Viel zu viele Kirchengebäude in Frankreich

Nun sorgt sich der Staat um die Zukunft der Gotteshäuser
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Nicht nur in Deutschland, vor allem im Osten, in den „neuen Bundesländern“, gibt es viele hundert (Dorf)Kirchen entweder in einem desolaten architektonischen Zustand oder in trauriger, ungenutzter Leere. Die Kirchenmitglieder sind eine Minderheit.

2.
In Frankreich beginnt jetzt der Staat, sich um viele selten genutzte, oft verfallene Kirchengebäude zu kümmern. Sie kosten den Kommunen einfach zu viel Geld, wenn nicht neue Konzepte realisiert werden.

3.
Das Thema hat in Frankreich einen anderen Charakter als in Deutschland: Gemäß den Gesetzen der Trennung von Kirchen und Staat aus dem Jahr 1905 ist der Staat für den äußeren Erhalt der Kirchengebäude verantwortlich, aber nur für solche, die bis zum Jahr 1905 errichtet wurden. Um die später errichteten Kirchengebäude haben sich die Kirchen allein zu sorgen.
Aber es sind natürlich viele hundert Kirchen, die vor 1905 errichtet wurden, und die von den Kirchengemeinden genutzt wurden oder noch genutzt werden: Dabei sind die Bistümer für die Pflege und den Erhalt der „inneren Strukturen“ ihrer Kirchen (Mobiliar, Sauberkeit, Farbgebung der Wände etc.) verantwortlich. Und die Katholiken können dem Gesetz entsprechend „ihre Kirchen“ für ihre religiösen Veranstaltungen nutzen, wie sie es und wann sie es wollen. Darauf hat der Staat keinen Einfluss, er muss nur für den äußeren Erhalt der Kirchenmauern sorgen. Und das ist manchmal voller Probleme: Weil die Kommunen wenig Geld haben, machen selbst die noch genutzten Kirchen von außen (und manchmal leider auch von Innen) einen verwahrlosten Eindruck.

4.
Genaue Statistiken gibt es nicht, wie viele Kirchengebäude es denn in Frankreich heute noch gibt, zumal solche, die vor dem Jahr 1905 errichtet wurden. Lediglich die Vereinigung „Observatoire du patrimonie religieux“ verfügt über Schätzungen, danach gehörten etwa 40.000 Kirchengebäude den staatlichen Gemeinden, 500 sind bereits wegen Baufälligkeit total geschlossen, etwa 2.500 bis 5.000 befinden sich in einem bedenklichen architektonischen Zustand…Dazu liegt eine interessante Foto – Dokumentation vor. LINK.  Über umgewandelte Kirchengebäude in ITALIEN fand schon 2016 in Basel eine interessante Azsstellung statt: LINK.

5.
Über die ungewisse Zukunft der vielen (ungenutzten) Kirchengebäude beraten nun französische Politiker: Sie wissen: Wenn sich nur noch 29 Prozent der Franzosen katholisch nennen und die Teilnahme an der Messe in vielen Regionen minimal ist, dann muss gefragt werden: Wie können diese Gebäude, wenn sie denn vor dem Verfall bewahrt werden sollen, zu einer neuen Verwendung kommen. Es geht also um die Zukunft des „patrimonie culturel“, des Kulturerbes, zum dem auch das „patrimonial cultuel“, das religiöse („kultische“) Erbe gehört.
Die Frage ist: Sollen diese Kirchengebäude also der bislang einzigartigen Verfügung der Bistümer und Pfarrgemeinden entnommen werden, „wo es doch eine quantitative Überdimensionierung“ der Kirchengebäude gibt, wie eine entsprechende Studie aus den Editions L Harmattan im Jahr 2006 schon feststellte?

6.
Es gibt auch in Frankreich schon die Praxis, Kirchen, wenn sie denn nicht gut erhalten sind, als Orte für Konzerte und andere Kulturveranstaltungen zu nutzen. Allerdings protestieren dagegen in letzter Zeit immer wieder extrem konservative Katholiken, sie stören diese Kulturveranstaltungen, etwa Orgelkonzerte, in Kirchen. Die politisch und theologisch rechtsextreme Bewegung CIVITAS hat sich entsprechend „betätigt“ und sogar den Abbruch eines Orgelkonzerts als Kulturveranstaltung durchgesetzt. Zur rechtsextremen katholischen Bewegung CIVITAS: LINK.

7.
Die Bischofskonferenz Frankreich will sich im September 2023 mit dem Thema befassen. Die entsprechenden offiziellen „Blockaden“ zu einer erweiterten Nutzung der Kirchengebäude waren noch 1990 üblich, aber sie sind nun wohl angesichts des Zustandes dieser Kirche insgesamt wohl verschwunden.

8.
Die (katholische) Kirchenleitung ist in Frankreich wie auch in Deutschland nicht imstande, neue Konzeptionen für eine dauerhafte lebendige Gestaltung der Kirchengebäude zu entwickeln und genehmigen: Warum können nicht Laien zu Verantwortlichen „ihrer“ Kirchen ernannt werden, zu Moderatoren, zu Inspiratoren, die dann auch in den ebenfalls oft leerstehenden „Pfarrhäusern“ mit ihren Familien oder Partnern wohnen: Das müssen ja nicht Theologen sein, auch Pädagogen, Schriftsteller auf der Suche nach einem „Zusatzjob“, pensionierte Lehrer usw… Sind solche Überlegungen immer nur von dem Argument „kein Geld vorhanden“ abhängig? Wo können und sollten die Kirchenbehörden sparen, um den Menschen in den Dörfern ein lebendiges kulturelles und religiöses Leben in ihren renovierten Kirchen zu ermöglichen? Und warum können diese Kirchengebäude nicht auch anderen Religionen übergeben werden, Protestanten, Juden, Buddhisten, islamischen Sufis oder auch säkularen Humanisten?

9.
Der Abriss alter (Dorf) Kirchen wird selbst von vielen säkularen Franzosen noch als Problem erlebt, weil dann in den (kleinen), entlegenen Dörfern sozusagen alles über das unmittelbare Wohnen Hinausweisende verschwindet: Schulen sind schon geschlossen, die Postämter auch, die Bäckerei auch, die Cafés ebenso. Die Bussverbindungen sind miserabel… Verschwinden nun auch noch die Kirchengebäude und vielleicht auch die Reste einer Kirchengemeinde(- gemeinschaft!), dann ist der esprit, die Aura, der Geist, der Dörfer gänzlich am Ende, sagen manche Dorfbewohner. Dann ist alles nur noch grauer, schwarzer Alltag.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Den heutigen Liberalismus kritisieren und überwinden.

