„Der Sündenfall des Christentums“: Zur Theologie des Friedens. 


Die bahnbrechende Studie des niederländischen Friedenstheologen, des Remonstranten Gerrit Jan Heering zum frühkirchlichen Pazifismus ist als Übersetzung jetzt wieder greifbar.

Ein Gast Beitrag von Peter Bürger, Düsseldorf von der „Edition Pace“ am 22.12.2024.

Zunächst ein Hinweis: Bevor wir im „Regal: Pazifismus der frühen Kirche“ demnächst neue Studien darbieten, wird hier ein weiteres historisches Werk wieder zugänglich gemacht, das trotz des Abstandes von einem Jahrhundert noch immer wichtige Impulse geben kann. Zum editorischen Vorgehen sei bezogen auf die ganze Reihe angemerkt: Wir versehen die Werke aus früheren Zeiten nicht mit einem kritischen Anmerkungsapparat, in dem Abweichungen zu heutigen Sichtweisen und Erkenntnissen jeweils kommentiert werden (Beispiel: Darstellung und Gewichtung der Friedensbotschaft der Hebräischen Bibel), sondern rechnen mit mündigen Leserinnen und Lesern, die die geschichtlichen Kontexte einer Arbeit vor Augen haben.

1.
Der Erste Weltkrieg führte den niederländischen Theologen Gerrit Jan Heering (1879-1955) zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt. Im Vorwort zu dem hier neu edierten Werk „Der Sündenfall des Christentums“ (Erstauflage NL 1928, dt. Übersetzung 1930) schreibt er: Ich will „ernsthaft auseinandersetzen, dass Christentum und Krieg – jetzt mehr denn je – unversöhnliche Gegensätze sind. Ich will zwischen die christliche Lehre und die Ideologie des Krieges einen Keil treiben. Beide Systeme sind von der Geschichte zwangsweise zusammengeführt und werden jetzt in künstlicher Weise zusammengehalten. Ich will an das christliche Gewissen und an das von diesem Gewissen gelenkte vernünftige Denken appellieren und fragen, ob es nicht die höchste Zeit ist, dass Kirche und Christen sich prinzipiell gegen das ganze Kriegswesen auflehnen. … Es war eine verhängnisvolle Wendung in der Geistesgeschichte, die während und nach der Zeit von Kaiser Konstantin sich vollzog; durch das enge Bündnis zwischen Staat und Kirche ging das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen Christentum und Krieg … verloren …; das schlimmste ist, dass man (seither) … ruhig Böses gut nennt. … Die Art, wie in allen christlichen Ländern die Kirche direkt in das gegenseitige Gemetzel des letzten Krieges [1914-1918] hineingezogen worden ist, nämlich als unentbehrlicher, als inspirierender Faktor, demonstriert jenen Sündenfall in deutlichster und greulichster Weise. Es ist kein größerer Abstand und Gegensatz denkbar, als zwischen Christus und dem modernen Krieg. Wer dies verneint, hat die Realität eines von beiden oder beider nicht klar gesehen. Das militärische Christentum unserer Tage kann nicht schärfer gerichtet werden, als es durch das Christentum Christi geschieht.“

2.
Gerrit Jan Heering – geboren am 15. März 1879 in Pasuruan/Indonesien, gestorben am 18. August 1955 in Oegstgeest – wirkte nach seinem Universitätsstudium lange als Hochschullehrer des Theologischen Seminars der Remonstranten in Leiden (NL). Als junger Pfarrer heiratete er im Jahr 1905 Alida van Bosse; die beiden wurden Eltern von fünf Söhnen. – Heeringʼs Leidenschaft gehörte der Kanzel. Seine Predigten zeichneten sich durch eine starke persönliche Überzeugungskraft aus; verschiedene Predigtsammlungen sind in Buchform veröffentlicht worden (‚Unser Vertrauen‘; ‚Zeugnisse aus dunkler Zeit‘ 1940; ‚Was uns erhält‘). Predigen bedeutete für Heering die durch den Glauben getragene ‚freie prophetische Verkündigung des Evangeliums, im Dienste und zur Ehre des heiligen Gottes‘. – Gerrit Jan Heering entwickelte eine eigene „Dogmatik auf der Grundlage der Evangelien und der Reformation“, schrieb über den „Ort der ‚Sünde‘ in der freisinnigen-christlichen Dogmatik“ (1912) und über „Die Selbstständigkeit der Seele“ (1917).

3.
Der Erste Weltkrieg führte Gerrit Jan Heering zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt, beeinflusst von Hilbrandt Boschma (1869-1954), der bereits während der Kriegszeit 1914-1918 an verschiedenen Orten pazifistische Lesungen abhielt: „Kreuz oder Kanone?“ – „Warum kein Krieg? Weil der Krieg die radikalste Sünde gegen Gott ist.“ Heering fasste seine eigenen Studien und Einsichten 1928 in dem Werk „Der Sündenfall des Christentums“ zusammen (s.u.). Er grün­dete mit anderen „Kerk en Vrede“ (Church and Peace), wurde Vorsitzender dieser Vereinigung auf nationaler Ebene und war für viele Jahre auch international eine der leitenden Persönlichkeiten des neuen kirchlichen Friedensnetzes.

4.
Die Friedensbewegung in den Niederlanden zeigte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gut organisiert, vielgestaltig (‚Tolstojaner‘, Anarchisten, sozialistische Antimilitaristen …) und übernational vernetzt. Mit Gerrit Jan Heering und Persönlichkeiten, die ihm nahestanden, wurde sie durch eine neue Strömung mit ökumenisch-friedenskirchlicher bzw. friedenstheologischer Programmatik bereichert. Wie bedeutsam die 1928 vorgelegte Untersuchung des gelehrten Remonstranten zum ‚konstantinischen Sündenfall‘ und dessen mögliche Überwindung über die Landesgrenzen hinaus war, führen uns gleich vier Übersetzungen in andere europäische Sprachen vor Augen. 1933 ist der Verfasser sogar für den Friedens-Nobelpreis vorgeschlagen worden.

5.
Der bekannte Dominikaner und Friedenstheologe vor allem in der Weimarer Republik, P. Franziskus Maria Stratmann (1883-1971), schrieb bald nach Erscheinen der deutschen Ausgabe von Heerings Werk „De zondeval van het Christendom“ in einer Rezension (Der Friedenskämpfer. Organ der Katholischen Friedensbewegung 5. Jg. / 1931, S. 69-76):
„Einem Christen tut es weh, vom ‚Sündenfall des Christentums‘ reden zu hören. Je stärker er seine Religion liebt, um mehr schmerzt ihn jede Anklage. Aber gerade die starke Liebe muß hellsichtig sein, damit Krankes geheilt, Schwaches gestärkt werden kann. Die Christen, die die Geschichte des Christentums mit Einschluß der Kriegsgeschichte ganz in der Ordnung finden, sind sicher nicht die besten und erweisen ihm einen schlechten Dienst…“

6.
In seinem Geleitwort zur deutschen Ausgabe des Werkes von 1930 hatte der evangelische Theologe Martin Rade (1857-1940) ge­schrieben: „Wenn der nächste Krieg kommt, werden die Kirchen nicht mehr geschlossen zu den Armeen stehn. Es wird dann nicht ohne schwere innere Konflikte gehen. Wie sie sich abspielen, wie sie sich lösen werden, weiß kein Mensch. Je länger die gegenwärtige Atempause dauert, desto besser mag es sein.“ (Neuausgabe, S. 10). Doch die ‚Atempause‘ bis zum nächsten Menschenschlachten im Zweiten Weltkrieg dauerte nur kurz. Die amtlichen Leitungen der beiden deutschen Großkirchen leisteten ab 1939 für den ‚Hitlerkrieg‘ (!) doch wieder – ziemlich ‚geschlossen‘ – kriegstheologischen Beistand in großem Umfang und riefen – mit durchschlagendem Erfolg – die Getauften zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit im NS-Staat auf (Dokumentation: https://kircheundweltkrieg.wordpress.com/). Nach 1945 haben die i. d. R. vom Staat besoldeten Kirchenhistoriker wunderliche Verteidigungstexte zu diesem abgründigen Komplex verfasst – und nicht wenige ‚weltliche Vertreter‘ der Geschichtswissenschaften haben ihnen dabei unter dem Vorzeichen sogenannter „Historisierung“ assistiert.

