AMO: Der erste Philosoph aus Afrika in Deutschland – im 18. Jahrhundert.

Über Anton-Wilhelm AMO
Ein Hinweis von Christian Modehn

Endlich wird die “Mohrenstr.” in Berlin Mitte umbenannt. Sie heißt nun “Anton Wilhelm Amo Straße” und erinnert an den ersten Philosophen in Deutschland, der als Sklave aus Afrika stammte. Da haben die Berliner einiges dazuzulernen…
Diese Umbenennung ist Teil des äußerst langwierigen und mühsamen Prozesses, in der öffentlichen Erinnerung sich zu befreien von rassistisch und kolonialistisch und militaristisch bestimmten (Straßen-) Namen. Da gibt es noch viel zu tun, zu kämpfen möchte man fast sagen. Denn es muss immer mit Widerstand aus “nostalgisch – sehr konservativen, oft sich christlich nennenden” Kreisen gerechnet werden, wenn etwa auch die vielen Hindenburgstraßen in Deutschland die Namen von Menschen erhalten sollen, die für die Menschlichkeit und die Menschenrechte tatsächlich Wegweisendes getan haben.

Eines Tages, und zwar bald, hoffe ich hier berichten zu können, dass die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche in Berlin, oft nur noch schamhaft “KWG” oder “Gedächtniskirche” genannt wegen des allseits bekannten kolonialistischen protestantischen Kaisers umbenannt wurde. Ganz nebenbei: Alle meine Korrespondenzen als Journalist mit entsprechenden verantwortlichen evangelischen Bürokratien in Berlin blieben unbeantwortet, was nicht nur unfreundlich, sondern auch unüblich ist in journalistischem Zusammenhang…. LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/12801_die-kaiser-wilhelm-gedaechtniskirche-in-berlin-wird-umbenannt_denkbar

Es folgt ein Hinweis zu Anton Wilhelm Amo, der schon im Juni 2020 publiziert wurde:

In Braunschweig, im dortigen „Kunstverein“, wird noch bis zum 13.9.2020 eine Ausstellung zu Ehren des Philosophen Anton Wilhelm Amo gezeigt. 16 künstlerische Positionen setzen sich mit dem Denken und dem Werk dieses nun wirklich sehr ungewöhnlichen Philosophen auseinander. Amo ist, soweit wir wissen, der einzige schwarze, aus Afrika stammende Philosoph, der 40 Jahre im Deutschland des 18. Jahrhunderts lebte: Anton Wilhelm Amo ist sein Name.

Er wurde 1700 in Axim, Westafrika, dem heutigen Ghana, als Sohn eines hochrangigen Häuptlings geboren. Dann als Sklave über Holland nach Deutschland verbracht. Von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig – Wolfenbüttel als „Diener“ („Hofmohr“) 1707 aufgenommen und dann gefördert, etwa an der Universität Helmstedt. Amo wurde lutherisch getauft auf den Namen Anton Wilhelm.

Der Hochbegabte war schließlich viele Jahre Dozent für Philosophie in Wittenberg, Halle und Jena. Er war geprägt vom Geist des Rationalismus (inspiriert durch Christian Wolff), studierte die antiken Philosophen, die Stoa, und setzte sich gleichermaßen für eine die Leiblichkeit des Menschen, das „Materielle“, ins Zentrum stellende Erkenntnislehre ein. „Der Mensch empfindet die materiellen Dinge nicht von seiner Seele, sondern von seinem lebenden organischen Körper aus.“

Wichtig ist auch seine Schrift „Traktat von der Kunst, nüchtern und sorgfältig zu philosophieren“: Er wendet sich gegen die Bindungen an Autoritäten und Traditionen, zentral ist für ihn die Debatte, der Dialog. Ein neues, humaneres Verhältnis unter den Menschen sollte dadurch möglich werden.
Seine erste Publikation, 1729, galt den „Rechtstellung der Mohren in Europa“. Da spricht ein junger Philosoph, der am eigenen Leib erfahren hatte, was Sklaverei bedeutet. Dieser wichtige Text wurde damals viel diskutiert, aber leider ist er verschollen, nur aus zeitgenössischen Stellungnahmen kann er etwas rekonstruiert werden. Deutlich wird daraus: Sklaverei ist für Amo eine illegale Praxis, so wollte er es in juristischer Terminologie sagen. Das zu zeigen, war damals ungewöhnlich und gefährlich.
Amo hat keineswegs eine eigenständige „afrikanische Philosophie“ hier in Deutschland präsentiert, er war ja als Kind nach Europa gekommen. Er beteiligte sich qualifiziert an den europäischen philosophischen Debatten und verteidigte dabei die Grundideen der Aufklärung.

Im Laufe der Jahre als Philosoph und Universitätsdozent in Deutschland wurde AMO zwar für seine Kompetenz geschätzt, nicht aber als Mensch respektiert oder gar geliebt. Knapp 40 Jahre lebte er in Deutschland. Dann kehrte er – 1747/48- resigniert über deutsche Zustände und Umgangsformen mit den “Anderen” ,den Fremden, nach Westafrika, Ghana, zurück. Dort lebte er als Gelehrter und Weiser zurückgezogen, 1759 ist er gestorben. Schade, dass wir von dieser Lebensphase, wieder in Afrika mit Erinnerungen an Deutschland, nichts wissen!

AMO wurde zwar in Deutschland nicht mehr ausführlich gewürdigt, Immanuel Kant erwähnte ihn nicht; wichtiger ist, dass sein Denken den Abbé Grégoire, den führenden demokratischen und antiklerikalen Vorkämpfer innerhalb der Französischen Revolution, bewegte und bestärkte. In seiner Schrift von 1808 geißelte Abbé Grégoire die Sklaverei mit der These: “Die wahren Barbaren sind wir Europäer“. Ausdrücklich erwähnt er, der progressive katholische Priester, den Philosophen AMO.

Im 20. Jahthundert hat sich der Gründer des Staates Ghana, Kwame Nkrumah, auf Amo berufen. Und auch die DDR würdigte AMO auf ihre Weise.

Man darf nicht vergessen, dass sogar Kant mit seiner „Theorie der Rassen“ grundlegende Irrtümer über die „Anderen“, die Afrikaner, aussprach und zeigte, dass er offenbar von dem Philosophen Amo nie etwas gehört hatte. Auch Hegel hat in seiner Philosophie der Weltgeschichte Vorurteile über Afrika und die Afrikaner verbreitet…Diese „Meisterdenker“ haben das Bild von Afrika bei vielen Bildungsbürgern mit-bestimmt.

PS.1.: Es gibt in Berlin den unermüdlichen Versuch “schwarzer Deutscher” und deren FreunDinnen, auf den Straßennamen Mohrenstr. in Berlin Mitte zu verzichten. Und dieser Straße (und dem U Bahnhof) den Namen Anton-W-Amo Str. zu geben. Für weitere Informationen: http://isdonline.de/

PS.2.:Ich habe kürzlich auf einen äthiopischen Philosophen ganz ungewöhnlicher Art hingewiesen, auf Zär a Yacob,der zu Beginn des 17. Jahrhunderts (!) in seiner Heimat Äthiopien eine sehr auf die Vernunft setzende Gotteserkenntnis entwickelte. Ein kirchenkritischer, mutiger Denker aus Afrika. Und ein sehr wichtiges, aktuelles, leider kaum beachtetes Buch. Über dieses Buch sollten philosophische Seminare der Universitäten usw. Seminare veranstalten usw.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der „Meister“ der Zerstörung von Natur und Menschen: Der rechtsextreme Politiker Bolsonaro.

Über das Buch von Andreas Nöthen „Bulldozer Bolsonaro. Wie ein Populist Brasilien ruiniert“

Von Christian Modehn

Brasilien ist definitiv nicht weit weg von Europa. Das wissen nun hoffentlich alle in Deutschland, in Europa, wenn sie (mit ihren ebenso hilflos wirkenden Politikern) wie gelähmt zusehen müssen, dass ein rechtsextremer Präsident die „Lunge der Menschheit“ und den Lebensraum indigener Völker, die Wälder der Amazonas-Region, abfackelt, niederbrennt, Leben zerstört, Klimakatastrophen beschleunigt…
Diesen Umgang mit der Natur haben vor ihm brasilianische Präsidenten, immer irgendwie geldgierig und korrupt, zugelassen, aber nicht in diesem totalen Umfang wie jetzt.
Nebenbei: Das auswärtige Amt in Berlin meldet noch immer in seinem Internet-Beitrag vom 16.3.2020 von den guten bilateralen und multilateralen Beziehungen zu Brasilien, also zu einem Politiker, dessen „Politik“ inzwischen von kompetenten Beobachtern und vom kritischen Teil der brasilianischen Bevölkerung als mörderisch bezeichnet wird…

Es gehört insofern zur Allgemeinbildung heute, über Bolsonaro und sein Brasilien genau Bescheid zu wissen. Das kann gut tun in Zeiten von Corona, in denen alle Hauptinteressen aller eher national gefärbt sind, den kritischen Blick zu weiten.

Andreas Nöthen bietet in dem vor wenigen Wochen (Juli 2020) erschienen Buch „Bulldozer Bolsonaro“ aus dem Ch. Links Verlag wesentliche Erkenntnisse zum Aufstieg und zur Machteroberung Bolsonaros. Bei dem Titel denkt man eher an polemische Zuspitzungen, aber die unterbleiben: In dem gebotenen sachlichen Ton wird dokumentiert und mit vielen Quellenangaben deutlich, welche politische Gefahr dieser Herr bedeutet, selbst wenn er, nach einem sehr schmutzigen Wahlkampf mit 55 % der Stimmen gewählt wurde. Wichtig ist zu wissen: Der Anteil der Nichtwähler und derer, die ungültige Stimmen abgaben, war extrem hoch: Es waren fast 31 % der Bevölkerung, die weder für den Populisten noch für den Kandidaten der Arbeiterpartei (PT), Fernando Haddad, ihre Stimme gaben. Bolsonaro fand mit seinen dummen rassistischen und sexistischen Sprüchen viel Begeisterung im Milieu der Ungebildeten, der Frommen und der Machos. Es war – wie im Falle Trumps – eine Wahl, die Bolsonaro mit Falschinformationen über alle nur möglichen „sozialen“ Netzwerke gewonnen hat, weil Millionen Menschen auf diese Sprüche reinfielen. Der Autor schreibt: „Weite Teile der Bevölkerung muss man als digital unmündig bezeichnen, diesen digitalen Analphabetismus nutzte Bolsonaro geschickt aus“ (S. 107) … und zwar im totalen Einsatz von Whatsapp. „Auch in den anderen sozialen Netzwerken war er seinen Konkurrenten meilenweit voraus“ (ebd.).
Angesichts seiner Ignoranz in der Corona-Pandemie hat er jetzt zwar an Zustimmung verloren, weil einfach zu viele Patienten unversorgt sterben … und die Wirtschaft daniederliegt. Aber auch heute findet er noch im Mittelstrand unter den Frommen, den immer Bolsonaro-treuen Evangelikalen, und den Reichen viel Zustimmung.

Bolsonaro hat mächtige Freunde, das ist der erste wichtige Punkt. Zu dem ebenfalls rechtspopulistischen Trump gibt es gute Beziehungen. Wichtig und für mich neu sind die Hinweise auf die Verbindungen Bolsonaros zu dem in den USA lebenden Brasilianer Olavo de Carvalhos, „einem der geistigen Väter der neuen Rechten in Brasilien“ und so wörtlich, „Guru“ des Präsidenten Bolsonaro“ (S. 176). … Dieser Guru verbreitet die krudesten Thesen, „etwa: dass Pepsi Cola seinen Süßstoff aus abgetriebenen Föten hestellt…. dass der Klimawandel eine marxistische Verschwörung sei“ usw (S. 104). Dieser Herr de Carvalho gehörte auch zum engeren Zirkel der Regierungsdelegation, als sich Bolsonaro im März 2019 bei Mister Trump vorstellte. De Carvalho wiederum ist mit Stephen Bannon verbandelt, einst engster Berater von Trump, bis jetzt eher im Hintergrund für die globale rechtsradikale Bewegung The Movement tätig. Bolsonaros Sohn Eduardo arbeitet mit dieser Bannon – Bewegung eng zusammen (S. 105). Wie diese freundschaftliche Zusammenarbeit weitergeht, nachdem nun Bannon verhaftet wurde (20.8.2020), wird sich zeigen…

Eng befreundet ist Bolsonaro, wen wundert es, auch mit dem ungarischen Populisten – Präsidenten Viktor Orban (S. 141). Mit ihm hat Bolsonaro einen gleich gesinnten Bündnispartner in der EU.

Zweitens ist wichtig, dass der Autor detailliert zeigt, wie Bolsonaro seine Söhne (auch seine dritte Gattin) ins Regieren mit einbezieht und mit hohen politischen Posten ausstattet. Beobachter, die von der Herrschaft seiner drei erwachsenen Söhne sprechen, schaffen dafür ein neues Stichwort: Die Herrschaft der Söhne, die „Filhocracia“…Das Magazin „Carta Capital vom 27.2.2019 zeigt den Höllenhund Zerberus mit den drei Köpfen der drei Söhne Carlos, Flavio und Eduardo. (S. 110). Die ausführliche Biographie zeigt, wie Jair Bolsonaro als Angehöriger des Militärs zielstrebig und raffiniert das höchste politische Amt anstrebte und sogar noch persönliche Katastrophen, wie eine schwere Verletzung durch ein Attentat, zu seinem eigenen politischen Vorteil erfolgreich vom Krankenhaus nutzte (S.89).

Wichtig ist, dass das Buch auch die brutale Form seines Regierens dokumentiert, den scheußlichen Worten lässt Bolsonaro scheußliche Taten folgen. Dabei ist er so gerissen, dass er als Täter „nur“ das mörderische Milieu pflegt und befeuert, in dem dann rechtsradikale Gewalt real wird. Der Autor erinnert an die gezielte Tötung der bekannten kritischen linken Politikerin Marielle Franco. „Es war ein politischer Mord“, sagt die Frau von Marielle, Monica Benizio (S. 135) „Die Politikerin wurde zum Symbol für die vielen tausend meist schwarzen Brasilianer, die jährlich durch (Polizei-) Gewalt ums Leben kommen“ (ebd.)

Zum Aufstieg gelangte Bolsonaro durch die Macht evangelikaler Pastoren und deren Bewegungen sowie der ebenso einflussreichen Pfingstprediger und deren Gemeinden. Die Bindungen Bolsonaros an diese zahlenmäßig immer stärker werdenden Kirchen (inzwischen ca. 30% der Bevölkerung) beschreibt Andreas Nöthen an verschiedenen Stellen etwas ausführlicher. Pastoren und Bischöfe dieser Kirchen sind oft steinreich, weil sie gleichzeitig als Unternehmer, etwa als Medienbosse, agieren und dadurch konnten sie auch Bolsonaros Wahl unterstützten. Raffiniert wie er ist, ließ er sich als Katholik dann noch einmal im Jordan (Israel) evangelikal taufen, „die Präsidentschaft ist eine weitere Taufe wert“, könnte man sagen. Diese evangelikalen/pfingstlerischen Kirchen sind wirklich von einem so schlichtem intellektuellen Niveau, dass sie etwa verkündeten: “Nicht Krankenhäuser würden in dieser Pandemie die Menschen heilen, sondern die Religionen (vgl. S 175). Theologisch treffend sollte man sagen: Die evangelikalen Kirchen sind weithin eher eine Schande für ein Christentum, das den absolut gültigen Ansprüchen der kritischen und demokratischen Vernunft gerecht werden will. Diese Kirchen sind leider oft Opium des Volkes…

Vernünftige Wissenschaftler hingegen werden von Bolsonaro entweder abgesetzt oder, wenn schon verstorben, nachträglich zu Unpersonen und wie immer üblich in diesem rechtsextremen Kreisen, zu „Marxisten“ erklärt, wie der große international hoch geschätzte brasilianische Pädagoge Paulo Freire (S. 148 f). Freires Bücher dürfen nicht mehr im Unterricht vorkommen, verfügte der Bildungsminister Weintraub (149).