Zu einem neuen Buch des us-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Kritik am politischen und ökonomischen Liberalismus der sich heute liberal nennenden oder liberal gebenden „bürgerlich – konservativen“ Parteien in Europa wird immer deutlicher und heftiger. Diese Kritik hat aber bis jetzt keine spürbaren politischen Verbesserungen bewirkt. Die einflußreichen Unterstützer – Kreise und Wähler und Lobbyisten verteidigen mit diesen Parteien ihre Privilegien.
2.
Einige Beispiele der aktuellen Liberalismus – bzw. Neoliberalismus – Kritik der letzten Monate:
Der Publizist Heribert Prantl schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ am 8/9. Juli 2023: „Die Lohnsteuerzahler finanzieren den Sozialstaat, die Milliardäre betreiben Reichtumspflege… Die Schuldenbremse (eine Ideologie des FDP Finanzministers, CM) ist keine Bremse, sie ist ein Verbrechen… Eine wirksame Umverteilungspolitik, eine steuerliche Entreicherung der Superreichen ist daher ein Beitrag zur demokratischen Renaissance in Krisenzeiten. Das ist nicht Klassenkampf, das ist Kampf um die Demokratie.“
Und so sieht ein Aspekt der Sozialpolitik der Bundesrepublik im Jahr 2023-2024 aus: Der Mindestlohn soll im kommenden Jahr 2024 um 41 Cent steigen. 20 Prozent aller Jobs in Deutschland sind Mindestlohnjobs…
3.
Beispiele aus der europäischen Nachbarschaft: Die Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Lea Opi, schreibt in ihrem Buch „Frei“ (2022): „Ich setze Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“ (S. 329).
4.
In den Niederlanden, einst das hoch gepriesene, so tolerante und so liberale Land hat jetzt mit dem massiven Auftreten sehr rechter, durchaus extrem rechter Parteien zu tun: Wichtig ist die 2019 gegründete Partei „BBB“, auf Niederländisch „BoerBurgerBeweging“, inszeniert von der Ex-Christdemokratin (CDA) Caroline van der Plas. Der „Tagesspiegel“ schreibt am 7.8.2023 LINK TSP: https://www.tagesspiegel.de/internationales/rechtsruck-in-den-niederlanden-gewinnen-die-rechtspopulisten-die-wahl-10249210.html
„Einen wichtigen Grund für den erfolg dieser Partei BBB sieht Geert Mak, Schriftsteller, Publizist und Chronist der niederländischen Gesellschaft, in den Folgen von 13 Jahren neoliberaler Politik unter Mark Rutte, Mak betont:. „Der öffentliche Sektor litt unter dem langjährigen rechts-liberalen (VVD)Ministerpräsident Rutte. 25 Prozent der Schüler haben Leseprobleme, es ist keine Polizei mehr auf der Straße zu sehen, ein Gefühl von Unsicherheit machte sich breit.“ Das sieht der Soziologe Oudenampsen ähnlich und ergänzt: „Der Staat hat seine Aufgaben sträflich vernachlässigt, im Wohnungsbau, in der Raumordnung (das Ministerium wurde aufgelöst), in der Pflege und Jugendfürsorge. Jetzt fühlen sich die Menschen alleingelassen und ahnen so langsam, dass es einen planenden Staat geben muss.“  Bei den Provinzwahlen im Frühjahr 2023 erzielte die Partei BBB tatsächlich gleich 20 Prozent der Stimmen.
5.
Man muss sich an diese aktuellen Tatsachen erinnern, wenn man das neue Buch des in England lebenden, us-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss zur Hand nimmt.Das Buch hat den durchaus provozierendenTitel „Nicht wie ein Liberaler denken“ (Suhrkamp Verlag 2023). Raymond Geuss wurde 1946 als Sohn eines Stahlarbeiters in Indiana geboren. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Philosophie an der University of Cambridge. Geuss hat auch in Deutschland studiert, aber seine Publikationen sind hierzulande eher unbekannt.
Dabei ist sich Geuss durchaus der Problematik des Titels seines neuen Buches bewusst: Denn „liberal“ ist zumal in den USA eine Art Inbegriff für Verteidiger der Demokratie, nicht nur unter den „Demokraten“. Dort muss man wohl gerade im Kampf gegen den Demokratiezerstörer Trump, sehr wohl liberal denken und handeln. Und wenn man – historisch denkend – die universalen, durchaus „liberalen“ Freiheitsrechte eines jeden Menschen mit den Menschenrechten in Verbindung bringt, dann muss man in Polen oder Ungarn sehr wohl für das Liberale kämpfen. Liberalismus und Rechtsstaat gehören historisch gesehen und philosophisch betrachtet eigentlich zusammen. „Eigentlich“…, aber heute gilt das nicht mehr unbedingt, wenn man die politische Ideologie der sich liberal nennenden Parteien in Europa betrachtet.
6.
Darauf weist Raimond Geuss zurecht hin: „Liberal“ ist heute (in Europa vor allem) zu einem äußerst schillernden, vieldeutigen, sehr dehnbaren Begriff geworden, der sich bestens eignet für die Verteidigung der Privilegien der ökonomisch Mächtigen, wenn nicht oft Allmächtigen. „Der Liberalismus ist ohne Frage eine amorphe und wechselnde Sammlung von Dingen mit einer ausgeprägten Fähigkeit, sich zu erneuern, einen Gestaltwandel zu vollziehen und die Formulierung seiner Grundüberzeugungen zu revidieren“ (S. 27)… „Die Anziehungskraft des Liberalismus wurzelt in der Tatsache, dass er auf besonders zufrieden- stellende Weise auf tiefe menschliche Bedürfnisse antwortet und den Eigeninteressen der mächtigen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen entgegenkommt“ (S. 28).
7.
Geuss urteilt, dass die Politik der sich liberal nennenden Parteien, ja die heutige Ideologie des Liberalismus bzw. Neoliberalismus „falsch“, „irrelevant und schlimmstenfalls aktiv schädlich ist“, so wörtlich auf Seite 236… „Die Finanzkrise von 2008 war eine direkte Folge liberaler Grundsätze auf das Bankensystem“, so auf S. 237. Eine Erkenntnis, die weithin von kritischen Wissenschaftlern geteilt wird. Ebenso sieht Geuss die Verantwortung für das Desaster der Klima – und Ökopolitik in der liberalen Wirtschaftspolitik. Denn diese Liberalität schätzt und pflegt den individuellen Geschmack und die Interessen des einzelnen (der Reichen) so stark, dass man sagen kann: Der Liberalismus ist dem „Unternehmertum verpflichtet“ (S. 238).
Geuss nennt dann noch einmal seine eigene Überzeugung: „Man kann sich nicht vorstellen, wie die (Öko)-Katastrophe abgewendet werden könnte, ohne dass erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems ergreifen werden“(S. 238). Über neue, schärfere Gesetze zur Verhinderung weiterer Öko – und Klima – und Armuts – Katastrophen wird allenthalben wissenschaftlich diskutiert… Aber seine offenbar sozialistische Position vertieft Geuss nicht weiter, denn er will in seinem Buch eher „eine Erzählung“ bieten, aber keine argumentative Studie (S. 238). Das Buch ist tatsächlich vor allem eine Erinnerung an seine Schulzeit in einem katholischen Gymnasium mit Internat in der Nähe von Philadelphia, USA. Geleitet wurde es von den Patres des „Schulpriester-Ordens“, sie werden auch Piaristen, zumal in Europa, genannt (S. 40f.). Raymond Geuss hatte dort das Glück, intellektuell sehr gut ausgebildete Lehrer zu haben, vor allem findet höchstes Lob der aus dem kommunistischen Ungarn geflohene Pater Béla Krigler, er war der Religionslehrer von Geuss. Ihm gelang es, gerade im Religionsunterricht den kritischen Geist der Schüler zu wecken und zu fördern. Krigler war auch philosophisch gebildet, in den USA wird seiner noch heute vielfach öffentlich gedacht.
8.
Im umfassenden Sinne ist das Buch also eine Art Autobiographie eines Philosophen, der dabei allerdings Persönliches, Familiäres oder gar Intimes gar nicht oder eher nur sehr am Rande erwähnt. Die autobiographischen Ausführungen sind also eher auch intellektuell inspirierende Erinnerungen an theologische oder philosophische Probleme, die im Laufe der Ausbildung an der katholischen Schule diskutiert wurden.
9.
Dennoch wird natürlich der Titel des Buches „Nicht wie ein Liberaler denken“ oft, allerdings eher kurz, entfaltet.
Der Philosoph Raymond Geuss erwähnt seine Kritik an den großen liberalen Denkern damals, wie Locke und John Stuart Mill. Und der heutigen, vor allem seine Kritik an John Rawl fällt heftig aus. Darin folgt er einem seiner Universitäts – Lehrer, dem Philosophen Robert Paul Wolff, er meinte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Rechtfertigung realer Ungleichheit das eigentliche Ergebnis, wenn nicht gar die Intention von Rawls Position sei“ (S. 175). Rawls liberale Philosophie sei bezogen auf eine Bevölkerung, die die reale (ökonomische) Ungleichheit absolut hochschätzt (S. 176).
Die Darstellung seiner philosophischen Lehrer ist also der zweite Hauptteil im Buch vom Geuss, er erwähnt neben Wolff noch Robert Denen Cumming und Sidney Morgenbesser, „mein wichtigster Philosophielehrer an der Universität“ (S. 31) .
Nebenbei: Auch einzelne kritische Anmerkungen bietet Geuss zu Martin Heidegger, sie sind inspirierend, etwa: Heidegger „versuchte, es anderen unmöglich zu machen, seine Vorstellungen von außen zu erfassen oder sich irgendeiner üblichen Form des kritischen Kommentars zu widmen, so dass alles, was man tun konnte, entweder in der Wiederholung dessen bestand, was Heidegger sagte, oder darin, sich rigoros von seinem Werk abzuwenden“ (S. 214). Und weiter schreibt Geuss über die Schwierigkeit der Heidegger – Interpretation: „ Das Dilemma bestand in einem papageienhaften Wiederholen oder in einer Paraphrasierung…“ (ebd).
10.
Es ist nicht gerade üblich, dass Philosophen autobiografisch orientierte Bücher schreiben, also nicht vom „dem“ Ich im allgemeinen sprechen, sondern von dem eigenen, sehr persönlichen Ich einiges mitteilen. Dies zu erleben, verbunden mit philosophischen Einsichten und Provokationen, macht den Wert des neuen Buches von Raymond Geuss aus.
Gründliche Auseinandersetzungen mit dem heutigen politischen Liberalismus bleiben natürlich ein dringendes Projekt, zumal in der Bundesrepublik heute, dort sind sehr viele BürgerInnen hinsichtlich der Sozial- und Verkehrspolitik unter der Dominanz von FDP – Politikern äußerst unzufrieden.

Raymond Geuss, Nicht wie ein Liberaler denken. Aus dem Englischen von Katrin Wördemann. Suhrkamp Verlag 2023, 267 Seiten, 28€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Sexueller Missbrauch durch Kleriker – Hinweise zur Geschichte einer verdrängten und verleugneten katholischen Tradition.

Von Christian Modehn am 22.7.2023

1.
Die sexuelle Missbrauch durch katholische Kleriker ist kein neues Ereignis des 21. Jahrhunderts. Es wird Zeit, einige historische Tatsachen öffentlich zu machen. Und zu zeigen, dass der Schutz der angeklagten Kleriker schon damals vorrangiges Ziel der Hierarchie war. Und das ist mehr als ein „nur-historisches Thema“.

2.

Die Kirchenführung und die Theologen hatten – spätestens seit Einführung des Zölibatsgesetzes im 12. Jahrhundert – das abstrakte Ideal eines keuschen, und deswegen (!) heiligen Klerus vor Augen.
Von pädosexuellen Klerikern sind bis ins 20. Jahrhundert nur wenige Dokumente überliefert. In seiner Studie über die Geschichte der Sexualität des Klerus spricht der Spezialist, der Historiker Georg Denzler, nur undifferenziert von “Homosexualität im Klerus”. Das Thema der so genannten „Pädophilie“ bzw. „Pädosexualität“ unter Priestern und Ordensleuten wird nicht eigens erwähnt. Dabei ist klar, dass das Wort „Pädophilie“ erst Ende des 19. Jahrhunderts verwendet wird. Aber es liegt nahe, dass „Pädophilie“ auch „mit-gemeint“ ist, wenn etwa Konzilien von „Sodomie“ im Klerus sprechen, wie etwa das III. Laterankonzil schon im Jahr 1179. Dort wurde in Kanon 11 bestimmt: Wenn ein Kleriker der „Unzucht wider die Natur verfallen ist, dann soll er aus dem Klerus ausgestoßen und in ein Kloster verbannt werden, um dort Buße zu tun“. (Quelle: Das Buch „Kreuzfeuer“. München 1991, darin der Beitrag von Prof. Denzler, S.106.).
Man erinnere sich: Eine andere milde Strafe fiel auch Papst Benedikt XVI.nicht ein, als er den bekannten pädosexuellen Verbrecher, den Ordensgründer der „Legionäre Christi“, Pater Marcial Mariel, aller seiner hohen Funktionen enthob, aber ihn NICHT den Gerichten übergab, sondern… in ein Kloster zur Buße schickte, aus dem sich der Verbrecher nach Florida (USA) flüchtete…LINK

Da war selbst Papst Pius V. (1572) schon weiter, als er verlangte, dass „sodomitische Priester von der weltlichen Obrigkeit verurteilt werden sollen…“

Frühes Mittelalter: Der heilige Petrus Damiani.