7.
Heerings Anliegen wird gegenwärtig verstanden, wenn etwa der Bischof von Rom bezeugt, es könne im Licht des Evangeliums keine ‚gerechten Kriege‘ geben und Christen müssten schon Herstellung oder Besitz atomarer Massenvernichtungswaffen als verwerflich brandmarken.

8.
Jedoch der vom niederländischen Seelsorger und Theologieprofessor nach dem Ersten Weltkrieg ersehnte radikale Bruch mit dem konstantinischen Staatskirchenparadigma hat in den privilegierten nationalen Kirchengebilden, zumal im Militärkirchenwesen, nie stattgefunden. Die völlig irrationale militärische Heilslehre stößt in diesem Zusammenhang heute nirgendwo auf eine Fundamentalkritik, während der Militarismus unentwegt Felder des öffentlichen Lebens für sich ‚zurückerobert‘. Leider gibt es viele Gründe, das ehedem bahnbrechende Werk „Der Sündenfall des Christentums. Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg“ gerade jetzt wieder allgemein zugänglich zu machen. Möge es vielen zur Erschütterung und zu einem klaren Denken in der Kriegsfrage verhelfen.

Copyright: Peter Bürger Düsseldorf, Dezember 2024 ǀ  

Die Digitale Erstauflage der Neuedition
 ist beim Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. abrufbar:
Gerrit Jan Heering: Der Sündenfall des Christentums. – Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg. Aus dem Holländischen übersetzt durch Octavia Müller-Hofstede de Groot, 1930. Neu ediert von Peter Bürger in Kooperation mit: Lebenshaus Schwäbische Alb, Ökumenisches Institut für Friedenstheologie, Portal Friedenstheologie. (= edition pace ǀ Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4). Digitale Erstausgabe der Neuedition. Düsseldorf ǀ Gammertingen, 12.12.2024.
https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Heering_S%C3%BCndenfall.pdf

Die gedruckte Buchausgabe im Handel:
Gerrit Jan Heering: Der Sündenfall des Christentums. – Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg. Aus dem Holländischen übersetzt durch Octavia Müller-Hofstede de Groot, 1930. (= edition pace ǀ Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4). Norderstedt: BoD 2024.
(ISBN: 978-3-7693-2488-4; Paperback; 316 Seiten; Preis: 12,99 Euro)
https://buchshop.bod.de/der-suendenfall-des-christentums-gerrit-jan-heering-9783769324884

Eine etwas ausführlichere Darstellung dieses Beitrags von Peter Bürger finden Sie auf der website www.remonstranten-berlin.de    LINK.

“Die Hoffnung stirbt zuletzt”. Widerstand gegen die Verzweiflung!

Kant lehrt uns, die Hoffnung zu bewahren.
Ein Hinweis von Christian Modehn am Ende der Kant – Jahres 2024 … in der Hoffnung, dass Kant weiter intensiv diskutiert wird.

Die Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant wollen unbedingt verhindern, dass die Hoffnung wirklich “zuletzt stirbt”. Denn das wäre das Ende. Wir sollen gemeinsam alles dafür tun, dass wir die Berechtigung, das Recht, haben die Hoffnung zu leben und die Hoffnung niemals aufzugeben.

Diese Hoffnung ist alles andere als ein naiver Optimismus. Sie ist alles andere als eine politische nationalistische Ideologie, die den Menschen in den USA einen “amerikanischen Traum” empfiehlt und einredet. Siehe dazu die Nr.10 und 11 in diesem Hinweis.

1.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Wie ein Slogan hat sich dieser Satz in unseren dunklen Zeiten verbreitet und durchgesetzt.
Die Frage ist: Was ist eigentlich zuvor schon alles gestorben, an Weisheiten, Einsichten, Überzeugungen, wenn man einen solchen Satz sagt? In der christlichen Tradition spricht der Apostel Paulus von „den menschlich entscheidenden Dreien“, also von „Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Um bei unserem Thema zu bleiben: Dann sind offenbar Glaube und Liebe schon gestorben. Dann bleibt nur noch die Hoffnung als das Letzte vor einem definitiv gedachten Ende, dem Nichts … oder dem Himmel?

2.
Immanuel Kant kann bei dem Thema weiterhelfen: Hoffnung und aktives Hoffen ist ein zentrales Thema seiner Philosophie. Auch Hoffen und Hoffnung führt ihn selbstverständlich über den Bereich des wissenschaftlich exakt Erkennbaren hinaus. Und so wird auch hier sichtbar: Kant hat zwar als Anhänger des Physikers Newton seine Karriere begonnen, aber er musste als Philosoph über die Physik hinaus denken … in eine vernünftig begründete Metaphysik: Kant als den „Zermalmer der Metaphysik“ zu bezeichnen, ist also falsch. Kant war ein Metaphysiker und Religionsphilosoph (und Kirchenkritiker LINK (2024)  LINK)
Nur als ein Metaphysiker konnte er auch die heute so dringende Frage beantworten: „Was darf ich hoffen?“ Sie steht im Zusammenhang mit der Frage Kants: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und: Was darf ich hoffen?“

3.
Für Kant kann es Hoffnung nur geben, weil wir Menschen hoffen DÜRFEN, wie er ausdrücklich sagt. Das Hoffen – „Dürfen“ ist eine Art rechtlich begründeter Erlaubnis zu hoffen. Ich habe also also aufgrund meine Menschsein die Berechtigung zu hoffen. „Also hoffen wir doch“, möchte man etwas aufdringlich fordern. Oder:„Habe den Mut, deine in dir vielleicht noch versteckte Hoffnung zu leben“…

4.

“Hoffnung ist für Kant die entscheidende moralische Einstellung der Vernunft. Die richtige moralische Einstellung gegenüber der Zukunft ist (für ihn) Hoffnung.” Schreibt die Soziologin Eva Illouz in “Explosive Moderne”, Suhrkamp 2024, S. 43. Moralisch bedeutet für Kant: “Der Würde des Menschen entsprechend”.

5.
Hoffen zu dürfen ergibt sich für Kant in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem SINN meines und der anderen Menschen Leben. Dieser alles gründende Sinn des Lebens eröffnet sich, zeigt sich, für den einzelnen inmitten des Tuns des Gerechten: Im Eintreten für Gerechtigkeit und gerechte Gesetze darf der Mensch das alles Entscheidende hoffen: dass sich die vorhandene Welt mit ihren Staaten langsam aber sicher der Utopie des Reiches Gottes annähert. Und zum Reich Gottes gehört für Kant auch der Frieden in der ganzen Welt. Seine bis heute vielbeachtete Schrift „Zum ewigen Frieden“ konnte Kant 1795 veröffentlichen.

6.
Dass Welt – Frieden nur in „republikanischen Staaten“ möglich wird, ist eine der wichtigen Voraussetzungen Kants. Es sind die freien Staatsbürger, die entscheiden, ob ein Krieg sein soll oder nicht. Es liegt also in der Entscheidung der Menschen, dass sie die Hoffnung auf einen Weltfrieden aktiv politisch fordern und gestalten! Kant betont, dass nur moralisch gesinnte Politiker dieses große Hoffnungsprojekt realisieren können, nicht etwa solche, die sich ihre Moral unabhängig vom Kategorischen Imperativ egoistisch erfinden.

7.
Eine menschliche Organisation, die uns lehren kann, Hoffnung haben zu dürfen und praktisch Hoffnung zu gestalten, ist für Kant grundsätzlich die (protestantische) Kirche. Wenn Kant in dem Zusammenhang von Kirche spricht, meint er damit die Vereinigung aller rechtschaffenden Menschen, die den Frieden auf dieser Welt schrittweise befördern. Politisches Handeln ist in der Kirche notwendig, sofern es dem Weltfrieden dient.

8.
Der dogmatische Glauben der Kirche wird bei Kant also aufgehoben zugunsten einer Gemeinschaft derer, die den Frieden der Welt als Ausdruck ihres Glaubens an das Reich Gottes verstehen. Und dieses Handeln ist nur möglich in der Kraft der Hoffnung. Die Theologen sollen also den Glaubenden sagen: „Ihr habt alle Berechtigung zu hoffen“. Und diese Hoffnung dürfen sich die Menschen (in der Kirche) nicht zerstören lassen, durch zynische Einwände, etwa: „dass doch alles nichts nützt“ usw. „Diesem Zynismus dürfen wir niemals erliegen“, betont Kant. Zynismus kann tödlich sein. „Es ist für Kant ein Gebot der moralischen Selbstachtung, an den politischen Zielen von Rechtsstaat, liberaler Demokratie, Gerechtigkeit, internationaler Kooperation und globalem Frieden festzuhalten. Denn ohne Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Wir können (und dürfen CM) diesen Anspruch nicht aufgeben, sonst geben wir unsere Menschlichkeit auf“ (Marcus Willaschek, „Kant“, München, 2024, S 42f.).