Die Liste der Beleidigungen von Frauen und Homosexuellen, Journalisten, Wissenschaftlern und Künstlern und Schwarzen, die Bolsonaro, öffentlich äußert, ist lang. „Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass bei der aktuellen Regierung Brasiliens Anspielungen auf den Nationalsozialismus (etwa Joseph Goebbels) ziemlich regelmäßig vorkommen, selbst der Minister Abraham Weintraub, der selbst jüdischen Ursprung ist“, schreibt Nöthen, „bedient sich dieser Anspielungen“ (S. 158). Man fragt sich, wie so viele Leute auf Dauer diese Niederknüppelung des Geistes und der Vernunft ertragen können. Sie sind aber leider durch die Massen-Medien derart anspruchslos geworden, dass sie ihren Zustand gar nicht mehr bemerken, das gilt selbstverständlich nicht nur für Brasilien. Die rassistischen Entgleisungen werden sogar von den Schwarzen übersehen: “Viele Schwarze Brasilianer sind empfänglich für die Heilsversprechen der evangelikalen Kirchen. Und hält ihre Kirche Bolsonaro für wählbar, sehen viele über seinen Rassismus hinweg“, schreibt Andreas Nöthen (S. 99)

Was ich in dem Buch vermisse, ist wenigstens der Ansatz einer Analyse zur Bedeutung des Katholizismus in Brasilien in diesem Zusammenhang. Es ist doch bekannt, dass z.B. der Kardinal von Rio de Janeiro ein Freund Bolsonaros ist. Die katholische Kirche wird zahlenmäßig immer schwächer, aber noch ist sie die stärkste Konfession. Am Niedergang hat die Hierarchie selbst schuld, das ist theologisch eindeutig: Das Festhalten am Zölibatsgesetz macht es den Basisgemeinden unmöglich, in eigener Verantwortung durch Laien Eucharistie zu feiern. Und Bischöfe mit richtigen Ideen, wie damals Dom Helder Camara, wurden ignoriert und mundtot gemacht. ABER: Es gibt heute noch immer Befreiungstheologen, es gibt noch immer progressive Bischöfe, die sich öffentlich gegen Bolsonaro wehren, siehe das Schreiben der über 150 brasilianischen Bischöfe vom Juli 2020 gegen Bolsonaro. Aber da war das Buch schon gedruckt. Es gibt jedoch seit vielen (!) Jahren schon gut funktionierende katholische Hilfswerke zugunsten der indianischen Völker und der Landlosen, sie stehen ja im Focus der Bolsonaro – Attacken, der selbst Katholik ist oder war, angesichts seiner Doppeltaufe, wie gesagt, ist auch die religiöse Bindung unklar. …
Sehr schade also, dass gerade diese gerade im Bolsonaro – Zusammenhang wichtigen und „spannenden“ Informationen nicht vermittelt werden. Aber vielleicht plant der Verlag ein Buch eines Lateinamerika Spezialisten über den Wandel des Katholizismus in Lateinamerika (nicht nur Brasilien) heute, so dass man also nicht vorgreifen wollte…

Wenn es zu einer 2. Auflage dieses dennoch empfehlenswerten Buches von Andreas Nöthen kommen sollte: Dann bitte ein eigenes Kapitel über den Katholizismus in Brasilien, in den Zeiten vor und mit und hoffentlich dann auch schon „nach“ Bolsonaro.

Andreas Nöthen, Bulldozer Bolsonaro, Wie ein Populist Brasilien ruiniert. Ch. Links Verlag, Berlin, 2020, 240 Seiten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der Freund der Unterdrückten, ein Mystiker, ein Bischof. Über den ungewöhnlichen Pedro Casaldáliga

Ein Hinweis von Christian Modehn
Unter Position 10 dieses Beitrags werden einige Gedichte von Pedro Casaldáliga vorgestellt.

Casaldáligas Lebens-Motto, seine Maxime: „Nichts besitzen, nichts mit sich tragen, nichts verlangen, nichts verschweigen und, vor allem, nichts töten“.

1.
Warum erinnern so wenige Medien, in Deutschland fast keine, an Pedro Casaldaliga? Verstorben am 8. August 2020 in Brasilien? An einen Mann, der zugleich sein ganzes Leben für Unterdrückte, für Arme, einsetzte und es deswegen immer wieder der Gewalt der Herrschenden aussetzte… und ZUGLEICH ein Mystiker, ein Poet, war? Und er war, man glaubt es kaum, auch noch Bischof der römisch-katholischen Kirche! Warum wird dieser Bischof/Menschenrechtler/Poet/Mystiker nicht erwähnt in den frommen Worten der vielen Bischöfe heute? Sie schwadronieren lieber zum hundertsten Male über die „Himmelfahrt Mariens“ am 15. August und ähnliche Geschichten bzw. Wunder. Dabei ist es ein großes Wunder ganz realer Art, dass es einen Mann wie Pedro Casaldaliga gab.
Meine Vermutung: Es ist diesen Exzellenzen und Eminenzen, so nennen sich ja die Oberhirten, peinlich, sich an ihren Mitbruder Pedro Casaldaliga zu erinnern, der als Bischofspalast eine Hütte hatte, weil er so leben wollte, wie seine Mitmenschen in der ärmsten Region, der Hungerregion, Brasiliens.
2.
Hinzukommt: Corona macht Deutsche, macht Europäer, noch mehr zu Deutschen, noch mehr zu Europäern. Corona fixiert noch mehr als bisher auf Deutschland, auf Europa: Wenn die wirkliche globale Welt heute in den „großen Medien“ „vorkommt“, dann eher als Corona-Statistik in Indien, Brasilien oder Peru. Ist ja verständlich, aber darf nicht fast alles sein.
Auch wegen dieses Corona-bedingten Nationalismus haben „wir“ jetzt den Tod eines Menschen übersehen, der von denen, die ihn in Lateinamerika kannten, und das sind sehr viele, sehr zu recht als Prophet bezeichnet wurde. Als Prophet der Menschenfreundlichkeit, der Solidarität; als Prophet, der nicht etwa Zukunft voraussagt, sondern der, wie die Propheten der hebräischen Bibel, sein prophetisches Amt als kritische Anklage versteht. Und entsprechend auch lebt! Und zwar so, dass er selbst sich auf die Seite der Rechtlosen gestellt hat. Entschieden, radikal, politisch präzise.
3.
Die Rede muss also von Pedro Casaldáliga sein. Er war ein Mensch, ich möchte sagen „hingegeben“ für die Armen, auch für die indigenen Völker in Brasilien. Wo wagt man sonst noch dieses so menschliche Wort der Hingabe zu verwenden? Bestensfalls noch im erotischen Zusammenhang des Privaten. Casaldaliga war aber politisch hingegeben den anderen, weil er sie liebte, diese Vergessenen, diese für minderwertig Erklärten durch die politischen wie ökonomischen Gewalttäter, die als Verbrecher einfach so diese Armen auch abknallen können, wenn es um Landraub geht in Brasilien oder Rodungen des Waldes oder Tötung der Indigenen.
4.
Leider sind Bücher in deutscher Sprache von und über Pedro Casaldaliga nur noch antiquarisch zu haben, für ein paar Groschen möchte man sagen, werden sie verramscht, so, als wären ihr Inhalt, passé, unbrauchbar. Kein Verlag eines dieser vor Geld förmlich stinkenden Klöster in Deutschland oder Österreich bringt Bücher von und über Casaldaliga neu und aktualisiert heraus. Man veröffentlicht lieber zum hundertsten Male Bücher und Broschüren über Engel, nenen wir überspitzt einige künftige Titel: „Wie Engel den Schlaf schützen“ oder „Wie Engel helfen, das Privateigentum zu bewahren“. Mit Engeln verdienen Klöster sehr viel Geld, das weiß Anselm Grün, mit Casaldaliga Büchern oder Befreiungstheologie wohl nicht. Also: Lieber erfolgreich über Esoterik schreiben als politisch-theologische Analysen bieten. Gefühl contra Aufklärung, das ist auch „typisch“ katholisch.
5.
Pedro Casaldáliga, der Katalane, geboren 1928, kam 1968 als Priester des „Claretiner – Ordens“ nach Brasilien, in die entlegene und ärmste Gegend des Landes, nach Mato Grosso am Amazonas. Weil der Vatikan eine Art Struktur dort brauchte, wurde er 1971 zum Bischof einer „Prälatur“, also einer Kirchenprovinz schlichter Art, ernannt. Sein „Bischofssitz“ wurde der Ort Sao Felix de Araguaia.
Seinen „Bischofspalast“ hätten sich seine begüterten Kollegen in den reichen Städten Brasiliens ansehen sollen oder auch einmal eine Delegation aus Köln oder München: Das Palais war schlicht und einfach eine Hütte. Und die Tür stand offen, natürlich waren es die Armen der Umgebung, die da kamen und Rat suchten und Hilfe fanden. Der Bischof, eine „Exzellenz“ (das bedeutet ja „hervorragend“) als Mensch, nicht als Kirchenchef, empfing (immer schlank, fast erbärmlich dünn) alle in Jeans, T-Shirt und oft nur Plastiklatschen.
6.
Bischof Casaldaliga wollte nicht mit seiner Armut kokettieren, er meinte es ernst: Er war einer wie die Leute seiner Gegend. Er kämpfte mit den landlosen Bauern um die gerechte Verteilung der Ländereien gegen die Latifundien-Besitzer, die multinationalen Gesellschaften, die Beherrscher des Bergbaus, die Holz – Spekulanten usw. Und: Casaldáliga unterstützte die indigenen, „indianischen“ Völker in der Nachbarschaft, er förderte die Bildung, die Kultur, kümmerte sich um die Gesundheit der Armen. Für ihn konnte Predigt nur möglich sein, wenn sie zugleich für ein würdevolles materielles Leben sorgte. Die praktische und deswegen immer politische Sorge um die Überwindung des Hungers IST Predigt, ist Realisierung des Evangeliums. Insofern war Casaldáliga ein leiblicher, man möchte sagen „materialistisch“ engagierter „Seelsorger“. Dieses abstrakte Wort hat er nie verwendet. Er war kein „Seelsorger“, sondern schlicht Bruder seiner Mitmenschen dort, in der entlegenen, aber ausgebeuteten Ecke Brasiliens. Wegen dieser „materialistischen“ Seelsorge wurde er als Befreiungstheologe selbstverständlich von vielen sich nur „vergeistigt“ fühlenden Katholiken und Bischöfen verachtet und angeklagt; und von der Militärdiktatur verfolgt, die Brasilien terrorisierte und beherrschte, von 1964 – 1985. Seelsorger klassischer Art hat das Regime nie verfolgt, sondern begünstigt, man denke unter anderen klerikalen Kollborateuren etwa an den reaktionären Erzbischof Geraldo Sigaud svd von Dimantina und seine reaktionäre „Bewegung zur Verteidigung der Tradition, der Familie und des Privateigentums“…Die Diktatoren wollten Casaldáliga des Landes verweisen, mehrfach wurde er mit dem Tode bedroht, seine engsten Mitarbeiter erschossen… „In diesem Land Brasilien ist es leicht geboren werden und zu sterben, aber schwer zu leben“, erklärte 2012 gegenüber AFP anläßlich des TV – Programms „Nackte Füße auf der roten Erde“, von Francisco Escribano.
7.
Seine Erfahrungen im Kampf um die Menschenrechte konnte Casaldaliga in zwei landesweite Gremien übertragen, die er innerhalb der brasilianischen Kirche für die Landlosen und für den Schutz der indigenen Völkern mit anderen einrichten konnte.
Aber Casaldáliga ließ sich nicht beirren: Er blieb Befreiungstheologe. Das heißt: Für das materielle, das leibliche und kulturelle Leben der ausgehungerten Armen zusorgen, ist zentraler Auftrag der Kirche. Genauso wichtig wie die Liturgie. Und diese neue gerechte Gemeinschaft der Menschen wurde ansatzweise realisiert in den Basisgemeinden, für die er immer eintrat.
8.
Niemand wird sich wundern, wenn Casaldáliga erhebliche Schwierigkeiten mit dem Vatikan hatte, auch mit Kardinal Ratzinger damals, der von seinem barocken „grünen Tisch“ in den behüteten Palästen des Vatikans aus meinte, den spirituellen und theologischen Lebenskampf Bischof Pedro Casaldáligas beurteilen und möglicherweise verurteilen zu dürfen. Was für eine Unverschämtheit einer bestens versorgten Eminenz in ihrem Palazzo. Und erstaunlich, wie es ein offenbar leidenschaftlicher Katholik wie Casaldáliga aushielt, alle diese Erniedrigungen durch die römischen Behörden und Bürokratien zu ertragen. Vielleicht brauchte er so viel Wut oder Enttäuschung über alle diese Eminenzen und klerikalen Schreibtischtäter, um Wut und Enttäuschung in seinen Kampf für die Armen umzusetzen. Nach einem für ihn so enttäuschenden Aufenthalt im Vatikan, auch beim polnischen Papst, sagte er leicht ironisch: „Der Heilige Geist hat zwei Flügel, aber die Kirche hat stets Freude daran, eher den linken zu stutzen“. Johannes Paul II. war ja immer politisch, aber immer zugunsten der rechten Seite, siehe seine Freundschaft mit Reagan, seine Nähe zu Pinochet usw…Selbst die Gewerkschaft Solidarnosc war für ihn eine „rechte“ Bewegung..
Zurück zu den gestutzten linken Flügeln des römischen Katholizismus:
Und die wurden bekanntlich auch bei den wenigen anderen linken Bischöfen gestutzt, so dass der heilige Geist heute, nicht nur in Lateinamerika, so zusagen nur mit einem rechten Flügel herumstolpert, fliegen kann der heilige Geist ja ohne den linken Flügel nicht mehr, um im Bild zu bleiben: Man sieht in diesem treffenden Bild von Casaldáliga das für Kirche und Gesellschaft insgesamt Tödliche dieser ganzen administrativen „Maßnahmen“ der römischen Bürokraten bis heute.
9.
Und genauso bemerkenswert ist, dass dieser ausgemergelte und verfolgte Christ als Bischof so reich an spiritueller Erfahrung war und an poetischer Begabung. Casaldáliga war ein Poet. Wann wird man seine Poesie noch einmal entdecken? Wann wird man fragen: Wie konnte dieser Mann in seiner Bischofs – Hütte oder in als Gast in den Hütten der Atmen Poesie schreiben? Ist Poesie der Unterdrückten schon ein Forschungsprojekt in Deutschland?
Man lese also die noch greifbaren Casaldáliga Gedichte, die oft auch Poesie als Gebete sind. Wer Geduld hat, kann die Texte antiquarisch finden oder aus dem Spanischen, Porugiesischen oder Französischen sich übersetzen. Es könnte ja auch ein Bischof oder Kardinal hierzulande auf die Idee kommen, eine „Pedro Casaldáliga Stiftung“ zu gründen, mit der Herausgabe von Büchern zu beginnen und Konferenzen in den katholischen Akademien. Etwas Geld würden die Kardinäle schon abzweigen können von ihrem Monatsgehalt, das sich in Deutschland zwischen 10.000 und 12.000 Euro bewegt. Allein wenn man sich diese „ökonomische“ Differenz hinsichtlich des Geldvermögens von Bischöfen hier und in Sao Felix, Brasilien, zu Zeiten Casaldáligas ansieht: Man glaubt nicht, dass diese Bischöfe einer und derselben Kirche angehören. Für Casaldáliga wurde immer etwas gebettelt, über die Hilfswerke. Er war wirklich ein Bettler gegenüber seinen „Kollegen“ in Köln oder München. Aber: Casaldáliga wollte arm bleiben. Dafür nahm er die Gestalt Jesu von Nazareth zu ernst.
10.
Was bleibt? Es bleiben die Erinnerungen an seinen Lebenseinsatz, an seine Gedichte, Gebete, Erinnerungen an die Poesie von Pedro Casaldáliga:

Unsere Stunde

Es ist spät
Aber es ist unsere Stunde.

Es ist spät
Aber es ist die ganze Zeit
Die wir in Händen haben
Um die Zukunft zu gestalten.

Es ist spät
Aber es sind wirklich wir:
Diese späte Stunde.

Es ist spät
Aber es ist früher Morgen
Wenn wir darauf bestehen!

(in: Pedro Casaldáliga, „Hermano de los sin tierra“, Von J.L.Vázquez Borau, 2018, S. 98 f, Übersetzung von Christian Modehn.)

……..

Das Wort zähmen

Das Wort zu zähmen
Ist die schwierige Aufgabe
Der Stille,
des Hinhörens,
des Erwartens,
des Empfangens.

Man lernt nur sprechen,
wenn man schweigen lernt mit dem Volk.
Das Wort wird Fleisch
In der erlittenen Stille.

(zit. In Concilium, Dezember 2017, S. 612 in einem Beitrag von Emerson Sbardelotti).

……………

Die Stimme des Volkes, der Armen.

Die Stimme des Volkes,
Die Stimmen Gottes
Sie wurden verdammt.
Die Skalvenlager, sie werden beschützt,
vom Schweigen
Von Zustimmung
Vom Kartell.
Riesige Viehherden
Reiche Ackerböden
Große Straßen:
Die prächtige Zukunft Brasiliens
Wurde erbaut auf den Knochen der Tagelöhner
Vom Revolver der Ausbeuter niedergemetzelt
Vom Hunger ausgemergelt und den ständigen Lügen.

Ihr Sänger schreit,
Scheit zu Gott ihr Toten
Und heult vor Scham
Ihr armseligen Feiglinge

(Dieses Gedicht hat den Titel „Sehr eiliges Nachwort. Gegen die Sklavengesellschaft und gegen alle Großgrundbesitzer. Mit großer Wut. Aber mit noch größerer Liebe“. Aus: Pedro Casaldalga, Fleuve libre, o mon peuple, Paris 1978. Dieses Gedicht hatte ich 1979 in meinem Aufsatz für das Buch „Volksreligion“ verfasst, veröffentlicht, das von Christian Modehn zusammen mit Karl Rahner und Michael Göpfert herausgegeben wurde. Stuttgart 1979. Das Gedicht auf S. 23 f.).
……………….