3.

Zunächst muss der heilige Petrus Damiani (geboren 1006 in Ravenna – gestorben 1072 in Faenza, Italien) vor allem wegen seines Buches „Liber Gomorrhianus“ („Das Gomorrah Buch“) aus dem Jahr 1050 erwähnt werden.
Petrus Damiani war Mitglied eines Eremitenordens innerhalb der benediktinischen Tradition, er war Theologe, später auch Bischof von Ostia und dann auch führender Kardinal. In dieser Funktion setzte er sich leidenschaftlich für eine strenge Kirchenreform vor allem für eine „moralische Reinigung“ des Klerus ein. Er zog sich aber im Jahr 1061 aus der Kirchenpolitik in ein Kloster zurück, frustriert angesichts der fortbestehenden „amoralischen Zustände“ im Klerus. „Vielleicht war damals das `Laster` (gemeint ist Homosexualität im allgemeinen) unter dem Klerus so weit verbreitet, dass ein energisches Durchgreifen, wie Petrus Damiani es für notwendig hielt, zu einer spürbaren Dezimierung des Klerus geführt hätte“, so Prof. Denzler, S . 105.

4.

Im Titel seines Buches nimmt Petrus Damiani Bezug auf den alttestamentlichen Mythos von Sodom und Gomorra, in diesem Buch verurteilt Petrus Damiani offenbar auch pädosexuelle Praktiken durch Priester, selbst wenn er diesen Begriff nicht verwendet. Petrus Damiani spricht im 8. Kapitel seines Buches vom Umgang des Beichtvaters mit seinen „spirituellen Söhnen“, die vom Priester selbst missbraucht wurden. So Pierre J. Prayer, in seinem Buch, erschienen in Waterloo, Ontario, 182, S. 14. LINK
Im katholischen „Dom-Radio“ (Köln) schreibt Anselm Verbeek am 23.2.2022: „Gegenüber Papst Leo IX. prangerte Petrus Damini,`das höchst unflätige Leben im Klerus` an. Er empörte sich über `Unzucht und Missbrauch von Minderjährigen unter dem Deckmantel der Religion`.”

5.

Die Hinweise des Petrus Damiani zu sexuellem Missbrauch an „Spirituellen Söhnen“ dienten nicht der Aufklärung in der damaligen klerikal bestimmten Gesellschaft. Sie sind dem Autor Petrus Damiani wichtig, weil er jegliche praktizierte Sexualität, mehr noch: jegliche Akzeptanz von Leiblichkeit im Klerus aufs schärfste verurteilt. Wäre Petrus Damiani ein objektiver (und damit kirchenkritischer) „Aufklärer“ gewesen über die Vertuschungen der Pädokriminaliät im Klerus, dann wäre er gewiss nicht 1828 zum katholischen Kirchenlehrer feierlich ernannt worden und zu einem Heiligen, den übrigens Kardinal Ratzinger sehr lobte. Petrus Damiani gilt heute als der radikale Feind jeglicher Sexualität außerhalb der Ehe.

6.

Aber der Heilige empfiehlt dann die in Klerikerkreisen übliche Geheimhaltung des Missbrauchs: In einem Schreiben an Papst Nikolaus II. behauptet Petrus Damiani: „Würde die Unzucht bei den Priestern geheim betrieben, so sei es zu ertragen, aber die öffentlichen Konkubinen, ihre schwangeren Leiber, die schreienden Kinder, das sei das Ärgernis der Kirche“, berichtet wikipedia.

7.

Es ist ein Beleg für die Oberflächlichkeit katholischer Theologie und katholischer Geschichtsforschung, wenn in dem durchaus repräsentativen umfangreichen Band „Reformer der Kirche“ (Mainz 1970) ein Beitrag des katholischen Theologen und Historikers Jean Leclercq über Petrus Damiani erscheint. Und darin mit keinem Wort dessen Buch „Liber Gomorrhianus“ erwähnt wird (S. 540 f.). Hingegen wird berichtet: Er sei „ein Fürsprecher der freiwilligen Geißelung“ gewesen (S. 541) und habe diese Form des frommen Masochismus auch selbst praktiziert.
Nebenbei: Wen wundert es dann noch, dass dieser strenge Masochist heute in der katholischen Kirche offiziell als „Patron und Helfer gegen Kopfschmerzen” verehrt werden darf, so der Wikipedia Beitrag (Deutsch) über Petrus Damiani.

Missbrauch im Orden der Schulpriester, auch „Piaristen“ genannt, im 17. Jahrhundert.

8.

Der sexuelle Missbrauch durch Priester hat eine lange Tradition auch im 17. Jahrhundert. Sie wird deutlich greifbar in der umfassenden historischen Forschung von Karen Liebreich, sie studierte die Frühgeschichte des Ordens der “Piaristen”, der „Schulpriester“, gegründet vom heiligen Joseph Calasanz, 1617 von Papst Paul V. offiziell in Rom als Orden bestätigt. Calasanz lebte von 1557 – 1648.

Die Historikerin Karen Liebreich hat im Jahr 2004 ihre Studie „Fallen Order“ in New York, publiziert. Sie hatte Zugang zu entsprechenden Archiven in Rom, Florenz usw… Der Orden der Schulpriester hatte sich zu Beginn vor allem für den Unterricht armer Kinder (Jungen) in eigenen Ordensschulen engagiert. Und unter den Lehrern, den Ordenspriestern, sammelten sich bald – bei dieser „Spezialisierung“ auf den Unterricht von Knaben – tatsächlich Pädophile. „Bekannte pädophile Priester wurden von einer Ordens – Schule der Piaristen in die andere versetzt und so wurde Ihnen Zugang zu Kindern ermöglicht. „Der Ordensgründer Calasanz wusste doch, was geschieht, wenn Männer und Jungen miteinander allein gelassen werden, seine Schriften und seine Regeln für die Schule zeigen das“, schreibt Karen Liebreich auf S. 269. Aber die pädophilen Priester im Orden vernetzten sich, versuchten erfolgreich, Einfluss und Macht im ganzen Orden zu gewinnen: „Der Ordensgründer Joseph Calasanz wusste, was da an Missbrauch geschah, ebenso wie die Kardinäle, die Bischöfe und letztlich auch der Papst“ (ebd.). „Aber der Skandal der pädophilen Schulpriester wurde ignoriert, um den Ruf eines wichtigen Klerikers mit einflußreichen familiären Beziehungen zu schützen“. Und der Ordenspriester Stefano degli Angeli Cherubini (geb. 1600) wurde sogar noch mit vollem Wissen des Papstes sogar im Jahr 1643 oberster Chef des Ordens.

9.

Der Ordensgründer Calasanz deckte den pädophilen Verbrecher nun auch als seinen Vorgesetzten im Orden. „Kindesmissbrauch durch Ordenspriester wurde von Calasanz ignoriert und „zugedeckt“, und in jedem Fall „war immer seine erste Priorität der gute Rufe des Ordens und die Reputation der betroffenen Mitbürger“ (S. 257). „Erst als die Tatsachen auch in der Öffentlichkeit bekannt wurden, wurde der Orden der Schulpriester als Orden verboten, eine noch nie dagewesene Aktion der Kirche“ (ebd.). Das geschah 1646, immerhin hatte Papst Innozenz X. den Mut, einen von pädophilen Klerikern durchsetzten Orden zu verbieten. Aber 10 Jahre später konnte der Orden natürlich mit päpstlicher Erlaubnis (durch Alexander VII.) seine Aktivstem wieder aufnehmen… er hat seitdem eine nach außen hin erfolgreiche Geschichte mit vielen prominenten Schülern…
Roland Machatschke (Wien), Journalist und Mitarbeiter der Wiener Piaristen, hat einen ausführlichen Vortrag über die frühe Geschichte des Piaristen-Ordens veröffentlicht: LINK

10.

In dem umfassenden Lexikon  „Reformer der Kirche“ (hg. von Peter Manns, Mainz 1970), wird in dem Beitrag über den heiligen Joseph Calasanz, Seite 904-907) mit keinem Wort der sexuelle Missbrauch etwa durch Pater Cherubini erwähnt. Er wird nur als ein „Ehrgeiziger“ beschrieben, der „reiche Gönner hatte“ (S. 906). Als Ordensgeneral (1643) wurde Cherubini entlassen, aber die Autorin Hilde Firtel nennt als Grund nur „Unterschlagungen“, nicht sexuellen Missbrauch. Der Herausgeber Peter Manns, Mainz, war Professor für Kirchengeschichte in Mainz… er galt als „katholischer Luther-Spezialist“…

11.