9.
Dieser politische Aspekt der Hoffnung im Denken Kants ist oft eher übersehen worden. Viele LeserInnen konzentrierten sich auf Kants eher individualistische Überzeugung: Dass der rechtschaffene Mensch in dieser Welt mit so vielen Übeltätern zwar scheitert und darüber zu verzweifeln droht. Aber, so meint Kant, aufgrund der von ihm als Postulat konzipierten Unsterblichkeit der Seele, habe der gescheiterte, aber rechtschaffene Mensch die begründete Hoffnung: einen Zustand des (göttlichen) „Höchsten Gutes“ zu erleben. Den „der gegenwärtige Zustand der Welt, in dem viele Menschen unverschuldet leiden, ist nach Kant eine moralische Zumutung“ , also etwas zu Überwindendes. (Marcus Willaschek, Kant, a.a.o. S.138).

10.

Die Soziologin Eva Illouz analysiert in ihrem neuen sehr empfehlenswerten Buch “Explosive Moderne” (Berlin, Suhrkamp, 2024) auch die falsche, weil unmenschliche “Hoffnungs” – Propaganda etwa in den kapitalistischen USA: Dort wird Hoffnung als reflektierte vernünftige Lebensorientierung zugunsten eines aktiven Handelns im Sinne der Menschenrechte völlig umgedeutet in den “amerikanischen Traum”: Und der verspricht den Armen und dem Mittelstand eine glänzende materielle Zukunft, einen Aufstieg nach oben mit einem Leben in unbegrenztem Reichtum. “In Gesellschaften, die so von Ungleichheit bestimmt sind wie die USA, ermöglicht diese Hoffnung es, Klassenkonflikte zu verwischen und die vielfältigen Weisen, in denen die Gesellschaft ihre Versprechen bricht, unkenntlich zu machen” (Eva Ellouz, a.a.o. S. 67). Wer dem amerikanischen Traum folgt, lebt also als Mensch, der von dem ewigen Erfolgsstreben nicht lassen kann und dann doch in dieser falschen Hoffnung scheitert. Der amerikanische Traum verändert die Hoffnung in die Erwartung künftigen materiellen Wohlstands, in die Hoffnung auf ein Leben , “das nie Zufriedenheit erlangen kann und in vergeblichem Warten versandet. ” (a.a.O. S. 71).

11.

Von dieser politischen Ideologie der Hoffnung als einem reduzierten, nur ökonomisch – kapitalistischen Traum kann  philosophische Reflexion befreien, die Überlegungen Kants oder auch die Erkenntnisse Václav Havels , des entscheidenden Denkers der “Samtenen Revolution” in der Tschechoslowakei. Im Jahr 1985, noch unter kommunistischer Herrschaft, reflektierte Havel über die wahre Hoffnung in dem Buch “Kreuzverhör”: “Hoffnung ist ein Zustand des Geistes…Hoffnung ist eine Dimension unserer Seele…Hoffnung ist keine Prognostik. Sie ist eine Orientierung des Herzens, die die unmittelbar gelebte Wwlt übersteigt und irgendwo in der Ferne verankert, hinter ihrn Grenzen…Hoffnung ist nicht Optimismus… Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht” (zit. in Illlouz S. 55). Die Nähe der Erkenntnisse Havels zu denen Immanuel Kants müssten hier weiter ausgearbeitet werden, sie sind offensichtlich:  “Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat…”

12.
Wer das neueste Buch des Historikers und Autors Rutger Bregman (Niederlande) liest mit dem Titel „Moralische Ambition“, Rowohlt – Verlag, 2024, hat den Eindruck: Da werden Kants Erkenntnisse aktualisiert, da wird das Hoffen – DÜRFEN als Erlaubnis und Aufforderung, zu hoffen und politisch tätig zu werden, für heute kreativ aufgegriffen und weiter geführt. “Wer wird leben im Gedächtnis der Menschen?” Ein zentraler Satz Rutger Bregmans: „Nicht die reichsten, sondern die hilfreichsten Menschen werden von der Geschichte erinnert“.

13.
Nebenbei:
Über die Bedeutung des in der Hoffnung erschlossenen höchsten Gutes wird diskutiert: Die einen Kant – Kenner betonen: Im Sinne Kants werde dann Gott im „Jenseits“ die moralische Qualität eines jeden Menschen prüfen und die Bösen bestrafen und die Guten belohnen. Im Laufe der Zeit, betont der Kant – Forscher Marcus Willaschek, habe sich „Kants Verständnis des höchsten Gutes immer weiter von einer `religiösen` zu einer `säkularen` Konzeption verschoben“ (S. 142). Gott werde nicht mehr als himmlischer Richter gesehen, sondern als ein Schöpfer, „der die Natur so geschaffen hat, dass wir Menschen in ihr das höchste Gut aus eigener Kraft realisieren können“ (ebd.).

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Von der Tiefe in die Stille – Wege in die Freiheit: Durch Musik!

Ungewöhnliche neue Klänge der Orgel: Die Komponistin Claire M. Singer.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.12.2024

1.
Musik führt ins Nachdenken … eigener Art, Musik erweckt den Geist und ermuntert die Sinne, führt ins Schweigen. Erst dann werden wieder wahre Worte wirklich. Musik ist deswegen unverzichtbar. Aber Musik hat in sich selbst ihren eigenen Sinn, dient keinem „Nutzen“, keinem greifbaren Zweck. Und auch dies ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Musik – auch in der Rolle der ZuhörerInnen – ist eine Vielfalt von eigenen Sprachen, die wir nicht in die Begriffssprachen übersetzt können. Oder nur in Andeutungen und Metaphern.

2.
Wir empfehlen heute im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ das Werk einer Komponistin und Performerin von Orgel – Musik, es geht um eine Verbindung von klassischen Klängen und elektronischer Musik. Die Orgel – Komponistin Claire M. Singer (sie spielt auch Cello) lässt sich dabei von ihrer Heimat Schottland inspirieren. Ohne in Klischees zu geraten: Es ist wohl das Erleben dort von dramatisch zu nennenden Landschaftsformen… in einer Natur der Stille und der Widersprüche gleichzeitig. Werden sie sich versöhnen? Musikalisch vielleicht. Und wenn man schon versucht, diese Musik in Worten weiter zu geben: Es werden eher “Flächen” präsentiert, also lang andauernde, oft gleichbleibende Klänge, die in Abgründe weisen oder sanft in eine Höhe streben. “Flächen”, auf denen sich oft eine Art sanfter Gesang zeigt…Hoffnungszeichen vielleicht, Wege in die Freiheit auf einem dunklen “Boden”, auf “Flächen”…

3.
Claire M. Singer LINK hat für ihre Kompositionen (erschienen als CD bei TOUCH Music UK) zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Seit 2012 ist Claire M. Singer Musikdirektorin für Orgel am preisgekrönten Veranstaltungsort Union Chapel in Islington, London.
Sie gründete das Festival „Organ Reframed” zur Präsentation experimenteller Orgel- Musik.

4.
Wir empfehlen Claire M. Singers CD mit dem Titel „Saor“, ein Wort aus der Irischen Sprache: Es bedeutet “frei”.

5.
Thaddeus Herrmann, Redakteur bei DASFILTER,  LINK , dem Medium und der Plattform für Kultur und Gesellschaft der Gegenwart, hat eine „Plattenkritik“ verfasst:

„Wie 2023 plötzlich auszuhalten war“
Aus den Ohren, aus dem Sinn. Sechseinhalb Jahre ist es her, seit ich zuletzt über die schottische Komponistin Claire M Singer schrieb. Nun ist seitdem auch tatsächlich wenig von ihr erschienen: „Saor“ ist ihr drittes reguläres Album, dazwischen gab es noch eine EP und eine Compilation mit Stücken, die in der Zwischenzeit purzelten.
„Saor“ ist mein Album des Jahres. Es reißt mich mit wie nichts anderes mich in den vergangenen zwölf Monaten mitgerissen hat. Die Art und Weise der konzertanten Entschleunigung, die Singer in und mit ihrem Orgelspiel entfaltet, war mein Rettungsanker in den vergangenen Monaten, in denen es familiär einiges durchzustehen gab, eine Periode der Vorbereitung auf die nächste Phase in meinem Leben. Das unendliche Glück, das mir persönlich widerfuhr (und anhält) war der eine Kraft gebende Ruhepol, die Stücke auf „Saor“ der andere.
Für Singer markiert „Saor“ den Beginn einer Alben-Trilogie, in der sie die Eindrücke langer Wanderungen durch ihre schottische Heimat verarbeitet. Sie schreibt: „Saor follows two narratives: my trekking across the Cairngorm mountains in Aberdeenshire through the granite plateaux, corries, glens and straths, and my exploration of the 1872 Conacher organ in Forgue Kirk Aberdeenshire where many of my ancestors lie.“ („Saor folgt zwei Erzählungen: meiner Wanderung über die Cairngorm-Berge in Aberdeenshire durch die Granitplateaus, Kare, Täler und Senken und meiner Erkundung der Conacher-Orgel von 1872 in Forgue Kirk, Aberdeenshire, wo viele meiner Vorfahren liegen.“)
Mit ihrer Liebe zur Orgel als Instrument ist längst nicht mehr allein. Viele Musiker:innen – gerade die :innen – haben die Kraft der Pfeifen, egal ob groß oder klein, in den vergangenen Jahre für sich entdeckt. Singer putzt sie alle weg. Die langgezogenen Aufbauten, die schiere Kraft und Macht der sich Schritt für Schritt und Akkord für Akkord entwickelnden durchkomponierten Drones legt einen Mantel des Schweigens über alles mit Beats. „Saor“ ist eine hymnische Superlative der euphorischen Zurückhaltung. Wie die Musikerin ihr Orgelspiel mit Mellotron, Trompete, Cello, Klarinette und Elektronik verbindet absolut meisterhaft. Mal hell und strahlend, mal dunkel und dräuend, mal auch bewusst noisy. „Saor“ („frei) ist ein kammerspielerischer Befreiungsschlag.

Quelle: LINK.

Claire M. Singer „Saor“, Published by Touch Music, UK, 2023. Im deutschen Internet für 13,80 € erhältlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin,    www.religionsphilosophischer-salon.de .

War Jesus Palästinenser? NEIN. Aber Jesus als Christus ist AUCH Palästinenser!

Eine theologische Korrektur
Von Christian Modehn am 12.12.2024

Aktualisierung am 13.12. 2024: Als wir diesen Hinweis am 12.12. 24 veröffentlichten, durfte das Jesus-Christus- Kind noch auf einem Palästinensertuch in der Krippe in Rom/Vatikan liegen. Diese Präsentation wurde jetzt aus erwartbaren Gründen aufgehoben/verboten?  Das Jesuskind ist dabei auch entfernt worden. Sozusagen: Nun also die Feier einer Geburt ohne das Kind.

Uns irritiert diese Aktion sehr, weil damit vor allem auch eine theologische (!) Debatte aufgehoben wird. Ein Rabbiner verstieg sich sogar zu der Behauptung, Jesus sei Zionist gewesen…

Bedenkenswert ist dieser folgende Hinweis auf “Jesus-Christus in Rom auf einem Palästinensertuch” allemal.  CM.   LINK zum Verschwinden dieses Jesus Christus in der Weihnachtskrippe des Vatikans…Die Krippenfiguren wurden in einer Werkstatt in Bethlehem gefertigt!

1.
Einige große Medien regen sich darüber auf, dass in einer Weihnachtskrippe zu ROM, im Vatikan !,  jetzt das Jesuskind auf einem schwarz-weißen Palästinenser – Tuch, einer Kufija, liegt. Die Empörung heißt: „Das geht gar nicht! Jesus war doch Jude.“ Das stimmt. Aber es nicht die ganze Wahrheit. Fakten – Check bitte auch hier!

2.
Zu Weihnachten, dem Fest der Christen, wird dieser Jesus als der Christus, als der Heilsbringer für ALLE Völker und alle Menschen aller Kulturen gefeiert. Das sagt ja der Name „Christus“, er wird als universaler „Messias“ verehrt. Darum ist es sehr berechtigt und sehr richtig, diesen Jesus Christus auch als den religiösen Heilsbringer in den Gewändern der palästinensischen Kultur darzustellen. Das nennt man theologisch „Inkulturation“. Es kann doch sein, dass im Glauben an dieses palästinensische Jesuskind Impulse des Friedens ausgehen, wird doch dieser Jesus Christus als “Friedensfürst” verehrt. Der die Gewaltlosigkeit predigte und den Dialog auch mit politischen Gegnern/Feinden pflegte…

3.
So wie es auch berechtigt ist bzw. wäre, Jesus als den Christus in aktuellen jüdischen Gewändern und Symbolen darzustellen und in eine Krippe zu Weihnachten zu legen, weil es doch bekanntlich auch heute etliche Juden (vom Volk her definiert) gibt, die Christen (von der Konfession her) geworden sind. Sie sollen doch bitte ihren jüdischen Jesus als ihren Christus verehren.

4.
Diese Aufregung über das „Jesulein auf einem Palästinensertuch“ (so DIE ZEIT, S. 62, Nr. 53, siehe auch den polemischen Kommentar von Stefan – Andreas Casdorff im „Tagesspiegel“ 12.12.2024) in einer Krippe zu Rom ist lächerlich. Sie ist Ausdruck von theologischer Unbildung vieler Journalisten heute. Wenn diese Journalisten und Theologiennen wenigstens wüßten, was sie – möglicherweise beim Gottesdienstbesuch zu Weihnachten – alles so singen, etwa richtig:  „Christ der Retter ist da“. In christlicher Theologie ist es der Jude Jesus, der zum universalen Christus für die Christen erklärt wurde. Das können einige Theologen problematisch finden, aber es ist Tatsache. Christen sind eben nicht “Jesuaner“. Aber sie deuten den universalen Christus auch im Licht des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth und seiner Menschenfreundlichkeit.

5.
Die weltreisenden Europäer wissen längst: Jesus Christus wird in Afrika als schwarzer Afrikaner dargestellt, in Tanzania oder am Kongo usw. Und in Peru und Bolivien ist Jesus als Christus gekleidet in üblichen Kleidern der indigenen Kulturen. Und für alle Marien- Verehrer sei gesagt: Da wird niemals Maria als Mutter Jesu Christi in der damals üblichen jüdischen Mode ausgestattet, sondern als schwarze Madonna in Afrika, als kluge Japanerin in Japan, als stolze Frau in der Renaissance, als leidende Mutter im 20.Jahrhundert oder als weinende Mutter im Gaza – Streifen angesichts ihrer getöteten Söhne oder als verzweifelte Maria im Kriege des mörderischen Russland gegen die Ukraine. Bravo also auch für dieses „Jesulein auf einem Palästinensertuch“. Diese Krippendarstellung regt das theologische Nachdenken an! Und nebenbei: Es gibt ja bekanntlich Palästinenser, die sich zu dem Juden Jesus als dem universalen Christus bekennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Eine Geschichte zu Weihnachten: Maria verprügelt das Jesuskind.

Ein Hinweis auf ein Gemälde von Max Ernst
Von Christian Modehn am 10. Dezember 2024

1.
Es ist die Weihnachtsgeschichte, die hinausweist über den „Realismus“ des „alltäglichen“, des„normalen”, angeblich „gesunden“ Verstandes. Man denke an die Geburt des Gottessohnes Jesus, standesgemäß nicht in einem Palast, sondern in einem Stall geboren, dennoch umgeben von himmlischen Heerscharen und heiligen drei Königen. Und vor allem Maria, die Mutter des Gottessohnes, spielt dabei eine Rolle.

2.
Zu Weihnachten also sollte der Sinn fürs „Sur-Realistische“, „Über-Realistische“, wieder entdeckt und gepflegt werden! Diese Empfehlung gilt, nicht um etwa ins Schwärmen zu kommen, sondern um die Weihnachts-Mythen, gerade den Maria – Mythos, besser oder mindestens anders und neu zu verstehen.

3.
Sur-realistisch also ist die Erzählung von der Ankündigung der Geburt Jesu: Als das Mädchen Maria von einem Engel besucht wird, da wird ihr sozusagen von Gott selbst versprochen: Kein Geringerer als der Heilige Geist werde der Vater ihres Sohnes sein. Allem alltäglichen Realismus zuwider verheißt ihr dann der Engel: „Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das (von dir) geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“ So wird der Mythos im Lukas – Evangelium 1. Kap. Vers 35 erzählt.

4.
Maria wird also „Heiliges“ zur Welt bringen, Gottes Sohn soll ihr Kind sein, ein Kind zwar, das wie alle Menschen von einer Frau geboren wird. Angesichts dieser über-weltlich anmutenden Geschichte der Gottes – Geburt kann man  surrealistischen Inspirationen guten Gewissens und voller Neugier folgen: Bei solcher Ankündigung: „Heiliges wird von dir geboren“, kann doch Maria als frommes, sagen wir einfaches Mädchen nur denken: Dann muss dieses göttliche Kind auch im Laufe seiner Entwicklung immer göttlich sein, also total anders, von menschlichen Grenzen und Begierden befrei. Und ebenso von körperlichem Leiden und leiblichen, auch sexuellen Vorlieben nicht berührt. So viel Menschliches passe doch nicht zum „Heiligen“, passe nicht zu „Gottes Sohn“, gezeugt vom heiligen Geist. Da kann Maria doch nur gespannt und neugierig sein auf ihren ungewöhnlichen Sohn… (Erst nach der „Auferstehung“ Jesu von Nazareth legte die Kirche allen Wert darauf zu betonen: Trotz dieser außergewöhnlichen Auferstehung ist Jesus ganz Mensch gewesen. Über seine Leiblichkeit in jeder Hinsicht, auch seine Sexualität, äußerte sich die offizielle Kirche schon damals – angstvoll – nicht…)

5.
An dieser Stelle wird ein Gemälde von Max Ernst (1891-1976), dem Surrealisten, interessant und wichtig. Wir lesen sein außergewöhnliches Gemälde als Beitrag zum Weihnachtsmythos, gemäß der offenen Haltung der Surrealisten…Deren Philosophie (Surrealismus ist wohl mehr als eine Kunst -„Richtung“) ist also inspirierend und hilfreich fürs Verstehen der biblischen Mythen, auch der Weihnachtserzählungen. Aspekte der ohnehin nur surrealistisch zu nennenden Weihnachtsgeschichte werden durch die Phantasie dieses Künstlers explizit freigelegt und zur Auseinandersetzung angeboten. Denn der einfältige, phantasielose „Realismus“ hat fürs kritische Denken keine Chancen! Deswegen schafft Max Ernst im Jahr 1926 das berühmte, umstrittene Gemälde „Die heilige Jungfrau (Maria) züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“. Zum Gemälde selbst: LINK:

6.
Wichtig ist im Bild selbst: Maria, mit einem Heiligenschein ausgestattet, wird als eine moderne Frau dargestellt, sie ist sehr ansehnlich und ziemlich beleibt. Und sie schlägt voller Wut ihr Kind Jesus, er ist kein Baby mehr, vielleicht 3-4 Jahre alt, heftig auf den Popo. Dabei fällt dem Jesuskind der Heiligenschein vom Kopf: Das Jesuskind, durch die Tracht Prügel vom Heiligenschein befreit, ist jetzt nur noch ein Mensch. Marias Heiligenschein hingegen bleibt, eine Ironie des Künstlers vielleicht, weil Maria als ordentliche Erzieherin auftreten sollte, die den uralten, heiligen Erziehung – Gesetzen der Herrschaft über das Kind entspricht. Maria ist in der Hinsicht von Max Ernst also gesetzestreu und hoch respektabel, deswegen ihr Heiligenschein. Auch das ist Surrealismus und seine tiefe Wahrheit: Drei Männer beobachten durch ein schmales Fenster das Geschehen, auch Max Ernst wird dabei von Kunsthistorikern erkannt.

7.
Entscheidend ist religionsphilosophisch die Frage: Warum schlägt Maria auf ihren Sohn Jesus ein? Wer dem Wink des Gemäldes folgt, entdeckt wahre Elemente im Weihnachtsmythos: Maria schlägt auf ihren Sohn Jesus ein, weil sie eigentlich und am liebsten auf Gott einschlagen würde. Aber der ist im Himmel, unerreichbar für die schlagende Hand. Ihre Wut leitet Maria also auf ihren Sohn um. Soll der doch ihre Wut spüren, ihre Wut über Gott.

8.
Maria fühlt sich zutiefst von Gott selbst getäuscht: Was hatte sein Engel ihr nicht alles versprochen? „Heiliges wird geboren“, „Gottes Sohn wird ihr eigener Sohn sein.“ Aber als dieser Sohn Gottes dann zur Welt kommt, da erlebt die junge Mutter und ihr Gatte Josef nichts Göttliches, Wunderbar -Hilfreiches: Von einem herrschaftlichen Haus für die Geburt Ihres Gottes-Sohnes wagen sie schon gar nicht zu träumen, selbst eine bescheidene Herberge finden sie nicht. So muss der Gottes-Sohn im Stall zur Welt kommen. Man kann sich denken, wie wütend Maria und ihr Gatte Josef ist, als sie nun den Gottessohn, frisch geboren, ins harte Stroh legen müssen, von blökenden Tieren und naiven Hirten umgeben.

9.
Die üblichen, aber theologisch so dummen und völlig ausgesungenen kitschigen Weihnachtslieder lassen dann singen: „Da liegt es das Kindlein in Heu und auf Stroh.“ Und dann der skandalöse Satz im Lied: “Maria und Josef betrachten es froh.“ Was für ein Sadismus: Die Eltern freuen sich, dass ihr Neugeborenes im Stroh liegt und dabei wohl doch gewisse Schmerzen empfindet und sicher ständig heult. So dumm können nur Weihnachtslieder sein (wie: „Ihr Kinderlein kommet“ usw.) Tatsache ist, dies zeigt uns der Surrealismus: Maria betrachtet das Gotteskind, „das von ihr geborene Heilige“, alles andere als „froh“: Sie ist wütend, vor allem auf Gott und seinen Engel. der ihr so viel Unglaubliches versprochen hat. Alles Unsinn, sagt sich Maria.

10.

Maria wird von der ut auf Goitt weiter bestimmt, so die surrealistische Interpretation, als die „heilige“ Familie längst in Nazareth eine Unterkunft hat: Denn ihr Gottessohn, ihr Heiliges, zeigt sich dort als so menschlich: Maria ist wütend und zornig, weil ihr verheißener „Gottes Sohn“ Jesus tatsächlich bloß ein übliches Menschenkind ist, mit all den genannten Eigenheiten menschlicher Bedürfnisse. Ein Gotteskind, das in die Windeln kackt, was das hat doch nichts mit Gottes Sohn zu tun?
Maria ist wütend, weil dieses Kind, größer werdend, gar nicht so abgehoben ist von allem Menschlichen, nicht total vergeistigt und vergöttlicht, nicht über allem Irdischen schwebend.
Maria muss erkennen: Welch ein Wahn war es doch von mir zu glauben, da würde mit Jesus ein Gott auf Erden wandeln, ein reiner Geist, ein reiner Leib.

11.
.Das Gemälde von Max Ernst zeigt: Die Wut Marias auf Gott wegen der irritierenden Behauptungen des Engels über das „göttliche Kind“ ist zugleich auch die Wut spiritueller (Christen-) Menschen auf einen Gott, der sich – im Mythos -zwar  ins weltliche Geschehen einmischt, in die Welt kommt, aber doch so ganz anders als Gott erscheint.

12.
Die meisten Christen wollen auch heute in Jesus ihren Gott sehen, als einen universalen Herrscher, als Himmels – König und Weltenrichter. Dabei ist Jesus  bloß ein Mensch, der sich im Laufe seines Lebens zum Weisheitslehrer entwickelte. Aber ein auf Erden wandelnder, makelloser, total vergeistigter Gott ist er eben nicht. Und diesen Gedanken fanden und finden die meisten Christen unerträglich. „Einen Weisheitslehrer wollen wir nicht. Wir wollen einen Gott auf Erden. Und wenn der nicht erscheint, dann wenden wir uns eben den “göttlich” auftretenden politischen Führern zu….“ Welch ein Wahn!

13.
Die meisten Christen und ihre Kirchenführer erfanden schon bald nach Jesu Tod aufgeschwollene spekulative Lehren und Dogmen, die behaupten: Dieser Jesus von Nazareth ist dann als Christus auch Gott, er gehört also zur göttlichen Trinität, er ist der (griechische) Logos, gezeugt von seinem Vater im Himmel usw. Und was machen diese geradezu Gott-besessenen Christen dann auch noch aus der armen und letztlich irgendwie irritierten Mutter Maria? Sie erklären diese Maria zur Gottes – Mutter und zur Himmelskönigin. Denn sie erlebt, so das aufgeblasene Dogma, unmittelbar nach ihrem Tod eine Aufnahme in den Himmel, “Wer das nicht glaubt, der sei aus der Kirche ausgeschlossen“, heißt es in der katholischen Dogmatik.

14.
Das Gemälde von Max Ernst ist eine heftige Provokation zur Weihnachtszeit: Jesus von Nazareth ist kein süßliches göttliches Kindelein. Jesus ist ein normaler Mensch, der auch unter der strenger Erziehung zu leiden hat. Er wird im Laufe seines Lebens zu einem Weisheitslehrer, der die Herrschenden provoziert und viel mehr zu sagen hat als der im Weihrauch und Alleluja förmlich erstickende Gott mit dem Namen Jesus Christus, und mit uralten Formeln und Floskeln hoch – gelobt, in den Himmel entrückt, aber nicht verstanden.

15.
Dies sei allen gesagt, die sich auf die offiziellen Feierlichkeiten zum 1.700 Jubiläum des Konzils von Nizäa im nächsten Jahr (2025) freuen: Da wird dieser arme und gekreuzigte Weisheitslehrer Jesus wieder erneut als ein Gott bestätigt und bejubelt, vom Papst, von den orthodoxen Patriarchen, den lutherischen Bischöfen, den so klugen Theologen … Sie bemächtigen sich erneut dieses armen Mannes und Weisheitslehrers Jesus und entrücken ihn in weite Ferne. So wird er belanglos und ungefährlich für alle, die Weisheitslehrer nicht respektieren wollen. Aber die Herren der Kirchen können sich auf der Seite dieses Gott – Menschen Jesus Christus wissen und stolz ihre Herrschaft durchsetzen…

16.
Das hat der Künstler Max Ernst begriffen: Maria ist die erste, die mit dem Menschen Jesus ihre sehr große Mühe hatte. Wo sie doch so gern einen jungen Gott in ihrer Wohnung gehabt hätte und nicht ein eigensinniges Kerlchen mit voll gekackten Windeln… Manchmal ist Maria deswegen vor Wut ausgerastet und hat diesen ihren Sohn Jesus geschlagen.
Diese Maria hat wohl auch eine Entwicklung durchgemacht, so der Mythos des Neuen Testaments. Sie stand unter dem Kreuz der Hinrichtung Jesu, und sie wusste: Ihr Sohn war ein großer Mensch, ein religiöser Reformator, ein Vorbild. Erst die herrschsüchtige Kirchenführung machte aus dieser lernbereiten Frau eine Himmelskönigin, so fern, so überirdisch, auch dies ein Wahn der Herrschenden.

17.
Marias lieber Gatte Josef – und de facto – also realistisch – natürlich der Vater Jesu – hatte sich vielleicht längst aus dem Staub gemacht, oder er kümmerte sich – angeblich als Tischler – auch um die Geschwister Jesu, die zu prügeln unkomplizierter war. Denn bei den Geschwistern Jesu wurde ja nichts Göttliches angekündigt. Ob er seinen Sohn Jesus, den Tischlerlehrling, geschlagen hat, interessiert die Surrealisten nicht. Auszuschließen ist das nicht, Mutter Maria hätte es wohl geduldet, wütend auf ihren Gott und seine seltsamen, so mißverständlichen Verheißungen…

18.

Siehe auch den weiterführenden Hinweis von Christian Modehn “Weihnachten und Philosophieren”: LINK.

19.

Unsere Deutung eines surrealistischen Gemäldes als eines inspirierenden Gemäldes zu Weihnachten, zum Verständnis der Jesus – Gestalt und der Maria hat nichts zu tun mit den völlig der eigenen Phantsasie hingegebenen Erzählungen der so genannten “apopkryphen Weihnachtsgeschichten”. Zu dem Thema siehe den Link zu einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn LINK.

Copyright: Christian Modehn, Berlin, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

„Notre Dame“, die Pariser Kathedrale, ist beliebt. Die Kirche nicht.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.11.2024.

Ein kulturhistorisches Monument wird am 7. und 8.12. 2024 wieder eröffnet. Und ausgerechnet Donald Trump wird am 7.12. dabeisein! Seine sehr vielen evangelikalen Fans  in den USA und anderswo werden sich über so viel katholische “Sympathien” von Mister Trump “freuen”…  LINK

Papst Franziskus meidet dieses zweitägige Spektakel …zu Ehren der “Notre Dame” und des Monsieur Macron…. Siehe Nr. 12 in diesem Hinweis.

Zum Zustand der katholischen Kirche in Frankreich heute außerhalb aller Jubelfeierlichkeiten: LINK.

Die kirchliche, die katholische Eröffnung mit der feierlichen Messe der Bischöfe fand am 8.12. statt. TeilnehmerInnen, in den Foto-Serien bestens dokumentiert, waren die übliche politische Prominenz, auch des Adels. LINK Das “fromme Volk” oder gar die religiösen Bettler (“Clochards”) wurden nicht als Teilnehmer bei diesem Ereignis der “göttlichen Dame”  gezeigt, waren sie anwesend oder waren nur die großen Spender für den Wiederaufbau willkommen? Wichtiger ist das “klerikale Spektakel” (man nennt es Liturgie) rund um den Altar mit vielleicht 70 Bischöfen und Priestern. Sie alle trugen identisch (!) gestaltete Messgewänder, alles vom Feinsten, entworfen und per Hand erarbeitet vom Team des bekannten Designers Jean-Charles de Castelbajac. LINK Er selbst habe für die Messgewänder “eineinhalb Jahre gearbeitet und beschäftige ein großes Team.” Der Reporterin des ZEIT Magazin vom 5.12. 2024 S. 32, gestand de Castelbajac auch: ein “angemessenes Honorar”  von der Kirche erhalten zu haben.

Nebenbei: Es verdient wohl eine weite theologische Aufmerksamkeit, dass alle Priester und Bischöfe bei diesem Spektakel, der Messe, wie üblich identisch klerikal gekleidet waren. Wie kann man das deuten? Bunte Vielfalt ist nicht willkommen? Wahrscheinlich ist das so. Die Kleriker gehören halt alle zur gleichen Klasse, sind hervorgehoben und anders als “das Volk”. Die protestantische französische Zeitschrift REFORME kritisierte zurecht: Dieses ganze Spektakel, also diese Liturgie am Altar von Notre Dame am 8.12., sei eine absolute Männer – Veranstaltung gewesen. Gut, dass sich Protestanten noch über den Ausschluß der Frauen vom Pastoren/Priesteramt in der katholischen Kirche wundern. Papst Franziskus gibt sich gern als heftigster Kritiker des Klerikalismus in der Kirche, aber er ist nicht bereit, und wohl nicht in der Lage, diesen absolut vorherrschenden Klerikalismus als relgiös, sakramentale Männerherrschaft zu beenden. Dass Frauen ausgeschlossen sind vom Priesteramt ist wohl der größte Skandal des Katholizismus im 21. Jahrhundert. LINK.

………………………….

1.
Am 7. und 8. Dezember 2024 finden die Feierlichkeiten der (Wieder) – Eröffnung der Kathedrale „Notre Dame“ in Paris statt. Vor 5 Jahren, im April 2019, vernichtete ein verheerendes Feuer umfangreiche Teile des mittelalterlichen Gebäudes.

2.
Über die nun fast abgeschlossene Neugestaltung der Pariser Kathedrale informieren aktuelle Berichte. Man beachte u.a.: Nicht mehr Bänke dienen als Sitzgelegenheit, sondern 1.500 bequeme Stühle…Alles andere als eine Kleinigkeit für katholische Verhältnisse.
Der religionsphilosophische Salon bietet angesichts der Wiedereröffnung – in gebotener Kürze – etwas Hintergrund zur aktuellen religiösen Situation in Frankreich sowie Hinweise auf Besonderheiten in der langen Geschichte von „Notre Dame“.

3.
„Die jetzt auferstandene „Notre Dame“ ist ein Werk des Präsidenten Emmanuel Macron“: Diesen durchaus auch zutreffenden Eindruck wollte der französische Präsident für die Geschichtsbücher hinterlassen, als er sich am 29. November 2024, noch vor der offiziellen Wieder – Eröffnung, in der Pariser Kathedrale im renovierten Gotteshaus präsentierte. LINK. Einige aktuelle Fotos: LINK Der Präsident einer in Deutschland laizistisch genannten Republik („République laique“ meint allerdings etwas andres als„laizistisch“) will zweifellos die Kathedrale als ein überkonfessionelles Monument der (erwünschten) nationalen Einheit propagieren, als ein herausragendes kulturelles, künstlerisches und ästhetisch erhabenes Erbe der „Grande Nation“. Und damit entspricht Macron durchaus einer weit verbreiteten Sehnsucht im gar nicht mehr katholisch geprägten Frankreich, nur 29 % der Franzosen nannten sich 2023 katholisch. LINK https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391 . Sowie ein LINK zum Zustand des französischen Katholizismus.

4.
Aber auch die Mehrheit der Franzosen, also die Menschen die sich „sans religion“ nennen, konfessionsfrei sagen manche in Deutschland, schätzen die Kathedrale Notre Dame: Bei der Suche nach der „französischen Identität“ geht es auch ihnen um die Stärkung des jetzt wieder viel besprochenen „patrimoine“, des „Kulturerbes“. Für die „Fondation Notre Dame“ wurden zum Wiederaufbau 358 Millionen Euro – auch aus dem Ausland, auch von Atheisten, gespendet.

5.
Mit „Notre Dame“ fühlen sich sehr viele Menschen vor allem emotional verbunden, Franzosen zumal. Es gibt zahlreiche Berichte, wie die Besucher ( 13 bis 20 Millionen sollen es vor dem Brand gewesen sein, also mindestens 30.000 pro Tag) die Dunkelheit im Innenraum schätzen, das Licht, die Fenster, die Skulpturen. Als Sigmund Freud 1885 diese Kathedrale besuchte, lobte er ausdrücklich „den Ernst und die Strenge des Gebäudes“… Er konnte wohl noch in einer gewissen Beschaulichkeit die Kathedrale besuchen, heute verweilen dort die meisten Touristen (um Fotos zu schießen) im Gedränge nicht länger als 5 Minuten, sie können diesen „obligatorischen Programmpunkt“ dann „abhaken“ und weiter durch Paris eilen…Es ist schon bezeichnend, dass auch in spanischen Kathedralen inzwischen eigens kleine (sic!) Kapellen mit eigenem Eingang geschaffen wurden, für Menschen, die wirklich in einem Gotteshaus auch mal ihre persönliche spirituelle Poesie, Gebete genannt, pflegen wollen.

6.
„Notre Dame“ gilt als Nationalsymbol. Der weibliche Titel einer katholischen Kathedrale spielt sicher hinsichtlich der Beliebtheit eine Rolle: Die Pariser Kathedrale gilt vielleicht auch -undogmatisch betrachtet – als das Haus einer „Gott – Mutter“, einer „Dame“, mindestens aber der „Gottes – Mutter“ Maria, die als die einflußreiche Himmelskönigin an Gottes Thron steht, so die offiziellen Dogmen…

7.
Das „National-Symbol“ Notre Dame hat eine sehr wechselhafte Geschichte. Vor allem an die alles entscheidende und bis heute prägende Zeit der Französischen Revolution (1789…) soll hier kurz erinnert werden.
Die Revolution identifizierte zurecht den Katholizismus mit dem absolut herrschenden „Ancien Régime“ des Königshauses, und die Revolutionäre, so unterschiedlich sie auch dachten, wollten eine katholische Kirche gründen, die die Ideale der Revolution und der Republik achtete und unterstützte, als eine demokratische Kirche. Der Papst tobte deswegen … bis 1950 wurde von führenden Katholiken die Französische Revolution zum Übel aller Übel erklärt… Philosophisch hoch gebildete Revolutionäre wie Robespierre setzten alles daran, auch Teile des höheren Klerus für die Revolution zu gewinnen, das gelang zum Teil, man denke an die herausragende Person des „Abbé Grégoire. 1791 wurde der damalige Weihbischof Jean – Baptiste Gobel zum „konstitutionellen“ (also revolutionsfreundlichen) Erzbischof von Paris gewählt. Im Rahmen der Radikalisierung atheistischer Revolutionäre (Anacharsis Cloots u.a.) wurden Gobel als Atheist bezeichnet und zum Rücktritt als Erzbischof aufgefordert und schließlich dann von Robespierre als angeblicher, verdächtigter Atheist am 13.4.1794 hingerichtet.

8.
Die Revolutionäre waren über die Kirchenführer als privilegierte Stütze des ancien régime empört, sie wollten in ihrer maßlosen Wut Frankreich „entchristlichen“ (décristianiser), d.h. auch aus der auch ideologischen Herrschaft der Kirche gewaltsam lösen. Als Ersatz zur Messe und den Sakramenten inszenierten einige Revolutionäre zunächst den „Kult der Vernunft“, der als eine Art Theaterspektakel auch in der Kathedrale Notre Dame aufgeführt wurde. Eine zentrale Rolle spielte dabei eine Frau als Repräsentantin der Sieger über den religiösen Fanatismus. „Das Fest der Vernunft hatte eine zutiefst theatralischen Charakter (caractère théatral“), schreibt die Historikerin Mona Ozouf, auf S. 607 in ihrem Beitrag „Religion revolutionaire“ in: „Dictionnaire critique de la Révolution Francaise“, Paris 1988.

9.
Dieser als Theater inszenierte „Kult der Vernunft“ wurde von Robespierre als atheistisch abgelehnt. Dieser Theater – Kult hatte auch nicht die Kraft, die verbliebenen religiösen Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen, vor allem konnte er nicht eine religiös fundierte Einheit des ideologisch zerrissenen französischen Volkes herstellen. So setzte der deistisch geprägte Robespierre alles auf den „Kult des höchsten Wesens“, einer Art deistischen Konfession: Der Schöpfergott im Himmel verlangt von den Bürgern als religiöse Übung ein ethisch korrektes Leben im Geist der Gesetze der neu geschaffenen Republik.

10.
Ende des 18. Jahrhundert wurde dann eine ethische- deistische Kirche als „Theophilanthropie“ (d.h. Menschlichkeit mit Liebe zu Gott) im ganzen Land praktiziert, LINK.
Diese Kirche, ein Produkt der Revolution, wurde nach ca. 10 jährigem Bestehen von Napoléon verboten: Er duldete als Herrscher nicht den religiösen Pluralismus, ihm war das Konkordat mit dem Papst aus politischen Gründen wichtiger… 1804 krönte sich Napoléon in Notre Dame selbst zum Kaiser, Papst Pius VII. war bei dieser pompösen Inszenierung anwesend.

11.
Religionssoziologisch betrachtet ist heute wichtig: Die Katholische Kirche verliert in Frankreich – wie in den meisten europäischen Ländern – immer mehr an Mitgliedern, sie wird zur Minderheit. Aber die Kirchenführer lieben in dieser Situation des Niedergangs nicht ohne Stolz die Pflege großer repräsentativer Gebäude. Sicher,Notre Dame wurde von vielen auch nicht – katholischen Spendern wieder aufgebaut: Aber die Kirche ist durchaus heilfroh, in Paris wie in vielen anderen Städten so prächtige Kathedralen und Klöster zu haben. Dass diese Gotteshäuser von vielen Menschen eher als prachtvolle Museen angesehen und bewertet werden, stört dabei nicht. Das bedeutet aber: Eine explizit kirchliche Wirkung geht von diesen Kathedralen eher selten aus. Tatsache ist: Es entwickelt sich in Frankreich wie in ganz Europa so etwas wie eine kulturelle Interessiertheit für alte religiöse Gebäude. Eine Art ästhetisch – kulturelle -säkulare Spiritualität. Darüber arbeiten Religionssoziologen wie Jean – Louis Schlegel und Danièle Hervieu -Léger.

12.
Die Pflege alter herausragender Kathedralen durch die Kirchenführer steht im Widerspruch zu den vielen auf dem Land, in den Dörfern, verfallenden Kirchen und den aufgegebenen Klöstern. LINK Viele hundert Dorfkirchen in Frankreich verfallen auch deswegen, weil es keine Priester mehr gibt: Nur weil Rom eine Gemeindeleitung ans Priesteramt bindet, verschwindet sozusagen das kirchliche und damit soziale Leben auf den Dörfern. Dabei könnten Laien die Messen in den kleinen Dorfgemeinden leiten, aber die haben die Bischöfe nicht ausbilden wollen, so daß jetzt auch „aktive, kompetente Laien“ fehlen.

12.
Es ist nicht ohne Bedeutung, manche sagen ein Witz, dass am 15. Dezember, also genau eine Woche nach der weltweit beachteten Eröffnung von Notre Dame de Paris, Papst Franziskus ausgerechnet Frankreich besucht: Aber nicht etwa Paris, sondern Ajaccio auf Korsika, dort findet ein Kongress statt über die „Frömmigkeit des Volkes und der einfachen Leute in der Mittelmeer – Region“, es geht also um Heiligenverehrung, Wallfahrten, Wetterprozessionen, Segnungen der Äcker usw… Veranstalter ist der sehr konservative Kardinal Bustillo von Ajaccio. Manche Beobachter in Paris deuten diesen Papst – Besuch eines nicht weltbewegenden Kongresses auf Korsika als bewussten Affront gegen den ganzen Kultur- Trubel um dieses monumentale Gebäude in Paris…Papst Franziskus bevorzugt eben bekanntlich das Abseitige, Unbedeutend – Wirkende, das Kleine und Volkstümliche. Aber Präsident Macron will den Papst auf Korsika dann treffen, vielleicht erzählt er ihm, wie schön die Kathedrale Notre Dame nach der Brand – Katastrophe geworden ist.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilsophischer-salon.de

Soll man Menschen wirklich “menschliche TIERE” nennen?

Die 22. Frage der “unerhörten Fragen”…

Von Christian Modehn am 27. November 2024

1.
Manchmal stolpert man bei der Lektüre wichtiger Bücher sogar angesehener AutorInnen über verstörende Formulierungen. Man muss jetzt die unerhörte Frage stellen: „Sind Menschen denn wirklich nur menschliche Tiere?“

2.
Dies ist keine Frage, sondern eine Erkenntnis der prominenten Soziologin Prof. Eva Illouz (Paris/Jerusalem) in ihrem lesenswerten Buch „ Explosive Moderne“ (Berlin, 2024). Dort schreibt Eva Illouz auf Seite 106 eher nebenbei, so dass man die Worte leicht ignoriert: “Sogar bei nichtmenschlichen Tieren lässt sich beobachten…“ usw. Sie spricht von Versuchen mit „nichtmenschlichen Tieren“, mit Affen. Bei den Affen – Tests geht es um ein gewisses Vorhandensein von Neid und Gleichheit unter den Affen. Also ein Thema, um im Sprachspiel zu bleiben, dass nicht nur bei nichtmenschlichen Tieren, sondern auch auch bei „menschlichen Tieren“ (den Menschen) sehr relevant ist.

Wenn es, wie Eva Illouz schreibt, „nichtmenschliche Tiere“ gibt, dann muss es auch menschliche Tiere geben.

3.
Es ist keine Frage: Menschen sind Teil der Natur, sie haben sehr viele Verbindungen mit der Tierwelt. Es geht gar nicht darum, die Erkenntnisse der Evolution zu ignorieren. Differenziertes Denken und Sprechen mit Sinn für Nuancen ist erforderlich.
Trifft es die Bedeutung des Menschen im Gesamtzusammenhang der Natur, ihn, den Menschen, als „menschliches Tier“ zu beschreiben?

4.
Wenn – leider – viele Tiere in den Zoologischen Gärten zu besichtigen sind, sollten dann nicht auch wieder menschliche Tiere, also Menschen, dort ausgestellt werden? Das wurde schon in den Zoologischen Gärten und Tierparks im 19. Jahrhundert praktiziert, bei den sehr beliebten „Völkerschauen“ im „Menschenzoo“ in allen Staaten Europas, die Kolonien „besaßen“. LINK:

5.
Doch über diese ironische Frage hinaus: Man stelle sich vor, die Definition des Menschen als „menschliches Tier“ setzt sich in den Köpfen und Gefühlen der Menschen fest: Wir sind als Menschen eben „letztlich“ Tiere… Das heißt: Als “Tiere” eben nicht gebunden an Vernunfterkenntnis und Respekt vor ethischen Grundsätzen.

6.
Die philosophische Anthropologie hat schon sehr früh, mit Aristoteles etwa, den Menschen als „Zóon lógon échon“ definiert, auf Latein dann „animal rationale“, also „vernünftiges Lebewesen“ bzw. als „vernünftiges Tier“. Aber durch die Qualifizierung dieses Lebewesens, dieses Tieres, durch die Vernunft, durch den Geist, wird der Mensch als etwas Besonderes und Einmaliges gegenüber der Naturwelt der Tiere herausgestellt. Ich weiß, in dieser Sonderrolle des Menschen haben viele unvernünftige Menschen viel Unsinn und Unheil in die Welt gebracht durch ihre nationalistischen, egoistischen, kriegerischen Ambitionen.

7.
Aber diese traurigen Erfahrungen mit der praktizierten Unvernunft so vieler Menschen sind kein Grund, das Tierische als den gemeinsamen Nenner von Tieren und Menschen zu propagieren. Mir scheint, diese Beschreibung des Tierischen als der gemeinsamen Grundlage von Tier und Mensch, ist eine unsinnige und falsche Anbiederung an den Naturalismus.

8.
Wer die nichtmenschlichen Tieren ganz dicht an die menschlichen “Tiere” rückt und etwa schwärmend von den intelligenten Affen spricht, sollte bitte zeigen, wie diese nichtmenschlichen Tiere kulturelle Leistungen der Musik und Dichtung hervorbringen, wie sie Gesellschaft politisch durch Gesetze organisieren und so weiter.

9.
Sollen die universell gelten Menschenrechte etwa nun im Rahmen einer naturalistischen Korrektheit „Rechte der menschlichen Tiere“ heißen …?

10.
Wenn man heute zurecht von Tierrechten spricht und diese fordert und fördert, dann sind es immer Menschen, die diese Gesetze formulieren. Tiere als Tiere können für sich selbst keine universell geltenden Tier – Rechte formulieren. Das wäre nicht „artgerecht“… sie sind halt bloß Tiere.

11.
Dass es hingegen unter den „menschlichen Tieren“ viele „tierische Menschen“ gibt, ist zweifelsfrei. Es sind Menschen, die wie aggressive Raub – Tiere handeln, nur an der Befriedigung des eigenen maßlosen „Hungers“ interessiert. Man denke an alle Kriegstreiber und gewalttätigen Autokraten, die sich moralisch auf einem tierischen, d.h.unvernünftigen Niveau bewegen. Sie wieder in die humane vernünftige Menschenwelt zurückzuholen, wird eine mühsame Sisyphus – Arbeit werden.

12.

Warum also diese etwas ausführliche “unerhörte Frage”? Wir Menschen sollten uns nur dann “menschliche Tiere” nennen, wenn dies in biologischen, genetischen, evolutionsgeschichtlichen Studien geboten erscheint. Sonst eben bleiben wir Menschen und nennen uns Menschen (die sehr gern die Natur und die Tiere wirksam respektieren müssen). Nebenbei: In den Kirchen werden die Christen ja gern als “Christen-Menschen” angesprochen. Ziemlich problematisch wäre es z.B., wenn die PfarrereInnen die Christen ansprechen “liebe menschliche Christen- Tiere”…Oder wenn man eine prominente Autorin vorstellen würde mit den Worten: Sie ist ein prominentes nicht-tierisches Tier. Welch ein Blödsinn wäre dies. Wichtiger wäre es zwecks politischer Aufklärung, von tierischen Menschen unter den brutalen und verblendeten Dikatoren dieser Welt zu sprechen. 

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de