Bischof Casaldáliga hat das Vater Unser neu formuliert, inspiriert von seinen Freunden, den Armen, den Menschen seines Landes rund um Sao Felix:
Vater unser der Armen.
Vater unser der Märtyrer und Folteropfer.
Geheiligt werde dein Name durch die, die im Kampf für das Leben sterben.
Geheiligt werde dein Name,
wenn die Gerechtigkeit das Maß der Dinge wird.
Dein Reich ist ein Reich der Freiheit, der Brüderlichkeit und des Friedens.
Bewahre uns vor der Gewalt, die das Leben verschlingt.
Wir werden deinen Willen tun.
Du bist Gott, der Befreier.
Wir weisen ein Denken zurück, das durch Macht korrumpiert ist.
Gib uns das Brot des Lebens, das Sicherheit schenkt,
das Brot für alle,
das Menschlichkeit bringt und die Waffen ächtet.
Verzeih uns, wenn wir voller Angst schweigen angesichts des Todes.
Lass nicht zu, dass die Korruption das Gesetz verdrängt.
Schütz uns vor der Brutalität und den Todesschwadronen.
Du bist auf der Seite der Armen.
du bist ein Gott der Unterdrückten.
Dein ist das Reich und die Herrlichkeit.
In Ewigkeit. Amen.
(Quelle: http://gebetssuche.de/vater-unser-der-armen/)
………………………….
11.
Bischof Casaldáliga hat viele Jahre unter der Parkinson – Krankheit gelitten, er hat versucht, diese Krankheit in sein Leben zu integrieren. Deswegen sprach er von „Bruder Parkinson“. Unter Schmerzen har er sich immer wieder noch zu Wort gemeldet, er hatte einen Freundeskreis weltweit, Menschen, Laien, einfache Leute, Ordensleute, die ihn schätzen, mit denen er korresponiderte. Am 8. August 2020 ist er in der Nähe von Sao Paulo, Brasilien, gestorben.
Aber noch Ende Juli 2020 unterzeichnete Casaldáliga mit 151 anderen brasilianischen Bischöfen einen kritischen Brief, bestimmt für den rechtsextremen, gleichzeitig katholischen wie evangelikalen Präsidenten Bolsonaro. Ihm wird „Unfähigkeit vorgeworfen, auf die gegenwärtige Corona-Katastrophe in Brasilien vernünftig und vor allem menschlich zu reagieren. Und vor allem die Indigenas mit seiner dummen Gesundheitspolitik zu gefährden.
12.
Die Filmsgesellschaft VERBO FILMS (geleitet von der Ordensgemeinschaft „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD) hat in Brasilien mehrere Filme über Bischof Casaldáliga realisiert und zugänglich gemacht:

Am 13., 20. und 27. Dezember 2014, also noch „vor“ Bolsonaro, strahlte TV Brasil in Partnerschaft mit dem spanischen Sender TVE und dem katalanischen Sender TVC eine dreiteilige Dokumentation (jeweils 52 Minuten) über Pedro Casaldáliga aus. Der Titel: „Barfuß über roter Erde“.
Für alle, die Spanisch lesen können, empfehle ich: „Pedro Casaldáliga, Hermano de Los Sin Tierra“. Von J.L. Vázquez Borau. 3. Auflage 2018, „independently published“. 115 Seiten. 9 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über die Papstkirche und den absoluten Papst Pius IX.

Das neue Buch des Historikers Hubert Wolf „Der Unfehlbare“
Ein Hinweis von Christian Modehn

Unser Motto, noch einmal gesagt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer auch Religionskritik.

Die katholische Kirchenführung, also Klerus, Bischöfe, Papst, hat in gewisser Weise Glück gehabt: Im Juli standen dringende Probleme im Mittelpunkt öffentlichen Interesse, Probleme, die sich auf das Überleben der Menschheit beziehen, also Corona und Klimakatastrophen. Vom Überleben der katholischen Kirche war zwar auch die Rede, aber dabei ging es “nur” um den stetigen Mitgliederschwund in Deutschland. Aber ein großes „Überlebens“ – Thema wurde förmlich ausgeblendet: Die katholische Kirche im ganzen ist als Institution sozusagen „innerlich“, von der eigenen Lehre und Dogmatik, bedroht. Diesen Kampf ums geistige Überleben veranstalten nicht „Feinde“ von außen; sondern die Krise ist begründet am sturen Festhalten von befremdlichen, belastenden, nicht mehr eines modernern Glaubens würdigen Dogmen.

Dieser Gedanke drängt sich förmlich auf, wenn man das neueste Buch des Kirchenhistorikers Professor Hubert Wolf (Universität Münster) liest. Es hat den Titel „Der Unfehlbare“, der Untertitel nennt den Inhalt der Studie schon in Kurzform: „Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“. Papst Pius IX., der von 1846 bis 1878 die Kirche beherrschte, hat die bis heute noch weithin gültige Gestalt des Katholizismus absolut eigenmächtig und mit aller egozentrischen Bravour festgelegt.

Diese Bewertung ist die Summe der sehr differenzierten Studie über Pius IX. von Hubert Wolf, die er ausdrücklich als Biographie versteht. Wegen des Dogmas von der “Unfehlbarkeit des Papstes”, formuliert vor 150 Jahren, im Juli 1870, von Pius IX., kämpft die katholische Kirche bis heute um ihr Überleben, d.h. um die geistige und spirituelle Akzeptanz von nachdenklichen, gebildeten Christen. Dieses Dogma liegt wie ein erratischer Fels in der “geistigen und religiösen Landschaft”.

„Man hat (durch Pius IX.) eine neue Kirche gemacht“. Mit diesen Worten eines Münchner Theologen und Zeitgenossen Pius IX. beendet Wolf sein Buch. Das heißt: Die katholische Kirche wurde als Papstkirche förmlich zementiert. Mit Pius IX. setzte sich das Bild eines charismatischen Papstes durch, dessen Person und Persönlichkeit ganz in den Mittelpunkt gerückt wurde. Die Verehrung und Bewunderung für die Person dieses obersten „Führers“ führte etliche fromme Leute, ja ganze Bewegungen, zu einem ungeahnten Personenkult. Dabei hatte Pius IX. sich in den ersten Monaten nach außen hin etwas liberal gezeigt, darauf weist Wolf hin, was angesichts seines reaktionären Vorgängers Gregor XVI.auch nicht so schwer war. Aber Pius IX täuschte die Leute: Schon seine erste Enzyklika war Ausdruck von Feindseligkeit gegen die moderne Welt. Den Fußkuss erwartete dieser Nachfolger des Fischers Petrus ganz selbstverständlich, kritischen Leuten gab er sogar nach dem Kuss noch einen leichten Tritt, auch dies ist überliefert.

Trotzdem galt er vielen, die ohnehin schon politisch konservativ bis reaktionär gestimmt waren, als ein „charismatischer Papst“.

Dieser Personenkult um eine „charismatische Papst-Persönlichkeit“ setzte sich in gewisser Weise fort, man denke an Papst Johannes XXIII. oder noch viel mehr an Johannes Paul II., der auch post mortem einen irrational wirkenden Kult etwa in Polen erlebt. An Papst Franziskus scheiden sich heute die Geister, aber für viele ist er trotz aller seiner theologischen Widersprüche eine absolute Lichtgestalt. Die Menschen brauchen – leider – immer wieder Führer, von denen sie förmlich Wunderbares erwarten…Und konservative Franziskus-Feinde sehen in ihm den charismatischen Führer in den Niedergang…

Hubert Wolf zeichnet als Biograph Papst Pius IX. nicht allzu ausführlich dessen aktuelle Wirkungsgeschichte bis heute nach, über die Absetzung von Hans Küng als katholischem Theologen an der Uni Tübingen (wegen seiner kritischen Studie zur Unfehlbarkeit) erfährt man nichts.
Aber Wolf stellt klar: Mit diesem Papst ist die Kirche anders geworden, noch autoritärer, noch distanzierter und feindlicher gegenüber der modernen, der liberalen und demokratischen Welt. Und im Innern ist die Kirche monolithisch geworden, intolerant gegenüber progressiven Theologen, alles auf einen angeblich zu kontrollierenden Einheitskurs trimmend.

Das zeigt Wolf ausführlich an den Debatten während des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870: Da setzte sich Pius IX. trotz heftigen Widerspruchs zahlreicher Bischöfe mit seiner Lieblingsidee durch, der Unfehlbarkeit des Papstes, die er zum Dogma erhob und für alle Katholiken als bindende Wahrheit verkündete. Dieses Dogma wurde vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, offiziell ausgesprochen. Der Papst konnte nun gegen die Überzeugung der Bischöfe, gegen die Einsichten von Konzilien, alles aus eigener Macht lehren und verfügen. Schon 1854 hatte Pius IX. die absolute Machtfülle förmlich schon mal vorgeführt, als er ebenfalls gegen den Widerspruch kompetenter Theologen und Bischöfe die „Unbefleckte Empfängnis Mariens“ zum Dogma erhob, also den frommen Glauben, dass Maria, die Mutter Jesu, „unbefleckt“, (was für ein Begriff ! ), also ohne die für alle Menschen sonst übliche Erbsünde empfangen und geboren wurde. Denn die Erbsünde werde, so meinen die Kirchenführer bis heute, durch den Sex, also auch durch Sperma, also durch „Flecken“, übertragen… Das ist, milde gesagt, problematisch, wenn nicht lächerlich. Zumal auch die „echten“ Eltern Marias gar nicht namentlich als historische Personen bekannt sind: Die Kirchenführer haben dann einfach als Mutter eine gewisse Anna (aber natürlich auch als imaginäre Gestalt heilig) konstruiert und als Vater einen imaginären Joachim. Über die hoch umstrittene Erbsünde will ich hier kein Wort verlieren…

Jedenfalls hat sich Pius IX. immer in seiner eigenen privaten theologsichen Liebhaberei und Meinung durchgesetzt. Er hat sich, auch das zeigt Wolf, mit untertänigen, eher unbegabten, wenn nicht korrupten Beratern umgeben. Auch in der ausdrücklichen Verurteilung der modernen Gesellschaft und des neuen italienischen Staates, vor allem in der Enzyklika „Quanta Cura“ und im „Syllabus errorum“ von 1864, profilierte sich dieser Papst als Feind der Freiheit, als Feind der Moderne.

Pius IX. hat die Kirche definitiv ins Getto bewusst führen wollen, das war sein starrsinniger Wille, auch wenn ihm viele Leute zujubelten, die gerade auch aus politisch – reaktionären Gründen diese kirchliche Sonderwelt in Form einer großen Sekte rühmten, wie der Erzreaktionär Joseph de Maistre. Die Jesuiten als Herausgeber der damaligen „Stimmen der Zeit“ (mit dem Titel „Hefte aus Maria Laach“) haben diesen Kurs offen unterstützt.
Und bis heute ist das offizielle katholische Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici, noch von diesem Ungeist des absoluten Papst-Fixierung geprägt: Wenn dieses Gesetzbuch, in der Neufassung aus dem Jahr 1983 !, das Kapitel „Papst und Bischofskollegium“ eröffnet, heißt es gleich am Anfang im § 331: „Der Papst verfügt kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann“. Das hätte der absolutistische Papst Pius IX. nicht besser sagen können. Wenn das auch heute so ist, dann wundert sich manch einer vielleicht, warum nicht der angeblich so progressive Papst Franziskus kraft seiner päpstlichen All-Gewalt das Zölibatsgesetz von heute auf morgen abschafft oder Frauen als Priesterinnen zulässt, all dies könnte er ja kraft seiner absoluten Gewalt des Kirchenrechts. Aber er tut das nicht…
Ich empfehle das Buch von Hubert Wolf ausdrücklich, es ist eine gut lesbare Biographie eines Mannes aus dem italienischen Adel. Geboren am 13.5.1792 als Giovanni Maria Mastai Ferretti macht er in der Kirche systematisch Karriere, obwohl er als junger Mensch schwer erkrankt (an Epilepsie) und mit etlichen Gönnern wird er Priester, Bischof, Kardinal. Seinen launischen und cholerischen Charakter mit Tobsuchtsanfällen (S. 313) hat er sich stets bewahrt und von vielen, die ihn als Papst dann kannten, wurde er als verrückt und geisteskrank beschrieben (S. 311) Die Lebensgeschichte dieser kranken, autoritären Person stellt Wolf in den größeren politischen Zusammenhang des Untergangs des Kirchenstaates und des mühevollen Entstehens des vereinten Italiens, dem sich Pius IX. auch widersetzte. Als sein Leichenwagen durch die Straßen von Rom fuhr, wurde er von wütenden Bürgern mit Steinen beworfen. Pius IX. hätte selbst dies noch gefreut, denn er wusste: Als Verteidiger der einen und einzigen absoluten Wahrheit hat er eben auch böse Feinde.

Und eigentlich ist es bei dieser Kirche normal, dass dieser Pius IX. dann vom polnischen Papst Johannes Paul II. „selig“ gesprochen wurde (2000), trotz erheblicher Widerstände von Historikern und Theologen. Unter Papst Paul VI. wurde diese Seligsprechung schon einmal inszeniert, aber vergeblich: Damals folgte der Papst den kenntnisreichen Warnungen der Historiker vor diesem seelisch offenbar kranken Papst (vgl. besonders S. 313).

Aber Pius IX und Johannes Paul II. waren geeint in ihrem exzessiven, fanatischen Glauben an die Wunderkraft Marias, der unbefleckt empfangenen! Pius IX. glaubte, dass die himmlische Jungfrau ihm so gar himmlische Heerscharen zur Rettung senden würde (vgl. S. 201). Und ohne Marias Beistand konnte sich Johannes Paul II. zum Beispiel den Untergang des Kommunismus auch nicht vorstellen. Und die Liebe des polnischen Papst zu den „Erscheinungen Marias“ in Fatima, wo sie höchstpersönlich zu einigen Kindern sprach, ist bekannt. Man darf sagen, durch solche infantilen religiösen Praktiken haben diese Päpste den christlichen Glauben eigentlich zur mysteriösen Story gemacht, man könnte auch sagen: „Warum ist eigentlich nicht auch im Himmel Jahrmarkt? Diese Flucht der obersten Kirchen-Führer, der Päpste und mit ihnen die devoten Bischöfe, ins Mysteriöse, hat Menschen aus der Kirche getrieben, die noch wertlegen auf die Gültigkeit des göttlichen Gabe, Vernunft genannt!

PS: Als Trost für alle Laien in dieser Kirche, die noch Nerven haben dieses wichtige Buch von Hubert Wolf zu lesen: „Selbst minimale politische Forderungen innerhalb des Kirchenstaates, wie die Mitverantwortung von LAIEN in der Verwaltung auf kommunaler Ebene, wurden von Pius IX. als verbrecherisch diffamiert.“ (S. 79). Da dürften doch heute im Verwaltungsbereich katholische Laien (nicht in der Gemeindeleitung) ein bisschen mehr tun… Der Fortschritt ist also auch katholischerseits nicht zu stoppen, er dauert nur Jahrhunderte. „Macht nichts“, denn die Kirchen-Führer denken in „Kategorien“ der Ewigkeit. Die einzelnen betroffenen und leidenden Katholiken können und wollen nicht so denken. Aber das ist den „geistlichen“ Herren und war den „geistlichen“ Herren immer schon egal. Es ist dieser den Geist-tötende egozentrische Klerikalismus, den das große Buch von Hubert Wolf einmal mehr freilegt als chronische Krankheit des Katholizismus.

Hubert Wolf, „Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“. C. H. Beck Verlag München 2020, 431 Seiten, 28 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mit Nietzsche weiterdenken: Vier Hinweise von Christian Modehn, anläßlich von Nietzsches Todestag am 25. 8.1900