Zu einer Auflösung eines korrupten Ordens waren die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus nicht bereit oder nicht in der Lage, als es darum ging, wegen der pädosexuellen Verbrechen Pater Marcial Maciels von den „Legionären Christi“ diesen Orden zu verbieten und aufzulösen, ein Vorschlag, der vielfach von Opfern Pater Maciels vorgebracht wurde… Aber der Einfluß des Ordensgründers unter den Kardinälen, seine öffentlich bekannte Freundschaft mit Papst Johannes Paul II., sein bekannter finanzieller Reichtum, seine vielen einsatzbereiten jungen Priester usw. verhinderten wohl die Auflösung dieses von vielen für korrupt gehaltenen Ordens…Verschiedene Studien zu den “Legionären Christi”:
LINK

Missbrauch im „Merzedarier-Orden“ im Spanien des 17. Jahrhunderts

12.
Über einen pädosexuellen Ordenspriester im Spanien des 17. Jahrhunderts liegt eine kleine historische Studie vor, sie hat Prof. Raphael Carrasco verfasst unter dem Titel „Sodomiten und Inquisitoren im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts“. Die Studie ist erschienen in dem Sammelband „Die sexuelle Gewalt in der Geschichte“, hg. von dem Historiker Alain Corbin, Wagenbach Verlag, 1992, dort S. 45-58. Die französische Ausgabe erschien 1989. Das Buch ist auf Deutsch nur noch antiquarisch verfügbar…Raphael Carrasco (Montpellier) geht der Frage nach: Wie konnte sich ein hoher Kleriker, des sexuellen Missbrauchs angeklagt, im Spanien des 17.Jahrhunderts aus der Affäre ziehen, nur weil er ein Kleriker war und „der gute Rufe der Kirche bewahrt werden musste“.

13.

Prof. Raphael Carrasco stellt in seinem Aufsatz den sexuellen Missbrauch eines Mönchs zunächst in den größeren Zusammenhang der Homosexualität (damals Sodomie genannt) im „Inquisitionsbezirk Valencia“ im 16. und 17. Jahrhundert. Schon 1497 hatten die „Katholischen Könige“ dort für Sodomiten die Strafe des Feuertodes festgelegt. In einem grundlegenden Text der katholischen Könige heißt es: „Es handelt sich um die Bestrafung des abscheulichen Delikts, das schon der namentlichen Erwähnung unwürdig ist, das Delikt zerstört die natürliche Ordnung, es wird durch Gottes Urteil gestraft, etwa durch Pestilenzen und andere Plagen“ (S. 46).
Im Gericht von Valencia war mit „19 Prozent der wegen Sodomie Angeklagten die Gruppe der Kleriker (die nicht weniger als 1 % der Bevölkerung repräsentierte), mit Abstand der höchste Anteil…Von 1575 bis 1590 wurden in Valencia vier Kleriker verbrannt, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden schwere Strafen gegen Kleriker, Galeere und Zwangsarbeit, verhängt“ (S. 54).

14.

Auch damals setzte sich der Schutz der Kleriker als oberstes Prinzip im Umgang mit sexueller Gewalt durch Priester durch: „Das Tribunal handelte allerdings mit äußerster Vorsicht, denn die verschiedenen Orden zeigten sich in der Verteidigung ihres guten Rufes ganz besonders aktiv“ (S. 54). Damals wie heute: Die Orden behaupten, sie müssen zuerst und vor allem ihre Mitglieder schützen … und nicht die Opfer…

15.

Raphael Carrasco konzentriert sich dann in seinem Aufsatz auf den Fall des Paters Joan Nolasco Risón aus dem Orden der „Merzedarier“ (dieser Orden besteht noch heute mit der Ordensabkürzung O.de.M.).
Pater Joan Nolasco Risón war Novizenmeister, also offiziell zuständig für die die Förderung der Spiritualität der jungen Männer, die damals im Alter von 16 Jahren in die Orden als Kandidaten und mögliche Mtglieder eintraten. „Der Novizenmeister hatte in seinem Konvent unaufhörlich und erfolgreich sexuellen Druck auf die jungen Leute ausgeübt, die ihm anvertraut waren“.
Pater Nolasco Risón hatte in seinem Kloster durch seine offensichtlichen „Aktivitäten“ eine Spaltung bewirkt: Es gab seine Komplizen, „die er anderswo auf günstigen Posten unterbrachte und die bis dahin seltsame Vorrechte genossen, und auf der anderen Seite die Reinen, die Schamhaften, Empörten sowie alle, die verfolgt und tyrannisiert wurden, weil sie dem Werben des Meisters widerstanden hatten“ (S. 55).
Es gab etwa einen kritischen Ordensbruder, Pater Jeronimo Ramirez, der dem sexuellen Missbrauch des Paters Nolasco Rison Einhalt gebieten wollte. Und was passierte? Der ganze Orden wollte den „guten Ruf“ bewahren, man beeinflusste den kritischen Pater Jeronimo Ramirez und versuchte, ihn zu überzeugen, doch bitte den prominenten Mitbruder im Orden nicht zu denunzieren. Aber die sexuell missbrauchten Novizen rebellierten. Und was tat der Beschuldigte? Pater Risón „versuchte die Novizen mit einer heftigen Rede voller unterschwelliger Drohungen einzuschüchtern“. (S. 55). Aber die Einschüchterungen nützen nichts. Die Inquisition hatte die Novizen zu Zeugenaussagen vorgeladen. „Diese Zeugenaussagen sind heute eine ganz außergewöhnliche Quelle für das Leben in den Novizinnen der Klöster am Ende des 17. Jahrhunderts.“ (S. 55).

16.

Die kirchliche Inquisitionsbehörde gab aber 1687 dem staatlichen Gericht die Zustimmung, Pater Risón (damals 54 Jahre alt) zu verhaften, allerdings „unter größter Geheimhaltung“, betont der Autor des Aufsatzes Raphael Carrasco (S.55). Wie zu erwarten: „Der Prozess gegen Pater Nolasco Rison versandte im Ermittlungsverfahren. Der Oberste Rat (der Inquisition) dachte, die zwangsläufig skandalöse Arznei, also die Bestrafung des Paters – sei schlimmer als die Krankheit (der sexuelle Missbrauch von Kindern“, S. 55. Der Verbrecher wurde also frei gesprochen, er u.a. war danach ein beliebter Prediger, im Jahr 1700 ist er verstorben.
In einem Lexikon Beitrag der „Königlichen Akademie der Geschichte“ in Madrid (verfasst von Manuel Alvar Lopez) ist von den Verfehlungen des Priesters Rison keine Rede.

Missbrauch durch einen Jesuiten im Frankreich des 18. Jahrhunderts

17.
Es geht um den Missbrauch durch den Jesuitenpater Jean-Baptiste Girard (1680-1733). Er wurde 1731 angeklagt, das Mädchen Marie-Cathérine Cadière im Beichtstuhl zum Sex verführt zu haben mit späterer Anstiftung zur Abtreibung. Der Skandal war damals in Frankreich sehr oft besprochen worden. “Die Aussagen anderer Beichtkinder Girards stützten die Anklage, doch wurde der Angeklagte am 10. Oktober 1731 in Toulon freigesprochen. Er musste allerdings in seine Geburtsstadt Dole zurückkehren, wo er bereits zwei Jahre später starb“ (Quelle: Wikipedia Beitrag, deutsch, über Jean-Baptiste Girard).

18.

Der philosophisch gebildete Schriftsteller Jean-Baptiste d` Argens ( 1703-1771) hatte über dieses Ereignis einen dicht am Ereignis orientierten Roman geschrieben, er wurde 1748 veröffentlicht unter dem Titel „ Thérèse Philosophe. Memoiren zu Ehren der Geschichte von Pater Dirrag und Mademoiselle Eradice“. Noch wird darüber debattiert, ob d` Argens tatsächlich der Autor des Romans ist. Der Marquis de Sade war von d` Argens als Autor überzeugt. Der Romanautor hatte den Jesuitenpater dann Dirrag genannt, die Leser wussten, wer gemeint ist.

19.

Der Historiker und Spezialist für die Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts Robert Darnton hat diesen Roman als pornographischen Text gewürdigt. (Quelle: „Denkende Wollust“, Frankfurt am Main 1996, S. 7 – 44). Interessant ist der Hinweis Darntons: Die großen (staatlichen) Bibliotheken damals verwahrten diesen und andere “Porno”-Romane unter der Rubrik „l` Enfer“, „Die Hölle“, unter Schloss und Riegel.
Die “Porno”-Romane (hinsichtlich der Darstellungen sicher weit entfernt von entsprechenden Texten des 20. und 21. Jahrhunderts) waren im 18.Jahrhundert in Frankreich weit verbreitet und es gab viele entsprechende Publikationen, sie zeigten die sexuelle Freiheit einer bestimmten (hohen) Gesellschaftsschicht. Und sie waren in der Darstellung der Freiheiten, die sich einzelne Männer nahmen, auch ein versteckter Impuls an die Leser, sich auch die Freiheiten, vielleicht auch politische Freiheiten zu nehmen.

20.

Im Roman „Thérèse Philosophe“ verführt und missbraucht der Jesuitenpater und geistliche Betreuer Dirrag (Pater Girard) das fromme Mädchen durch seine spirituellen Geschichten, die auf Wahn beruhen: Etwa, dass die sexuelle Hingabe des Mädchen zu einer Erhebung der Seele führe oder dass Wunderwerkzeuge des heiligen Franziskus bei der Penetration zur Anwendung kommen. Interessant ist, dass damals schon der sexuelle Missbrauch durch Priester mit der Erfindung „heilsamer” religiöser Zusammenhänge begründet wurde, auch Pater Marcial Maciel argumentierte so, als er Jungen und Jugendliche missbrauchte…

21.

Es gab zu Zeiten des ancien régimes (aber auch schon vorher) die “prisons ecclésiastiques“, also die kirchlichen und kircheneigenen Gefängnisse, die in Klöstern untergebracht waren oder auch in Priesterseminaren. Es ist meines Wissens bisher nicht untersucht worden, ob in diesen “Klostergefängnissen” auch Priester eingesperrt wurden, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig machten. Vieles deutet darauf hin, dass auch Kleriker von ihren Oberen eingesperrt wurden, die sich der “libertinage” schuldig gemacht hatten…

Diese “Kirchlichen Gefängnisse” in Klöstern sind ein Thema, das bisher in Deutschland wenig Beachtung fand. In Frankreich hat etwa der Historiker Bernard Plongeron in seiner Studie”La vie quotidienne du clergé francais au 18. Siecle” (Hachette, Paris 1974, S. 65 f.) auf dieses Thema hingewiesen; eine größere Studie ist “À propos de la prison ecclésiastique sous l’Ancien Régime” von Jean-Pierre Gutton, erschienen in “Presses universitaires François-Rabelais” (1995).

Kurze Zusammenfassung

22.

Diese Beispiele sind nur Fragmente aus einer langen Geschichte des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Kleriker. Es sind eben nur Fragmente, weil die Hierarchie entsprechende Dokumente meist umfassend vernichtete und Spuren verwischte, „um den guten Ruf der Kirche zu schützen“, wie es im Laufe der langen Missbrauchsgeschichte immer heißt. Und der Zölibat des Klerus bot Pädophilen einen Schutzraum, in dem sie sich, zur Ehelosigkeit verpflichtet, als sexuelle Einzelgänger förmlich ausleben und austoben konnten … und können.

Leider ist eine wichtige Studie vergriffen: Hertha Busemann: „Der Jesuit (Girard) und seine Beichttochter. Die Faszination eines Sittenskandals in drei Jahrhunderten“. BIS, Bibliotheks- u. Informationssystem d. Univ. Oldenburg. Mit e. Vorw. von Ernst Hinrichs. Oldenburg 1987.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Remonstranten und die (Abschaffung der) Sklaverei in den Niederlanden.

Zu einer Studie des Theologen und Historikers Simon Vuyk.

Von Christian Modehn

1.
In den Niederlanden ist die Anerkennung der Schuld an der Sklaverei nun eine offizielle, eine definitive Tatsache, vom König Willem-Alexander höchstpersönlich ausgesprochen. Er hat sich am 1. Juli 2023, dem 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei durch die niederländische Regierung, für die Grausamkeit und Unmenschlichkeit durch Niederländer öffentlich entschuldigt.
Am 1. Juli 1863 hatten die Niederlande als eines der letzten Länder Europas (!) die Sklaverei offiziell abgeschafft, die Arbeit auf den Plantagen Surinams endete allerdings erst zehn Jahre später. Die Regierung der Niederlande hatte zuvor in über 200 Jahren etwa 600.000 Menschen (Schwarze) versklavt.
„Keti Koti“, „zerbrochene Ketten“ in der kreolischen Sprache, ist das neue humane Leitwort in einem Holland, das sich mit der „Aufarbeitung“ der eigenen dunklen Vergangenheit schwer tat und schwer tut.

2.
Die Kirchen in den Niederlanden haben sich zum Thema schon seit einigen Monaten geäußert. Der „Raad van Kerken in Nederland“ hat eine entsprechende ökumenische Arbeitsgruppe zusammengestellt. LINK

3.
Aus naheliegenden Gründen interessieren wir uns besonders für die Frage: Wie sieht es mit dem Protest der Remonstranten gegen die Sklaverei aus?
Zu dem Thema hat jetzt der remonstrantische Theologe Prof. Simon Vuyk in der Monats-Zeitschriften ADREM (Juli 2023) einen kurzen, aber erhellenden Beitrag verfasst. Hier nur einige wesentliche Erkenntnisse des Theologen und Historikers Simon Vuyk:

4.
Am 24.9.1794 wurde in der Remonstranten Kirche von Delft eine aus Surinam stammende Sklavin getauft, sie erhielt den Namen Maria Zara Johanna. Damals ein Ereignis für die ganze Stadt. Diese Taufe fand gegen den Willen der Besitzer der Sklavin statt, aber sie war nun in den Niederlanden angekommen, und somit ein freier Mensch. „Unterstützte die Gemeinde die Frau nach der Taufe oder blieb sie sogar abhängig von ihrem früheren Eigentümer? Das wissen wir nicht“, hießt die ernüchternde Aussage von Simon Vuyk.

5.
Ebenso ernüchternd die weitere Aussage: „Die Niederlande kannten keine organisierte Bewegung gegen den Sklavenhandel und die Sklaverei, trotz des großen Anteils unseres Landes an diesem schrecklichen Unternehmen“. In einer Studie über „Rotterdam in slavernij“ von Alex van Stipriaan (2020) finden sich unter den Anhängern (Profiteuren) wie auch den Gegnern der Sklaverei auch Remonstranten. Diese Situation ist wohl typisch für ein (gehobenes) Bürgertum, das am eigenen Wohlstand und „Gewinn“ (wie Vuyk schreibt) interessiert ist.

6.
Aber es gab einige große Leistungen von einigen Remonstranten gegen die Sklaverei: Hervorzuheben ist der Remonstrant und Pastor in Utrecht, Jan Konijnenburg (1758-1831), er gründete Zeitschriften, in denen er seinen Protest gegen die Sklaverei öffentlich machte. Er war so großzügig, „goed liberaal“, „gut liberal“, schreibt Vuyk offenbar etwas ironisch, um auch einen Verteidiger der Sklaverei in seinem Blatt Platz zu Wort zu kommen zu lassen. Aber des Pastors Widerstand gegen die Sklaverei war sehr deutlich! Das hat der Autor Simon Vuyk in seiner Studie „Vision van Vrijheid“, Hilversum 2013, im Detail nachgewiesen.

7.
Aber die meisten anderen Pastoren der Remonstranten (und die Gemeindemitglieder) folgten NICHT dem deutlichen Engagement von Jan Konijnenburg, schreibt Simon Juyk in ADREM. Nur einzelne Stimmen wie die des Dichters Hendrik Tollens (1780-1856) oder des Pastors Martinus Cohen Stuart (1824-1878) wandten sich öffentlich gegen die Sklaverei. Die Abschaffung der Sklaverei durch die niederländische Regierung geschah erst 1873. Aber Simon Vuyk schreibt in ADREM: „Danach importierte das Königreich der Niederlanden Gastarbeiter aus Hindustan (Indien) nach Surinam, aber diese Menschen wurden dort noch schlechter behandelt als die Schwarzen (Sklaven).

8.
Der Theologe und Historiker Simon Vuyk ist deutlich in seinem abschließenden Urteil: „Es gibt zu denken, dass Missstände (in Holland) bestehen blieben, trotz der Kenntnis der unmenschlichen Behandlung von Sklaven. Und zwar blieben die Missstände bestehen, „wegen des eigenen (materiellen) Gewinns und unsrer Habgier. Die Sklaverei verschwand zu guter Letzt aus der niederländischen Gesellschaft, aber das System der Habgier blieb“.

9.
So wird nun, mit höchster, königlicher Ermunterung, sicher eine neue Epoche in den Kirchen der Niederlande beginnen hinsichtlich der Frage: Wie können wir den heutigen Sklaven und Sklavinnen – etwa den Kindern, die unter grausamen Bedingungen in Afrika nach seltenen Erden graben müssen oder den Frauen, denen die Menschenrechte verweigert werden, beistehen. Und wie können unsere Kirchen – auch die Remonstranten – immer mehr zu Orten werden, in den sich Menschen vieler unterschiedlicher Kulturen und Hautfarben als Mitglieder wohlfühlen. Kirchengemeinden sind nur als Orte der Begegnung unterschiedlicher Menschen aus unterschiedlicher Kulturen in Gleichberechtigung möglich und sinnvoll, natürlich eine theologische Selbstverständlichkeit und überflüssig dies zu betonen.

10.
Über das umfangreiche Werk des remonstrantischen Theologen und Historikers Simon Vuyk informiert die wikipedia Seite auf Niederländisch. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Kardinal Gerhard Müller – ein reaktionärer Theologe.

Müller wurde von Papst Franziskus in die Synode, “Synodaler Prozess”, (Oktober 2023) berufen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 12.7.2023.
1.
„Es ist eine Anmaßung, wenn europäische Staaten unter dem Druck der Gender-Ideologie oder der Homo-Lobbys anstelle der menschlichen Vernunft oder der göttlichen Offenbarung definieren wollen, was Ehe ist.“
Wer hat wohl diesen Satz geschrieben? Die polnischen Politiker der reaktionären PIS Partei? Oder der ungarische Präsident Orban? Oder gar Putin vereint mit seinem Patriarchen Kyrill von Moskau? Sie dürfen dreimal raten.
2.
Vielleicht fällt Ihnen die Entscheidung leichter, wenn Sie die anschließende Zeile aus demselben Buchbeitrag lesen: „Den unmündigen Kindern einzureden, sie könnten ihr Geschlecht wählen und damit könnte man Manipulationen an ihren inneren und äußeren Geschlechtsorganen legitimieren, ist ein verabscheuenswertes Verbrechen an ihrer Würde“.
Was vermuten Sie nun? Haben diesen Blödsinn Politiker der AFD geschrieben? Oder rechtsextreme Politiker und Scharfmacher in Frankreich, wie Monsieur Eric Zemmour und Co? Oder gar Herr Erdogan (Türkei) oder einer der führenden „Theologen“ der islamischen Welt etwa Irans? Eine nette internationale Gesellschaft von reaktionär – fundamentalistisch Gleichgesinnten.
3.
Also: Diese Worte, oben Zitate, hat einer der höchsten und wichtigsten katholischen Theologen und Lehrmeister geschrieben. Kardinal Gerhard Ludwig Müller veröffentlichte diese Polemik schon im Jahr 2017 (!), damals war er oberster Chef der katholischen Glaubenslehre in Rom: Sein Freund Joseph Ratzinger hatte Müller als Bischof von Regensburg im Jahr 2012 nach Rom geholt und ihn zum obersten Chef der wichtigen Glaubenskongregation ernannt. Zugleich war Müller (vormals auch Theologieprofessor für Dogmatik an der staatlichen Universität in München) in Rom dann führend in der päpstlichen Bibelkommission tätig und der Internationalen Theologenkommission. Ein in jeder Hinsicht also der strammen römischen Theologie folgender Funktionär. Und der zeigt sein reaktionär theologisch-ideologisches Profil auch manchmal eher versteckt in seinem umfangreichen Buch mit dem Titel „Der Papst“, erschienen im Herder Verlag, dort stehen die Zitate auf Seite 403.
4.
Es kommt noch schlimmer: Wie der polnische Papst Johannes Paul II. hat auch Kardinal Gerhard Ludwig Müller (geb. 1947) sehr grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der westlichen pluralistischen Demokratie: „Eine pluralistische Gesellschaft ist ein Experiment und es bedarf noch des Erfahrungsbeweises, dass sie glücken kann“ (S. 403). Besser (erfolgreicher, für wen?) als ein weltanschaulicher und religiöser Pluralismus ist im Denken des führenden katholischen Theologen Müller offenbar eher die alte, mittelalterliche Staatsreligion, die bekanntlich nur unter Diktatoren, wie Franco in Spanien oder Trujillo in der Dominikanischen Republik herrschte, blutig herrschte, gegen allen Respekt für die Menschenrechte. Also, was sagt der oberste katholische Lehrer Müller: „Eine verordnete Weltanschauung als Klammer, etwa im Laizismus oder Staatsatheismus, die (als Klammer) nichts anderes ist die Aufhebung der Religionsfreiheit, birgt schlimmere Risiken in sich als eine von oben verordnete Staatsreligion“ (S. 404). Wir brauchen also in Europa anstelle des demokratischen Pluralismus wieder eine Staatsreligion!
Von Müllers Deutung des Laizismus, meint er die laicité à la francaise, das ist etwas anderes, die nun ausgerechnet die Religionsfreiheit aufheben soll, wollen wir schweigen. Laicité ermöglicht doch gerade die Vielfalt und Gleichberechtigung der verschiedenen Konfessionen in einem Land…. In arabischen, muslimischen Ländern, aber auch in so genannten orthodoxen Staaten wie Russland, Georgien, Serbien etc. besteht die Staatsreligion faktisch schon wieder. Man kann dort beobachten, wie da die Menschenrechte verachtet werden. Solchen Wahn also propagiert ungeniert und kaum wahrgenommen einer der höchsten Lehrer der katholischen Theologie, Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Nicht nur seine Freundin, Fürstin Gloria von Thurn und Taxis in Regensburg, auch das große reaktionäre katholische Umfeld (bis in die USA) weltweit werden applaudieren.
5.
Warum dieser Hinweis auf einen der maßgeblichen katholisch-reaktionären Theologen und Kardinal Müller, der (geboren am 31.12.1947) immerhin noch am nächsten Konklave teilnehmen wird? Er hat einen internationalen Kreis von Freunden und finanzstarken Unterstützern auf seiner Seite. Wer den Katholizismus heute verstehen will, muss die Macht der Reaktionären und Konservativen kennen.
6.
Papst Franziskus ist der öffentliche Gegner (Feind?) von Kardinal Müller. Die Arbeit von Papst Franziskus hat er aufs schärfste öffentlich kritisiert, während der Corona-Pandemie hat er Verschwörungstheorien verbreitet usw. Aber es ist schon komisch: Papst Franziskus hat diesen öffentlichen Papst-Kritiker zwar als Chef der Glaubensbehörde 2017 abgesetzt, ihn aber dann 2021 zum Mitglied des höchsten kirchlichen Gerichts (der „Apostolischen Signatur) ernannt.
7.
Und nun hat Papst Franziskus persönlich Kardinal Müller auch noch als Mitglied in die große römische Synode (vom 4. bis 29. Oktober 2023) berufen. Es wird das Geheimnis des hin und her jonglieren Papstes Franziskus bleiben, warum er ausgerechnet diesen theologisch sozusagen rechtsaußen angesiedelten Theologen Kardinal Müller in dieses wichtige Gremium berufen hat. Will der Papst demonstrieren, wie liberal und großzügig er ist, dass er selbst einen seiner ärgsten Feinde in eine Synode ruft? Hofft der Papst, dass Müller in der Synode so richtig aufläuft und seine umstrittenen Thesen zur Demokratie, zu Kirchenreform usw. vorträgt und möglicherweise vieles blockiert? Hat der Papst Angst vor den reaktionären Klerikern im Vatikan, die wie Müller gegen ihn agieren, will er sie auf diese Weise besänftigen? Alles das ist bis jetzt Spekulation.
8.
Warum befasst sich der Religionsphilosophische Salon Berlin mit diesem Thema, mit dieser merkwürdigen reaktionären Gestalt Müller? Weil solche Leute nun einmal die katholische Kirche geprägt haben als Chefs oberster päpstlicher Behörden und bis heute prägen mit ihrem großen reaktionären Netzwerk. Nur wenn es wirklich einige Leute gibt, die diesen Katholizismus von außen ohne Vorbehalte und dogmatische “Bremsen” studieren, wird das wahre Gesicht der Papstkirche deutlich.

Diese Kirche wird immer Papstkirche bleiben, weil alle Führer dieser Kirche – zumindest nach außen bekennen: Gott selbst, höchstpersönlich, hat diese römische Kirche, so wie ist, gegründet und gewollt, also als Kleruskirche mit einem allmächtigen, unfehlbaren Papst und Wahlmonarchen des „Heiligen Stuhls“ an der Spitze. Daran rüttelt niemand in der Hierarchie, auch keine Synode im Oktober 2023 kann das verändern. Darum ist dieser Aufwand interessant, aber im letzten kann er nur ergebnislos bleiben.

Aber gerade die Überwindung der Papstkirche wäre heilsam und hilfreich – auch angesichts der „Austrittszahlen“ in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Hollands, Frankreichs, Spanien usw… Diese Katholiken verlassen doch wegen eines veralteten starren Glaubenssystem diese Kirche!
9.
Parallel zur Berufung des reaktionären Kardinals Müller wurde berichtet, dass der Papst auch einen italienischen Laien, einen „Linksextremen“ wie die katholische Presse schreibt, in die Synode berufen hat: Er ist ein Aktivist der Menschenrechte und „Seenotretter“: Der einst für die linksradikale Partei „Sinistra Italiana” kandidierte: Der 56jährige Luca Casarini (einst Hausbesetzer) gehört zur Gruppe der vom Papst bestimmten „Sonderdelegierten“ („delegati speciali“) an. Er hat das Recht auf der Synode zu sprechen. Abstimmen und mitentscheiden darf er nicht, das darf hingegen seine Eminenz Gerhard Kardinal Müller. Er ist ja Kleriker, sozusagen deswegen a priori ein wertvollerer Katholik….
10.
Über Kardinal Müller und seine Lobeshymne auf das Papsttum hat der Religionsphilosophische Salon schon einmal berichtet, auch über dessen „Freundschaft“ mit dem peruanischen Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez: Und der musste sich vor der Allmacht des damaligen reaktionären Kardinals von Lima, Juan Luis Cipriani (nach eigener Aussage Mitglied des Opus Dei) in den Dominikanerorden retten…LINK

11.

Kardinal Müllers Position (zu Gender-ideologie, Homoehe etc.) wird selbstverständlich auch vom Nuntius des heiligen Stuhls in Deutschland, Erzbischof Nicola Etcovic, geteilt: In Aachen sagte der Nuntius  im Juni 2023: “Es gibt aber auch eine Ökologie des Menschen, wie Papst Franziskus im Anschluss an Papst Benedikt XVI. sagt, „denn auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. … Ebenso ist die Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit notwendig, um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen. Auf diese Weise ist es möglich, freudig die besondere Gabe des anderen oder der anderen als Werk Gottes des Schöpfers anzunehmen und sich gegenseitig zu bereichern. Eben deswegen ist die Einstellung dessen nicht gesund, der den Anspruch erhebt, den Unterschied zwischen den Geschlechtern auszulöschen, weil er sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen versteht“ (LS 155).

Siehe auch:

Das katholische LSB+ Komitee kritisiert die Predigt des Kurienbischofs sowie Nuntius Nikola Etrovic bei der Heiligtumsfahrt in Aachen.  Juni 2023.

Autor: Luca Bruni

Das LSB+ Komitee ist ein christlich geprägtes Arbeitsbündnis, bestehend aus verschiedenen LSB+ Gruppen, welches sich geschlossen für die Gleichberechtigung sowie Gleichbehandlung von LSB+ Personen in der römisch-katholischen Kirche einsetzt. Es ist zusätzlich Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft katholischer Organisationen Deutschlands (AGKOD). Nun äußerte es scharfe Kritik an der Predigt des Nuntius und Kurienbischofs Nikola Etrovic auf der Aachener Heiligtumsfahrt. Etrovic reprudizierte homo- sowie transfeindliche lehramtliche Aussagen, beharrte auf Heteronormativität, diskreditierte geschlechtliche Vielfallt sowie mögliche Strukturreformen in der katholischen Kirche. Der Co-Sprecher des Komitees, Markus Gutfleisch äußerte diesbezüglich: „Die Predigt des Bischofs enthält für queere Menschen keine Worte des Glaubens, der Hoff­nung und der Liebe. Das Katholische LSBT+ Komitee ist entsetzt, dass die katholische Kirche er­neut in gefährliche Nähe zu rechtspopulistischen Kräften gerät, die geschlechtliche Vielfalt als An­griff auf die Familie konstruieren anstatt unterschiedliche Lebens- und Beziehungsformen an­zuerkennen. Lehre und Predigten der Kirche missachten trans*, inter* und nichtbinäre Menschen gewaltig.“. Auch Veronika Gräwe, ebenfalls Co-Sprecherin erklärt zudem: „Es ist nicht neu, dass Eterovic die im Synodalen Weg der katholischen Kirche Deutschlands be­schlossenen Reformen kritisiert. Wir hingegen ermutigen die deutschen Bischöfe und das Zentral­komitee der deutschen Katholiken, die Handlungstexte zu „Segensfeiern für Paare, die sich lieben“ und zum „Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt“ zügig umzusetzen, damit die Kirche wenigstens ein bisschen Hoffnungsort für queere Menschen werden kann.“.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Tödliche Grenzen der EU: Flüchtende verlieren ihr Leben…Und EU-Bürger ihre Seele.

Das Buch „Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 5.Juli 2023.

1.
Die aktuelle Situation:
Es wird weitere verschärfte Grenzverfahren für Flüchtende an den EU – Außengrenzen geben, das haben die EU AußenministerInnen beschlossen.
Fünfundfünfzig Menschenrechtsorganisationen in Deutschland erklären zu diesem Vorhaben: „ Der Entwurf der Verordnung sieht vor, europäische Vorschriften für Asylverfahren sowie für die Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden weit unter jedes erträgliche Minimum abzusenken. Im Falle einer Instrumentalisierung würde eine Regelung im Schengener Grenzkodex durch die Schließung von Grenzübergängen es fliehenden Menschen nahezu unmöglich machen, an den Außengrenzen einen Asylantrag zu stellen“ (Pressemitteilung von „Pax Christi“ am 5.7.2023.)
2.
Europäer verraten ihre offiziell verkündeten Werte!
Seit Jahren schon verüben Staaten der EU schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte gegenüber Flüchtenden. Nur einige bekannte Beispiele: Polnische „Grenzschützer“ prügelten im Winter Flüchtlinge an der Grenze zu Belarus wieder in diese Diktatur zurück. Die griechische Küstenwache drängt schutzsuchende Menschen auf ihren überfüllten Booten wieder in Richtung Türkei zurück. Die Lebensverhältnisse in griechischen Flüchtlingslagern (wie Lesbos) sind meist katastrophal. Mit Gewalt drängen Kroaten Flüchtende nach Bosnien zurück. In dem ungarischen Container Lager Röszke an der serbischen Grenze werden Flüchtende in einer Weise versorgt, „die an die Fütterung von Tieren im Zoo erinnert“.
Weitere Beispiele bietet die Studie der Politologen Volker M. Heins und Frank Wolff in ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Hinter Mauern“, erschienen 2023 im Suhrkamp Verlag. Das Zitat zum ungarischen Lager steht auf Seite 72 des Buches. Es hat den treffenden Untertitel „Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“.
Bis zum 14.6.2023 sind „seit 2014 mindestens 26.924 Flüchtende im Mittelmeer umgekommen“, mindestens heißt in der offiziellen Mitteilung, es werden viel mehr Menschen umgekommen sein… Quelle. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/892249/umfrage/im-mittelmeer-ertrunkenen-fluechtlinge/

3.
Die Verrohung der Seele und des Geistes in Europa.
In ihrem Buch „Hinter Mauern“ machen die Autoren auf einen bislang vernachlässigten Aspekt der Dialektik „Flüchtende und Abweisende der Flüchtenden“ aufmerksam. Sie sprechen von einem bis jetzt eher selten angesprochenen Verderben, das die EU Flüchtlingspolitik für die Menschen innerhalb der EU anrichtet: Es ist seelische, geistige Ignoranz, oft die Verrohung, die bis zur Unterstützung rechtsextremer Parteien führt: Die Wahlsiege rechtsextremer Partei in fast allen Ländern Europas, auch in Deutschland, sind seit Monaten bekannt.
Faktenreich und eindringlich zeigt das Buch „Hinter Mauern“ also, was mit Geist und Seele der Europäer„geschieht“, wenn sie weiterhin hohe Mauern und Stacheldrahtzäune bauen, um Flüchtende abzuwehren. Die Südgrenzen Europas im Mittelmeer „sind zwar zur tödlichsten Grenze der Welt geworden“ (S. 43). Aber man muss immer wieder betonen: Tödlich in einem anderem Sinne sind die immer weiter ausgebauten, immer perfekter mit Milliarden-Euro-Einsatz gestalteten Grenzen auch für Menschen hinter den Grenzen: „Die Gewalt an der europäischen Grenze – etwa im Umgang mit Flüchtenden im Mittelmeer-Raum – greift nach Innen, korrumpiert also die europäische Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaates und der Demokratie beschädigt. Zum anderen fördert sie eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche“ (S.12). Die Autoren beziehen sich nicht nur auf die immer strengeren Grenz-Regimes in Europa, sondern auch auf die z.T. noch brutaleren Umgangsformen mit Flüchtenden aus Lateinamerika in den USA.
4.
Rassismus
Rassismus als herrschende Ideologie, oft noch versteckt und diplomatisch verhüllt, der weißen Herrschenden ist längst eine Tatsache. Dieser etwa auch in der Stadt-Planung versteinerte Rassismus zeigt sich erneut in der Abdrängung bestimmter Menschen, vor allem Schwarzer, Ausländer, Armer in die so genannten Banlieues in Frankreich, in Vorstädte, die kulturell und sozial und verkehrspolitisch abgekoppelt sind vom „urbanen Leben“ der Stadtzentren von Paris, Lyon, Marseille, Toulouse usw. Und bei jungen Menschen werden entsprechend Wut und Hass erzeugt über diese etablierte und seit Jahren kaum korrigierte Degradierung. „Die Nachfahren der Migranten (Post-Migranten) in Frankreich leben in einem ihnen feindlich gesinnten Staat. Und sie werden ihn wohl so wahrnehmen. In einem rassistischen Staat, der sich immer ich als Grande Nation sieht, damit aber nur die weißen Franzosen meint“ ,so der Autor Behzad Karim Khan in der Süddeutschen Zeitung“, 5. Juli 2023, Seite 9).
5.
Eine „soziale Theodizee“: Ein Thema der politischen Philosophie!
Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist höchst erfreut über eine weitreichende, durchaus neue und durchaus kreative philosophische und ethische Aussage der Autoren Volker M. Heins und Frank Wolff:
„In der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es die so genannte Theodizee: Da wird gefragt, wie Gott es zulassen kann, dass unschuldige Menschen leiden, obwohl Gott durchaus gut ist und die Macht hätte, das Leid zu verhindern. Philosophen nennen dies das Problem der Theodizee“ (S. 99).
Und dann folgt gleich die sehr sinnvolle und richtige Aktualisierung dieses uralten philosophischen Themas: „ABER ES GIBT AUCH EINE SOZIALE THEODIZEE, die danach fragt, warum Gesellschaften, die in ihrem Selbstbild auch human und demokratisch sind, sinnloses Leid zulassen, obwohl sie über die Macht verfügen , solches Leid zu verhindern oder erheblich zu reduzieren“ (S. 99).

6.

Warum verhindern wir EU -Bürger und deren Politiker nicht das Leiden der “anderen”, der Flüchtenden?

Diese Frage kann nicht nur politologisch, nicht nur soziologisch oder nur historisch beantwortet werden. Sie führt in die Psyche der Angst, der Angst vor dem „Fremden“, der Angst vor dem Verlust des hoch-heiligen Eigentums durch die Anwesenheit der Fremden, es ist die Angst vor den „Schwarzen“, den „Farbigen“, die nun das starke Selbstbild des „Weißen“ ins Wanken bringen. Es ist letztlich die Angst, Solidarität zu leben, die Angst davor, als Mensch mit anderen zu teilen.
Es ist leider die gewisse Bedeutungs-Schwäche der humanen Organisationen und humanistischen NGOs, wenn sie kaum wirksam ihre vernünftigen Erkenntnisse der großen Masse der Bevölkerung zu Gehör bringen können – angesichts der Übermacht populistischer, rechter und rechtsextremer Presse. Deren Rederei hat sich förmlich eingebürgert, etwa wenn Flüchtende „Sozialtouristen“ genannt werden – parallel zu den „einheimischen Sozialbetrügern“, ein genauso pauschal – rassistischer Begriff gegenüber Ausgegrenzten und arm Gemachten(S. 127).

Es ist auch die Schwäche der philosophisch Arbeitenden, denen es nicht gelingt, den absoluten Vorrang der universal geltenden Menschenrechte deutlich zu machen und als politische Dynamik zu mobilisieren. Es ist auch die Schwäche der sich christlich nennenden Kirchen in Europa, auch in Deutschland, die die kritische politische Analyse, wie etwa jetzt zur Verschärfung der Grenzregimes und der Asylrechte, kleineren kirchlichen Organisationen überlassen, wie Pax Christi oder Brot für die Welt. Die katholischen Bischöfe, auch als gemeinsame Bischofskonferenz in Deutschland, sprechen lieber über den Zölibat oder den synodalen Prozess als deutlich die demokratischen Politiker zu kritisieren. Diese haben Angst, Wähler zu verlieren, wenn sie eine Politik der universal geltenden Menschenrechte tatsächlich praktizierten. Und die Bischöfe wollen nur Teil des offiziellen Systems bleiben, von dem sie – bis jetzt noch – finanziell sehr profitieren. Kardinal Woelki, Köln, erhält vom Staat ein Monatsgehalt von ca. 13.000 Euro. Man kann fast verstehen, dass er darauf – wie seine lieben Mitbrüder in München, Regensburg, usw. – nicht verzichten will.

7.
Das Selbstbild der EU – eine Lüge?

Die Europäische Union lobt sich gern selbst in höchsten humanistischen Tönen. Und belügt die Menschheit. Der ehemalige französische Außenminister und Europaminister Jean-Yves Le Drian z.B. behauptete: Die EU sei eine „echte humanitäre Macht , mehr noch, das hoffnungsvolle Projekt eines neuen Humanismus“.
Die Autoren des empfehlenswerten Buches „Geschlossene Grenzen“ schreiben realistischer: „ Europa ist hin – und hergerissen zwischen dem Streben nach globaler Attraktivität und der Angst vor globalen Einwanderungsbewegungen, die doch eine Folge seiner Attraktivität sind“ (S. 19f.). Darum stellt sich jetzt Europa – abwehrbereit – gegenüber den Flüchtenden und denen, die bereit sind, Afrika zu verlassen, auch mal als unattraktiv und gefährlich für Flüchtende dar.
Politiker der EU wollen aus ökonomischen Interessen vor allem die schon gut Gebildeten und die Fachleute unter den Flüchtenden nach Europa lassen: Nur sie sind in Europa willkommen, aber: sie fehlen dann in ihren Herkunftsländern. „Aus dieser Spannung zwischen einem offiziellen Sinnbild von Hoffnung und der Vergeblichkeit der Hoffnung (für die meisten Flüchtenden) ergibt sich ein Widerspruch, in dem sich die EU bewegt. (S. 20).
Es sieht so aus, dass die EU an dem traurigen Bild der Hoffnungslosigkeit festhält und die Abschottung weiter durchsetzt, so dass für alle Flüchtenden die Hoffnung auf ein Leben in Europa vergeblich ist. So wird letztlich Europa (oder auch die USA) wie eine Insel gedacht, mit Mauern und Stacheldraht, eine Insel, die aber alles andere ist als ein „Insel der Seligen“.
8.

Alternativen?

Über Alternativen zum bisherigen Flüchtlingsregime wird zwar viel gesprochen, aber bestimmte Alternativen werden nicht wirksam gestaltet: Nämlich: den arm gemachten Menschen im globalen Süden endlich so wirksam zu helfen, dass diese genauso ein menschenwürdiges Leben haben wie die Menschen im globalen, reichen Norden. Das Zulassen von Hunger und Elend im globalen Süden, der Ausschluss der meisten Menschen dort von Bildung und Gesundheit ist nichts anderes als eine Form des Rassismus, nämlich die Haltung: „Es sind ja bloß die Armen, die wissen vielleicht mit Hunger umzugehen, wir helfen nur in größter Not mit Spenden“. Wer die Dörfer der Elenden und die Slums der Ausgeschlossenen im globalen Süden anschaut un erlebt hat, muss an die Bedingungen des Überlebens in KZs denken.
Aber: die EU verhandelt eher mit den Diktatoren dieser Länder des globalen Südens, dass sie doch ihren Landsleuten die Idee der Flucht nach Europa nicht nur ausreden, sondern dass die Diktatoren, von der der EU unterstützt, jegliche Flucht auch verhindern.
Bisher ist die Politik der Abschreckung nicht wirksam, d.h. es fliehen immer mehr Menschen nach Europa. Und so wird das rechtsextreme Denken und die werden die rechtsextremen Parteien in der EU immer stärker. Das gegenwärtige Grenzregime der EU ist vom humanen Gesichtspunkt der Menschenrechte vergiftet, und es hat auch die Mentalitäten vieler BürgerInnen in der EU vergiftet.
Das ist die Erkenntnis des wichtigen Buches „Hinter Mauern“. Werden es die Politiker lesen? Die Schülerinnen, die Teilnehmer an Volkshochschulen, die Basisgruppen der Parteien, die kirchlichen Gemeindekreise, wird es Eingang finden in die Predigten, werden sich Philosophen mit der „sozialen Theodizee“ (siehe Nr. 5) befassen? Man kann es nur hoffen. Wahrscheinlich ist das nicht.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Siehe auch den ausführlichen Hinweis von Christian Modehn auf das Buch (2022)  “Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende”  LINK:

Über das Buch „Hinter Mauern“ hat auch das Kulturmagazin TTT der ARD (Das Erste) am 2. Juli 2023 berichtet: LINK:

 

 

 

 

Unruhen in Frankreich: Was sagt die katholische Kirche?

Beten und Appellieren

Frankreichs Katholiken und Muslims in der Krise Frankreichs Juni-Juli 2023

Ein Hinweis von Christian Modehn am 2. 7.2023

1.
Die katholischen Bischöfe Frankreichs haben am 1.Juli 2023 „die Katholiken in unserem Land“ offiziell zum Gebet aufgerufen. Gemäß der uralten Theologie sind sie überzeugt, dass Gott im Himmel das Gebet seiner Gläubigen hört und erhört und als Gott vom Himmel aus dann auch – möglichst – wunschgemäß handelt… Über diese Theologie gäbe es vieles kritisch zu sagen. Bittgebete in höchster Not sind immer Versuche der leidenden Menschheit, sich höchsten, himmlischen Mächten anzuvertrauen. Sozusagen als „Schreie der leidenden Kreaturen“, wie ein berühmter Soziologe, Karl M,.einst treffend sagte…
2.
ABER: Bittgebete, formuliert von einer Bischofskonferenz in einem Frankreich, das zu zerreißen und zu zerbrechen droht, sind doch ein bißchen sehr wenig, könnte man denken.
Könnten Bischöfe in Frankreich noch Vermittler zwischen den Fronten sein? Eher nicht, dafür ist der gute Ruf der Kirche, zumal der Bischöfe, angesichts sehr vielfacher Missbrauchs-Skandale seit Monaten ruiniert. LINK   Aber die Bischöfe könnten immerhin vorschlagen, dass bestimmte kirchliche Orte, Gemeindehäuser, Kirchen als Orte des Dialogs genutzt werden, falls ein Dialog jetzt möglich ist.
3.
In jedem Fall könnten die Bischöfe bekennen: Was die Kirche selbst alles auch versäumt hat in ihrer Vernachlässigung der Menschen in den Banlieues der großen Städte. Nachweislich ist die Tatsache, dass sich Priester und Jugendmitarbeiter etc. lieber in den behüteten Vierteln des schönen Paris oder Lyon oder Toulouse usw. aufhalten, als in den belasteten und ungemütlichen Regionen der Banlieues.
Banlieue bedeutet ja auch so etwas wie Bannmeile, meint Orte der Verbannten, der Armen, der aus den Stadtzentren Vertrieben , aufgrund der Immobilien-Spekulation, also der Gier der Reichen….Banlieues sind belastete Orte, auch wegen der Herkunft der dortigen Bewohneer vor allem aus arabischen, muslimischen Ländern. Sie erleben Ausgrenzung und Rassismus, das ist ein uraltes französisches Thema, tausend mal beschrieben… Aber selten politisch beachtet.
Diese Vernachlässigung der Kirche gegenüber den Menschen in den Banlieues ist eine Tatsache und auch statistisch nachweisbar. Die schwierige Sozialarbeit in den Banlieues überlässt man lieber wenigen mutigen, jetzt überalterten Ordensleuten (Fils de la Charité, Mission de France …etc.). Mit anderen Worten: Man könnte ein Eingeständnis eigenen Versagens erwarten als nur die Aufforderung „Beten!“.

4.
Das Gebet der Bischöfe vom 1. Juli 2023 hat diesen Inhalt:
„Nous te prions, Seigneur, pour le retour au calme et à la paix dans notre pays.
Nous te confions Nahel et nous prions pour ses proches. Que l’Esprit de lumière et de paix les soutienne.
Nous te confions les blessés de ces nuits de violence, ceux et celles aussi dont les lieux de vie ou de travail ont été détruits ou endommagés.
Nous te prions, Seigneur, pour les personnes engagées dans les forces de l’ordre et les services de l’Etat, soumis à de fortes pressions et parfois attaqués.
Inspire-nous, pour qu’avec les croyants d’autres confessions chrétiennes et d’autres religions ainsi qu’avec l’ensemble de nos concitoyens, nous sachions être des artisans de dialogue et de paix.
Nous te supplions encore : qu’au-delà même des explosions actuelles, notre société sache identifier avec lucidité les sources de la violence et trouver les moyens de la dépasser.“ (Quelle: Offizielle website der Conférence des évêques de France).

Eine Übersetzung:

„Wir bitten dich, Herr, für die Rückkehr zur Ruhe und zum Frieden in unserem Land.
Wir vertrauen dir Nahel (den von einem Polizisten getöteten Jugendlichen, CM) an und wir beten für seine Angehörigen. Und dass der Geist des Lichtes und des Friedens sie unterstütze.

Wir vertrauen dir die Verwundeten der Gewaltnächte an, auch diejenigen, deren Wohnungen und Arbeitsstätten zerstört oder beschädigt wurden.
Wir bitten dich Herr, für die in den Ordnungskräften und in den staatlichen Diensten engagierten Personen, die starkem Druck unterworfen sind und manchmal attackiert werden.

Inspiriere uns, dass wir mit den Gläubigen anderer christlicher Konfessionen und anderer Religionen sowie mit der Gesamtheit unserer Mitbürger es verstehen, Schöpfer des Dialogs und des Friedens zu sein.
Wir bitten dann auch noch: Dass, jenseits der aktuellen Explosionen (sic, CM), es unsere Gesellschaft versteht, mit Klarheit die Quellen der Gewalt zu identifizieren und die Möglichkeiten findet, die Gewalt hinter sich zu lassen“ (Übersetzung: Christian Modehn).

BEMERKENSWERT an dem Gebet ist u.a., dass die Bischöfe nicht das Wort Krawall und schon gar nicht den Begriff “Revolte” verwenden zur Beschriebung der “Krise”. Der Soziologe Sami Zegnani von der Universität Rennes deutet die gegenwaärtige Situation als Revolte. “Es gibt eine Reihe von Problemen, die seit 2005 nicht vorangekommen sind”, betont die führende Soziologin Stéphanie Vermeersch vom Forschungsinstitut CNRS.

Am 30.Juni 2023 haben die Verantwortlichen für „religiöse Kulte in Frankreich“ (CRCF) (also eine inter-rreligiöse Vereinigung aller Religionen) eine Stellungnahme veröffentlicht.
Darin heißt es: „Wir teilen den Schmerz der Familie von Nahel.. wir verstehen (entendons) das Leiden und die Wut, die sich jetzt ausdrücken, wir bedauern die Zerstörungen…Mögen Gläubige heute mehr als jemals zuvor Diener des Friedens sein und des Allgemeinwohls….
(Quelle: https://www.la-croix.com/Religion/Mort-Nahel-Nanterre-responsables-religieux-invitent-lapaisement-2023-06-30-1201273775)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin