist das neue Buch von Sloterdijk sicher vergnüglich zu lesen, sozusagen als Kurzweil, für alle, die ihre innere Langeweile etwas stilllegen wollen. Oder: Man betrachte hierzulande die grauen (kranken, verhärmten) Gesichter der Armen und arm Gemachten, also der Hungernden in den reichen Städten des Westens und überall. Dann wird man eher dazu zu einer Neubestimmung von Grau neigen: Grau wäre vor allem mit grausig oder grauenvoll und vor allem dem Grauen zu verbinden. Davon spricht Sloterdijk in seiner zweiten kurzen Digression, die von einer pessimistischen Grundstimmung geprägt ist: „Der gutwilligste Kosmopolit ist irgendwann müde genug, sich mit (grauen, sehr armen) Ländern zu befassen“, schreibt Sloterdijk, was bei dem geneigten reichen Europäer („Kosmopolit) „bloß mentalen Stress ohne Handlungsoptionen nach sich zieht“ (S. 117). Für Sloterdijk bleibt nur das, so wörtlich, „muddling through“, das Sich-Durchwursteln, als Haltung übrig… Vernünftige – humane Weltgestaltung (als Utopie oder Idee) also passé? Für Sloterdijk scheint das zu gelten. Kant war da sehr begründet ganz anderer Meinung. Dieser defätistische graue Satz Sloterdijks gilt aber nur, wenn einzelne als einzelne „kämpfen“. Er gilt nicht, wenn demokratische NGOs gegen die Allmacht des Kapitalismus kämpfen und die Ärmsten der Armen unterstützen, wie „Ärzte ohne Grenzen“, die ihr Leben riskieren. Aber das Jammern der Wohlhabenden ist vielleicht auch ein graues Thema der Verlogenheit, davon spricht Sloterdijk nicht, er schreibt lieber wie schon in früheren Büchern sehr ausführlich über Gnosis, entdeckt nun dort das Graue oder in der jüdischen Philosophie oder in der Erbsündenlehre und dem Schöpfungsbericht der Bibel. Welche Abschweifungen, welche Bezüge zu früheren Büchern! Nebenbei: Vermissen werden Theater-Freunde den Hinweis auf den wohl entscheidenden Grau-Autor der Gegenwart, auf Christoph Marthaler, man denke vor allem an sein berühmtes und wohl bestes Stück „Murx den Europäer, murx ihn, murx ihn ab“, an der Volksbühne Berlin viele Jahre lang aufgeführt, jetzt leider nicht mehr.
Wenn es schon um eine philosophierend-essayistisch-feuilletonistische Farbenlehre„à la Sloterdijk“ geht, dann sollte jetzt eher die Farbe SCHWARZ, die Farbe des Todes und der Anarchie, im Mittelpunkt stehen und die Drucker-Farbe der Wall-Street-Börseninfos. Aber bitte: Schwarz immer im Kampf mit Grün, als der Farbe der Hoffnung. Aber das als eine Empfehlung für ein kommendes Projekt.
5.
Warum also gibt es eigentlich diese kurzweilige Buch gegen die Langeweile im Grauton, das ziemlich anstrengend ist, man denke an die Lektüre-Mühen bei Sloterdijkschen Endlossätzen, etwa auf den Seiten 230/231 oder 245. Man ist als Leser oft noch über die – sagen wir es ehrlich – Arroganz von Sloterdijk überrascht, wenn er etwa das bekannte und geschätzte Buch „Quellen des Selbst“ (deutsche Ausgabe: 912 Seiten) des Philosophen Charles Taylor „adipös“ nennt (S. 231). Adipös, das weiß auch Sloterdijk, ist die Bezeichnung einer Krankheit. Wenn nun ein Buch eines international angesehenen und vielfach zitierten Philosophen adipös sein soll, ist dann der Autor Taylor vielleicht selbst krank, adiopös, geistig, weil klassisch verfettet, nicht auf dem neuesten Stand? Sloterdijk nennt die „Quellen des Selbst“ von Taylor – seinem Sloterdijkschen absoluten Wert folgend – „unoriginell“ (S. 231). Unoriginell : Das Schlimmste, was ein Mensch sein darf! Man muss fragen: Ist etwa Sloterdijks Buch „Du mußt dein Leben ändern“ mit seinen „nur“ 723 Seiten auch adipös? Sicher nicht, wird er sagen, denn ein Buch sei „originell“. Noch einmal: Warum also ausgedehnte Essays anläßlich der Farbe grau, die sich in Slotderdijkscher Sicht an unbedeutenden Philosophen festklammern, wie etwa an Martin Buber, wobei dessen Beziehung zur Farbe Grau einmal mehr künstlich und konstruiert wirkt. Dass Sloterdijk Martin Bubers Arbeiten „Ergüsse“ nennt, ist einmal mehr Ausdruck der Arroganz. Auch ein anderer jüdischer Philosoph, Emmanuel Levinas, wird kurz und bündig fertiggemacht, von ihm behauptet Sloterdijk: Er gab nur vor, er tat also bloß so, die abendländische Philosophie grundlegend zu kritisieren (S. 238). Auch die Bemühung, André Malraux als Denker des Grau geradezu aufzupeppen, wirkt übertrieben. Man sieht schon, bei dieser „Farbenlehre“ geht es dann doch recht bunt zu.
6.
Aber auch das gibt es, nebenbei: Man schmunzelt oft, etwa wenn Sloterdijk, so wörtlich, von „forcierten Maiandachten“ (S. 267) spricht als Formen des sinnlosen Widerstandes gegen die – selbstverständlich graue – Vergleichgültigung des Bewusstseins. Ich habe übrigens noch nie an „forcierten Maiandachten“ teilgenommen. ….Und man rätselt, was denn der Farbenlehrer Sloterdijk im Zusammenhang von grauer Mystik mit „mystisch überangeregter Standpunktlosigkeit“ meint. Der Leser kommt also immer wieder ins Schwimmen und Schweben, aber das ist wohl gezielt vom Autor, der wohl glaubt: Sehr viel Genaues und Evidentes und Kategorisches weiß man eben nicht. Schweben wir also. Sloterdijk hat wohl deswegen auch nicht den Mut, Angela Merkel – als einer der Farbe grau zuneigenden Politikerin – beim Namen zu nennen, er spricht nur von einer „Person der Kanzlerschaft, die 16 Jahre regierte“. Sie „war zugleich lau (also grau) und machtbesessen“( S. 241). Auch über „transkatholischen Umfang“ (S. 269) wäre zu sinnieren. Man wird den Eindruck nicht los, als wolle Sloterdijk sprachlich glänzen durch oft skurril wirkende, manchmal esoterisch klingende Formulierungen.
7.
Das „Grau-Projekt“ bietet auch etwas ausführlichere philosophische Reflexionen zu Platon, Hegel und Heidegger. Bleiben wir nur bei dem berühmten und immer wieder zitierten Hegel-Wort aus der Rechtsphilosophie: Dem folgend male er seine eigene Philosophie „grau in grau“: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Vorrede vom 25. Juni 1820, Suhrkamp 1070, S 28.) Sloterdijk sieht wohl in diesem Hegelschen-Grau Hegel selbst auf dem Höhepunkt seiner Philosophie, eine Synthese schaffend, als das „vorläufige Ergebnis“. Wenn man es populär sagen will, was Sloterdijk nicht schreibt: Die Dialektik lebt vom Gegensatz von Weiß und Schwarz, und dieser Gegensatz ist farblogisch überwunden im Grau als der Synthese, die dann als graue Substanz bzw. bei Hegel als „graues Subjekt“ dann doch weitere dialektische Lebendigkeit entwickelt. Und ganz neue Grau-Farben erzeugt. Wäre auch ein Thema, um gegen das angebliche “Ende der Hegelschen Philosophie” Einspruch zu erheben.
Auch von Heideggers zweifellos zu wenig beachteten (und weithin lesbaren) Schrift „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ von 1929 spricht Sloterdijk ausführlich, zumal Heideggers Ausführungen zur Langeweile sind erhellend im “Grau-Zusammenhang”.

Dabei wird für mich deutlich eine sympathisierende Nähe des Denkers Sloterdijks zu Heidegger als „Denker“. Aber die jetzt evidente Verbundenheit Heideggers mit den Nazis und der NSDAP wird von Sloterdijk eher großzügig überspielt, wenn er schreibt: “Heidegger fügte sich dem Zwang, (nach dem seine Karriere als Uni-Rektor in Freiburg von der NSDAP beendet wurde, CM), „machtpolitisch im Unscheinbaren Unterschlupf zu suchen“, hübsch harmlos formuliert, und jetzt wird es sehr poetisch bei Sloterdijk: „Vergleichbar einem Täufer mit dem Auftrag, einen Gott anzumelden, der vor der Offenbarung zögert“ (S. 57). Der Heideggersche „kommende Gott“ ist also gemeint, damit sind wir bei den endlosen Debatten über Heideggers Ergüsse (hier stimmt das Wort) zum „Ereignis“, Denkoffenbarungen während der Nazi-Verbrechen. Davon ist in dem Grau Buch Sloterdijks vornehmerweise keine Rede. Aber gerade hier das Grau des Ungefähren und Unverständlichen herauszuarbeiten, wäre sinnvoll gewesen. Heidegger wird nur in Sloterdijks Deutung, so wörtlich „zum alten Seher“ (ebd.), also zu einer Art Prophet gegen die Machenschaften der Technik…Wahrscheinlich spürt Sloterdijk eine starke Nähe zu Heidegger, den er als den „Nicht – mehr – Philosophen“ (ebd.) rühmt, vielleicht, weil sich Sloterdijk selbst auch nicht nur als Philosophen versteht , sondern eher als schreibenden Denker, als „Autor philosophischer Arbeiten” (in: “Nach Gott”, 2018, Seite 300). In dem Buch “Das Sloterdijk – Alphabet” von Holger Freiherr von Dobeneck, (Würzburg, 2006), wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Sloterdijk kein Philosoph sei, sondern eher ein “philosophischer Zeitdiagnostiker und Ideenhistoriker als ein kritisch-systematischer Philosoph” (dort Seite 269).
8.
Trotz mancher Einwände: Einige Hinweise Sloterdijks sind wirklich beachtlich. Auch wenn er das Christentum und die Kirchen als Religion und Lehre ablehnt, entdeckt er doch im Urtext des Neuen Testaments Brisantes, etwa: Wie eine viel tiefer zu verstehende Bitte des Gebetes „Vater Unser“ zu verstehen ist: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ müsste eigentlich auf den griechischen Urtext bezogen übersetzt werden: „Unser überwesentliches, mehr als nötiges Brot, gib uns heute“ (S. 252, Fn. 254). …
9.
Auch dieses neue Buch Sloterdijks enthält weder ein zu erwartendes Stichwort-Register noch eine Liste der zitierten Bücher. Das erschwert ungemein die kritische Arbeit am Text. Das hat vielleicht einen Grund: Slolterdijks „Grauzonenkunde“ (S. 286) nennt sich zwar „Eine Farben-lehre“, aber das Opus ist alles andere als ein Lehr-Buch, bei dem es dann ratsam wäre, etwa Namens -oder Literatur Register anzufertigen. Sloterdijks Buch ist also kein Lehrbuch, wo man sachlich in einer distanzierten-kritischen Sprache Auskunft findet. Es ist das, was er von den Büchern des jüdischen Philosophen Martin Buber behauptet, ein „Erguss“ (S. 233), der sich im Fließen des Textes und in Mitfließen und Schweben erschließt.
10.
Sloterdijk spricht in seinem neuen Buch viel von Indifferenz, als dem Zustand von Grau. Ein wichtiges Buch zum Thema als ein Lesetipp für ihn und andere: Das Buch von Dominik Terstriep, „Indifferenz. Von Kühle und Leidenschaft des Gleichgültigen“, EOS Verlag, 2009.

Peter Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat…. Eine Farbenlehre. Suhrkamp Verlag Berlin, 2022, 286 Seiten, 28 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Philosophische Stadtspaziergänge: Über das Buch „Geistreiches Berlin und Potsdam. Ein philosophiegeschichtlicher Städteführer“.

Von Christian Modehn.

1.
In der fast unüberschaubaren Bücher – Fülle von Stadtführern zu Berlin, aber auch zu Potsdam, hat ein spezieller „philosophischer Begleiter“ auf den Spaziergängen und „Stadterkundungen“ gefehlt. Maurice Schuhmann, promovierter Politikwissenschaftler und nebenberuflich auch Journalist, füllt diese von einigen sicher gespürte Lücke. Er bietet auf 180 Seiten, reich ausgestattet mit Fotos und im Text sehr lesefreundlich, eine Mischung aus Basis-Informationen zu den philosophischen „Größen“ einst. Das neue Buch ist praktisch von Bedeutung, weil es Informationen zu entsprechenden Spaziergängen zu den Orten des Denkens bzw. der Denker aufweist.
2.
Dass in der Stadt Berlin, die im 2. Weltkrieg heftigst zerstört wurde, authentisch – historische Orte, wie etwa zu bestaunende Wohnungen der Philosophen damals, nicht vorgezeigt werden können, ist ein unüberwindbarer Mangel. So kann der philosophisch interessierte Spaziergänger oft nur zu Gedenktafeln, Statuen oder Friedhöfen geführt werden. Wenn man sich denn in einer philosophisch kompetenten Gruppe befindet, mag das ja sogar interessant sein. Hegel wusste ja, dass die Bindung an äußere Gegebenheiten (etwa Wallfahrtsorte, Heiligtümer, Grabmäler etc.) philosophisch nicht sehr relevant ist. Zum Denken können sie allemal anregen!
3.
Natürlich, das Hauptgebäude der Humboldt Universität Unter den Linden ist zu besichtigen oder das Schloß Sanssouci in Potsdam, der bevorzugte Ort, um über die Aktualität Voltaires zu debattieren. Hegels Schreibtisch befindet sich übrigens im Hauptgebäude der Humboldt-Uni! Für philosophische „Anfänger“ sind Schumanns Informationen zu den Philosophen damals, also zu Fichte, Hegel, Schelling, recht ausführlich. Auch von den politisch vielfältig orientierten Hegel – Schülern (wie Karl Marx, Bruno Bauer) ist die Rede. Der schöne Stadtteil Friedrichshagen bei Köpenick hätte in dem weiten Zusammenhang erwähnt werden müssen, mit seinem berühmten „Dichterkreis“ ums 1900, zu dem auch etliche Philosophen und philosophierende so genannte Anarchisten gehörten…
4.
Das Buch bietet leicht nachvollziehbare Informationen zu Philosophen, die seit dem 18. Jahrhundert mit Berlin oder Potsdam, dem Sitz des philosophierenden, trotzdem extrem militaristischen  „Alten Fritzen“,  zu tun hatten. Es werden also allgemeine, lexikalisch knappe Hinweise zu Voltaire, de La Mettrie, Lessing und Moses Mendelssohn geboten. Eine gewisse Vorliebe scheint der Autor zu haben, wenn er etwa Rudolf Steiner mehrfach als Philosophen erwähnt, Steiner hätte wohl eher in ein Buch „Esoterisches Berlin“ gepasst. Unendlich viel wichtiger ist Kant, er hat bekanntlich Berlin nicht besucht, aber in einigen Zeitschriften in Berlin publiziert und mit Berliner Zensurbehörden gekämpft.
5.
Aber es ist die grundlegende Frage: Soll sich ein philosophischer Städteführer auf Menschen, meist „Professoren“ festlegen, die sich selbst Philosophen nannten? Maurice Schuhmann folgt diesem Konzept weithin, wenn er auch einige Literaten erwähnt, wie etwa den Romantiker E.T.A. Hoffmann und sogar … Christopher Isherwood. Wo nun die philosophische Dimension in dessen Werk zu entdecken wäre, wird leider nicht gesagt.
6.
Würde man hingegen einen weiten Philosophie – Begriff anwenden, dann hätten viel mehr philosophisch relevante Autoren und Künstler, Soziologen und Theologen hinsichtlich ihrer oft impliziten Philosophie erwähnt werden müssen. Georg Simmel, Ernst Troeltzsch, ja warum nicht auch Theodor Fontane in Verbindung mit Schopenhauer oder Walter Benjamin, der in der Grunewalder Delbrückstr. als Kind lebte. Sein Name taucht in dem Buch gar nicht auf.
Erst ein breiter Philosophiebegriff kann die umfassende Bedeutung von philosophischem Denken zeigen, sie findet bekanntlich nicht nur dort statt, wo Philosophie draufsteht.
7
Ich finde es bedauerlich, dass jetzt nur ein „philosophiegeschichtlicher Städteführer“ vorliegt, wie der Titel exakt mit dem Focus „Geschichte“ betont. Das heißt, die gegenwärtige Lebendigkeit selbst der sich explizit nennenden Philosophie erlebt der Städtespaziergänger nicht. Philosophie ist auch in Berlin nichts Vergangenes. Kein Wort in dem Buch über die gar nicht so ferne Zeit der grausigen DDR Philosophie an der Humboldt Uni; kein Wort, zu dem bedeutenden Religionsphilosophen Romano Guardini, der als Katholik, in den zwanziger und dreißiger Jahren an der Universität Unter den Linden lehren durfte und in Berlin unter anderem in Eichkamp wohnte. Aber auch in der heutigen Gegenwart hätten einige – auch international geschätzte – PhilosophInnen genannt werden können, wie etwa Volker Gerhardt von der H.U. Man hätte doch auch das Philosophische Seminar an der FU in Berlin – Dahlem erwähnen können, in einem durchaus inspirierenden Gebäude (von Hinrich Baller, 1983 errichtet) untergebracht. Peter Bieri (alias Pascal Mercier „Nachtzug nach Lissabon“) lehrte an der F.U. sowie die unvergessenen großem Philosophen Wilhelm Weischedel und vor allem Michael Theunissen. In der Bewegung rund um den “Mai 68” war etwa Herbert Marcuse häufig als Gastprofessor der FU in Berlin, ebenso der Philosoph Paul Feyerabend.
8.
Das Buch „Geistreiches Berlin und Potsdam“ ist trotz gewisser Begrenztheiten für die berühmten „weiten Kreise“ ein erster Start, über die Rolle von Philosophie in der Stadt Berlin oder in der Landeshauptstadt Potsdam nachzudenken. Man wird sich zum Beispiel fragen: Warum gibt es in Deutschland Literaturhäuser und Kunsthäuser, aber kein „Haus der Philosophie“, wie etwa in Paris oder Toulouse seit Jahrzehnten. So ganz ernst meinen es die Politiker und die Kulturpolitiker wohl doch nicht, wenn sie gelegentlich auf die Philosophie in Berlin oder Potsdam hinweisen. Dass es private „philosophische Salons“ in Berlin seit einigen Jahren gibt, hätte erwähnt werden können. Wenn es einmal ein Philosophie-Haus in Berlin geben sollte, wird darin sicher die interkulturelle und multikulturellen Dimension zum Ausdruck kommen. Dass in dem Buch nicht auf die Präsenz nicht-deutscher PhilosophInnen in Berlin auch früher schon hingewiesen wird, wird man sehr bedauern, russische Philosophen waren nach dem Sieg der Sowjets in Berlin, Nikolai Berdjajew hatte seine eigene „Religionsphilosophische Akademie“, der Franzose Jean Paul Sartre war 1933/34 hier, auch Ortega y Gasset studierte in Berlin usw.

Man sieht auch an diesen Beispielen, wie viel “Potential” sozusagen noch in dem Thema “Philosophishcer Stadtführer durch Berlin” steckt…
9.
Man wünscht dem Buch weite Verbreitung, und eine zweite erweiterte Auflage, auch mit der Korrektur etwa der Daten zu Gotthold Ephraim Lessing, Seite 29, aber das nur wirklich am Rande. Zur Stadt Bamberg liegt bereits ein philosophischer Stadtführer vor, vielleicht ist nun auch das Berlin-Buch ein Start für eine umfassende Serie „philosophischer Stadtführer“.

Geistreiches Berlin und Potsdam. Ein philosophiegeschichtlicher Städteführer“. Von Maurice Schuhmann. Hendrik Bäßler Verlag Berlin, 2021, 151 Seiten mit zahlreichen Fotos, Hardcover, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.