1.
Nietzsche neu lesen
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 3.8.2019
1.
Mit einem erneuerten Verstehen Nietzsche lesen: Das fordert der Philosoph Andreas Urs Sommer (Uni Freiburg i. Br.) in seinem Essay in der Zeitschrift „Information Philosophie“, Ausgabe Dezember 2018. Sommer ist Leiter der „Forschungsstelle Nietzsche-Kommentare“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Weil Nietzsche vor allem von vielen philosophisch Interessierten oft und viel zitiert sowie mit Schlagwörtern, wenn nicht Klischees, fixiert wird, lohnt es sich, diesen Beitrag von Andreas Urs Sommer besonders zu beachten.
2.
Seine Überlegungen sind bezogen auf seine umfangreichen Studien des „Nietzsche Kommentars“, die selbstverständlich auch die vielen Texte aus dem Nachlass berücksichtigen. Der Beitrag setzt sich mit zwei gegensätzlichen Interpretationslinien der Philosophie Nietzsches auseinander: Die beliebte „inhaltliche“ Position, die in Nietzsches Schriften feste Überzeugungen entdeckt. Und diese dann auch auf aktuelle Fragen bezieht, etwa „Tod Gottes“, „Nihilismus“, „Übermensch“. Und dann die eher „textische“ Lektüre, wie Sommer sagt, die Nietzsche nur als Verfasser von literarischen Texten versteht: Die dann von diesen Sprach-Forschern in allen philologischen Nuancen ausgeleuchtet werden.
Der Essay von Andreas Urs Sommer hat den provozierenden Titel „Was von Nietzsche bleibt“. Das ist ein Titel, der auf Abschließendes, Definitives hinweisen könnte. Tatsächlich aber will Sommer eher einen „Denkraum“ eröffnen…
3.
Der Artikel ist für LeserInnen Nietzsches wichtig, weil zentrale Differenzierungen genannt werden. So etwa Nietzsches Umgang mit Kant (S.10, in dem genannten Heft). Nietzsche habe, so Sommer, Kants Werke selbst nicht gelesen. „Nietzsches Kant ist ein Monstrum, von Nietzsche erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen…Nietzsche will einen Waffengefährten oder einen Gegner haben“. Eine Erkenntnis übrigens, die etwa schon der Philosoph Vittorio Hösle im Nietzsche Kapitel seines Buches „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (2013) mitgeteilt hatte (S. 185, auch S.190: „Nietzsche war als Philosoph nie ausgebildet“).
Wer hingegen die ganze große Fülle des Nachlasses berücksichtigen muss, wie Sommer, der wird bei Nietzsche dem stetigen mühevollen Ringen um den treffenden Ausdruck begegnen. Z.B.: „Die vom historischen Subjekt Nietzsche (dann) für publikationswürdig erachteten Aussagen über den =Willen zur Macht= stehen unter Vorbehalt. Sie haben die Gestalt eines Denkexperiments“ (S.12.) Dadurch gelangt man zu einem neuen Verstehen dessen, was Philosophie für Nietzsche bedeutet. “So hat man“, betont Sommer, “in den philosophischen Texten Nietzsches ein Philosophieren in der Hand, als permanentes Fort – und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte, nicht als ein festes Gefüge von Gedanken, Überzeugungen, sondern Philosophieren als Prozess, als Bewegung“(S. 13). Philosophieren zeigt sich in Nietzsches Texten als etwas ungewöhnlich anderes, „es unterscheidet sich“, so Sommer, „fundamental von Philosophie im landläufigen Sinne“ (S. 14). Philosophieren widerspricht den festen Fügungen und letzten Überzeugungen, denkt Nietzsche.
4.
Was also bleibt von Nietzsche? Nichts Festes. Schon gar kein Lehrsystem. Sondern Denken als Prozess, als ständiges Aufheben und Überschreiben fester Überzeugungen (Propositionen). Große dogmatische, handlich griffige Lehrgewissheiten sind also aus Nietzsches Schriften nicht zu erzeugen und auch nicht mehr festzuhalten, so Sommer. Es sind bei ihm Denkbewegungen zu finden, bei denen der Leser Unterstützung finden kann in den umfangreichen Kommentaren, die nun von der Forschungsstelle herausgegeben werden. Dadurch wird deutlich: Selbst bei einer Vielzahl möglicher Interpretationen von Nietzsches Texten sind doch nicht alle Deutungen vertretbar. „Nietzsches Philosophie öffnet Denkräume. Es entsteht Weite. Abschließendes gibt es bei Nietzsche nicht. Diese Haltung im Denken hat etwas gegenüber der fixierenden Tradition durchaus „Zersetzendes“, betont Sommer. „Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral – und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie“ (S. 15).
Wie das zu bewerten ist, bleibt eine offene Frage: Das Tote, d.h. das Unmenschliche einer Kultur, kann ja gern „zersetzt“ werden: Aber wenn es dann doch – gegen Nietzsche – bleibend Gutes und Wahres gibt, warum sollte das nicht erhalten bleiben, etwa die Menschenrechte, die so oft missbraucht, aber trotzdem universal geltend für alle Menschen unersetzlich sind…
Für uns am wichtigsten: Nietzsche fördert bei seinen Lesern den eigenen Denkweg zu suchen, die eigene Praxis zu finden. Die fraglich bleibt und nur in der Bewegtheit des Lebendigen selbst das Bleibende sieht.
5.
Freilich: Bestimmte Grund – Überzeugungen“ zur Philosophie Nietzsches haben sich öffentlich durchgesetzt, haben sich als Sprüche in den Köpfen festgesetzt. So etwa die Diagnose, die er im Text „Zarathustra“ verbreitet: „Wir haben Gott getötet“. Dieser Satz gibt nach wie vor zu denken: Kann der Mensch Gott töten, wenn ja: welchen Gott, wer ist „wir“? Über Nietzsches Text „Der Antichrist“ wäre eigens sprechen (erschienen 1895). Darin „verkündet“ Nietzsche doch wohl eine neue, eine explizit antichristliche Moral? Manche Leser haben diesen Eindruck, wenn man das von Nietzsche Geschriebene ernst nimmt. Und auch dies: Die Polemik Nietzsches gegen, so wörtlich, „die Schwachen und Missratenen“, ist nicht nur antichristlich. Sie ist antihuman. Oder muss man auch bei dem Thema das nur „Vorläufige“, wenn nicht „Spielerische“ des Gesagten bedenken?
6.
Man wird also Nietzsche, dann mit den ausführlichen kritischen Kommentaren ausgestattet, sehr vorsichtig, immer mit einem Abstand kritisch lesen müssen und ihn schon gar nicht zu einem „Meisterdenker“ aufwerten, selbst wenn viele seiner Aphorismen anregend sind, zum kritischen Weiterdenken führen. Das gilt sicher schon heute, auch wenn diese großen Kommentare noch nicht vorliegen.

Siehe auch: „Forschungsstelle Nietzsche Kommentar“. 2020 soll z.B. ein Kommentar zum „Zarathustra“ erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

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2.
Über ein Sonderheft des „Philosophie Magazin“ (Berlin):
Also sprach Nietzsche
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlich am 9.7.2017

Immer wieder Nietzsche also. Die Einführungen in sein Denken sind heute kaum noch zu überschauen. Liegt es daran, dass Nietzsche sehr oft erstaunlich gut und „eingängig“ schreiben konnte, aber dabei selten doch klar verständlich war? Dass man also bei jedem Nietzsche Zitat oder Aphorismus mit größter Vorsicht umgehen muss, ob denn der „tolle Satz“ im Ganzen des Denkens von Nietzsche noch „stimmt“? Und ob die Nietzsche Überzeugung überhaupt stimmt?

Das Interesse an Nietzsche hat heute sicherlich mit der expliziten oder der verschwiegenen Verbindung seines Denkens mit der alten rechtsextremen Ideologie und der „neuen Rechten“ („La nouvelle Droite“) zu tun und auch mit der postmodernen Ideologie, die da den philosophisch kaschierten Glauben verkündet, „alles ist elativ … und Wahrheit gibt es nicht“.

Darum ist es wohl am wichtigsten, in dem neuen Sonderheft über Nietzsche aus der Reihe des „Philosophie Magazins“ die Interviews zu dem politisch aktuellen Thema zuerst zu lesen.

So sagt gleich am Anfang des Heftes Rüdiger Safranski: „Nietzsche war sehr dezidiert kein Demokrat … Mehrheiten sind für ihn immer töricht“ (S. 18). Dann folgt ein Hinweis Safranskis, dass Mehrheiten (in Demokratien) eben auch irren können, er nennt das Beispiel im Nationalsozialismus, woraus Safranskis schließt: „Es schadet durchaus nicht, auch die radikale Alternative zum demokratischen Denken kennen zu lernen“ (ebd.) Dass es von Herrschern und Medien dumm gemachte Mehrheiten in Demokratien gibt, sieht Safranski nicht. Hätte er sehen können, wenn er die Trump – Wahl studiert hätte. Diese durch idiotische Propaganda dumm gemachten Mehrheiten sind aber meines Erachtens kein Grund, prinzipiell gegen Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie zu sein. Aber das nur am Rande. Befremdlich auch, dass Safranski meint, es habe, so wörtlich, „intelligente nationalsozialistische Philosophen“ (S. 20), wie etwa Alfred Baeumler, gegeben. Heidegger nennt Safranski nicht. Meint Safranski solche Philosophen, die mit der formalen philosophischen Logik, dem „Einmaleins“, gut klar kamen? Dann mag es zu Zeiten der Juden – Vernichtung durch die Nationalsozialisten vielleicht logisch korrekt denkende Nazi – Philosophen gegeben haben. Aber wenn Intelligenz auch Ethik umfasst, dann kann es definitiv keinen „intelligenten nationalsozialistischen Philosophen“ gegeben haben. Sie waren verirrte Ideologen, mehr nicht. Schade, dass solche Auslassungen Safranskis einfach im Interview (geführt wie die meisten Interviews im Heft von der Philosophin Catherine Newmark) unwidersprochen stehen bleiben.

Deutlich ist die Aussage des Philosophen Bernhard H.F. Taureck: „Die Mehrheit der Italo – und Germanofaschisten stand eindeutig auf der Seite Nietzsches“ (S. 105). Es faszinierte die Nazis, „das Nein Nietzsches zur Demokratie, seine Verachtung der Frauen, sein Ja zum Krieg und sein Votum für die Überschreitung des bisher bekannten Menschentypus… (S. 105). Nietzsche war einerseits gegen das Judentum als Träger universalistischer Werte. „Aber er bejahte die jüdische Bevölkerung Deutschlands, um aus ihr und den Germanen eine höhere Menschheit zu züchten“ (S. 107). Kann man sagen, diese Haltung sei nicht antisemitisch? Sie ist es, denke ich. Interessant ist der Hinweis Taurecks, dass etwa 150.000 deutsche Soldaten im 1. Weltkrieg Nietzsches „Zarathustra“ im Gepäck bei sich hatten, als eine Art Religionsersatz.

Wie die Philosophie des Transhumanismus (d.i. kurz gesagt: sehr langes Leben – 150 Jahre – für einige reiche Herrschaften als Lebensziel) mit Nietzsche zurecht kommt, kann man in dem Interview mit dem Transhumanismus – Philosophen Stefan Lorenz Sorgner nachlesen. Sorgner ist auch Mitbegründer des „Beyound Humanism“ – Netzwerkes! Er plädiert für einen „liberalen (was ist das?, CM) Umgang“ mit Technologie in der Hoffnung, durch den Schritt zum Trans- oder vielleicht Posthumanen die Wahrscheinlichkeit des guten Lebens zu erhöhen“ (S. 115). Es ist für mich unverständlich, dass solche Auslassungen vom Interviewer Sven Ortoli nicht unterbrochen werden, nicht nachgefragt wird, so wird ein Interview zur Propaganda, die mit Philosophie nichts mehr zu tun hat.

Der Nietzsche Spezialist Andreas Urs Sommer ist da kritischer: Nietzsche habe einen Hang zum Autoritären, betont er, ein konkretes politisches Programm habe er nicht vorgelegt, insgesamt nennt Sommer Nietzsches Denken wohl sehr treffend „schräg“ (S. 30). Er bezeichnet dann die Provokationen Nietzsches „in hohem Maße verdächtig – verdächtig im positiven Sinne“. Was im positiven Sinn „verdächtig“ denn bedeuten könnte, wird nicht erklärt.

Sehr interessant für mich ist das Interview mit dem Philosophen und Theologen Christoph Türcke über die „Tiefen – Psychologie“, die Nietzsche in seinem Werk ausbreitet: Ausgangspunkt sei, so Türcke, dass Nietzsche „den menschlichen Verstand bloß eine Art Wurmfortsatz der menschlichen Triebnatur auffasst, nicht als eigenständige Kraft“( S. 82). Sind solche Wurmfortsatz – Denker wie Nietzsche noch Philosophen?

Das Nietzsche Heft ist für solche, die bisher wenig von dem Propheten wissen, doch empfehlenswert, zumal auch einige treffende Nietzsche – Zitate versammelt sind. Und auch wird die Rolle von Nietzsches Schwester Elisabeth für die Philosophie durch Kerstin Decker sehr schön dargestellt und neu interpretiert. Auch Stefan Zweig kommt zu Wort und Thomas Mann, so wird zusammen mit der Daten – Übersicht eine inspirierende, Fragen weckende Broschüre veröffentlicht. Schade nur, dass die internationale Relevanz Nietzsches etwa in Italien oder Frankreich nicht dargestellt wird. Wird er etwa in Indien wahrgenommen oder im buddhistischen Kontext? Was denken Menschen in arm gemachten Regionen über ihn, der die Kleinen und Kranken und Armen verachtete? Ohne internationale Bezüge kann heute kein Philosophie – Heft mehr auskommen, denke ich.

Leider fehlt auch der für Nietzsche entscheidende Hass aufs Christentum als eigenes Thema. Es hätte die Rede sein müssen, wie sich dieser blinde Hass des Pfarrerssohnes mit seiner ganz offenen, lyrisch bewegten Zuneigung zu Jesus verträgt.

Es fehlt leider auch die Auseinandersetzung zu der Frage, in welcher Weise denn Nietzsche nun wirklich und ernsthaft als Philosoph angesprochen werden kann. Ist er nicht eher ein literarischer Prophet, etwa in seiner philosophisch wie auch empirisch völlig unbegründeten Verkündigung „Gott ist tot“. Dieses Bonmot geistert durch die Köpfe der Menschen, alle glauben es und keiner weiß, was dieses Predigt – Wort Nietzsches eigentlich bedeutet und ob es wahr ist: Welcher Gott ist denn tot???

Am schwerwiegendsten wohl: Es hätte meines Erachtens dem Heft sehr gut getan, auch Vittorio Hösle zu Wort kommen zu lassen, der ja bekanntlich in seiner Studie „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (Beck Verlag 2013) gezeigt hat: Nietzsche war philosophisch gesehen ein „Dilettant“, es gibt keine „Konsistenz“ seiner Aussagen (S. 185), Nietzsche „verdeckt in seinem einzigartigen Stil von verführerischer Schönheit den Mangel an Argumenten und Evidenzen“ (S. 186). „Schopenhauer war der einzige Philosoph, den Nietzsche neben den Vor – Sokratikern wirklich kannte“, sagt Hösle. (S. 188). Auch Hösle weist darauf hin, dass Nietzsche tatsächlich neue „Werttafeln“ aufstellte, als „Verkünder“ (S. 201). Zurecht sagt Hösle, „dass Nietzsche sich selbst mit seiner allgemeinen Leugnung der Wahrheitsfähigkeit der Menschen schädigt“ und sich „die eigenen Beine wegsprengt und geistig am Verbluten ist“ (S. 202 f.)

Über den Übermenschen wäre zu sprechen, diese maßlose Behauptung, die sich Philosophie nennt. Der Philosoph und Nietzsche Spezialist Volker Gerhardt hat recht, wenn er den bloßen Behauptungscharakter der Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen dadurch beiseite schiebt, wenn er sagt, dass wir uns heute ja nicht an frühere Leben in dieser ewigen Wiederkehr erinnern können. Wichtig dann die Schlußfolgerung: „Aus meiner Sicht liegt der größere Ernst im Bewusstsein der Einzigartigkeit der jetzt gegebenen Situation“. Man kann also sagen: Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr ist Predigt, ist Ideologie.

www.philomag.de

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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3.
Nietzsches Philosophie – gefährlich anregend

Von Christian Modehn, Berlin, veröffentlicht am 23.9.2012, anlässlich der Sitzung des religionsphilosophischen Salons, auf vielfachen Wunsch publiziert.

PS: Es handelt sich um ein einführendes, zur Diskussion führendes Statement, das keineswegs umfassend ist.

Der Titel deutet bereits das Spannungsverhältnis an, dem man sich stellen muss, wenn man sich mit Nietzsches Philosophie befasst. Er selbst hat sein eigenes Denken gefährlich genannt, weil es in die Weite einer neuen Kultur führen soll, was einen Bruch mit der vertrauten alten Kultur bedeutet.

In seinem relativ frühen Text „Fröhliche Wissenschaft“ (von 1881) gibt Nietzsche selbst die Losung aus, „gefährlich zu leben“. Gerade in dieser Infragestellung unserer bisherigen kulturellen Selbstverständlichkeiten ist Nietzsche anregend – und aufregend. Sein Denken kann niemanden unbewegt lassen.

Warum gerade jetzt eine Auseinandersetzung mit N. Philosophie? Vielleicht, weil viele seiner Analysen und Prognosen heute von vielen als zutreffend erlebt werden. Sie sind entschieden von einer radikalen, das bisherige christliche System vernichtenden Religionskritik geprägt und von dem äußerst eindringlichen Vorschlag, sich neu religiös zu orientieren. Das gilt es wahrzunehmen, ohne gleich zuzustimmen!

Die entscheidende Perspektive heißt bei Nietzsche: Gott ist tot. Da muss man genau hinhören: Er sagt in diesem Satz, der seiner Analyse seiner Gegenwart entspringt, dass Gott tot ist. Das ist etwas anderes als zu sagen: Gott gibt es nicht; oder: Gott existiert nicht. Wer sagt: Gott ist tot, und er sagt auch: Er war mal lebendig. Nun ist er tot, ein bestimmter Gott ist nicht mehr am Leben.

Da sind wir schon beim aktuellen Bezug: Jeder sieht in Westeuropa und unter allen gebildeten Menschen weltweit: Dass der alte bekannte überlieferte und eingeprägte Gott der Christen, etwa die Trinität oder Jesus als „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweg nimmt“, ist nicht mehr nachvollziehbar lebendig, wird nicht mehr innerlich verehrt und akzeptiert. Der alte dogmatische Glaube ist tot. Jeder macht sich seine persönliche „Glaubensmelange“… Das ist eine Tatsache, und war wohl früher schon eine Tatsache. Welcher bayerische Bauer glaubte im 17 Jahrhundert z.B. dogmatisch korrekt, etwa, laut Glaubensbekenntnis, dass der Heilige Geist von Vater und Sohn ausgeht?

Man werfe heute nur ein Blick in die Kirchen am Sonntag: Der Gottesdienstbesuch lässt in ganz Europa ständig nach; in manchen Ländern geht er gegen Null; die dort verbreiteten Gotteslehren und oft auch in eins mit Morallehren sind nicht mehr nachvollziehbar. Das Mönchsleben und die Orden sterben aus; große Begeisterung, Pfarrer zu werden, ist kaum zu spüren, viele theologische Fakultäten stehen etwa in Deutschland vor der Schließung. Was Nietzsche empört, ist, dass alle so weiter machen und weiter leben wie bisher, als sei dieser Gott gerade nicht tot. Sie flüchten in den Schein und den Selbstbetrug.

Aber dieser verstorbene Gott war früher sozusagen der oberste Garant einer Werte – Ordnung: „Für Gott und Vaterland“, man erinnert sich an den Spruch; Gott ist die oberste Wahrheit; alles Erkennen geschieht in göttlichem Licht; Gott ist der Schöpfer der Welt usw.

Wenn dieser Gott der obersten Werte und vertrauten Weltbilder tot ist: Dann bricht eine Welt zusammen. Dann wird den Menschen der Boden entzogen.

Das Schwierige im Umgang mit Nietzsches Texten ist nur: Es sind in den umfangreichen Büchern viele, meist kurze knappe Texte hintereinander gestellt, es sind meist keine systematischen Abhandlungen, zumindest im Spätwerk (ab 1880) ist das so. Da sollte man nie isolierte Aphorismen für die ganze Wahrheit von Nietzsche Aussagen nehmen.

Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) ist zweifellos einer der ungewöhnlichsten Philosophen. Er schreibt in einer Sprache, die musikalisch – poetisch ist, keineswegs abstrakt und nur in Theorien – versponnen. Nietzsche ist heute einer der am meisten gelesenen und philosophisch bearbeiteten Denker. Er wurde rezipiert von Künstlern, wie Picasso, Kandinsky, Klee, Schriftstellern wie Rilke, George, Thomas Mann, Proust; Richard Strauss („Also sprach Zarathustra“) Gustav Mahler…

In Deutschland begann die gründliche kritische Nietzsche Forschung erst in den sechziger Jahren.

Nietzsche spricht als persönlich Erschütterter und Leidender. Seine Texte sind mit dem eigenen Leben verbunden, sind niemals Erkenntnisse, die am „grünen Tisch“ entstanden sind oder sich lediglich als Beiträge akademischer Debatten oder gar als „Glasperlenspiel“ verstehen. Wichtig ist der extrem hohe Anspruch seines Denkens, das sich besonders in der späten Phase, vor der Umnachtung im Januar 1889, als prophetische Stimme, als Weisung und radikale Lebenserneuerung präsentiert. Das ist in dieser, man möchte sagen, „missionarischen Sendung“ durchaus selten innerhalb der Philosophiegeschichte.

Nietzsche will mehr sein als ein Philosoph, er will als Ausnahmeexistenz des Umstürzlers und Neues Stiftenden ein Beispiel geben. Er möchte eine neue Renaissance einleiten, Geburtshelfer einer neuen Kultur sein. Dabei kommt es gerade in den letzten Jahren zu einer extremen Stilisierung des eigenen Daseins und Denkens. Er will aus seinem Leben ein Kunstwerk machen. Er schreibt Worte, die Taten sein wollen. Er will ein Philosoph „mit dem Hammer“ sein: D.h. wohl: Es ist der „Hammer“ gemeint, mit dem der Arzt den Körper des Patienten abklopft, so will Nietzsche sinnlich wahrnehmen, hören, was unter „uns“ geistig – religiös krank ist.

Ich will kurz einen, vielleicht das Wesentliche treffenden biographischen Hinweis geben: Hier kommt es nur darauf an, zentrale menschliche Lebens – Erfahrungen Friedrich Nietzsches zu erwähnen, die unmittelbar für sein Denken und Schreiben wichtig wurden: Vor allem ist da zu nennen der schmerzvolle Tod seines Vaters im Alter von 36 Jahren, ihn erlebte Friedrich Nietzsche als 5 Jähriger. Sein Vater war evangelischer Pfarrer, er stammte aus einem alten „Pfarrergeschlecht“, in der Familie gab es schon in der 5. Generation Pastore. Zuhause wurde auf strenge Befolgung der kirchlichen Lehren geachtet.

Friedrich Nietzsche wandte sich angesichts des Leidens und frühen Sterbens seines Vaters an Gott, betend und bittend; aber ohne göttliche Antwort blieben seine Bitten.

Kein Gott antwortet: Nietzsche lernt daraus: Gott erhört uns nicht; die Frommen verehren eine Art Phantom, ein illusorisches Himmelswesen, unerreichbar und tyrannisch. Dieser Glaube, sagt Nietzsche später, führt die Menschen dazu, das Beste ihrer Ideen und Energien an einen illusorischen Himmel zu verschleudern … anstatt „fröhlich“ auf Erden zu leben. Es kommt für Nietzsche entschieden darauf an, dass die Menschen die Freude am Lebendigen bewahren, dass sie sich am Genuss der Sinne erfreuen, dass sie Stärke erleben…Bleibt der Erde treu, heißt dann sein Prinzip.

Ich will hier nur kurz erwähnen, dass Nietzsche in Basel schon als hochbegabter junger Mann – ohne Promotion, ohne Habilitation – Professor für Altphilologie wird. Aber in den Baseler Jahren wird schon die Philosophie für ihn immer wichtiger: Er gibt die Professur auf und lebt fortan ziemlich bescheiden als freier Philosoph und – kaum erfolgreicher – Schriftsteller bis zu seinem geistigen und körperlichen Zusammenbruch Anfang 1889. Nietzsche ist 1900 gestorben, seit 1889 von seiner Mutter in Naumburg liebevoll versorgt, ab 1897 von seiner Schwester Elisabeth in Weimar betreut, die sich – als Antisemitin schlimmster Art – erdreistete, unveröffentlichte Texte ihres Bruders nach eigenem ideologischen Gusto zu veröffentlichen (etwa: „Der Wille zur Macht“). Sie hat auch dafür gesorgt, dass von Nietzsche ein paar Sprüche durch die Stammtisch Gesellschaften geisterten und geistern. Etwa: Nietzsche propagiere den Machtmenschen, den Übermenschen, die blonde Rasse usw, Dinge, die im Faschismus aufgegriffen wurden. Erst die kritischen Gesamtausgaben von Colli und Molinari ab 1960 haben eine ernsthafte differenzierte Nietzsche Lektüre möglich gemacht.

Nietzsche hat eher „anti – systematische“ Werke hinterlassen, aber er hatte systematische Absichten, schreibt der Philosoph Volker Gerhardt.

Ein Wort zur „Methode im Denken Nietzsches:

Wichtig ist das radikale Hinterfragen und Bezweifeln der überlieferten kulturellen und religiösen Traditionen. Er fragt, was ist das VERBORGENE in dem, was sich kulturell zeigt. Der Verdacht spielt bei ihm eine große Rolle, ihn interessiert der Schleier, der sich über die Wahrheit legt, die Rolle des Unbewussten wird von Nietzsche klar gesehen. Nietzsche als Psychologe wäre ein Thema!

Also: Hinter dem, was sich öffentlich als gut zeigt, kann etwas anderes, etwas Böses lauern. Der Schein trügt, ist seine Devise. Und hinter dem, was wir als Böse hingestellt bekommen, kann sich gerade das Gute und das Wahre verbergen. Wir müssen also immer skeptisch bleiben, nicht auf alle Sprüche aller möglichen Herrschaften reinfallen. Wir müssen damit rechnen, so Nietzsche, dass uns auch in den entscheidenden Begriffen und Dogmen, wie Gott z.B., nur Masken begegnen.

In Nietzsches späterem Werk, also etwa seit 1880, kehren bestimmte Themen und Motive immer wieder, z.T. mit unterschiedlicher Schärfe und Intensität.

Ich will versuchen, eine Art kleinen systematischen Durchblick zu bieten:

Stichwort Nihilismus: Da zeigt sich Nietzsche als der große Analytiker der Gegenwart und als „Wahrsagevogel – Geist“, wie er sich selbst nannte.

Er sieht einerseits die große Öde, das nur glitzernde Phantom, den routinierten und öden „Kulturbetrieb“, wie Adorno später sagt.

Die alten Werte werden nicht mehr als solche respektiert. Sie werden zwar pro forma mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit verkündet, aber, so Nietzsche, diese absolut geltenden Wahrheiten gelten eigentlich nicht mehr. Die meisten wissen längst: Alles Erkennen ist perspektivisch, also ausschnitthaft. Es gibt keine rund herum absolut wahre Erkenntnis des „Dinges an sich“.

Aber die alte Welt der Kultur und Religion redet uns ein, wir müssten absoluten Werten folgen, diese Einrede ist obsolet geworden. Diese Bindung an die alten Werte wird passiv hingenommen, der oberste Wert, Gott und Christus, werden als Aufforderung verstanden, das Leiden hinzunehmen, alles zu ertragen.

Aber Nietzsche fragt: Woher kommt der Nihilismus. Es sind die Priesterklassen und Asketen, die ihre Werte verbreitet haben, Werte des Jenseits, die mit dem Leben nichts zu tun haben. Den dort gepredigten passiven Nihilismus will Nietzsche überwinden.

Aber zuvor, damit zusammen hängend, muss erkannt werden:

Gott ist tot: ist das entscheidende Stichwort. Aber alle tun so, als sei er nicht tot.

In der „Fröhlichen Wissenschaft“ kündigt der tolle Mensch den Tod Gottes an. Wichtig ist zu sehen, dass der Tod Gottes nicht als bedauernswertes, zwar als überwältigend erschütterndes Ereignis gesehen wird, sondern im letzten als große Befreiung. Später auch, in seinem Zarathustra Buch, wird der Tod Gottes als das zentrale Ereignis beschrieben. Jedenfalls liegt da kein Plädoyer pauschal für den Atheismus vor, eher die Aufforderung der Suche nach einem neuen Gott, von dem schon der junge Nietzsche sprach.

Differenzierter sollte man sehen: Jesus bejaht Nietzsche als die vorbildliche menschliche Gestalt und die menschliche Lehre des Jesus von Nazareth. Jesus habe ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologen sagten. Er hat zum Widerstand aufgerufen, die kleinen Leute sollten widerstehen…

Nietzsche sieht den Ursprung der Verfälschung der Jesus – Lehre mit Paulus beginnen. Durch die Lehre von der Auferstehung verschiebe sich das Interesse am Dasein ins Jenseits, in weite Fernen.

Nietzsche sieht die Kirche wegen dieser monströsen dogmatischen Lehren, so wörtlich, als Irrenhaus.

Er spricht davon, dass die „Kirchen zum Grab Gottes“ werden, eine sehr hellsichtige Analyse, wenn man bedenkt, wie heute viele (katholische) Kirchenmitglieder, „eigentlich“ durchaus gläubig, durch die Verbrechen der Kircheninstitutionen, der Päpste, der Priester usw. usw., zu Atheisten werden.

Nietzsche sieht sich als Überwinder des Nihilismus.
Er ist alles andere als ein nihilistischer Denker, der sozusagen in das Nichts verliebt ist. Nietzsche macht konkrete Vorschläge, wie denn eine neue Kultur und eine neue Religion aussehen könnte: Dabei sieht er sich wie einen Narren, der Unbequemes sagt, wie ein Hanswurst, sagt er wörtlich, wie einen tollen Mensch. Insgesamt aber sieht sich Nietzsche als FREIER GEIST und befreiter Geist (von der alten Religion).

Aber zunächst noch: Es gilt, nach dem Tode Gottes neue Tafeln, so wörtlich, neue Gebote also, zu setzen. Die andere Möglichkeit wäre, im Alten zu verharren und beim „letzten Menschen“ zu bleiben. Der Begriff der letzte Mensch ist sehr vieldeutig, es ist auch der „letzte“ im moralischen und zeitlichen Sinne. Diese Menschen folgen noch dem untertänigen Geist der alten Sklavenmoral. Sie ersetzen Gott durch neue Idole, für Nietzsche sind das Demokratie, Fortschritt, Wissenschaft.

Der erste Vorschlag: der Mensch muss den Menschen überwinden und zum Übermenschen werden.
„Tot sind alle Götter, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe“. (Zarathustra). Der Übermensch ist ein belasteter und oft missverstandener Ausdruck. Mit dem Übermenschen meint Nietzsche entschieden den Menschen, der sich von dem immer wieder aufgedrängten und eingeübten Selbsthass der alten religiösen Kultur befreit hat, der sich nicht mehr untertänig verhält, sondern stolz ist auf sein Leben. Und der dieses Leben als einen Prozess der ständigen Steigerung versteht. Der Übermensch lebt das Leben auf immer tiefere Erfahrungen hin. Der sich ständig überschreitet und wächst.

Da spielt die aktuelle Diskussion hinein, es herrschen die Slogans: Mach aus deinem eigenen Leben ein Kunstwerk. Werde schöpferisch. Höre auf mit der verordneten Selbstverarmung. Deine Tugenden sollen Selbstaufwertung und Selbstüberbietung sein. Hört auf mit der von den Religionen diktierten Selbstverschwendung. Und hört auf mit der Idee der Gleichheit aller Menschen. Das ist die hoch problematische Seite an diesem Begriff, wie ihn Nietzsche vorträgt.

Mit Nietzsche wird ein „Gegenevangelium“ formuliert, wie der katholische Theologe Eugen Biser sagt. Nietzsche will lehren, dass nach dem Tode Gottes die Menschen und die Welt den Platz Gottes einnehmen müssen. Es gilt, sich in einer irdischen Welt einzurichten und umfassend Freude am Leben zu haben. Es wird eine Alternative zur bisherigen Welt geplant. Das Leben ist der Höchstwert als nur menschliches Leben. Dabei sollen nach Nietzsche, und das macht ihn problematisch, die Starken als die Herrscher, entscheidend den Ton angeben. „Wie kann der Übermensch Ja sagen zum umfassenden Leben und gleichzeitig die anderen, die Schwachen, verachten?“, darauf macht der Philosoph Schönherr Mann aufmerksam. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage wichtig: Wie können Menschen sich selbst überschreiten und alle positiven Kräfte in sich entwickeln.

Dahinter steht der Begriff „Der Wille zur Macht“. Dieses Thema hat Nietzsche selbst nicht vollständig ausführen können. Aber deutlich wird: Die neue Macht der neuen Welt können nicht die einstigen Sklaven, die Unterlegenen, die kleinen Leute übernehmen. Die sind ohnehin von Ressentiments, von Neid, geprägt, aber Nietzsche sah, wie der gelebte Wille zur Macht tatsächlich auch zu einem großen Durcheinander verschiedener Willen führen kann. Darauf hat er keine Antwort gegeben. Aber für ihn hat alles Lebendige in sich den Willen zur Macht, zur Steigerung und Gestaltung.

Darum sein Vorschlag für eine neue Sinnorientierung: Die ewige Wiederkunft des Gleichen. Dies ist eine heroische Haltung, die Annahme des unausweichlichen Schicksals. Da tritt Nietzsche wie ein Stifter eines neuen Glaubens auf. Ewige Wiederkunft: Da ließe sich auch an das Nirwana des Buddhismus denken. Aber im Buddhismus gibt es einmal den Ausstieg aus dem Kreislauf, eben den definitiven Schritt ins Nirwana.

Das ist bei Nietzsche nicht gemeint. Das ist der Versuch, die lineare Geschichte aufzugeben, also die Idee einer unbekannten Zukunft vor uns aufzugeben, zugunsten eines Kreises, der Wiederkehr der bekannten irdischen Welt. Diese Vorstellung hat Nietzsche selbst für die schwerste unter allen Erkenntnissen gehalten; sie setzt auch den einzelnen ein in die Wiederkunft des schon einmal Erlebten. Das wird von Nietzsche durchaus als Last angesehen, wer will schon alles Leid, das er einmal durchmachte noch einmal und noch einmal später erleben? Aber diese heroische Annahme der Wiederkunft lobte Nietzsche als amor fati. Was sich ständig wiederholt, hat einen zwanghaften Charakter, ohne Ziel und ohne Ende dreht sich die Welt. Ob das eine bessere Lösung ist als die klassische Lehre von der himmlischen und zukünftigen Erlösung ist eine andere Frage!

Das Buch „Der Antichrist“ ist die heftigste Anklage und Verurteilung des Christentums. In einer scharfen Tonart geschrieben! Es geht ihm, wie Eugen Biser sagt, um einen Vernichtungsschlag“. Luther habe bloß den Papst kritisiert, jetzt kommt es darauf an, das Christentum und die Kirche zu vernichten. (§ 57, Antichrist). „Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die ein große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig. Heimlich, unterirdisch, klein genug ist, ein Schandfleck der Menschheit“.(§ 62)

Sein letztes, aber erst nach seinem geistigen Zusammenbruch veröffentlichtes Bekenntnisbuch autobiografischen Charakters heißt Ecce Homo, ein biblischer Titel. Darin erklärt er sich selbst zur Person, an der sich das Schicksal der Menschheit entscheidet. Er sieht sich als dionysischer Erlöser. Er leidet, aber nimmt alles an als eine amor fati, als eine Liebe und Annahme des Schicksals.

Nietzsche verstand sich selbst als Experimentalphilosoph, und das ist seine bleibende Leistung: Neuland zu betreten

Aber es ist verfehlt, Nietzsches Schriften unmittelbar für eine Lebens- Orientierung zu halten, dafür ist seine Konzeption einer neuen Kultur und neuen Religion mit einem neuen Gott noch viel zu abhängig von dem, was er selbst überwinden will. Er verharrt innerhalb der Dialektik „Gott – Nicht Gott“ auf der Stufe der bloßen Negation. Wichtiger wäre eine neue Position, eine neue Synthese, sozusagen als das Dritte jenseits von klassischem Theismus und Atheismus. Vielleicht wäre dies die Mystik.

Was bleibt nach Nietzsche für ein Denken des Unendlichen, des Ewigen? Das menschliche Leben ist Geheimnis. Das Leben, auch das leibliche, soziale und sinnliche und erotische, gilt es in höchstem Maße zu schützen und zu pflegen und zu lieben. Wir können das Geheimnis des Lebens niemals umgreifen und damit niemals endgültig definieren. Wir sind sozusagen im ständigen Schwebezustand des Ungewissen. Das ist unsere Gewissheit, unser „Getragensein“. Gott ist dabei unser Symbol für dieses Schweben im Geheimnis, für dieses Ausgesetztsein dem Geheimnis gegenüber und IM Geheimnis. Wir brauchen dieses Symbol der Öffnung, der Weitung, weil wir wissen: Unsere Welt ist niemals nur irdische Welt. Der Mensch ist niemals nur Mensch, aber er wird wohl nie Übermensch. Er bleibt Mensch, ewig auf der Suche nach dem unergründlichen Geheimnis, allein und in (religiösen) Gemeinschaften, die für diese undogmatische Position Verständnis haben.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.

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4.

Man muss Jesus als das wärmste Herz denken«
Was Friedrich Nietzsche den Christen heute schreiben würde

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 18.7.2009

Einige Freunde haben mich gebeten, einen kleinen Beitrag über Nietzsche aus dem Jahr 2001 noch einmal zugänglich zu machen, es handelt sich um den Versuch, einige wichtige Gedanken Nietzsche vor allem gegenüber spirituell und kirchlich Interessierten –provokativ – deutlich zu machen. Dass ich dabei einige Vorschläge Nietzsches als „kompatibel“ mit christlichem Denken darstelle, wäre eine eigene Debatte wert, die mir jetzt, im Rückblick auf diesen Text, im Juli 2020, interessant erscheint.

100 Jahre bin ich nun tot. Aber meine Ideen, meine Vorschläge, meine Polemiken: Sie leben, sie sind wichtiger denn je. Nicht nur Martin Heidegger hat betont, dass man sich an mein Denken noch erinnern wird, wenn mein Name längst vergessen ist. Aber ich bin nicht vergessen. Ich bin heute wie früher auch umstritten, und das freut mich. Ihr wisst, dass ich nie zur Bescheidenheit neigte. Ängstlichkeit lag mir fern, und Autoritäten hab’ ich meist verabscheut. Ich wusste, was ich kann; und ich weiß, dass ich heute Euch Christen etwas zu sagen habe. Darum wende ich mich an Euch. Ihr wisst, dass ich deutliche Worte liebe und manchmal übertreibe, einfach nur, um die Wahrheit besser hervortreten zu lassen. Darum freue ich mich über Eure Toleranz und vor allem über Euren Mut, mitzudenken und keine falschen dogmatischen Barrieren aufzustellen. Denn ich hatte immer ein deutliches Gespür dafür, Dinge zu sagen, die niemand sonst so treffend formuliert hat. Typisch Nietzsche, werdet Ihr denken … Euer Neid sei Euch verziehen. Dass ich mich manchmal als Prophet fühlte, als Künder neuer, epochaler Wahrheiten, mag ein bisschen übertrieben gewesen sein, aber ganz Unrecht hatte ich ja oft nicht.

Darf ich darum zuerst an einen Satz aus meinem Zarathustra-Buch erinnern? »Ich beschwöre Euch, meine Brüder (und Schwestern), bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche Euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.« Ihr wisst, das ist mein Programm: »Bleibt der Erde treu!« Wie oft habe ich als Sohn eines evangelischen Pfarrers erleben müssen: Fromme Leute, die ihre ganze Existenz auf dieser Welt schon auf den Himmel ausrichteten. Sie hatten kein Gespür für die schöne Welt, für die Natur, den Leib, die Sexualität, die Lust, ja, durchaus auch den Spaß; sie hatten keinen Sinn für die Befreiung und Entwicklung des ganzen, des leibhaftigen Menschen. Sie gönnten sich nichts, sie waren Asketen und schwärmten nur vom Himmel. »Bleibt der Erde treu«, heißt mein Programm. »Schaut nicht hinauf in den Himmel«, hat das nicht schon Jesus den Jüngern im Moment seiner Himmelfahrt zugerufen? Ich meine nach wie vor: Bleiben wir irdisch, bleiben wir menschlich, hüten wir uns, auf der Seite Gottes zu stehen und als Agenten seiner Wahrheiten aufzutreten. Hat nicht Joseph Ratzinger schon in München das Kardinals – Motto gewählt: „Mitarbeiter der Wahrheit“? Welch ein Wahn, würde ich sagen…Wer uns von der Erde loslösen und in himmlische, charismatische, fromme, transzendente Regionen entführen will, der vergiftet uns: Das wollte ich mit meinem Wort »Giftmischer« sagen. Geistliche Meister des Jenseits vergiften unser Leben, nehmen uns langsam dosiert unsere Lebensenergie weg. Sie verderben unser Dasein, weil sie uns in der angeblich ewigen Spaltung von Diesseits und Jenseits festlegen wollen. Das Diesseits ist das Jammertal, das unsichtbare Jenseits das Paradies, diese Ideen leben noch heute. Warum hat eigentlich der Vatikan so sehr gegen die Befreiungstheologie polemisiert und ihre Verteidiger schikaniert? Weil diese Christen der Erde treu bleiben wollten. Weil „Seelsorge“ als der einzige Auftrag der Kirche endlich, endlich, zurückgewiesen wird. Weil es auf Leibsorge ankommt, auf eine bessere Gesellschaft. Weil die Befreiungstheologen Nahrung für alle und gerechte Verhältnisse einklagen und das zumindest genauso wichtig fanden wie die Welt der Dogmen. Oder irre ich? Ein Papst, der einmal eine Enzyklika mit dem Titel »Bleibt der Erde treu« schreibt, wird sicher danach auf allen sakralen, barocken Pomp verzichten und anstelle von kostspieligen Weltreisen Gesundheitsprogramme in Afrika, vor allem die Aids-Prophylaxe, massiv und wirksam fördern. Jetzt werden Aids betroffene Afrikaner von vielen Katholiken nicht mit Leben schützenden Kondomen versorgt, sondern in Sterbekliniken aufs Jenseits vorbereitet. Sehr löblich, diese Sterbebegleitung, aber sollte man nicht zuerst das Leben schützen? Den Homosexuellen verbietet der Papst zu lieben, also im umfassenden Sinne zu leben; sie sollen sozusagen ihre Lebensenergien unterdrücken, als »Nobody« leben. Wer der Erde treu bleibt und auch seinem Leib, wird Sexualität als Form der lebendigen Transzendenz erleben. Wie schreibt doch der Professor für evangelische Theologie Manfred Jossutis so schön, in meinem Sinn denke ich: »Menschliche Sexualität hat eine transzendierende Tendenz. Wer die Sexualität verweltlicht, fördert die Verarmung des menschlichen Lebens.« Deswegen noch einmal: Hören wir auf mit der Trennung von Diesseits und Jenseits, von schlechtem Weltlich-Menschlichen (Sexuellen) einerseits und gutem und reinem Jenseitigen. Bleiben wir vielmehr der Erde – ganzheitlich – treu!

Ihr wisst, dass ich, Friedrich Nietzsche, mich gerade in der letzten Phase meines klaren Daseins, also vor meinem Zusammenbruch 1889, besonders entschieden gegen die Macht der Kirchen gewandt habe. Ich kam in »Rage«, wie die Franzosen sagen. Ich war ein Philosoph mit Wut im Bauch, aber das immer nur als Durchgangsstadium hin zu einer »Fröhlichen Wissenschaft«, wie ich sagte, zu einer Philosophie als fröhlicher Lebenskunst. Das war mein Lebensziel. Tatsächlich sah ich mich aber selbst am Sterbebett des Christentums sitzen; die Institution Kirche war für mich »fragwürdig und furchtbar«, sie war für mich »zum Grab Gottes geworden«. Denn ich spürte intensiv: Die alte religiöse Welt geht zu Ende, die alte Glaubenswelt bricht zusammen, die früher den Menschen Halt und Richtung gab. Aber ich habe dann doch das Ende des institutionalisierten Christentums als Hoffnung und Befreiung gedeutet, weil alle Energie nun auf die Erde, auf das glückliche Leben im Hier und Jetzt gerichtet werden kann. »Weil wir unser Dasein heiligen können«, wie ich sagte, weil wir als Menschen von unendlichem Wert werden. Darum habe ich ja den Vorschlag gemacht, dass wir Menschen zu Übermenschen werden müssten. Der Übermensch: Ein Wort, das leider oft völlig missverstanden wurde, vielleicht habe ich mich aber nicht immer klar genug ausgedrückt. Aber PhilosophInnen wie Annemarie Pieper (Basel) oder Günter Figal (Freiburg) und andere haben Euch darauf hingewiesen: Mit dem Übermenschen meine ich, dass wir auf eine neue Art leben sollten, dass wir sozusagen den »alten Menschen«, von dem ja auch schon das Neue Testament voll ist, hinter uns lassen. »Übermensch ist ein Name für die menschliche Freiheit«, sagt Günter Figal. Der Übermensch hat nichts mit der »Herrenmoral« zu tun; er ist vielmehr der Mensch, der sich gegen den um sich greifenden Nihilismus wendet und seinem Leben selbst einen Sinn gibt. Er ist dabei, die Einheitlichkeit im Leben zu schaffen, Göttliches und Menschliches als Einheit zu gestalten.

Denn Ihr müsst wissen: Ich habe dem Begriff des Übermenschen, des »freien Menschen«, der aus seinem Leben ein »Kunstwerk« macht, stets den »letzten Menschen« gegenübergestellt. Der »letzte Mensch« ist für mich der alltägliche Mensch, der sich um nichts anderes kümmert als um das banale Leben. Er ist sozusagen der Materialist, der keine Fragen mehr nach dem Sinn und Zweck des Ganzen stellt. Der »letzte Mensch« ist von mir durchaus im qualitativen Sinne gemeint, so etwa, wenn Ihr abschätzig sagt: »Na, der ist ja der Letzte.« Für mich ist dieser klein karierte Menschentyp Inbegriff des Nihilismus, von dem ich immer wieder gesprochen habe. Ich habe ja unsere Epoche insgesamt als nihilistisch bezeichnet. Ich hatte die tiefe Erfahrung der modernen Menschen gespürt und gesagt: Unsere Epoche ist nihilistisch. Die tragenden Werte, der gründende Sinn, der transzendente Horizont, alles das ist »nichts«. Vor allem der alte Gott im Himmel, der Herrscher, der Richter, der Ursprung der Moral, dieser Gott gilt nichts mehr, lebt nicht mehr, weckt keine Lebensenergie. Ich habe den »tollen Menschen« in meinem Buch »Fröhliche Wissenschaft« diese Erfahrung in Form einer Parabel sprechen lassen, fast wie einen biblischen Text. Ich habe gesagt, dass Menschen den bisher geglaubten Gott getötet haben, eben weil sie nicht länger die Zerrissenheit von Diesseits und Jenseits ertragen konnten. Ich habe den »tollen Menschen« sagen lassen, dass mit dem Tod Gottes ein Chaos eintreten wird, von Absturz, Kälte, Finsternis habe ich gesprochen als Konsequenzen dieses Erlebens, dass der »alte Gott« nichts mehr gilt. Der bisher übliche transzendente Horizont ist »weggewischt«. Wir nach dem „Tod Gottes“ ein neuer, ein „göttlicher Gott“ erscheinen, wie Martin Heidegger sagte? Die Frage ist offen. Sehnen sich die Menschen nach einen „göttlichen Gott“? Sehnen sich die Christen nach dem göttlichen Gott oder bevorzugen Sie Pater Pio und den Landpfarrer Johannes Vianney und Lourdes und Fatima und den Papst-Kult???

Darüber hinaus sage ich, Friedrich Nietzsche, gar nicht so viel Neues zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Der Nihilismus ist – zumindest in Europa und Amerika, in Japan und Australien – die allgemeine Religion geworden. Aber Ihr versteht mich völlig falsch, wenn Ihr denkt: Der Nietzsche will doch nur, dass es bei diesem Nihilismus bleiben soll. Das Gegenteil ist wahr: Ich habe mich immer gegen den platten Nihilismus, gegen die banale Weltlichkeit gewehrt. Der letzte Mensch, der Nihilist, »macht alle klein«, habe ich im Zarathustra geschrieben, einen hartnäckig dahinvegetierenden »Erdfloh« habe ich ihn abschätzig-übertreibend genannt. Ihm habe ich, ich komme noch mal darauf zurück, den Übermenschen gegenübergestellt, den freien Menschen, von dem ich schrieb: In ihm selbst »tanzt der Gott«. Im Leben erlebt er Göttliches, Heiliges…

Ich meine also: Wir müssen unsere Transzendenz nach innen verlegen, der göttliche Funke ist in der Seele, als Lebensspender, gewiss auch als Trost, vor allem aber als Energie zu lachen und zu leiden, zu lieben und zu tanzen. Diese Umkehrung der Transzendenz vom fernen, äußeren Gott in den inneren Gott: Davon sprechen ja auch schon einige Theologen. »In einer säkularisierten Welt hat die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst und seiner Leib-Geistigkeit einen neuen Rang erhalten. Dem kann nur der Gott-in-uns, nicht der Gott-außerhalb-von-uns eine Entdeckungsreise wert sein«, schreibt zum Beispiel der katholische Theologe und Jesuit Hans Waldenfels. Aber wahrscheinlich stehen wir noch am Anfang dieser Entdeckungsreise zum neuen Gott in uns.

Wie sehr meine Lehre vom Übermenschen als dem »freien Geist« schon angekommen ist, zeigt mit das zunehmende Interesse der Europäer und Amerikaner am Buddhismus. Sich selber meditativ auf den Weg machen, die große Harmonie suchen, das Ziel der Erleuchtung als der vollendeten Menschlichkeit anstreben: Buddha-Sympathie und Nietzsche-Sympathie reimen sich gut, das ist viel zu wenig beachtet! Und vielleicht, das fällt mir jetzt ein, ist »der Heilige« für Euch der Übermensch, mit dem Ihr Christen leben könntet. Nur wünsche ich mir einmal Heilige nicht der Lebens- und Lustentsagung, sondern Heilige sozusagen des prallen, auch erotischen Lebens. Die »heilige Hure« war bisher nur ein Film. … Wenn es wenigstens ein erotisches Paar gäbe, das heilig gesprochen wäre …

Ihr seht, der alte Nietzsche hat noch was zu sagen und Euch Fragen zu stellen. Vielleicht lest Ihr mal wieder mein umfangreiches Werk? Und lasst Euch nicht abschrecken von Widersprüchen, die ich in meinem Eifer als »experimentierender Philosoph« verfasst habe. Die Nazis haben mein Denken missbraucht; dass ich alles andere als ein Antisemit bin, das haben ja nun zahlreiche Studien belegt; nur so ganz herumgesprochen hat es sich bei Euch noch nicht. Hört endlich auf, den Nazi-Ideologen mehr zu glauben als den wissenschaftlich arbeitenden Philosophen.

Zum Schluss will ich Euch noch auf eine bislang unbekannte Seite von mir aufmerksam machen: Ich bin nämlich, wie der katholische Theologe Eugen Biser, einer meiner Interpreten, schreibt, »ein kritischer Nachahmer Jesu«. Wenn ich auch das institutionalisierte Christentum meiner Zeit als eine lebensverneinende Macht verurteilte, so habe ich doch stets für Jesus von Nazareth viel Sympathie gehabt. Man muss ihn sicher als »wärmstes Herz« denken, als den »edelsten Menschen«. Seine Botschaft der Ganzheitlichkeit lautet: »Das wahre Leben, das ewige Leben, ist gefunden. Es wird nicht verheißen, es ist da! Es ist in Euch: Als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.« Diese Erfahrung der innersten Nähe des Göttlichen »hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in tausend Jahren. Es ist eine Erfahrung in einem Herzen, es ist überall da, es ist nirgends da …« Schaut Euch die Jesus-Bilder an, die den Mann aus Nazareth wie einen heiligen Narren zeigen, etwa die Arbeiten von Otto Dix, George Rouault oder Herbert Falken, dann ahnt Ihr, was es mit meiner Jesus-Vorliebe auf sich hat. »Für mich gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz«, das habe ich schon vor 120 Jahren geschrieben: Inzwischen ist eine heftige Diskussion im Gange, wie Jesus-nah denn die Kirchen sind. Heute frage ich, Friedrich Nietzsche: Was hat der Petersdom mit Jesus zu tun? Was haben die Milliarden Kirchensteuereinnahmen mit dem Mann aus Nazareth gemeinsam? Was hat die Hütte von Bethlehem mit den Palästen der Kirchenbürokratie zu tun? »Ja, aber«, schreien sie bereits, die Pröpste und Prälaten. Mit diesem ewig wiederholten »Ja, aber« der Kirchenbeamten werdet Ihr Christen Euch auseinander setzen. Ich denke nur, dass ich als Philosoph für Euch nur eines tun kann: Ich kann zu denken geben.

copyright:Christian Modehn

Ein TEXTAUSZUG AUS DER “FRÖHLICHEN WISSENSCHAFT”
»Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ – Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott?‹ rief er, ›ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet –, ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet –, wer wischt dies Blut von uns ab?

Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat –, und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‹ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ›Ich komme zu früh‹, sagte er dann, ›ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert –, es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.«

Aus der »Fröhlichen Wissenschaft« von 1882

“Der Katholizismus ist veräußerlicht”. Ein Hinweis zur Religionskritik Georg W.F. Hegels

Hegel kritisiert den Katholizismus

Hinweise von Christian Modehn, Juli 2020.

1.
Auf das aktuelle Thema „Hegel und der Katholizismus“ habe ich schon mehrfach aufmerksam gemacht. Es ist kein Sonderthema für einige Spezialisten, sondern es bezieht sich auch auf die aktuelle Situation im Miteinander von Gesellschaft und Staat einerseits und Katholizismus auf der anderen Seite. Man denke an den ständigen Versuch des Klerus, etwa mit theologischen/biblischen Prinzipien in die Gestaltung demokratischer Ordnungen bestimmend einzugreifen, siehe das heutige Polen oder Italien (z.B. den heftigen katholischen Widerstand gegen die „Ehe für alle“). Das gilt auch für Deutschland im Kampf der Katholiken von „Pro Life“ für die Ungeborenen und weniger entschieden für die schon Geborenen, aber Bedrohten und Sterbenden, die Flüchtlinge im Mittelmeer.
Zu sprechen wäre auch über den Zusammenhang von „Katholizismus und Korruption“, ein Thema das schon Hegel aufgreift. Diese Korruption ist heute auch in den orthodoxen Kirchen oder unter Evangelikalen/Pfingstlern sichtbar. Aber diese Bindung an korruptes Verhalten ist prominent seit Jahrhunderten im Katholizismus Realität, die Studien zur Geschichte der Kirche sind voll davon. Korruption ist für den Katholizismus wesentlich strukturbedingt und nicht bloß auf die allgemeine „Sündhaftigkeit“ der einzelnen zurückzuführen.
2.
Hegel ist seit fast 200 Jahren tot. Aber wer genauer seine Erkenntnisse zum Thema betrachtet, entdeckt: Hegel ist auch in der Hinsicht alles andere als „ein toter Hund“, wie manche seiner Gegner/Feinde schon Mitte des 19. Jahrhunderts völlig unbegründet behaupteten.
Der Maßstab, den Hegel zur Beurteilung der Religionen, auch des Katholizismus, einsetzt, kann gar nicht den immer begrenzten Weisungen einer bestimmten Religion, Konfession oder Theologie entstammen. Der Maßstab kann nur ein philosophischer, ein reflektierter und allgemein gültiger sein: Hegel weiß: Mit der Anerkennung dieses vernünftigen und allgemeingültigen Maßstabes zur Beurteilung der humanen Bedeutung einer Religion und ihrer Lehren wird den Werten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ein absoluter Wert zugesprochen: Jeder Mensch soll sich frei wissen und frei fühlen. Kein Mensch darf also Institutionen, staatlichen wie religiösen, hilflos ausgesetzt sein, die in ihrer Gesetzgebung der Willkür von Gewaltherrschern folgen.
3.
Natürlich kann jeder Mensch bei der geltenden Religionsfreiheit freiwillig einer Sekte angehören, die in ihrer Lehre wie in der internen Gemeinde-Praxis die Freiheit des einzelnen Mitgliedes ausschließt. Das ist prinzipiell möglich, solange diese Sekte nicht die Freiheit der anderen Menschen in Gesellschaft und Staat in Frage stellt und zerstört.
4.
Hegel hat recht, wenn er das Ziel geschichtlicher Entwicklung formuliert: Dieses ist persönliche wie politische Freiheit, verstanden als Bei-Sich-Selbst-Sein in jeder Hinsicht. Nicht Chaos, sondern Freiheit und Gerechtigkeit für alle, Gleichheit vor dem Gesetz. Das ist das ersehnte und praktisch zu gestaltende Ziel. Deswegen spricht Hegel auch vom Fortschritt, aber dieser ist für ihn immer zuerst ein „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Dieses Bewusstsein muss dann im Rechsstaat zu einer Gesetzgebung führen, die den Grundsätzen der Menschenrechte entspricht. Allen, die Menschenrechte jetzt postmodern relativ finden, sie dies gesagt: Die Herkunft der Menschenrechte aus Europa sagt gar nicht gegen deren universale Gültigkeit.
Wonach sehnen sich denn die Unterdrückten in den Diktaturen damals und heute weltweit, wofür setzen sie ihr Leben ein: Sie wollen endlich Freiheit, gemäß den universal gültigen Menschenrechten, dies gilt, ob es nun von einzelnen explizit gewusst wird oder nur unthematisch in ihnen lebt. Aber „im „Herzen“, in der „Seele“ wird diese Freiheit für alle von allen gewünscht. Krieg und Chaos und Diktatur erstreben nur Unvernünftige, Verwirrte, Kranke …
5.
Jetzt sind wir wieder bei „Hegel und dem Katholizismus.“ Denn nach der umfassenden Gültigkeit der eigentlich universal geltenden Menschenrechte sehnen sich auch heute viele Katholiken. Das ist ein weltweites Phänomen und dieser Kampf wird geführt von Frauen, auch Ordensfrauen, Homosexuellen, Priestern, die Priester sein wollen ohne das Zölibatsgesetz, insgesamt von Katholiken, die endlich synodale Strukturen, also Demokratie in der Kirche, wünschen, also die Abschaffung der Klerusherrschaft und letztlich auch der Allmacht des Papsttums (siehe das umstrittene Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, verkündet vor 150 Jahren von Papst Pius IX., den einige hochrangige Kleriker damals als geistig verwirrt beschrieben haben. (LINK:https://religionsphilosophischer-salon.de/12895_ueber-die-papstkirche-und-den-absoluten-papst-pius-ix_religionskritik)

Diese Zustände eines in sich dogmatisch abgeschlossenen Katholizismus sind allseits bekannt, sie sind zudem eine der entscheidenden Ursachen für die Kirchenaustritte aufgeklärter Katholiken. Der Kampf etlicher katholischer „Reform“ Gruppen über all die Jahrzehnte hat de facto keine strukturellen grundlegenden Verbesserungen gebracht. Es wurden Reförmchen eingeleitet, Reförmchen – Versprechen von den Hierarchen gegeben. Aber die Arroganz der klerikalen Macht ist trotz aller Proteste und Mahnwachen und Unterschriftensammlung von so genannten Reformgruppen geblieben.
6.
Was hat Hegel damit zu tun? Er sagt in vielen seiner Bücher und Vorlesungen Überraschendes, Klares, Hellsichtiges, Vernünftiges: Zusammenfassend gesagt: Der Katholizismus braucht in seiner Sicht eine umfassende Reformation und NICHT Reformen oder Reförmchen. Allein eine neue Reformation kann den Katholizismus aus der mittelalterlichen Welt herausführen, in der er sich – nach Hegels Erkenntnis – immer noch befindet. Mittelalterlich Geprägtsein ist für ihn dabei nichts Pejoratives: Das Mittelalter hatte in der Weltgeschichte einmal seinen notwendigen Platz und seine begrenzte Bedeutung. Alle geistigen Wirklichkeiten sind Produkte des Geistes, so auch das Mittelalter, Produkte, „Objektivationen“ und Manifestationen des zugleich menschlichen wie göttlichen Geistes! Das ist bekanntlich Hegels grundlegende Erkenntnis. Aber der Geist ist ein lebendiger, und als lebendiger Geist entwickelt er sich, wandelt er sich, gelangt zu größer Klarheit seiner selbst. Das „Bewusstsein der Freiheit“ entwickelt sich also stetig weiter: Vom Mittelalter geht es über in die Reformation Martin Luthers … hinein in die moderne Welt.
7.
Der Katholizismus ist also für Hegel „stehen geblieben“. Es gibt ihn noch immer, aber er ist nicht „wirklich“, im emphatischen Hegelschen Sinn von Vernünftigsein! Der Katholizismus ist also durchaus „veraltet“, überholt, „aufgehoben“, weil eingebunden in eine vom Geist und der Vernunft längst überwundene Erfahrung von Gott, Mensch und Freiheit.
Im Mittelalter wurde Gott als ferner Himmelsherr verehrt, umgeben von der Himmelskönigin Maria und den vielen Heiligen, dieser Gott war anschaulich, männlich mit Bart, dargestellt. Die gotischen Kathedralen bezeugen diese Allmacht des mittealterlichen Glaubens. Sie bieten nach wie vor ein schönes Kunsterlebnis, aber ihre architektonische Struktur musste sich auf den Altarraum, reserviert für Priester, fixieren. Laien wurden auf Abstand gehalten! Dem setzt Hegel die moderne Erfahrung der Unmittelbarkeit Gottes entgegen: Gott ist Geist. Das ist wenig und so viel, was Hegel von Gott sagen kann … im Sinne vieler Zeugnisse des Neuen Testaments übrigens.
Diese Hinweise bedeuten aber auch, dass einzelne Impulse des eigentlich überholten Katholizismus für Hegel noch interessant bleiben, etwa dessen Vorliebe für die Philosophie oder die Mystik.
Natürlich hat Hegel gar nichts dagegen, wenn sich Menschen noch in dieser alten Welt des Katholizismus bewegen. Nur: Wirkliche Menschen der Gegenwarts sind sie für ihn eigentlich nicht. Sie leben förmlich in einer Spaltung, einer Bindung an das religiöse Mittelalter und – etwa politisch, sozial, kulturell – in einer Bindung an die Werte der Moderne, die universalen Menschenrechte z.B.
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Dafür bietet Hegel Beweise in seinem Werk, wie gesagt in vielen unterschiedlichen Büchern, mit vielen historischen Belegen. Denn Hegel ist zwar ein „spekulativer Philosoph“, aber einer, der sein Denken auf eine breite Fülle von Fakten stützt.
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Das Zentrum der Kritik:
Der Katholizismus ist für Hegel eine Kirche, die den einzelnen Gläubigen nicht zu einer reflektierten Innerlichkeit führt, weil der Katholizismus die Menschen vor allem an Äußerlichkeiten bindet. Deswegen kann der einzelne Glaubende meinen, fromm zu sein, mit Gott verbunden zu sein, wenn er schon äußere Riten vollzieht und dabei Gott selbst als etwas Äußeres und Äußerliches wahrnimmt.
Die katholische Glaubenspraxis mag zwar berauschende Gefühle wecken, Gefühle der Verzauberung dieser Welt, an Wallfahrtsorten und Wunderorten, mit heiligen Wassern oder hoch verehrten Knochen (Reliquien) heiliger Verstorbener, selbst wenn diese noch so umstritten sind wie der heilige Scharlatan, der angeblich stigmatisierte Pater Pio in Süditalien. Diese Verzauberung wird zudem in Barockkirchen geweckt mit den vielen Heiligenbildern und Bildchen, den Putten und den Engeln, die ja bekanntlich jetzt ein großes „interreligiöses“ Comeback erleben, etwa in den Erfolgsbüchern von Anselm Grün. Darin sind sich also die verschrobensten Esoteriker und die Katholiken einig: Sie lieben die Engel (mehr als Gott).
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Zentral für Hegels Katholizismus Kritik ist die Verehrung bzw. Anbetung der Hostie: Diese ist der verwandelte, trans-substituierte Jesus Christus, verwandelt in ein winziges Stückchen Brot Und diese Hostie ist in eine goldene Monstranz gesetzt. Die „ewige Anbetung“ der Hostie ist ja auch heute sehr beliebt als populäre katholisch Praxis… Die Hostie als äußere und äußerliche also veräußerlichte Präsenz des Göttlichen hat für Hegel weit reichende Bedeutung: “Wenn aber einmal zugegeben ist, dass Gott in äußerlicher Gegenwart ist, so wird zugleich dieses Äußerliche zu einer unendlichen Mannigfaltigkeit…dass Christus da und dort, in diesem und jenen, erschienen ist…Allerorten werden also in höher begnadeten Erscheinungen, Bluteindrücken von Christus sich Vergegenwärtigungen des Himmlischen begeben…Die Kirche ist daher eine Welt voller Wunder… Das Göttliche erschient als ein vereinzeltes Dieses, also ein Ding, eine Reliquie etwa“. („Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“, Meiner Verlag, Hamburg, 1968, Seite 823 f.).
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Die Konsequenzen dieser veräußerlichten Frömmigkeit, die sich an wundersame Dinge, heilige Gegenstände, heilige Orte, heilige Personen, heilige Leichen, Reliquien usw. hält, sind für Hegel gravierend: Es gibt dann die entzückten, aber ungebildeten, dumm gehaltenen Laien, die sich an diese heiligen Dinge gewöhnen sollen. Und es sind die Kleriker, die diese veräußerlichte Form des Frommseins fördern. Man denke jetzt etwa an die „Weihe“ eines Bistums an die himmlischen Herzen Jesu und Mariens…Damals gab es schon die umstrittenen Wallfahrten zum „Heiligen Rock“, der angeblichen Kleidung Jesu Christi.
Es wird also in der Sicht Hegels den Laien verwehrt, im eigenen Geist die unmittelbare Verbindung mit Gott zu leben. In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie sagt Hegel in dem Zusammenhang die durchaus bis heute aktuellen Worte: „Die Menschen sind keine Laien“ (S. 297), „die Laien sind (im Katholizismus) aber dem Göttlichen fremd“ (S. 454) und vor allem: “Denkende Menschen als Laien behandeln ist das Härteste“ (S. 297). („Theorie Werkausgabe“, Suhrkamp, 1970).
12.
In der katholischen Frömmigkeit erscheint für Hegel so wörtlich das Verderben, der Aberglauben überhaupt in der Verehrung von heiligen Orten, von heiligen Knochen. „Das ist Wunderglaube der ungereimtesten und läppischsten Art. Denn das Göttliche wird auf eine ganz vereinzelte und endliche Weise für ganz endliche und besonders Zwecke da zu sein gemeint…“ (S. 873). Hegels Kritik – Erich Fromms Erkenntnis zur „Nekrophilie“ vorausgreifend – findet förmlich Unterstützung von Jesus Christus selbst: Der Philosoph zitiert die Frage des „Auferstandenen“: „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten“? („Vorlesung über die Philosophie der Geschichte“, S. 471, bezogen auf Lukas Kap. 24). Das Geistvolle, das Lebendige, ist einzig bei Geistigen zu suchen.
13.
Das „Christentum als ein grundlegendes „geistiges Prinzip“ („Vorlesungen. über die Philos. der Weltgeschichte“, S. 875) wird erst von Martin Luther als Prinzip des Glaubens erkannt. „Versöhnung mit Gott kann es für Luther nicht auf äußerliche Weise, sondern nur auf geistige Weise geben“ (ebd. S. 878). Mit anderen Worten: Die Prinzipien (!) des Protestantismus haben das Freiheitsbewusstsein gefördert, der Protestantismus ist grundsätzlich (!) die Gestalt des christlichen Glaubens, die in der modernen Welt bestimmend sein sollte. Dabei weiß Hegel genau, dass in den evangelischen Kirchen seiner Zeit viel geistige Beschränktheit besteht, Pietismus, Schwärmerei, dogmatische Fixierung. Aber diese Traditionen sind ein Abfall von dem eigentlich wahren protestantischen Prinzip der Innerlichkeit, also der Erkenntnis: Der Glaube lebt im Inneren des Geistes, er braucht keine das „Heil“ vermittelnden Priester, keine Ablässe, keinen Wunderglauben…
14.
Auch die zentrale katholische Lebensform der Orden wird von Hegel zurückgewiesen. Das Ordens-Gelübde des Gehorsams führt zu falscher Abhängigkeit von Vorgesetzten, das Gelübde der Armut dient nur als Vorwand bei wenig Arbeit sich von anderen beschenken zu lassen oder permanent zu betteln; das Gelübde der Keuschheit als Ehelosigkeit und Verzicht auf erotische, sexuelle Liebe führt zur Geringschätzung von Partnerschaft und Ehe.
15.
Entscheidend aber ist: Der protestantische Glaube erkennt prinzipiell: Die innere Freiheit, die der einzeln Glaubende Gott gegenüber erlebt, muss sich als Freiheit auch in die Gesetze des Staates hinein verwirklichen und den Staat bestimmen. Es muss also zu einer Harmonie von Freiheit kommen, von der inneren Freiheit des Geistes, auch im Glauben und der rechtlichen Freiheit im Rechtsstaat. Der Katholizismus mit seinen Prinzipen der Veräußerlichung des Glaubens fördert eine Mentalität, die die Gestaltung des Staates nach freiheitlichen Prinzipien immer wieder nur als Nebensache deutet. Die Kirche und ihre Traditionen sind wichtiger als das angeblich „schmutzige Geschäft“ des politischen vernünftigen Handelns
Man denke nur daran, dass in katholischen Staaten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Diktaturen auch faschistischer Art (Franco/Spanien, Mussolini/Italien, Portugal, Brasilien, Dominikanische Republik und viele andere Staaten in Lateinamerika usw.) von den Päpsten durch Konkordate anerkannt wurden.
Hegel meint also: Nur in der Sittlichkeit (als moralisches Bewusstsein der Weltgestaltung) des protestantischen Prinzips kann ein freier Rechtsstaat entstehen.
16.
Heute gibt es nur sehr wenige Politiker, die diesen protestantischen Prinzipen folgen. Den meisten, selbst wenn sie sich protestantisch nennen oder einer sich christlich nennenden Partei angehören, sind die vergöttlichen Prinzipen des Marktes und des Kapitalismus am wichtigsten, und der eigene Profit….
Es hat also eine Art „Austausch Gottes“ stattgefunden: Der biblische Gott wurde und wird ersetzt gegen einen Gott des Kapitals (Geld). Dies gilt ja bis in die Kirchen hinein, die insofern auch ihrem offiziell noch verkündeten Mono-Theismus irgendwie abgeschworen haben.
Dies ist freilich ein Thema, das Hegel so radikal noch nicht sehen konnte. Er sprach allerdings von der Zerstörung, die durch die Vorherrschaft des subjektiven, ganz auf das Ego fixierten Menschen eingeleitet wird! Dies ist eine Selbstzerstörung des Geistes…
17.
Ob viele Menschen sich auf einen vernünftigen Glauben, der im Sinne Hegels nur das Wesentliche glaubt, noch einmal einlassen können, ist fraglich. Heute gehören Magie und Aberglauben zu den Hauptinteressen auch der sich religiös nennender Menschen. Und selbst so genannte Atheisten, die nicht an die Nicht-Existenz des biblischen/kirchlichen Gottes glauben, schätzen dann doch oft Astrologie, esoterische Weisheiten… Haben also doch wieder ihre „Götter“?
18.
Aber prinzipiell gibt es für philosophierende Christen keinen Grund, auf einen Glauben zu verzichten, der – wie der Hegels – die Innerlichkeit und die Unmittelbarkeit eines jeden Menschen zu Gott im Denken pflegt. Dieser Glaube ist als Erkenntnis vernünftig und wahr. Und er wird tätig … im Sinne der Menschenrechte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes wird abgeschafft!“

Als sich die katholische Kirche dogmatisch von der Moderne verabschiedete: Dies geschah im Jahr 1870, am 18. Juli, durch die Entscheidung von Papst Pius IX.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Papsttum “zerbröselt” offensichtlich:
Am 14.7.2020 habe ich ein Vorwort zu dem Text unten geschrieben. Ich will auf die jüngste Publikation “The next Pope” des bekannten sehr konservativen US-amerikanischen Autors George Weigel hinweisen, der schon jetzt, obwohl Papst Franziskus ja wohl noch lebt, das Profl des künftigen Papstes beschreibt. Dieses Buch wurde von dem New Yorker Kardinal Timothy Nolan allen Kardinälen sozusagen zur Einstimmung geschickt. Das Buch ist zudem in einem Verlag erschienen, das dem Jesuitenorden nahesteht, der “Ignatius Press”.

Das Papsttum, das sollten alle an dem Thema noch Interessierten wahrnehmen, löst sich heute zwar noch nicht von selbst ganz auf, aber es zerbröselt so langsam und systematisch. Das wird vor allem sichtbar in den bekannten, öffentlich ausgetragenen Attacken gegen den regierenden Papst Franziskus. Diese vielen polemischen Stellungnahmen aus höchstem kardinalen Munde sind bekannt. Bezeichnend ist, dass Papst Franziskus, wann immer er kann, öffentlich darum bittet, für ihn zu beten. Das ist keine fromme Floskel, sondern Ausdruck der Angst vor den allmächtigen Kurien-Leuten und Kardinälen und reaktionären Theologen. Kaum einer von denen würde offen sagen: Ich bin gegen Papst Franziskus. Aber wer auch zwischen den Zeilen lesen kann, etwa in den Druckerzeugnissen von Kardinal Müller und Co., weiß Bescheid.
Um diesen Auflösungsprozess des Papsttums heute zu begreifen, muss man an die Tatsache erinnern, dass sich der einstige Papst Benedikt XVI. nach seiner selbst gewollten Emeritierung 2013 keineswegs als zurückgezogener, vielleicht Buße tuenden Emeritus verhält, sondern wie eine Art zweiter Papst! Er wird, und das erwartet er wohl, von „seinen Kreisen“, den konservativen Katholiken, verehrt, die er dann seinerseits mit seinen Schriften und Interviews bestens bedient. „Unser Papst ist Benedikt“, man lese die entsprechenden Jubel- Beiträge seiner Fans…
Man sollte also, wenn man den Mut der klaren Analyse hätte, wirklich von einem Gegenpapst Benedikt XVI. sprechen mit seiner starken militanten Lobby um ihn herum. Zwei Päpste also, das ist total gegen die klassische Lehre vom Papsttum.
Und dieses Papsttum zerbröselt, weil die Pluralität der theologischen Meinungen selbst unter den Kardinälen nicht mehr wie einst „unter einem Deckel“ gewaltsam unterdrückt werden kann: Einst, das heißt wohl bis zum polnischen Papst Johannes Paul II., war der Papst und das Amt des Papstes wie eine Art monolithisches Imperium noch zusammengehalten. Heute ist es so weit gekommen, dass der Kardinal von New York Timothy Dolan vor kurzem das Buch eines bekannten, sehr konservativen Autors, George Weigel, an alle Kardinäle schickte. Sozusagen zur Einstimmung für die nächste Konklave, fehlt bloß noch, dass man für ein alsbaldiges friedliches Ende von Papst Franziskus betet. Der Titel des Buches von Mr. Weigel ist „The Next Pope“. Damit wird unverschämterweise, möchte man sagen, gegen das ausdrückliche Verbot des regierenden Papstes Franziskus agiert, schon „ante mortem“ ein Profil des künftigen Papstes zu beschreiben.
Selbstverständlich, Weigel nennt dabei keinen Namen. Aber der Grundtenor ist klar: So, wie unter Papst Franziskus, darf es nicht weiter gehen. Es ist sozusagen eine besondere „Feinheit“, dass dieses Buch im Verlag „Ignatius Press“ erscheint, also in einem Verlag in San Francisco, der mit dem Jesuitenorden eng verbunden ist. Der Gründer des Verlages ist ein Jesuit. Dadurch wird deutlich, dass auch innerhalb des Jesuitenordens Abstand genommen wird von dem Jesuiten – Papst Franziskus.

Diese Details zeigen, dass das Papsttum als Imperium und als monolithischer Block heute de facto nicht mehr besteht und wohl nie mehr bestehen kann: Die theologische Pluralität und die kulturelle Differenz in einer Kirche mit 1,3 Milliarden Mitgliedern vernichtet alle Uniformität und Einheitlichkeit. Und schon allein diese Tatsache der 1,3 Milliarden Mitglieder lässt doch jeden nachdenklichen Menschen meinen: Wie kann ein einziger sehr alter Herr (Papst Franziskus ist jetzt 83 Jahre alt), eine Organisation mit 1,3 Milliarden Mitgliedern „leiten“. Auch ein jüngerer Papst kann dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Darum: Nicht einen Papst, sondern mindestens fünf auf allen Kontinenten könnte diese Kirche gebrauchen. Aber könnten fünf Päpste auf verschiedenen Kontinenten (gemeinsam) “unfehlbar” sein? Wohl kaum.So könnte sich das „Unfehlbarkeitsdogma“ von 1870 von selbst erledigen…
(Siehe: https://www.ncronline.org/news/people/exclusive-dolan-sends-book-next-pope-cardinals-around-world)

Man vergesse auch nicht, dass bereits Kant in seinem Text von 1793 “Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis” eine Regierung als “despotisch” ablehnt, in der sich der Herrscher als ein Vater verhält, der(möglicherweise, je nach Laune) wohlwollend gegenüber seinen Bürgern ist. Diese Bürger aber werden als passive, duldsame Kinder gegenüber dem Vater verstanden. Kant sagt: “Dies ist der größte denkbare Despotismus”. Diese Äußerung Kants gilt es auf die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes zu beziehen. Papa heißt “Vater”. Die Gläubigen sind also seine “Kinder”…(Siehe: Kant, “Zum ewigen Frieden und andere Schriften”, Fischer Taschenbuch, 2008, Seite 99). Aber hätte Papst Pius IX. auf das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes verzichtet, wenn er Kant gelesen hätte? Eher nicht, er wie alle Päpste wollte ja die Gläubigen als gehorsame “Kinder”. Bis heute.

Und man vergesse auch nicht, dass schon 1819, also 50 Jahre vor der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit, der reaktionäre Philosoph Joseph de Maistre in seinem Buch “du Pape” ausdrücklich die Unfehlbarkeit des Papstes forderte. Nur mit dieser Unfehbarkeit, meine er, könnte die alte in seinem Sinne richtige feudalistische Ordnung wieder hergestellt werden… Pius IX. hatte daran geglaubt, ein treuer Schüler de Maistres…

1.
Unter den vielen Dogmen der katholischen Kirche (Dogma bedeutet: „Was ein Katholik glauben muss“) ist die „definitive und unumstößliche Lehre“ der „Unfehlbarkeit des Papstes“ eines der besonders problematischen und abstoßenden Dogmen. Vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, hat Papst Pius IX. diese Verfügung durchgesetzt, bekanntermaßen gegen den Widerstand vieler Bischöfe während des Ersten Vatikanischen Konzils. Pius IX. ist – gerade in höherem Alter – als ein Reaktionär in jeder Hinsicht bekannt: Als ein Feind der Moderne, also der Demokratie, der Menschenrechte, ein Gegner der freien Meinungsäußerung usw. Das kann hier nur angedeutet werden, ist aber ein Hinweis auf den absolutistischen Geist dieses obersten „Brückenbauers“, denn das bedeutet die Selbstbezeichnung der Päpste „Pontifex maximus“. Pius IX. hat keine Brücken gebaut, sondern den Katholizismus auf Dauer von der Moderne und der Aufklärung abgekoppelt. Er ist also faktisch ein Widerspruch zu seinem Auftrag.
Genauso bezeichnend ist die Tatsache: Der ebenfalls theologisch extrem konservative polnische Papst Johannes Paul II. hat im Jahr 2000 Papst Pius IX. selig gesprochen: Er darf also, zumindest regional, verehrt und als Fürsprecher im Himmel angesprochen werden, so die offizielle Lehre zu „Seliggesprochenen“. „Seliger Papst Pius IX. hilf uns, die Demokrartie zu zerstören“, könnte eine fromme Bitte heißen, vielleicht ist dies ein Tipp für katholische Rechtsextreme?
2.
Mir geht es nur um die ganz einfache, aber von katholischen Theologen in dieser präzisen Form meines Wissens nie gestellten Frage: Warum kann die katholische Kirche dieses unerträgliche Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes nicht schlicht und einfach heute und zwar sofort abschaffen?
Als besonderes Geschenk für die Welt und die Katholiken an dem Gedenktag? Dazu wäre ja rechtlich gesehen ein Papst in der Lage. Die Abschaffung dieses Dogmas wäre dann die letzte Tat eines unfehlbar agierenden Papstes. Dann müsste der Papst erklären: „Entschuldigung, was dieser Pius IX. da mit aller Bravour und Einschüchterungen auch gegen die Bischöfe durchsetzte, ist falsch, in heutiger fortgeschrittener Theologie sowieso. Der Katholizismus ist inzwischen geistig doch etwas lebendiger geworden, so dass er sich von diesen überlebten Vorstellungen Pius IX. trennt“.
Der Papst wäre also ab sofort nicht mehr unfehlbar „in Fragen des Glaubens und der Sitten“, wie es einst hieß. Der Papst wäre dann ein Mitglied der Bischöfe unter anderen, er wäre zu einem Lernenden und Suchenden unter anderen geworden.
3.
Selbst wenn immer wieder von herrschenden klerikalen Kreisen gesagt wird: So oft haben die Päpste ja bisher gar nicht Gebrauch gemacht von dieser ihrer dogmatischen „Unfehlbarkeit in Glaubensfragen“. Dann muss man freilich nur an Tatsachen erinnern: Es gibt nämlich eine „schleichende Unfehlbarkeitstendenz in den Aussagen späterer Päpste“, vor allem bei Johannes Paul II. und seinem Chef-Theologen Kardinal Ratzinger. Der katholische Theologe Professor Norbert Scholl schreibt sehr treffend in den „Stimmen der Zeit“ 2018, wenn er sich auf die vielen anderen päpstlichen Verlautbarungen bezieht, die den Katholiken als offizielle Lehre irgendwie ständig aufgedrängt werden: „Ob Enzyklika, Motu proprio, Apostolisches Schreiben, vom Papst approbierte Erklärungen der Glaubenskongregation oder Katechismus der Katholischen Kirche: Immer wird die „willige Annahme der Lehren und Weisungen durch die Gläubigen, die ihnen ihre Hirten in verschiedenen Formen geben“, verlangt, also „religiöser Gehorsam“, „Folgsamkeit in Liebe“ oder „endgültiges Festhalten an diese Entscheidung“. Also genau die gleiche Haltung, die auch gegenüber einem Dogma gefordert wird.
4.
Die Tendenz des Papstes, diese versteckteren Formen der Unfehlbarkeit und damit der autoritäre Rechthaberei in Glaubens – und Moralfragen auszuüben, ist also auf vielfache Weise präsent und ungebrochen bis heute. Papst Franziskus hat dem heftigen Kritiker der Unfehlbarkeit, dem katholischen Theologen Hans Küng diesbezüglich auf einen Brief freundlich geantwortet, aber keine präzisen Aussagen zu einer „Abmilderung dieses Dogmas“ gemacht. Wie immer ist Papst Franziskus in einem freundlichen Ja und Nein befangen, wie es Franziskus als „Jongleur“ so liebt, weil er –diplomatisch gesehen wahrscheinlich klug – ums eigene Überleben im Vatikan besorgt ist und niemanden unter den Kardinälen dort sehr oft stark verärgern will. Das wäre vielleicht die Summe des Pontifikates von Papst Franziskus: „Weil er es allen recht machen wollte, hat er nichts so richtig recht gemacht“. Aber das ist ein anderes Thema…post mortem zu bearbeiten.
5.
Zurück zu unserer eigentlich ganz einfachen Frage: Wird dieser Papst oder einmal ein anderer Papst das Unfehlbarkeitsdogma abschaffen? Es erscheint wie ein hoher unüberwindlicher Berg, der allen Menschen die Sicht nimmt, wenn es um das Suchen nach einem vielleicht doch möglicherweise Vernunft-affinen Katholizismus geht. Aber die katholisch theologische Antwort muss LEIDER nein heißen. Es kann systembedingt keine Abschaffung eines Dogmas geben. Das System lässt dies nicht zu! Denn die katholische Theologie kann und will die über alle und alles herausragende und alles bestimmende Macht des Klerus, also auch des Papstes, nicht aufgeben. Und zu dieser Macht – Ideologie gehört auch die selbst geschaffene Überzeugung: Was wir Kleriker einmal als Dogma, als Wahrheit, definiert haben, gilt ewig. „Denn wir sind“, so behaupten sie, „die einzigen autoritativen Lehrmeister der Kirche“. Es gibt für diese sich so fühlenden Herren, was die Dogmen angeht, eine ewige Kontinuität der Lehre, keine Brüche und keine Abschiede. Diese gibt es nur sehr gelegentlich bei großen wissenschaftlichen Irrtümern, wie zum „Fall Galilei“, der Wissenschaftler wurde bekanntlich (erst) 1992 offiziell rehabilitiert. Der Trick dabei ist: Die Kleriker behaupten, über die Dogmen alles genau zu wissen: So behaupten sie: Es war ja Gott selbst, sein Geist, der – durch päpstlichen Mund – die Dogmen geschaffen hat. Und weil in diesem Denken Gott nur ewig und unveränderlich gedacht werden kann, können auch die von Gott selbst geschaffenen Dogmen nicht von Menschen abgeschafft werden. Sie können bestenfalls neu interpretiert, also in anderen Worten einen anderen Akzent setzen. Aber die einmal behauptete dogmatische Lehre muss erhalten bleiben.
6.
Es würde mich reizen, den Satz des katholischen Theologen Hans Küng zu variieren, der einmal sagte: „Die katholische Kirche hat immer mehr Parallelen zu Diktaturen. Der römischen Kurie sei es gelungen, die Bischöfe weltweit durch eine enge Beaufsichtigung und mit Hilfe von Denunzianten zu einem fügsamen Apparat zu formen, so der 84-jährige.Dieser Apparat erinnere „in seiner Machtstruktur an Leitungskader in totalitären und diktatorischen Systemen, wo auch niemand eine abweichende Meinung zu äußern wagt“. Das berichtet der ORF im Jahr 2012: (http://begegnungunddialog.blogspot.com/2012/05/kung-katholische-kirche-erinnert.html)
Man müsste dann Parallelen ziehen zu den Herrschaftsformen der Kommunistischen Parteien und ihrer Führer, die bekanntlich auch vom Glauben geleitet waren, die Wahrheit zu “haben” und diese anderen aufzudrängen. Wer nicht spurte, wurde verbannt und hingerichtet. Der Umgang mit Andersdenkenden ist ja auch unter Pius IX. sowie vorher und nachher in der römischen Kirche nicht sanft, human oder gar jesuanisch“ gewesen. Aber diesen Vergleich totalitärer Systeme, KP und Vatikan, will ich anderen überlassen. Hans Küng ist 2012 übrigens auch nicht ins Detail gegangen. Zu viel Ärger mit Rom wollte sich der mutige Unfehlbarkeitskritiker dann doch nicht antun. Zumal er als letztlich doch strammer Katholik eben doch wohl immer noch glaubt, dass diese römische Kirche „letztlich“ eine göttliche Stiftung ist. Also etwas „Heiliges“ ist.
7.
Erst wenn sich die Überzeugung durchsetzt: Auch die katholische Kirche, auch das Papsttum selbstverständlich, ist eine Stiftung religiöser Menschen, also nicht mit einem göttlichen Glanz eines göttlichen Stifters versehen, wird sich die Unfehlbarkeitsdebatte erübrigen. Dann werden auch Kleriker, selbst Päpste, wieder „nur“ Menschen sein, Suchende, Fragende, Fehlbare.
8.
Wie wäre es also mit dem (zeitlich gesehen) letzten Dogma der katholischen Kirche, dem Dogma von der Fehlbarkeit der Päpste in Glaubens- und Sittenfragen?
Nebenbei: In Sittenfragen waren sie ja, was ihre eigene Praxis angeht, immer sehr “fehlbar”.

9.
Manchmal werden einige wenige Katholiken von Träumen erfreut. Sie sehen einen vatikanischen Günter Schabowski vor sich, der auf die Frage „Wann wird das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes abgeschafft?“, ganz einfach sagt: „Ich glaube, nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin