Kann die Kunst unser Leben verändern? Denken in Zeiten der Krise. 8.Teil

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zugleich eine Buch-Empfehlung!

Wie viele hektische Besuche von Galerien und Besichtigungen in Museen haben wir schon absolviert? „Bloß nichts verpassen“, ist die Devise. Wie oft haben wir intensiver die ultra-kurz gefassten historischen Erläuterungen unterhalb der Gemälde gelesen als die Kunstwerke selbst betrachtet? Wie viele Kunstbücher und Ausstellungskataloge ruhen nicht beachtet und nicht betrachtet in unseren Bücherregalen?
Damit soll nun Schluss sein. Zu einer Kehrtwende in einem oberflächlichen Kunst-„Konsum“ ermuntert ein (relativ) neues Buch des bekannten Philosophen Alain de Botton: „Wie Kunst Ihr Leben ändern kann“ ist der Titel. Das Buch hat de Botton gemeinsam mit dem Philosophen und Kunsthistoriker John Armstrong verfasst. Erschienen ist es 2017 im Suhrkamp Verlag. Der englische Titel ist deutlicher: “Art as therapy“.
Denn darum geht es den Philosophen: Kunstwerke sollten wir um einer besseren Lebensgestaltung betrachten und sie wirklich gebrauchen lernen und sogar wie eine Medizin, als Therapie, „verwenden“, als Heilung für unsere zerrissene Seele und den verwirrten Geist.
Diese Perspektive der Kunstinterpretation ist natürlich eine Provokation, bei allen, die immer noch an eine „L art pour l art“ glauben. Oder bei Philosophen, die einen Übergang von ästhetischen Erfahrungen und Einsichten zu ethischen Einsichten und entsprechender Praxis ablehnen. Alain de Botton plädiert hingegen sehr entschieden für den praktischen Wert der Kunst, also jener Objekte, die im Rahmen der Ästhetik diskutiert werden. Kierkegaard wäre als widersprechender Gesprächspartner hier wichtig, er wird in dem Buch leider nicht erwähnt.

Alain de Botton hatte auch in seinen früheren Publikationen stets vom Nutzen, man möchte sagen praktischen Gebrauchswert, von Religion und Philosophie gesprochen. Nun also auch von der Kunst. In dem Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“ stellt er Kunstwerke unterschiedlicher Epochen in einer überraschenden Vielfalt auch als (kleine) Farbdrucke (141 insgesamt) vor, immer von der Frage geleitet: Wie könnte dieses Bild, dieses Kunstwerk, uns helfen, dass wir uns wieder richtig erinnern, dass wir die Hoffnung wieder entdecken oder mit dem Leiden sinnvoll umgehen usw.
Ich finde besonders das erste Kapitel hilfreich hinsichtlich der therapeutischen Funktion von Malerei und Skulpturen: Wie kann Kunst vor Pessimismus und Schwarzmalerei bewahren? Wie können wir Ermutigung im Leben sehen und durch Kunst-Berachtung auch wieder finden? De Botton zeigt das etwa an den „Tänzern“ von Matisse (von 1909). Es besitzt „so viel Anmut und Liebreiz, dass es uns für einen Augenblick das Herz zerreißt“ (13). Die Betroffenheit kann paradox sein: „Unsere Tränen kommen nicht, weil das Bild so traurig ist, sondern weil es so hübsch ist“ (17).

In der Interpretation von Richard Serras Objekt mit dem Titel „Fernando Pessoa“ betonen die Autoren, wie dieses Kunstwerk wirkt. Es ist benannt nach dem portugiesischen Dichter und Poeten Fernando Pessoa: Wir werden durch dieses Objekt förmlich dazu gedrängt, Leiden und Schmerzen auch als Momente der Würde im Leben anzunehmen. Es geht darum, im meditativen Blick auf Kunst „unser seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen“ (29). Voraussetzung ist natürlich, dass der meditative oder kontemplative Kunst-Betrachter um die eigene Befindlichkeit, wenigstens als Frage und Suche, schon etwas weiß. Diese Voraussetzung scheint mir in dem Buch nicht ausreichend reflektiert zu werden. Oder ist das Erschüttertwerden oder gar das “Umgeworfenwerden” durch Kunst das entscheidende, unerwartete Erlebnis, das uns in die Tiefe unseres Lebens führt? Dann wäre ein erschütterndes Kunsterlebnis einer religiösen Erfahrung mit Gott/dem Göttlichen vergleichbar. Und Kunst könnte die Funktion des Religiösen übernehmen…Ein umstrittenes Thema…

Die elementare Bedeutung der Kunst für eine menschliche Ethik steht den Autoren außer Frage: „Dabei liegt es auf der Hand, dass viele der besten Kunstwerke …eindeutig einen moralischen Anspruch haben, nämlich die Intention, uns durch verschlüsselte Botschaften zu ermahnen oder zu warnen und so das Gute in uns zu fördern“ (33). Kunstwerke regen also an, „das Beste aus uns herauszuholen“ (34), heißt es pragmatisch, fast ratgebermäßig. Aber wer sich in die Geschichte der Kunst vertieft, wird wohl sehr oft diesen „das Gute in uns fördernden Aspekt“ erkennen. Man denke nur an die Genre-Malerei der Niederländer. Brouwer oder Steen malen Wirtshausszenen nicht um ihrer selbst willen, sondern um versteckt, aber für die Zeitgenossen damals und auch für uns unübersehbar vor einem allzu ausgelassenen Lebenswandel zu warnen. Diese Bilder (etwa „Singende Trinker“, von Adriaen Brouwer, 1635) sollen auch und vor allem „Abscheu und Ekel erregen“ (so im „Katalog von Frans Hals bis Vermeer“, Berlin 1984, Seite 128). Und die vielen Marien-Darstellungen, diese vielen Pietas: Sind sie doch bewusst geschaffene Bilder des Trostes nicht nur für Mütter in trostlosen Zeiten.

Ich empfehle das Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“, gerade in diesem Zeiten, in denen einige doch hoffentlich längere Zeiten fürs Lesen und Betrachten (Kontemplation) frei haben. Schauen Sie sich als erstes das (mir bis dahin) unbekannte Bild von Jean-Baptiste-Siméon Chardin an, mit dem schlichten Titel „Dame beim Tee“ (von 1735). „Der Raum ist bewusst schlicht gestaltet. Und doch hat das Bild etwas Glamouröses. Es glorifiziert diese alltägliche Situation und das schlichte Mobiliar… Es regt den Betrachter an, (nach dem Museumsbesuch) nach Hause zu gehen und seinen eigenen Lebensentwurf zu gestalten… Die Kunst hat die Macht, den schwer zu definierenden, aber dennoch vorhandenen Wert des normalen Lebens zu würdigen… Die Kunst kann in uns ein neues Bewusstsein wecken für die wahren Vorzüge des Lebens, das wir nun einmal gezwungen sind zu leben“ (56 f.)

Natürlich unterscheiden die Autoren genau, was Kunst ist und was sich nur Kunst zu nennen wagt, was also Kitsch ist. Sie denken etwa an die verblödenden populären TV-Serien, „die uns genau das liefern, was wir haben wollten“ (156). Sie beleidigen die Menschen, weil sie nicht zeigen, „wozu wir als Menschen eigentlich in der Lage sind“ (157). Die Autoren kritisieren den dummen Wahn der Reichen, diese „Klasse der obszön Reichen“ (157), die ihre totale Ahnungslosigkeit und blöde Geschmacksverirrung auch künstlerisch, etwa in ihrer Architektur ihrer pompösen Villen ausdrücken müssen (zwei Beispiele auf Seite 156 und 158).

Den Autoren liegt es fern, nur den einzelnen durch Kunst heilen zu wollen. Die einzelnen sollten „die Werte, die die Kunst repräsentiert, in der realen Welt umsetzen… Die wahre Ehrfurcht vor der Kunst besteht darin, das Gute, was in einem Kunstwerk kraftvoll dargestellt ist, aktiv in Umlauf zu bringen“ (225).

Zu diesen Zitaten und den Hinweisen: Im Hintergrund steht als Kriterium des „Ändern des eigenen Lebens“ durch die Kontemplation der Kunst ein bestimmtes Menschenbild: Der Mensch als ein Dasein, das sich im Laufe seines Lebens inmitten vieler Krisen und Widersprüche entfaltet, das sich geistig entwickelt, zu sich selbst kommt, sich selbst und andere lieben lernt … und die Solidarität hoch schätzt.

Alain de Botton und John Armstrong, Wie Kunst Ihr Leben verändern kann“, Suhrkamp Verlag, 2017, Taschenbuch, 240 Seiten. Nur 17,95 EURO!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Vom Glauben religiöser Menschen und vom Glauben nicht-religiöser Menschen: Denken in Zeiten der Krise. 4. Teil.

Hinweise des Philosophen Jim Holt zu Richard Dawkins
Von Christian Modehn
1.
Über die oberflächlichen Argumente von Richard Dawkins gegen den Glauben an Gott ist schon vieles und vieles Richtige gesagt worden. Sein Buch „Der Gotteswahn“ (2006) hat trotzdem sehr viele Käufer, wahrscheinlich auch etliche LeserInnen weltweit gefunden. Die sagten stolz und befriedigt: „Seht Ihr, es gibt keinen Gott, sagt doch Meister Dawkins“.
Nebenbei: Man könnte wohl nachweisen, wie etliche polemische Publikationen von Michael Schmidt-Salomon (Giordano-Bruno-Stiftung) unter dem Eindruck des polemischen Bestsellers von Dawkins erst so richtig verbreitet wurden. Der ehemalige Vorsitzende des Humanistischen Verbandes HVD, Horst Groschopp, nannte solche Atheisten deswegen „Krawall-Atheisten“…
2.
Die Debatte um dieses oft sehr polemisch geschriebene Buch des Evolutionsbiologen Dawkins „Der Gotteswahn“ wird jetzt noch einmal weitergeführt durch eine kleine, aber erhellende Studie des auch in Deutschland bekannten US-amerikanischen Philosophen und Autors Jim Holt. In seinem neuen Buch „Als Einstein und Gödel spazieren gingen“ (Rowohlt, 2020) hat Holt ein Kapitel zu Dawkins Atheismus-Werbung publiziert, mit dem Titel „Dawkins und Deus“. Die 19 Seiten dieser Studie könnten eigentlich jene sehr ins Grübeln bringen, die noch immer Dawkins-Fans sind. Abgesehen von den Hinweisen Holts zur oft lächerlichen Polemik Dawkins stört ihn, „wenn Dawkins die Aufrichtigkeit ernsthafter Denker in Frage stellt“ (S.410). Der militante Atheist Dawkins versetzt, so Holt, „einen besonderen (intellektuellen) Tiefschlag“ (S. 410) etwa dem Philosophen Richard Swinburne. Dawkins schreibe in einer, so Holt wörtlich, „erklärten Feindseligkeit“ (410) gegen die Religion(en).
3.
Die Frage ist also: In wieweit kann man das sich philosophisch nennende Buch eines Biologen ernst nehmen, wenn dieser als Wissenschaftler feindselig zu argumentieren versucht?
Holt bring nur einige zentrale Argumente gegen Dawkins Verteidigung der Wissenschaftlichkeit des Atheismus vor.
Wichtig ist, dass Holt den klassischen „ontologischen Gottesbeweis“ nach wie vor für bedenkenswert hält. „Dawkins ist offenbar nicht klar, das Argument (des ontologischen Gottesbeweises), auch wenn es mittelalterlichen Ursprungs ist, verfeinerte moderne Versionen hat, die keineswegs leicht zu widerlegen sind“ (411). Wobei allen klar ist, dass ein so genannter „Gottes-Beweis“ alles andere als ein mathematischer „Beweis“ ist, treffender wird von Aufweis gesprochen…Kein geringerer als der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell hat den ontologischen Gottesbeweis zumindest ernst genommen…Selbst die berechtigte Frage nach einer „letztgültigen Erklärung für das Entstehen des lebensfreundlichen Kosmos“ will Holt als treffend und berechtigt respektieren … im Unterschied zu Dawkins. Holt meint: Wenn man diese letztgültige Erklärung sucht, „dann ist es doch zumindest vernünftig, sich an die Gotteshypothese zu halten, oder?“ (412). Wer eine letzte Erklärung für unsere zufällige und vergängliche Welt sucht, so Holt, kann etwas, das „notwenig wie auch unvergänglich“ ist, „getrost Gott nennen“( 413).
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Jim Holt will keinen unschlagbaren Beweis für die „Existenz“ Gottes vorführen. Daran denkt er gar nicht. Er will nur einem Biologen (Dawkins) philosophisch zeigen, dass dieser sich gar nicht korrekt „Intuitionen“ (wie Dawkins selbst sagt) anvertraut: Dass er oft nur „Vermutungen“ äußert (416) und letztlich einem „darwinistischen Nihilismus“ (415) anhängt. Das sagt Jim Holt, der wahrlich kein Kirchenvertreter, kein klerikaler Apologet ist, sondern ein analytischer Philosoph, der die Mathematik zudem über alles schätzt. Im Grunde legt er Dawkins Buch „frustriert“ (416) beiseite. Holt weiß: Für oder gegen die „Existenz“ Gottes gibt es keine definitiven, alles ein für allemal entscheidenden Argumente. Wie sollte es bei dieser umfassenden und wahrlich letzten Frage auch anders sein.
4.
Kluge, reflektierte Menschen werden also wohl noch lange Ja zu Gott sagen, wie eben auch andere kluge Menschen eben auch Nein zu Gott sagen. Und beide haben ein Wissen von der eigenen Haltung, die dann eine Glaubenshaltung genannt werden muss: Definitives über Gott oder „Nicht Gott“ wissen also beide nicht. Es sollte deswegen konsequenterweise auch keine mit dem Anspruch der letzten gültigen Wissenschaft auftretende atheistische Missionierung, keine atheistische Werbung à la Dawkins geben. So wie die Zeiten der theistischer Propaganda hoffentlich auch vorbei sind.
Unter diesen Bedingungen bleibt jeder tolerant und offen bei seiner stets als für ihn selbst relativ zu verstehenden religiösen Überzeugung. Denn auch der Atheismus ist als eine nicht beweisbare Überzeugung vom Nichtvorhandensein Gottes eben auch nichts anderes als eine Form, eine Gestalt des Glaubens.
Was hat das für Konsequenzen? So vereinen sich dann die Menschen als Gleichberechtigte, als „Brüder und Schwestern“ möchte man fast pathetisch sagen. Weil religiös Glaubende und atheistisch Glaubende eben zu der universalen menschlichen Gemeinschaft der Glaubenden gehören. Beide, religiös Glaubende wie nicht-religiös Glaubende stehen glaubend vor dem Geheimnis des Lebens. Welche Chance wäre dies, wenn sich diese Erkenntnis, dieses Wissen vom je eigenen Glauben, herumspräche. Und Humanismus dann gerade diese universale Haltung und Spiritualität wäre, sozusagen das “geistuge Dach” der Menschheit, unter dem sich religiös Glaubende wie nicht religiös Glaubende Menschen treffen.
5.
Dass es Glaubensformen unter religiös Glaubenden wie unter nichtreligiös Glaubenden gibt, die für den einzelnen wie für die Gesellschaft gefährlich sind, ist heute völlig klar. Diese der umfassenden Menschlichkeit widersprechenden Glaubensformen und Glaubensinhalte (etwa Fundamentalismen unter religiösen wie nicht-religiös Glaubenden) müssen kritisiert und ins Private zurückgesetzt werden. Maßstab dieser Kritik kann nicht ein Kriterium sein, das einer dieser Glaubensformen, ob religiös oder nicht religös, entnommen ist. Die Kritik an Fundamentalismen kann nur aus der allgemeinen Vernunft kommen, d.h. auch aus den Menschenrechten, den Werten der demokratischen Rechtsstaaten. Niemals aber können diese Kriterien aus dem Glauben einer Kirche stammen, sei es nun eine religiöse Kirche/Institution oder eine nicht-religiöse „Kirche“, also ein Verein, Verband, eine „Gesellschaft“, eine “Stiftung”…

Jim Holt, Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens. Rowohlt Verlag, 2020, 495 Seiten, 26 EURO.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

HEGEL heute: Wer ist der Mensch? Was ist der Sinn der Geschichte? Welche Religion ist vernünftig?

Ein etwas ausführlicher Hinweis von Christian Modehn.

Angesichts des zentralen Themas der ganzen Philosophie Hegels gilt dieses Motto:
„Was wäre sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist?“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band I, Suhrkamp Ausgabe, Frankfurt, 1969, S.44)

1.
Kann man zur Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels eine kurze Einführung bieten? Das will ich – etwas übermütig – probieren. Hegels Philosophie ist immer schon hoch umstritten, vielfach auch im Widerspruch interpretiert. Aber kein Philosophierender kann auf Hegels Anregungen verzichten. Manche wissen allerdings nur, dass Karl Marx Hegel gelesen hatte und ihn auf seine Weise reduzierte … mit allen welthistorischen, z.T. sehr unangenehmen Konsequenzen (Stalinismus etc.)
Hier geht es also um eine bescheidene Einführung zu einem umfassenden Werk. Einführungen sind bekanntlich nur Hinführungen, Anstöße zum Gespräch, Impulse zum Weiterlesen, Weiterforschen. Und, auch dieses noch: Warum könnte man sich nicht auch die Frage stellen: Sind die Erkenntnisse Hegels, die hier vorgestellt werden, vielleicht sogar eine Hilfe, sein eigenes Leben reflektierter und vernünftiger, d.h. geistvoller zu gestalten?
2.
Als allgemeine Orientierung gilt: Hegels Philosophie ist keine Spielerei mit Begriffen, sie ist keine philosophische „l Art pour l art“. Darauf hinzuweisen ist wichtig, weil die sprachliche Gestalt der meisten Veröffentlichungen Hegels und auch die Texte seiner Berliner Vorlesungen ziemlich schwierig für den Ungeübten erscheint. Hegels Philosophie ist eine ganze geistvolle „Welt“, die sich als Angebot einer Deutung der Geschichte, Menschen und dem Göttlichen zur Reflexion darbietet. Ohne diesen Anspruch ist Hegel nicht „zu haben“.
Aber es ist vielleicht auch hier so wie bei der Musik: Man könnte bei der Hegel – Lektüre versuchen, sozusagen denkend „mitzuschwingen“. Denn seine Philosophie ist ein Geschehen, sie ist Bewegung, ein Hin und Her als Annäherung an eine höhere Stufe der Erkenntnis! Und vom Widerspruch zur These geht es wieder zurück zu dem neu verstandenen Ausgangspunkt. Hegels Philosophie ist gerade wegen ihrer Bindung an die Dialektik nichts Starres. Sie ist Leben, ein Leben, das um das eigene, tiefste Verstehen ringt. Die Hörer seiner Vorlesungen an der Berliner Universität berichteten, wie Hegel selbst seine Vorträgen förmlich wie Selbstgespräche hielt und dabei sein Denken, seinen “Denkfluss“, öffentlich zeigte, denen sich die Hörer anschließen mussten, wollten sie diese Welt verstehen.
Es geht also um ein Einsteigen in die Bewegtheit, könnte man sagen. Erst nach diesem Mitvollzug kann dann die kritische Distanz gelingen. Einige einführende Hinweise zu dieser Einführung sind notwendig:
3.
Hegels philosophisches Denken ist in einer bestimmten politischen und gesellschaftlichen Situation entstanden und von dieser im Ganzen geprägt: Es ist die Erfahrung der Französischen Revolution, dieses radikalen Umstürzen der alten feudalen Unordnung, der Herrschaft der wenigen über die unterdrückten Vielen, also das hart erkämpfte Sich – Durchsetzen der Freiheit und Würde eines jeden Menschen. Der Philosoph Joachim Ritter (Münster) hat schon 1956 Grundlegendes über diese kaum zu überschätzende Bedeutung der Französischen Revolution für das ganze Denken Hegels nachgewiesen: „Es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution wie die Hegels“ (Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution, Westdeutscher Verlag 1957, S. 15). „Hegel hat immer die Französische Revolution bejaht“ (ebd. S. 17. Dabei weiß Hegel natürlich genau, dass dieser grundlegende Umbruch in der Weltgeschichte „diesen“, so Hegel wörtlich, „herrlichen Sonnenaufgang“ (S. 18 ebd.), immer neu weiter gestaltet werden muss! Hegel bearbeitete die Erfolge und auch die Gefährdungen der Französischen Revolution, er weiß aber, dass die Errungenschaften der Revolution wichtiger zu nehmen sind: Also die Menschenwürde, die Emanzipation, die Gleichheit aller Menschen, Themen, die uns heute bewegen. Und die es zu verteidigen gilt. Insofern ist Hegels Philosophie in vielen ihrer Vorschläge alles andere als vergangen. Hegel ist vielmehr in mancher Hinsicht eine Art Zeitgenosse, der oft Zustimmung verdient, immer aber kritisches Nachfragen.
Hier wäre auch noch an die sehr frühe Begeisterung für die Französische Revolution der Studenten Hegel, Hölderlin und Schelling an der Universität Tübingen (und dem gemeinsamen Wohnen im „Stift“ dort) zu erinnern. Dazu schreibt der Hegel-Spezialist Klaus Vieweg: “Die Revolution ist Hegels politisches Grunderlebnis“ (S. 67 in der sehr umfangreichen Studie: „Hegel – Der Philosoph der Freiheit“, 2019). Hegel hat schon als junger Mensch in Tübingen unter der politischen (und kirchlichen) Reaktion gelitten, unter dem deutschen Nationalismus. Nicht die Nation sollte entscheidend sein, sondern die freiheitliche und vernünftige Rechtsidee.
4.
Mit der grundsätzlichen Zustimmung zu den Idealen der Französischen Revolution, und trotz aller Kritik an den Verirrungen im politischen Handeln der Revolutionäre, hat Hegel doch diese neue Zeit der Freiheit als alles gründenden Wert geschätzt. Diese welthistorische Wende wollte er denkend vertiefen, auf den Begriff bringen. Und sie mit der Erfahrung der Unfreiheit im Leben des einzelnen wie der Gesellschaft konfrontieren, also der Entfremdung vom eigentlichen menschlichen geistvollen Leben. Es ist die Fremdbestimmung, der Verlust der Freiheit, was Hegel überwinden will. Es ist dieses Leiden an den „Verhältnissen“ und den zunehmend reaktionären Zuständen nach den Karlsbader Beschlüssen, das Hegel zum systematischen Denken treibt. Und damit macht er es sich zur Pflicht, an der Auflösung des Erstarrten, Leblosen, Geistlosen denkend zu arbeiten. Dieses Ziel nennt Hegel die Versöhnung, also das Sich Befreien aus dem falschen Leben hin zum Leben in Freiheit: Der Mensch will als freies Wesen bei sich selbst sein, auch in der Gesellschaft, im Staat und in der Kirche „bei sich selbst“ sein. Entscheidend ist: Menschliche Freiheit ist für ihn „Bei-sich-selbst-Sein. Es ist also der Versuch, das den Menschen umgebende Ganze in die Erkenntnis eines umfassenden „Bei sich selbst seins“ zu führen. Die prinzipielle Fremdheit der Welt kann nur zunächst im Denken überwunden werden, damit dann auch der Staat und die Religion frei gestaltet, also vernünftig gestaltet werden können.
5.
Diese Versöhnung, soll sie denn gelingen, muss also notgedrungen im Denken beginnen. Nur im philosophischen Denken kann der Widerspruch im Leben des einzelnen wie der Gesellschaft erkannt, also begrifflich kritisch gefasst werden. Alles blinde, begriffslose Herum-Agieren der so genannten „Praktiker“, auch der Politiker, hat Hegel verschmäht. Zuerst kommt das philosophische Denken! Aber es entspringt bereits der Lebenspraxis, dem Leiden an den Verhältnissen. Und dann folgt die durch Klarheit der Begriffe erweckte NEUE Praxis als Widerstand und Widerspruch gegen die alte Praxis, gegen das alte falsche Leben und seine Ideologien.
6.
Man vergesse nicht: Hegels Sprache ist die Sprache eines Intellektuellen am Ende des 18. und an dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Es die Sprache einer (uns nicht mehr so sehr vertrauten) Kultur, in der die philosophischen Debatten einen sehr hohen öffentlichen Stellenwert hatten… und der Streit der Philosophen untereinander: das leidenschaftliche, oft polemische Sich – Widersprechen und Profilieren.
7.
Noch eine Orientierung für „Hegel-Anfänger“: Es gilt, auf die sprachlichen Nuancen zu achten, auch auf die Neuschöpfungen von Worten und Begriffen. Man bedenke etwa an die von Hegel intendierte Mehrdeutigkeit des Wortes „Aufheben“, im Sinne von Bewahren und Überwinden, ein zentraler Begriff innerhalb der Dialektik. Oder: „Wirklich“ ist für Hegel nicht identisch mit „real“ oder „faktisch vorhanden“. Das gilt etwa für den oft zitierten Satz aus seiner „Rechtsphilosophie“: „Was vernünftig ist, das ist wirklich. Und das, was wirklich ist, das ist vernünftig“. (in: „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Frankfurt am Main 1972, S. 11). Das Wirkliche ist im Unterschied zu dem bloß (zufällig) faktisch Vorhandenen also jenes Gegebene, das auch tatsächlich seinem wesentlichen Begriff entspricht. Ein Beispiel: Nicht jeder vorhandene Staat entspricht dem normativen Wesensbegriff eines Staates, der nur dann human ist, wenn er ein Rechtsstaat ist. Erst wenn dieser Staat als Rechtsstaat sich gestaltet, ist er nicht mehr nur ein faktisch vorhandener Staat, sondern ein „wirklicher“ (vernunftgemäßer) Staat. Das gleiche gilt etwa auch für Kirchen, die sich auf Jesus von Nazareth berufen und zur Gottes-Verehrung auffordern: Da fragt dann Hegel ganz klar: Sind diese faktischen Kirchen schon wirkliche Kirchen? Eher nicht, ist seine Antwort.
8.
Es kann hier nur angedeutet werden: In der Philosophie Hegels hängt jedes einzelne Thema mit dem Ganzen zusammen. Und der Philosoph macht sich die Mühe, die Position differenziert zu beschreiben, wo sich das Einzelthema im Gesamtzusammenhang der Sache nach befindet. Hegels Denken vollzieht sich in Schritten als Stufen zu immer höherer Klarheit. Dieser Weg der Erkenntnis des einzelnen beginnt bei der sinnlichen Wahrnehmung und er führt immer weiter zur höchsten Erkenntnis, als dem Wissen des einzelnen, dass sein Geist Anteil hat am absoluten Geist. Diese mühevollen Schritte werden in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ dargestellt.
9.
Wie gesagt: Hegel hat ein umfassendes, systematisches Werk hinterlassen, in dem (fast) alle philosophischen Themen und „Abteilungen“ seiner Zeit zur Sprache kommen. Hegel selbst sah seine ganze Philosophie sehr deutlich und positiv gemeint als System, „als ein sich selbst tragendes Ganzes, worin jeder Teil auf jeden anderen verweist und Teil des Ganzen ist“, so deutet der Philosoph Karl Löwith sicher treffend die Hegelsche Philosophie (in: Hegel-Bilanz, Frankfurt am Main, 1973, S. 3).
In jedem Fall gilt: Hegel hat nicht etwa hübsche Essays, nicht Fragmente, nicht elegante Aphorismen (wie Nietzsche) uns hinterlassen, sondern – die ganze Last eines Systems.
Hier sollen jetzt nur drei zentrale Themen etwas vertieft werden, die Mut machen könnten, sich weiter in Hegels Denken zu vertiefen. Man vergesse dabei nicht, was oben geschrieben wurde: Weil Hegels Philosophie einer Krise im Leben des einzelnen wie der Gesellschaft entspringt, kann sie uns, inmitten vieler Krisen, eine Anregung sein. Denkanregungen sind bekanntlich Anregungen zur Lebensgestaltung. In diesem Sinne ist Philosophieren immer irgendwie auch Anregung zur Lebensgestaltung. Das ist ja schon der Sinn, den griechische Philosophen den Philosophierenden, also den Philosophen, gaben: „Erkenne dich selbst“ – so hieß es im Apollo-Tempel zu Delphi, eine Maxime, die Hegel schätzte: Erkenne dich selbst, dann kannst du ein menschlicher, geistvoller Mensch werden. Dies ist kein Versprechen, sondern eine Hoffnung, die von der Qualität des einzelnen abhängt! Hier möchte ich ein erwas längeres Zitat Hegels aus seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ § 377 anbieten: „Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich, noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums! Sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes. Ebenso wenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der so genannten Menschenkenntnis, welche von anderen Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, – eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen, des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt“ (Hegels Werke in 20 Bänden, Band 10, Frankfurt/M. S.9).
Jetzt aber geht es jetzt um Hinweise zu Hegels Begriff vom Menschen. Dann zweitens um Hegels Begriff der Geschichte und drittens um Hegels Begriff der Religionen, vor allem des Christentums.
10.
Hegels Begriff vom Menschen:
Viele Anregungen zu diesem Thema stammen noch aus der Zeit, als Hegel noch mit seinem Freund Hölderlin eng verbunden war. Darauf weist der Hegel-Spezialist Dieter Henrich hin, (in seinem Aufsatz „Hegel und Hölderlin“ in dem Buch „Hegel im Kontext,“): „Hölderlin gab Hegel als Philosophen den wichtigsten, den letzten prägenden Anstoß“, (dort S. 38).
Entscheidend ist dabei das von Hegel zunächst als These vorausgesetzte, dann vernünftig überprüfte „Wesen des Menschen“: Und dieses Wesen ist die Teilhabe am absoluten Geist. Wie bei Hölderlin ist ein religiöser Aspekt bei Hegel dauernd anwesend. Auch wenn er, wie Hölderlin auf seine Art, keine persönliche enge Bindung an die evangelische Kirche hatte. Dabei schätzte Hegel die Lehre der Kirche sehr, aber das heißt ja nicht, dass er sich sonntags oft in den Gottesdienst setzte. Er wollte die Lehre der Kirche begreifen, auf den Begriff bringen, also die Anschaulichkeit der Religion ins Philosophische heben.
Aber entscheidend für das „Menschenbild“ Hegels ist grundsätzlich:
Die philosophische Erkenntnis der Verbundenheit des Göttlichen mit dem Menschlichen ist selbstverständlich eine solche, die auf das wirkliche und auch das reale Leben der Menschen bezogen ist. Insofern gibt es eine durch die Vernunft erkannte, aber nicht von der Vernunft erzeugte Einheit von Gott und Mensch.
Damit grenzt sich Hegel entschieden ab von der Herrschaft des Verstandes: Der Verstand konnte in der Aufklärungszeit, bei allem Respekt Hegels für deren wissenschaftliche Leistungen, zunächst nur die äußere Gestalt des Lebens analysieren und wissenschaftlich untersuchen. Der Verstand lebt in und von abstrakten Begriffen, vor allem von unvermittelten Gegenüberstellungen. Etwa: „Endliches ist etwas total anderes als Unendliches“. Oder: „Gott ist etwas total anderes als Menschliches“ usw. Um die Auflösung dieser abstrakten Gegensätze geht es Hegel: Denn sie zerreißen die im Geist, also in der philosophischen Vernunft erfahrene und gedachte Einheit des Lebens. Erst die Erkenntnis und Anerkenntnis der Verbindung und des Aufeinanderverweisens und dadurch des Verbundenseins der Gegensätze bringt das Leben aus der Erstarrung heraus. Es entsteht die Erkenntnis einer (partiellen) Identität: Das “andere“, Fremde, gehört also wesentlich zum Menschen als einem Wesen des Geistes. Das andere bin auch ich als Mensch, aber dies ist nur der Ausgangspunkt. Denn vernünftig gesehen ist in dem anderen wie auch in mir, der eine allgemeine Geist, die eine allgemeine Vernunft lebendig. So weiß sich der Mensch in einer letzten Einheit!
Der menschliche Geist ist für Hegel also nur deswegen in der Lage, das andere, auch die Natur und dann auch die anderen Menschen etc. zu erkennen, weil in diesen „anderen“ der eine gemeinsame Geist lebt. Nichts fällt aus dieser grundsätzlichen Einheit heraus. Aber dies ist selbstverständlich kein Pantheismus!
Hegel befreit so das Denken aus der Erstarrung des abstrakten Gegeneinanders in der Welt. So kann ein neues, umfassendes und freies Denken entstehen und auch ein neues Leben eröffnen. Denn das Lebensgefühl wird „erhoben“, wenn der einzelne weiß: Ich habe Anteil am Ewigen, Göttlichen, selbst wenn so viel Negatives, Elendes, in dieser Welt besteht. Aber diese Welt (und der Mensch) ist ein Endliches, aber als solches einbezogen ins Unendliche. Dies kann förmlich ein Trost sein! Mehr kann ein Philosoph nicht sagen. Dies ist die Leistung der Vernunft bzw. der philosophischen Spekulation.
Nebenbei: Hegel ist am 14. November 1831 in Berlin plötzlich an der Cholera gestorben, seine Frau berichtet von seinem Tod: „Es war das Hinüberschlummern eines Verklärten…Seine himmlische Ruhe und sein seliges Einschlafen wurde durch keine äußere Unruhe, durch keine laute Klage gestört“ (Karl Rosenkranz, G.W.F. Hegels Leben, 1844 erschienen, Neudruck Darmstadt 1971, S. 424). Hegel hatte in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie (siehe unten) als Philosoph gelehrt: Der Tod ist grundsätzlich überwunden. In seiner Interpretation des Kreuzestodes Jesu Christi sagt Hegel: „Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess und dieser (Prozess) ist nun der Tod des Todes“… Und der Mensch hat daran Anteil, weil er – wie gesagt – Anteil des Göttlichen ist… (Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, Suhrkamp Verlag, S. 291)
11.
Die Vernunft des Menschen ist der Geist. Und dann wird es entscheidend: Der Geist des Menschen hat Anteil am absoluten Geist. Diesen nannte man früher in der Philosophie „Sein“ (Henrich, S. 38)
Dies ist nun ein zentraler Gedanke, den man bei Hegel immer nachvollziehen sollte: In seinem Buch „Phänomenologie des Geistes“ zeigt Hegel in vielen Schritten, wie das menschliche Bewusstsein sich langsam erhebt bis hin zum absoluten Geist, an dem der menschliche Geist Anteil hat. Die Annahme eines absoluten Geistes, man könnte auch sagen, einer göttlichen Wirklichkeit, die auch in den Menschen wirkt, gehört zur Grundüberzeugung Hegels. Das Göttliche, Gott, ist im menschlichen Denken und im Dasein des Menschen nur deswegen erreichbar, weil es selbst immer schon im menschlichen Geist anwesend und wirksam ist. Sonst wäre dieses Erreichen des Göttlichen im Denken gar nicht möglich für Menschen.
12.
Der Mensch im Sinne Hegels ist also kein Wesen, das in die Grenzen des Endlichen, Weltlichen, eingeschlossen ist! Der Mensch überragt den (alltäglichen) „Menschen“ unendlich. Er hat Qualitäten, die man – mangels besserer Begriffe – eben göttliche Qualitäten nennen kann.
Noch einmal: Diese Erkenntnis Hegels ist für ihn keine pure, gar willkürliche Behauptung oder Laune, sondern eine Erkenntnis, die sich aus der Reflexion der geistigen Verfassung des Menschen ergibt. Der Mensch gehört zu Gott, und Gott gehört zum Menschen, dies ist der Kern der „Anthropologie“ Hegels.
13.
Dieser menschliche Geist ist immer denkender, prüfender Geist. Damit werden von Hegel alle bloß gefühlsmäßig vorgebrachten Behauptungen und Meinungen zurückgewiesen. Die Bedeutung der Gefühlswelt leugnet Hegel nicht, aber sie hat nicht das letzte Wort. Denn sie kann aufgrund der „Verschwommenheit“ und der von Launen abhängigen Aussagen keine allgemeine, für alle gültigen Erkenntnis des Wahren usw. befördern. Esoterik oder Gefühlstheologie hat also bei Hegel keine Akzeptanz. Menschen brauchen die Klarheit der allgemeinen Begriffe, um sich untereinander mit möglichst wenigen Missverständnissen gemeinsam – auch sprachlich – orientieren zu können.
14.
Dies gilt auch für Hegels Hinweise zum Thema Krankheit und Tod: Dieses Thema steht eher am Rande der Hegel-Forschung, auch wenn es in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ ausführlicher besprochen wird. (§ 371 ff). Diese Reflexionen Hegels zeigen, dass er sich mit elementaren Erfahrungen unseres menschlichen Lebens als Philosoph befasste, er analysierte etwa unterschiedliche Formen der Krankheit, kannte genau die – damals zugänglichen – Fakten. Und das ist typisch für die umfassende Bildung dieses Philosophen.
Hegel bietet aber als Philosoph keine empirische, schon gar keine direkte medizinische Hilfe im Falle von Krankheit. Er empfiehlt die wissenschaftlich argumentierende Tätigkeit der Ärzte und weist entschieden die damals üblichen Hilfen von „esoterischen Heilern“ und Ärzten im „Geiste der Romantik“ zurück.
Krankheit des Menschen heißt für Hegel elementar: Körper (Natur) und Geist fallen auseinander. Krankheiten verweisen auf den Tod. Das organische Leben des Menschen muss sterben. Diese endliche Welt kann man nur akzeptieren und dabei differenziert nachdenken. Denn beim abstrakten Endlichen kann Hegel nicht stehen bleiben: Der Geist des Menschen bzw. der göttliche Geist in jedem Menschen ist ewig. In immer neuen Reflexionen zeigt Hegel diese seine alles überragende Erkenntnis: Der einzelne Mensch darf nicht auf dem begrenzten Standpunkt der einzelnen Individualität verharren, sondern sich auf das Allgemeine beziehen. Erst dann wird das wahre Wesen des Menschen sichtbar, erst dann können Krankheit und Tod in das individuelle Leben integriert werden. Ein Gedanke, den Hegel auch in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie vertieft.
Hegel bezieht sich auch im Fall der Krankheit auf seine Erkenntnis der überragenden Macht des Geistes, und dieser Geist im Menschen ist immer auch Teil des „absoluten Geistes“, also „des göttlichen Geistes“. (Siehe auch: Dietrich von Engelhardt hat über „Hegels philosophisches Verständnis der Krankheit“, in Sudhoffs Archiv, 1975, einen längeren medizinhistorischen Aufsatz geschrieben).
Über die romantische Medizin, d.h. die eher magische Medizin der Romantiker, der Hegel NICHT angehörte, siehe etwa die Studien von Roland Schiffter:
15.
Wichtig ist es in dem Zusammenhang, noch einmal daran zu erinnern, dass Hegel das Negative im Leben überhaupt nicht beiseite schiebt, im Gegenteil: Erst das Sich-Auseinandersetzen mit dem Negativen führt zu einem nicht entfremdeten, wahren Leben. Die folgende Aussage Hegels ist auf die überragende Kraft des Geistes bezogen, der sich in der Form der Dialektik auch mit allem Gegebenen, damit auch dem Negativen, auseinandersetzt. In seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1807) schreibt Hegel diese oft zitierten Sätze, die man gerade in Krisenzeiten – eher meditativ – lesen sollte:
„Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn (den Tod) erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist der Geist nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht … Sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Auge schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es (das Negative) in das Sein umkehrt“. (zit. in der Vorrede der „Phänomenologie des Geistes“. In der Ullstein Ausgabe, S. 29)
16.
Hegel und die Philosophie der (Welt)-Geschichte
Auch bei diesem für Hegel sehr wichtigen Thema zeigt er sich als anspruchsvoller und eigenwilliger Denker, der meint, „das Ganze“, eben auch das der Geschichte, begreifen, auf den Begriff bringen zu können, und zwar hinsichtlich der Frage: “Hat die Weltgeschichte ein Ziel? Und hat Weltgeschichte einen Sinn?“
Diese Frage kann vielen obsolet erscheinen angesichts aller Katastrophen in der näheren Vergangenheit und Gegenwart (Kriege, Holocaust, Kolonialismus und Sklaverei einst und heute, Seuchen etc.). Da weigern sich viele, in dieser Geschichte der Menschheit noch einen Sinn oder gar ein „gutes Ziel“ zu sehen. Sie geben sich im Denken der Verzweiflung hin oder schließen sich in einen Agnostizismus ein. Die Frage ist nur, die sich auch Hegel stellte: Wer für den Gang der Geschichte einen Sinn ausschließt: Kann der oder die diesen Sinn noch in dem kleinen individuellen Leben sehen, wenn ringsum nur Unsinn ist? Ist dieses individuelle Leben doch auch eingefügt in den Gang der Weltgeschichte. Und die agnostische Haltung „ich weiss es nicht“ hätte Hegel als falsche Bescheidenheit, wenn nicht als resignative Denk/Lebens-Haltung interpretiert. So ist Hegels Philosophie der Weltgeschichte eine bis heute zu recht heftig diskutierte These bzw. Erkenntnis, aber die Debatte darüber lohnt immer! Der einzelne, auch der Leidende, der Ermordete hat ja als einzelner Anteil am göttlichen Leben. Dies ist keine fromme Vertröstung, sondern ein letzter Trost, der bleibt, wenn alle sozialen und politischen Versagen. Hegel sah also die wesentliche Struktur des einzelnen wie auch parallel dzu den großen Gang der Weltgeschichte zu einem besseren Wissen von der Freiheit. Der einzelne muss als endlicher Mensch in diesem großen, mühevollen und leidvollen Gang der Weltgeschichte verschwinden, er verschwindet aber nicht in dem Aufgehobensein in einem Ewigen.
Hegel betonte: Die Weltgeschichte ist der langsame, mühevolle und schmerzliche Prozess, in dem das menschliche Bewusstsein zu einem immer weiter reflektierten, „präzisen“ Wissen von der Freiheit des Geistes gelangt. Diese stufenweise Entwicklung des Wissens von der Freiheit wird von Hegel plausibel gezeigt: Die Griechen im Stadtstadt Athen waren überzeugt: Nur einige Männer sind frei. Im Mittelalter waren es die Feudalherren und die Kleriker, mit der Aufklärungszeit und der allgemeinen Bildung wussten dann immer mehr, wenn nicht gar alle Menschen (in bestummten Gegenden Europas), dass sie frei sind. Heute, um den Gedanken über Hegel hinaus zuführen, wissen selbst Menschen in Diktaturen, wie China, dass es eigentlich dem Wesen des Menschen entsprechend wäre, wenn nicht eine einzige Partei, sondern viele demokratische Parteien in einer Demokratie China regieren würden.
(Siehe die Debatte zur Philosophie der Weltgeschichte: http://werkstatt.hegel.net/index.php/Weltgeschichte_als_Fortschritt_im_Bewusstsein_der_Freiheit#was_ist_der_Status_von_Weltgeschichte_innerhalb_von_Hegels_System.3F_.28KF.29)
Hegels Philosophie der Weltgeschichte ist ein von logischen Schritten, um nicht zu sagen, logischen Zwängen bestimmter Stufengang zum immer tiefer reflektierten Bewusstsein der Freiheit. Dabei kommt diese Philosophie nicht ohne gewisse Hilfskonstruktionen aus: Denn es bleiben auch gewisse Regionen der Welt trotz allgemeinen Fortschritts noch rückständig. Und den wahren Sprung zu besserer Bewusstheit zu vollziehen, kümmerten sich berühmte große Männer um einen Sprung nach vorn: Deswegen verwendet Hegel (wohl von Adam Smith inspiriert) den Begriff der „List der Vernunft“: Diese List hilft wie die „unsichtbare Hand“ oder wie theologisch formuliert die „göttliche Vorsehung“ der Weltgeschichte „weiter“ auf ihrem Weg zur tiefen Erkenntnis der Freiheit…
Hegel kann nur die schon geschehene Geschichte auf seinen Begriff bringen, Voraussagen zur Zukunft etwa der Staatenwelten kann er nicht machen.
Noch einmal: Es wurde zurecht kritisch bemerkt, dass das Leben des einzelnen Menschen, also auch des so genannten einfachen, normalen Menschen, in dem Gang der Geschichte für den Philosophen Hegel eigentlich wertlos ist. Laszlo Földenyi hat in seinem kleinen Essay „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ (Berlin, 2008) gezeigt, wie sehr der russische Dichter von Hegels Philosophie der Weltgeschichte empört war. Weil in dieser Philosophie das unsägliche Leiden in den russischen Lagern überhaupt nicht erklärt werden kann, das individuelle Leiden – auch Dostojewskis – verschwinde förmlich hinter allgemeinen philosophischen Prinzipien.
Dabei aber erinnert Földenyi selbst daran, dass einzelne Intellektuelle, auch Dostojewski, trotz aller Widerwärtigkeiten im sibirischen Lager dann doch – wenigstens im Rückblick – zu tieferer Selbsterkenntnis gelangten (siehe Seite 44 f). In „Schuld und Sühne“, so der Földenyi, habe Raskolnikow im Lager „die Geschichte einer allgemeinen Wiedergeburt erlebt“ (S. 45). Damit werden die Lager überhaupt nicht zu humanen Sehnsuchtsorten hoch gespielt! Aber gemeint ist doch auch hier: Das Negative kann zu neuen positiven Erkenntnissen führen. Damit sind wir wieder bei Hegels Deutung des Negativen!
17.
Hegel und die Religionen, vor allem das Christentum
Hegel hält in Berlin mehrfach Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Das ist ihm wichtig, weil er genau weiß, dass so viele seiner Zeitgenossen behaupten, man könne Gott nicht erkennen. Gott sei bestenfalls in Gefühlen irgendwie zu spüren! Dagegen argumentiert Hegel. Ohne Reflexion und Vernunft kein Glaube, der des Menschen als eines geistvollen Wesens würdig sein sollte.
Die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist in mehrfacher Hinsicht aktuell und relevant: Das will ich zunächst an Hegels Interpretation des Katholizismus und des Protestantismus zeigen:
Für Hegel ist der Katholizismus wesentlich mit dem Mittelalter und seiner feudalen Ordnung verbunden. Im Katholizismus bestimmt der Klerus alles! Das Volk, die Laien, müssen gehorchen. Die Gelübde der Mönche gelten als besonders erstrebenswert, wenn nicht heilig: Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam sind wichtiger als die „bürgerlichen Tugenden“ des Familienlebens, des Fleißes und erfolgreichen Wirtschaftens und der demokratischen Mitsprache. Im Katholizismus insgesamt gibt es für Hegel nur das Verhältnis von „Herren und Knechten“. Davon sprach er noch in seiner Rede 1830 zum Jubiläum der „Augsburgischen Konfession“.
Er kritisiert ferner die völlig veräußerliche katholische Frömmigkeit, etwa die Wallfahrten, die Heiligenkulte, den Wunderglauben mit einem entsprechenden Glauben an Magie, Wunder-Wasser, Stigmatisierungen usw.
Hingegen sah Hegel, dass in der Reformation Martin Luthers diese verheerende Bevorzugung der Werte des Mönchslebens abgeschafft wurde. Durch Luther wurde auch religiös eine neue Zuversicht der Weltgestaltung und Bildung aller eröffnet. Die Reformation ist für Hegel eine kaum zu überschätzendes historische Wende. Dabei sieht er aber auch, dass sich im Laufe der Zeiten auch die protestantische Theologie dogmatisch verschloss oder der Gefühlsduselei hingab. Schlimm ist für Hegel vor allem, dass die Protestanten die Philosophie verachteten und alles selbständige Erkennen Gottes um der Dominanz der Gnade willen ablehnten. Deswegen fand er bestimmte Traditionen im Katholizismus, etwa eine gewisse Pflege philosophischer Schulung, noch wertvoller. Und darum auch die Anerkennung Hegels für den katholischen Mystiker Meister Eckart, einen Dominikaner-Mönch: Weil er schon im 14. Jahrhundert vom „göttlichen Funken, dem ewigen Licht im Menschen“ sprach: Genau das ist auch eine Erkenntnis, die Hegel unbedingt verteidigt hat.
18.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie muss weiter diskutiert werden. Hat doch der große Hegel-Spezialist Michael Theunissen in seiner großen Studie „Hegels Lehre vom absoluten Geist“ (1970) betont: Es gibt bei dem Thema bei Hegel einen Übergang von Theologie zu Philosophie, und von Philosophie zur theologie: Weil Hegel insgesamt das historische Ereignis der „Menschwerdung Gottes in Jesus“ als Ausdruck der Geistesgeschichte als philosophischen Ausgangspunkt nehmen kann. (Vgl. auch Hegel Bilanz, S. 36) „Als Philosophie, die die Menschwerdung Gottes bedenkt, ist Hegels Denken nicht mehr Philosophie im traditionellen Sinne“, betont Theunissen (ebd. S. 37). Und Theunissen deutet diese Erweiterung religionsphilosophischen Denkens als ein positives Geschehen.
19.
Wichtig bleiben einige Erkenntnisse der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gerade für aktuelle Debatten: Jedenfalls hat Theunissen recht, wenn er sagt: Tod und Auferstehung Jesu Christi sind für Hegel explizit zentrale philosophische Themen! Denn dabei handelt es sich um den Übergang vom Tod zu einer verwandelten Form des Lebens (Auferstehung), und darin zeigt sich die Lebendigkeit des Geistes: Zeigt sich doch die Negation (Tod) und die – kraft des göttlichen Geistes geleistete – Aufhebung des Negativen, also die Auferstehung (Theunissen, Hegel-Bilanz, S. 37). Hegel will also zentrale religiöse Themen, wie die Auferstehung Jesu Christi, aus dem Mysteriösen, dem Unerklärlichen befreien. Sie gehört zur allgemeinen Geschichte des Geistes! Dadurch glaubt Hegel, zentrale Aussagen des Christentums retten zu können. So kann er sagen: „Philosophie ist der wahre Gottesdienst“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Suhrkamp Ausgabe I, S. 28). Denn Religion ist für Hegel wesentlich Hingabe an Gott, auf ihn achten von ihm her leben und denken… und deswegen „Verzicht auf subjektive Einfälle und bloß subjektive Meinungen“ (ebd.). Und genau diese Leistung meint Hegel in seiner Philosophie vollbringen zu können! Siehe auch: https://hegel-system.de/de/v3323333gottesdienst-dueffel.htm
20.
Schwieriger wird es noch, wenn man sich fragt, wie Hegel Gott – wie oft formuliert – als das absolute Geheimnis gelten lassen kann oder gelten lassen will. In den „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, (Band 16, Suhrkamp, 208) : „Das Ich ist Wissen des unendlichen Inhalts (Gottes)“. „Es ist das Begreifen des göttlichen Inhalts“ (209).
In dieser Philosophie ist Gott kein Geheimnis, er wird gewusst. Aber: Diese Tatsache, das Eingebundensein des (menschlichen) Geistes in Gott, ist wohl selbst ein Geheimnis.
21.
Auch die Religionsgeschichte versteht Hegel als eine kontinuierliche Entwicklung hin zu immer besserem Verstehen des Göttlichen. Dies ist sicherlich eine problematische Sicht der Religionen, man könnte sie eurozentrisch nennen. Denn der Höhepunkt der Entwicklung der Religionen ist letztlich der Protestantismus. Dabei muss es Hegel philosophisch „verkraften“, dass der Islam irgendwie sein Fortschritts – Denken stört: Die gegenüber dem Christentum spätere Religion, der Islam, ist nicht unbedingt die wahre, die „entwickeltere“ und bessere, bloß sie später in der Weltgeschichte „stattfindet“. Hegel spricht, wie zu seiner Zeit offenbar üblich, von „Mohammedanismus“. Dieser ist, bezogen auf den einen, den abstrakt in weite Fern gesetzten EINEN Gott, eine weniger entwickelte Religion: Denn die absolute Konzentration auf den einen Gott vernichtet in Hegels Sicht alle Unterschiede, vertieft nicht die Selbstreflexion des Glaubenden in seiner Bezogenheit auf diesen Einen. Alle Weltlichkeit, so Hegel, „soll sich diesem Einen unterwerfen“ („Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“, Band IV., Meiner Verlag, S. 791). Daraus entsteht, so Hegel, ein Fanatismus (S. 790). Dennoch setzt Hegel in einer gewissen Kenntnis des Islam zu seiner Zeit auch voraus: Im Islam gebe es eine beachtliche „poetische Anschauung“ (S. 794) sowie einen große Eifer in den Studien der Wissenschaften. Hegel nennt ausdrücklich die kulturelle Blütezeit im muslimischen Spanien des 8. Jahrhunderts (S. 795). Allerdings, so meint er, sind diese Glanzleistungen nun nicht mehr zu spüren, so dass er 1830 behaupten kann: “Der Islam ist längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten“. Ob dieses Urteil auch 1830 richtig war, mögen Historiker beurteilen.
22.
Diese Hinweise zu Hegel haben nicht von seiner Lehre vom Staat und dem Recht und damit der Ethik gesprochen, umstrittene Themen in der Forschung. Nur so viel am Rande: Über die Interpretation von Hegels Staatsverständnis durch den Philosophen Karl Raimund Popper („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) schreibt der Hegel Spezialist Klaus Vieweg in seiner umfangreichen Studie (a.a.O, S. 23) nur kurz und bündig: „Karl Raimund Popper verunglimpfte Hegel in perfider und von jeder Sachlichkeit freien Weise als Vordenker des Totalitarismus“. Klaus Vieweg schreibt u.a bezogen auf diese bis heute weit verbreitete Fehlinterpretation: „Hegel wendet sich dezidiert gegen einen Staat der totalen Kontrolle und Regulierung, gegen die Gängelung von Genossenschaften, Vereinen und Gemeinden, gegen Behinderung der Selbstverwaltung und der Subsidiarität…Er lehnt ein Staatsmodell der Regelungswut, des Kontrollwahns und totaler Überwachung ab…“ (S. 531).

Kritisch muss bemerkt werden, dass Hegels Denken die Natur fast immer nur in ihrer Verbundenheit mit dem erkennenden und praktisch – handelnden Menschen sieht. Von Pflege der Nachhaltigkeit der Natur ist so gut wie keine Rede. Hegel war eingebunden in den Beginn der Industrialisierung, also auch der systematischen Natur – Vernichtung.

Und diskutiert werden sollte die Frage: Lässt sich Philosophieren und Philosophien überhaupt (heute) als System realisieren? Ist das Denken nicht immer über jedes Eingesetztsein oder besser Eingesperrtsein in ein System hinaus? Hier müsste man mit der Kritik des Philosophen Heinrich Rombach am System-Denken einsteigen, die er in seinem Buch „Strukturanthropologie“ (zugunsten der immer flexiblen Strukturen, gegen die letztlich starren Systeme) entwickelt hat. Wie kann es „Hegel“ ohne System noch geben? Dies ist ein anderes Thema.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Die Pest“ von Albert Camus: Eine Lektüre-Empfehlung in Zeiten des „Corona-Virus“.

Ein Hinweis von Christian Modehn

In Zeiten des Corona-Virus hilft gegen die Angst auch das Lesen. Und mit dem Lesen auch das Nachdenken. Dabei werden alte, ältere, Texte wiederentdeckt: Zum Beispiel: Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus. Mit der „klassischen“ Pest hat die Corona Pandemie nicht alles gemeinsam. Corona ist sozusagen universal, auch wenn alle Staaten ihre Grenzen schließen; die Hilflosigkeit in den Kliniken ist auch Ausdruck für das total privatisierte Krankenhauswesen, einzig auf Gewinn konzipiert. Wird sich das ändern?

Aber die „Pest“, geschrieben in den Jahren 1940, wie auch das Corona Virus heute, verlangen ein neues, bislang nicht sehr eingeübtes menschliches, nicht-egoistisches Verhalten: Nämlich Solidarität; Entschlossenheit, die Vernunft herrschen zu lassen; sowie Dankbarkeit gegenüber allen ÄrztInnen, PflegerInnen, die ihr Bestes geben.

Warum also noch einmal, oder vielleicht auch zum ersten Mal, „Die Pest“ von Albert Camus lesen? Diesen Roman, der 1947 in Paris erschienen ist, und inzwischen in 30 Sprachen übersetzt wurde, diesen Roman, der geschaffen wurde nach Jahre langen Arbeiten des Autors. „Die Pest“ ist ein Plädoyer für die Humanität, die Mitmenschlichkeit, die dem Furchtbaren trotzt. Ein Roman der Hoffnung, trotz der Katastrophe. Der Roman spricht vor allem vom Kampf des Arztes Dr. Rieux in der algerischen Stadt Oran gegen die Pest: Wie die Bewohner wegen der Pest als „Geisel“ eingeschlossen sind, wie sie sich deswegen nur um sich selbst drehen, wie förmlich für sie eine andere, eine nur für sie erlebte Zeit beginnt, losgelöst von der allgemeinen chronologischen Zeit der Daten, Tage, Monate. Aber der Roman hat eine Botschaft: Das total Negative, die Pest, kann medizinisch zwar nicht überwunden werden – aber im solidarischen Handeln doch letztlich besiegt werden. Die Pest verschwindet dann tatsächlich nach etlichen Monaten wieder aus Oran. Aber alle wissen. Sie kann auch wieder auftreten.

Für Camus hatte der Roman auch eine politische Bedeutung: Denn er wusste, die Pest galt damals in dem von Deutschen, von Nazis, besetzten Frankreich, als die „braune Pest“, die es mit allen Mitteln des Widerstandes zu überwinden galt.

Wichtig ist, dass der entscheidende Held, der Arzt Dr. Bernard Rieux, sich als Atheist versteht. Er ist der bescheidene, aber immer in seiner Menschlichkeit großzügige „Held“, bestimmt vom Geist der Toleranz.

Was religionsphilosophisch hoch interessant ist: Camus führt in den Roman auch den Jesuiten-Priester Paneloux ein: Zuerst ist er mit der alten klassischen, menschenfeindlichen Ideologie verbunden: Die Pest sei eine Strafe Gottes für die vielen Sünden der vielen Sünder, betont er in seinen ersten Predigten. Aber im Kontakt mit Kranken, vor allem in Verbindung mit Dr. Rieux und seinen Freunden, verändert sich der Jesuit. Von Strafe Gottes ist nun keine Rede mehr in seinen Predigten, sondern von der Anerkenntnis: Diese Pest kann man, auch religiös gesehen, einfach nicht verstehen. Da kommt die Theologie an ein Ende. Der Priester leidet eines Tages selbst an den Symptomen der Pest, er weigert sich, medizinisch behandelt zu werden und stirbt als ein „cas douteux“, wie es heißt, als ein „zweifelhafter Fall der Medizin“. Der Jesuit nimmt also diese unvollkommene Welt an, so wie sie ist, auch mit dieser Pest: Anders als Dr. Rieux, der gegen diese Welt revoltiert. Aber Camus ist überzeugt, dass beide, Dr. Rieux und Pater Paneloux, auf ihre berechtigte Weise mit der „Pest“ umgehen und ihr standhalten wollen. Revolte und eingestandenes Nichtwissen in metaphysischen Fragen gehören für Camus zusammen.

Wichtig ist auch die Gestalt des Journalisten Raymond Rambert: Er sieht sich plötzlich in Oran eingeschlossen, versucht alles, um zu entkommen, weil er seine Frau in Paris wieder sehen muss! Als es kein Entkommen aus der Stadt gibt, schließt er sich den Helfern an, die die Kranken betreuen. Mit anderen Worten: Aus einem eher egoistischen Typen wird ein solidarischer Mensch. Rambert hat in der Sicht von Camus das menschliche Maß wieder gefunden. Rambert wird förmlich belohnt, wenn er nach der Pest seine Frau wieder findet.

Camus hat als Autor, hat als Philosoph, eine Botschaft: Aus Menschen können und sollten Mitmenschen werden. Solidarische Menschen.

Camus war kein militanter Atheist. Er war ein toleranter Humanist.

Dieser Hinweis als Lektüreempfehlung kann natürlich nicht die Lektüre des Romas „Die Pest“ ersetzen.

Wenn Sie sich für religionsphilosophische Aspekte im Werk von Albert Camus interessieren, dann lesen Sie etwa meinen Hinweis „Ein Atheist aus göttlicher Gnade“, bitte hier klicken, und meinen Beitrag über den ungewöhnlichen, humanen Glauben von Albert Camus. Klicken Sie hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Apokalypse des Johannes: Unsinn und Sinn. Grenzen und Größe.

Der religionsphilosophische Salon am 22. 11. 2019
Hinweise von Christian Modehn

1.
Die Begriffe „apokalyptisch“ und „Apokalypse“ sind jetzt en vogue. Man möchte meinen: Es sei beinahe chic, in einer um sich greifenden depressiven Stimmung des Untergangs, diese Worte zu verwenden. Als Bewertung des „Endzustandes“ unserer Welt.

Philosophisch ist es wichtig, modische Begriffe, wie das Apokalyptische, gerade wenn sie aus dem religiösen Bereich stammen, zu verstehen und zu hinterfragen.
Die vielen heftigen Schreckensbilder, die das Buch der Apokalypse des Johannes im Neuen Testament schon der oberflächlichen Lektüre bereit stellt, werden heute bewusst oder unbewusst sehr breit rezipiert: Und es sind nur diese wilden und wüsten Bilder der Welt-Zerstörung, die aus dem gesamten Text der Johannes-Apokalypse förmlich heraus gebrochen werden. Sie werden als (aus dem Gesamt-Text isoliertes „Horror-Material“) zur Illustration der eigenen aktuellen Meinungen verwendet und ersetzen als Bilder oft die genaue Analyse der Verhältnisse.
Z.B:.In Venedig war angesichts der riesigen Überschwemmungen im November 2019 von Apokalypse die Rede. Dabei war die Nachlässigkeit der Menschen auch Schuld an dieser angekündigten Katastrophe. Apokalyptisch soll das (offenbar) gar nicht mehr zu stoppende „Bevölkerungswachstum“ sein. Der Umgang mit der Atomkraft, den Endlagern, vor allem mit den Atomwaffen ist zweifelsfrei apokalyptisch. In Brasilien sind die ständig brennenden und gerodeten Urwälder am Amazonas, zugelassen von dem rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro, eine aus Geldgier geschaffene Apokalypse. Bolsorano ist ein enger Freund von Mister Trump.

2.
Apokalypse wird heute populär verstanden als Untergang, als Katastrophe, und damit als totale Hilflosigkeit, als absolutes Ende der Welt.
Wer dem Reden von Apokalypse in dieser Weise folgt, will die Propaganda verbreiten: „Es gibt eigentlich keine Alternative mehr“. Im Bild gesprochen: Die Welt rast förmlich gegen eine unbezwingbare Mauer. Dann ist totales Ende. Dann ist definitiv Schluss mit allem und allen. Danach kommt nichts mehr. Keine gerechtere Gesellschaft, erst recht kein Himmel, keine Transzendenz. Dieses Verständnis von Apokalypse passt sehr gut in die vorherrschende, populäre, philosophische Mentalität, die da überzeugt ist: Der Mensch ist in eine totale Endlichkeit eingeschlossen, er ist ein Wesen ohne Transzendenz, der menschliche Geist hat nicht mehr mit „Ewigem“, Göttlichen, Messianischen zu tun.

3.
Im Text der Johannes-Apokalypse wird eine ganz andere Vorstellung vom endgültigen Ende vorgeschlagen: Der Prophet Johannes will die Einsicht verbreiten: Es ist allein eine transzendente Realität, die wir kurz gefasst Gott nennen, der das Ende der Welt bereitet. Aber dieses Ende der Welt ist nicht das definitive Aus: Es ist nur der Übergang in einen „neuen Himmel und eine neue Erde“.
Dieser Vorschlag, „es wird einen neuen Himmel und eine neue Erde geben“, stammt zwar aus „alter Zeit“ (aus dem Jahr 95 n. Chr.). Aber ist er deswegen veraltet? Wer sagt denn, dass die gegenteilige Meinung wahr ist: Nach dem Ende dieser Welt sei alles „aus“, finito, basta, Ende…Diese Überzeugung ist bekanntlich nichts als eine Glaubenshaltung, alles andere als Wissenschaft. Und es müsste diskutiert werden, wie sich die Spuren des Ewigen, der neuen Erde und des neuen Himmels, im Selbstbewusstsein der Menschen und deren ethischer Praxis zeigen. Von der Hoffnung und der Bedeutung der Utopie wäre auch zu reden, um mit der Glaubenshaltung „Mit dem Ende der Welt ist alles total zu Ende“ in ein tieferes Gespräch zu kommen.

4.
Es muss noch zu Beginn dieser Überlegungen an die unübersehbare Vielfalt der Rezeption der Johannes-Apokalypse im NT erinnert werden:
Nur einige, eher beliebig ausgewählte Beispiele:
Die „Apokalypse von Angers“, dargestellt an den riesigen Wandteppichen.
Die „Antichrist-Darstellung“ im Dom von Orvieto, Italien.
In der Kathedrale von Autun in Burgund zeigt das Tympanon das Jüngste Gericht des Meisters Gislebertus.
In der Literatur:
Man denke an die Tragödie (in 5 Akten und 220 Szenen !) von Karl Kraus mit dem Titel: „Die letzten Tage der Menschheit“,
Das Drama endet in einer apokalyptischen Szene, es ist die Auslöschung der Menschheit. Der letzte Satz wird von Gott gesprochen: „Ich habe es nicht gewollt“. Dies wohl als eine Anspielung auf ein gleich lautendes Statement von Kaiser Wilhelm II.
Günter Anders: „Die Antiquiertheit des Menschen“.
„Der Name der Rose“ von Umberto Eco.
In der Musik:
Einmal ganz abgesehen von den Requien und dem „Dies Irae“:
Man denke an die 6. Sinfonie von Gustav Mahler „mit ihrer apokalyptischen Grundstimmung“.
Man denke auch an den großen Film: „Apokalypse now“ von Coppola. Auf die vielen „Horrorfilme“ will ich nur hinweisen: Sie zeigen das Abscheuliche, wie es in die bürgerliche Welt einbricht, und wie die Katastrophe übelster Art dann am Ende steht.
5.
Zum Text der Apokalypse des Johannes im NT einige Hinweise:

Apokalyptisches Denken bezieht sich grundlegend auf den Glauben der ersten Christen. Sie waren nach dem Tod Jesu von Nazareth überzeugt: Dieser Jesus lebt unter uns auf neue Weise „anders“ weiter, sie nannten diese Erfahrung: Auferstehung Jesu. Und dieser „auferstandene Lebendige“ wird wieder kommen auf diese Erde, um die Gläubigen in die Auferstehung, also das nicht mehr endliche, das ewige Leben zu geleiten.
Diese Erwartung des wiederkehrenden Jesus ist prägend bis ins Jahr 95, als der Autor Johannes auf Patmos seinen Text schrieb. Im heutigen Erleben der meisten Christen und ihrer Theologie spielt diese „Naherwartung“ des bald wiederkommenden auferstandenen Jesus Christus keine große Rolle mehr. Man glaubt an eine allgemeine Auferstehung, hält sich aber vernünftigerweise mit Detail-Beschreibungen zurück.
Die Apokalypse des Johannes ist ein Text, eine Predigt, ein Brief, eine Prophetie, wie auch immer: Darin wird den von Verfolgung durch den römischen Staat bedrängten Christen gesagt: Ihr seid „letztlich“ geborgen in dem lebendigen Jesus Christus. Ihr seid, modern formuliert, trotz aller Leiden getragen von einem positiven Sinn-Grund. Ihr seid bestimmt von einer Hoffnung auf eine gerechte Erde und einen neuen Himmel, diese Hoffnung ist größer als alles Leiden unter dem römischen Imperium.
Der Text der Apokalypse will also vor allem betonen: Die göttlichen Kräfte sind stärker als das brutale Imperium mit seinen Allmachtsansprüchen und seiner religiösen Intoleranz gegenüber der Minderheit der Christen.
Insofern ist das Buch Apokalypse des Johannes auch ein politischer Text: Ein Text des Protestes, der Freilegung der imperialen Macht Roms. Und in der Weise wird er vor allem in Lateinamerika heute unter Befreiungstheologen gelesen: Das Imperium der Diktatoren, auch das Imperium des neoliberalen Systems, auch das Imperium der USA, haben nicht das letzte Wort.

6.
Aber ob man diesen Text des Propheten Johannes einen Text des Widerstandes nennen sollte, ist meines Erachtens falsch. Widerstand ist aktives Handeln gegen ein Unrechtsregime, dazu waren die wenigen verfolgten Christen in Kleinasien gar nicht in der Lage. Sie konnten von Johannes, dem Autor des Briefes, der sich an sie wendet, nur zum Durchhalten aufgefordert werden, ja auch zum Erleiden, zum Tod. Diese Empfehlung ist keine Aufforderung zum Widerstand.
Die Apokalypse des Johannes bedeutet also Freilegung, Offenbarung, Entbergung der wahren Verhältnisse inmitten des Imperiums Rom. Das ist die formale Seite.
Aber diese Freilegung geschieht in einer Sprache, die unglaublich verschlüsselt ist und geheimnisvoll, nur für Insider damals verständlich, um die Gemeinden in Kleinasien, also der heutigen westlichen Türkei, zu schützen vor dem Zugriff des Imperiums der Kaiser in Rom.

7.
Aber das ist entscheidend: Das Buch der Apokalypse ist ein Buch für eine ganz bestimmte Zeit, für ganz bestimmte Leute, die sich zudem auskannten in Symbolen etc. Die Aussagen der Apokalypse, vor allem ihre Aufforderung, mit Zahlen und Daten zu arbeiten, um irgendwelche historischen Berechnungen des Endes und der Erretteten zu erreichen, sind zeitgebunden. Den Fehler des unmittelbaren Verstehens der Apokalypse im wortwörtlichen Sinne begehen religiöse Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas, die Mormonen, die Adventisten und andere…Sie müssen ständig die von ihnen berechneten Daten des Weltuntergangs korrigieren und verzichten nun angesichts der falschen Ankündigungen überhaupt auf Datenberechnungen des Untergangs, insofern haben diese Gemeinschaften doch einen Teil der vernünftigen Reflexion in ihre Spiritualität übernommen… Nebenbei: Auch in der katholischen Kirche gibt es Orte und Gruppen, die stark im apokalyptischen Denken verwurzelt sind, also in der Vorstellung, bald droht das Ende, und so werden Drohungen an die Menschheit verbreitet: Etwa im Wallfahrtstort Fatima, Portugal, oder im Wallfahrtsort La Salette, Frankreich; oder es gibt Gruppen, wie das katholische „Engelwerk“ und den Kreuzorden, die immer an einem Verbot durch den Vatikan vorbei „geschrammt“ sind…

8.
Warum finde ich den Text „Apokalypse des Johannes“ im NT problematisch?
Der Text enthält seitenweise Bilder des Schreckens, die mit einer Symbolik arbeiten, die heute kein Leser versteht. Das heißt: Dieses Buch der Bibel ist ohne einen dicken Kommentar gar nicht zu verstehen. Das mag für andere Texte des NT auch gelten, aber da sind doch auch Erzählungen enthalten, wie die vielen schönen Gleichnis Reden Jesu, die sich einem unmittelbaren Verstehen erschließen.
Die Apokalypse des Johannes hingegen ist hoch komplex, und manche Symbole, wie die Zahl 666 im Buch, ist selbst für gediegene Forscher, wie die Bibelwissenschaftlerin Prof. Schüssler Fiorenza, nicht mehr „entzifferbar“.
Aber das ist noch das geringste Problem, das ich mit dem Text habe:
Das Denken des Autors Johannes ist von absoluten Gegensätzen geprägt: Es gibt die Guten und die Bösen, es gibt keine Mischformen: Es gibt die Hure Babylon, sie steht der heiligen Stadt Jerusalem gegenüber.
In den 7 Gemeinden in Kleinasien, an die sich Johannes mit seinem Brief wendet, gibt es unterschiedlichen Formen im Umgang mit der römischen Herrschaft: Aber da duldet der Autor keine Kompromisse: Entweder sollen die Menschen heiß oder kalt sein, die Mischform lau wird nicht geduldet. Kompromisse sind ausgeschlossen. Abweichler vom offiziellen Glauben werden verdammt. Wer sich nicht verfolgen und töten lassen will vom Imperium, ist in der Sicht des Johannes kein guter Christ.

Immerhin gibt es in der Geschichte der Interpretation und Rezeption des 20. Kapitels der Johannes Apokalypse eine Möglichkeit, doch aktiv tätig zu werden: Da ist die Rede vom „1000jährigen Reich“. Der Engel Gottes wird Satan für 1000 Jahre wirkungslos machen. Dieses 1000jährige Reich wurde dann als die große Heilszeit gedacht. Die Gerechten stehen wieder auf aus dem Tod, es gibt ein neues Glück auf Erden. Das Tausendjährige Reich als Bild wurde dann auch wieder politisch missbraucht, wie überhaupt dieser mysteriöse Text der Apokalypse zu wilden Spekulationen Anlass bietet, die vielleicht in der Seele der Menschen ohnehin angelegte Ängste und Untergangsstimmungen bestätigt.
Schon die ersten Christen sahen das Buch der Johannes Apokalyse als problematisch an. Und sie wollten es nicht in den Kanon des NT aufnehmen. Noch im 3. Jahrhundert war man nicht bereit, die Apokalypse in den offiziellen Kanon aufzunehmen.!
Etwa im Jahr 367 wurde der NT-Kanon festgelegt. In der Ostkirche wurde die Apokalypse noch bis ins 17. Jahrhundert verworfen! (Dazu mehr bei Albert Schweitzer, „Werke aus dem Nachlass,“ Straßburger Vorlesungen).
9.
Es ist das Gottesbild des Buches der Apokalypse, das von mir abgelehnt wird: Gott kann fürchterlich und grausam auf dieser Welt agieren, ehe er für einige Erwählte die Rettung bringt. Und vor allem dies: Gott findet das meiste und die meisten in dieser seiner eigenen Schöpfung schlecht und zur Zerstörung bestimmt. Hat Gott also eine missratene Schöpfung geschaffen?
Erst eine totale Neuschöpfung mit dem Untergang der bösen alten Welt ist die Erlösung. Auch diese Vorstellung hat sich populär durchgesetzt, auch politisch bei Rechtsextremen, die erst nach einer totalen Zerstörung (dem Endkampf) das „Heil“ für möglich halten. Da sieht man die untergründigen Wirkungsgeschichten dieses biblischen Textes. Er stiftet auch politisch Verwirrung und lähmt viele Gutwillige Leute, noch aktiv vernünftig gestaltend zu handeln.
Also auch politisch wird das Buch der Apokalypse missbraucht: Etwa in der Rede vom Armageddon. Dazu gibt es massenhaft Bücher, vor allem in den USA. Die These der rechtsextremen Evangelikalen ist: Erst wenn Israel stark ist, kann der Messias kommen. Weil die vielen Feinde Israel, gerade weil es stark, zerstören werden. Dies gilt diesen Christen als der Beginn der Endzeit, bei der nur die bekehrten Juden Rettung finden….Man lese dazu die Studie des Religionswissenschaftlers Prof. Hans G. Kippenberg (Bremen-Erfurt) „Außenpolitik und heilsgeschichtlicher Schauplatz. Die USA im Nahostkonflikt“ in dem Buch „Apokalyptik und kein Ende“, Göttingen 2007, 7 Euro!) auf Seite 290 zitiert Kippenberg entsprechende kritische Äußerungen von jüdischen Forschern zu diesem sich pro-Israel gebenden Konzept, das tatsächlich aber verdeckt antisemitisch ist.
Man kann auch zur Erstinfirmation wikipedias Stichwort „Reich des Bösen“ lesen; darin wird u.a. deutlich: „Die verkaufsstarken Romane von Hal Lindsay oder Timothy LaHaye sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es den evangelikalen Eliten gelang, apokalyptische Vorstellungen aus den Kirchen in die Populärkultur zu transportieren. Lindsay verbreitete Anfang der 1970er Jahre sein Buch „The Late Planet Earth“ (Titel in deutscher Übersetzung von 1971: „Alter Planet Erde wohin? Im Vorfeld des Dritten Weltkrieges“), das bis 1990 in 91 Auflagen erschien, in Supermärkten und Flughäfen auslag, über 28 Millionen Mal verkauft wurde und bis in die höchsten Regierungskreise der Reagan-Administration Einfluss entfaltete.
Auch von Steve Bannon, Katholik und (EX)-Berater von Trump wäre zu reden, der meint, erst eine totale Zerstörung der Welt kann einen Neuanfang bringen….

10.
Die Apokalypse hat meiner Meinung nach mentale Schäden angerichtet. Und man hat auch heute oft den Eindruck, die Menschen befassten sich mehr mit der Apokalypse und ihren diffusen Bildern lieber als mit Bergpredigt und den Gleichnissen Jesu.
Mit dem Buch der Apokalypse lässt sich keine menschenfreundliche Spiritualität und Theologie gestalten. Von dem z.T. grausamen Gottesbild und der offenbar missratenen Schöpfung Gottes war schon die Rede.
Aktuell hat das Buch Apokalypse des Johannes keine größere Relevanz. Der Appel bis zum Tod durchzuhalten hat allenfalls für die wenigen Christen in Nordkorea Sinn.
Sonst sollten Christen wo auch immer zugunsten der Gerechtigkeit handeln und sich niemals einreden lassen „Es gibt keine Alternative“.

11.
Noch ein Hinweis zu den Christenverfolgungen in den ersten drei Jahrhunderten: Sie verliefen in unterschiedlichen Phasen von unterschiedlicher Grausamkeit.
Die Juden wurden im römischen Imperium nicht verfolgt, sie waren eine bekannte, „andere“, nicht heidnische, also monotheistische Religionsgemeinschaft.
Die ersten Christen waren noch Mitglieder der römischen Synagoge. Dann konnten Juden diese Gruppe der Christen in der Synagoge nicht mehr ertragen. Paulus selbst wurde im Jahr 53 aus der Synagoge in Ephesus rausgeschmissen und fand dann erfreulicherweise Zuflucht bei dem dortigen Philosophen Tyrannus und seiner Schule!
Der Staat sah also in den Christen zurecht eine eigenständige kleine, aber staatskritische religiöse Gruppe.
Der Text der Johannes-Apokalypse ist bezogen auf die Christenverfolgungen unter Kaiser Domitian, um 95. Und in Erinnerung an Kaiser Nero… Damals schon sagten Historiker: „Diese Christen sind gefährlich“. Das sagten Tacitus, auch Sueton, später auch Kelsus: Christen seien eine Stimme des Aufruhrs; Christen reißen sich von anderen Menschen los, machen nicht mit im „System“ der Herrschenden. Weil sie den Kaiser nicht für göttlich hielten, wuden die ersten Christen „atheoi“, also Atheisten, genannt. Ein hübscher, nachdenkenswerter Titel – auch heute? Gegen welche Götter sind denn heutige Christen? Ist z.B. die westliche Wachstumsideologie ein Gott, gegen Christen und Kirchen und Bischöfe entschieden kämpfen?

Aber interessant ist doch die Pluralität der Theologie schon in der frühen Kirche: Was hatte da doch Paulus in seinem Römerbrief etwa 30 Jahre vorher gesagt: «Jedermann ordne sich den staatlichen Behörden unter, die Macht über ihn haben. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben wäre, die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt.» (Römer 13, 1)
Diese Pluralität der Theologien ist bemerkenswert: Sie zeigt, wie unterschiedliche Theologen auf gegebene Verhältnisse reagieren…

12.
Für die eigene Lebensphilosophie bleibt angesichts dieser Überlegungen die Frage:
Gibt es auch eine persönliche, individuelle Apokalypse? Diese Frage wird vor allem deswegen interessant, wenn man den Begriff des Gerichts durch Gott in eine philosophische – anthropologische Überlegung übersetzt: Wie beurteile ich mich, durch mein Gewissen, durch meine Selbstkritik, wie beurteile ich mein Leben? Das muss ja nicht am Ende des Lebens geschehen. Es geschieht wahrscheinlich sowieso oft inmitten des Lebens, als Impuls zur Korrektur, zum neuen Beginnen und zum Eingeständnis von Schuld. Über diese Frage der individuellen Apokalypse als philosophisches Thema müsste weiter nachgedacht werden. Wahrscheinlich werden wir dabei nicht auf Einsichten von Immanuel Kant verzichten können.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die “Samtene Revolution” 1989 in der Tschechoslowakei: Nur noch eine ferne Erinnerung?

Gedenken (nicht nur) am 17. November 2019

Einige Hinweise von Christian Modehn

1. Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ lebt in der Dialektik: Religion und/contra/mit Philosophie. Diese beiden Wirklichkeiten gelten auch als Leitlinien für Fragen zur Geschichte, etwa zur „Samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei im November 1989.

2. Einige Hinweise zur Politik:
Am 17. November 1989 gab es in Prag eine Studentendemonstration, bei der einige Menschen von der Polizei verletzt wurden. Dieser Tag gilt als Start der „Samtenen, also gewaltfreien, Revolution“ dort. Der Protest gegen die Herrschaft der Kommunisten wurde dann täglich größer: Am 24. November 1989 versammelten sich 800.000 Menschen auf dem Wenzelplatz in Prag: Vaclav Havel und Alexander Dubcek standen auf dem Podium. Mit dabei auch der langjährige Dissident und katholische Priester Vaclav Maly. Diese drei Männer repräsentierten in diesem Moment in gewisser Weise einen Humanismus über alle konfessionellen Grenzen hinweg. Dass Vaclav Maly in einer Situation drohender Gewalt und der offensichtlichen Spaltung der Gesellschaft in Kommunisten bzw. Mitläufer und in Dissidenten auf dem Wenzelsplatz das „Vater Unser“ anstimmte und etliche dann doch mitsprachen, hat gezeigt: Ein uraltes Gebet, vielen dort noch bekannt, hat den Geist und die Seelen gestärkt, im Kampf um Demokratie nicht nachzulassen.

3. In diesen Tagen wird auch in Tschechien der Samtenen Revolution vor 30 Jahren gedacht. Diese droht aber allmählich in Vergessenheit zu geraten. Staatspräsident Milos Zeman hat nach eigenem Bekennen kein Interesse, dieses große und einschneidende Datum zu würdigen. Was hat er denn Wichtigeres zu tun? Zeman fällt doch immer wieder übel auf durch populistische und fremdenfeindliche Äußerungen. Trump ist sein Freund. Er ist bekannt für eine heftige Abwehr von Flüchtlingen. Und das sollte sich bald ändern!
Das erfolgreiche Aufbegehren so vieler Bürger für die Demokratie 1989 ist ihm offenbar peinlich. So viel Demokratie wollen Zeman und sein Ministerpräsident Andrej Babis ja nicht. Gegen den offenbar korrupten Ministerpräsidenten Babis protestierten im Juni 2019 mehrere hunderttausend Bürger auf dem Letna-Hügel in Prag. Zeman und Babis wollen nicht der jüngsten Aufforderung des Europäischen Gerichtshofes nachkommen, einige tausend Flüchtlinge in Tschechien aufzunehmen. In dieser Abwehr sind diese tschechischen Politiker in bester Gesellschaft mit den katholischen PIS Politikern in Polen und mit den Rechtspopulisten rund um Victor Orban in Ungarn.

4. Zur Religion:
Die „Tschechoslowakische Hussitische Kirche“ hat immerhin in ihrem Bistum Brünn schon vor fast zwei Jahren (am 1. Febr. 2018) eine Erklärung verabschiedet, der sich viele Pfarrer dieser Kirche angeschlossen haben. Darin kritisiert die sich auf den Reformator Jan Hus berufende protestantische Kirche: Dass ihr Staatspräsident Milos Zeman „sich unethisch verhält“: „Zeman und seine Unterstützer haben im Wahlkampf ohne zu zögern gegenüber dem Gegenkandidaten Jiri Drahos bewusste Lügen und Manipulation angewendet, um in der Gesellschaft insbesondere die Angst vor Immigranten zu schüren. Den Gebrauch solcher Methoden im politischen Kampf sehen wir als unethisch an“. Präsident Zeman will die Angst vor „den“ Muslims verbreiten, „er sieht in ihnen nur Gefahren“, so der hussitische Pfarrer Petr Sandera in einem Interview in Brünn am 17. Oktober 2019. Die Erklärung seiner Kirche fand, so Sandera, vor allem nur in der Kirchenpresse ein breiteres Echo. Auch in den Gemeinden sind nicht alle Mitglieder mit der kritischen Position ihrer Pfarrer und Kirchenleitung einverstanden, so Sandera.

Nebenbei: Die hussitische Kirche feiert im Jahr 2020 ihr 100 jähriges Jubiläum. Sie wurde als Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche gegründet, kennt keinen Zölibat der Priester, auch Frauen sind zum Pfarramt zugelassen. Wer befasst sich noch mit diesen frühen Versuchen, das Regime des römischen Katholizismus zu begrenzen? Dies gab ja auch auf den Philippinen. Am 1. Adventssonntag 2019 wird ein hussitischer Gottesdienst live im Fernsehen übertragen, berichtet Pfarrer Sandera. Und am 8.1.2010 findet ein Festgottesdienst in der Prager Nikolauskirche statt,. Sozusagen einer „zentralen Kirche“ dieser hussitischen Gemeinschaft. „Unsere Aufgabe ist es jetzt, das Christentum für die heutige Zeit neu zu übersetzen“, so Pfarrer Petr Sandera, de früher auch als Bischof in Brünn Verantwortung für die Kirche hatte. „Uns Tschechen fehlt die Erfahrung im Umgang mit anderen Kulturen. Wenn man sagt: Im Flüchtling, also im auch im Moslem, begegnet uns heute Jesus Christus, dann findet diese Überzeugung immer noch viel Ablehnung unter Christen“.

5.
Vaclav Maly, geboren 1950, ist einer der bekanntesten tschechischen Dissidenten, er unterzeichnete 1977 die „Charta 77“, er saß deswegen ein Jahr im Gefängnis; die Kommunisten untersagten ihm seine Tätigkeit als Pfarrer, er durfte nur noch Laternen anzünden in Pilsen… Inzwischen ist er „Hilfsbischof“ in Prag, sein bischöflicher Wahlspruch heißt „Demut und Wahrheit“. Dieses Motto erinnert an Vaclv Havels Grundsatz: „In der Wahrheit leben“. Aber nach Maly eben „bescheiden…“
Maly ist in Tschechien auch Autor bzw. Interviewpartner zahlreicher Bücher, die leider nicht ins Deutsche übersetzt wurden.
Im Radio CZ wurde er vor 5 Jahren nach seiner Einschätzung der Wende in der CSSR gefragt: „ Unsere Gesellschaft ist sehr passiv. Tschechen und Slowaken haben nicht um die Freiheit gekämpft – im Unterschied zu den Polen oder zu den Ungarn. Die Freiheit ist uns sozusagen in den Schoß gefallen. Das muss man aufrichtig zugeben. Deswegen wird die Freiheit nicht hoch geschätzt. Wir sagen manchmal, dass sie unser Verdienst sei, aber das stimmt nicht. Es ist vor allem ein Verdienst der Polen, der veränderten internationalen Lage und ein Verdienst der kleinen Gruppierungen, die vor der Wende in der ČSSR gewirkt haben. Das ist kein Lob oder Stolz, das ist die Konstatierung der Lage.“ Quelle.Radio CZ
https://www.radio.cz/de/rubrik/schauplatz/bischof-vaclav-maly-moderator-der-massendemonstrationen-von-1989
Und zur Verharmlosung der Mitgliedschaft in der tschechischen Stasi, dem StB in der heutigen Gesellschaft und im Staat, sagte Maly: „Es ist sehr schlimm, zu vergessen. Es geht mir nicht um Rache. Es geht nicht um Vergeltung. Aber ihre Taten waren schlimm und eine schlimme Tat muss man benennen. Das hilft auch in der Gegenwart. Vergessen ist kein guter Ratgeber. Darin steckt auch eine persönliche Entschuldigung der Mehrheit der Bevölkerung: ´Wir sind auch mitschuldig, also halten wir uns davon fern´.
„Malý besteht darauf, dass die Europäische Union ein Projekt für die Sicherheit und die Demokratie auch seines Landes ist. Mit seiner Forderung nach “einem offenen Herzen für Migranten”, steht er gegen die verbreitete öffentliche Meinung. “Wenn unsere Politiker sagen, wir verteidigen unseren Staat und deshalb wollen wir praktisch keinen Flüchtling”, dann nennt das der Bischof “eine Schande”. Regelmäßig besucht Malý, der an der Spitze der tschechischen Kommission von “Justitia et Pax” – Gerechtigkeit und Frieden – steht, Länder, in denen die Menschenrechte nicht respektiert werden, zuletzt Süd-Sudan und Sudan, Uganda und Indien. “Damals habe ich aus dem Westen selbst viel Hilfe und Solidarität erhalten. Heute gebe ich das zurück. Ich fühle mich verpflichtet, diese schikanierten und leidenden Menschen zu besuchen und sie zu ermutigen: Bitte, haltet aus! Ich bin kein Retter, nur ein ganz normaler tschechischer Bürger, der unterdrückt wurde und der weiß, was Kampf für Menschenrechte bedeutet. Ich besuche nicht nur Kirchen, sondern auch die Familien der politischen Gefangenen.” Quelle: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/prag-1968/274335/menschen-die-1968-praegte?p=all am 20.8. 2018
Inzwischen wurde gut dokumentiert, dass der heutige tschechische Ministerpräsidenten (und Multimillionär) Andrej Babis einst Mitglied in der tschechischen Staatssicherheit StB war, was Babis wie üblich in diesen Kreisen bestreitet. Außerdem ist er vielen Korruptionsvorwürfen ausgesetzt…Gegen ihn richtete sich die (hilflose) Wut der Bürger bei den Massenprotesten im Juni 2019. Babis ist immer noch an der Macht.
Vaclav Maly wurde im Radio gefragt, wie er denn besser für die strafrechtliche Verfolgung der Mitarbeiter der Staatssicherheit hätte sorgen können: „In den ersten Tagen (der samtenen Revolution) habe ich vor allem darauf gedrängt, dass diejenigen bestraft werden, die Verbrechen gegen die Humanität verübt hatten, die etwas Schlimmes gemacht hatten. Doch das ist nicht passiert. Dadurch wurde das Rechtsempfinden der Bevölkerung geschwächt. Das war einer der damaligen Hauptfehler. Dass etwa die Angehörigen des Geheimdienstes StB nicht bestraft wurden. Dabei gab es konkrete Beweise, dass sie inhuman gehandelt, Unschuldige verfolgt, schikaniert und geschlagen haben.“
Was werden die Veranstaltungen am 17. November 2019 in Prag, Pilsen und Brünn bringen? Es sind vor allem junge Leute, die sich aus der politischen Passivität befreien? Im Stadtviertel Albertov wird das Festival Studentský Albertov organisiert, es soll erinnern an den „Tag der Freiheit und Demokratie“ und den „Internationalen Tag der Studentenschaft“. Ein Programmhöhepunkt in Albertov ist die Rekonstruktion der Kundgebung im Jahr 1989.

6.
Wenn von Religion in Tschechien die Rede ist im Umfeld der Samtenen Revolution: Dann muss an die katholische Untergrundkirche zur Zeit des Kommunismus erinnert werden. Sie ist heute, 2019, schon weithin vergessen. Für dieses Vergessen hat auch der Vatikan nach 1989 gesorgt. Ihm war diese Untergrundkirche aus dogmatischen Gründen peinlich.
Der Kampf der tschechischen Kommunisten gegen die Katholische Kirche war grausamer als etwa in der DDR. Einige tschechoslowakische Katholiken wagten zur Rettung ihres Glaubens und der Kirche für katholische Verhältnisse Ungeheuerliches: Sie weihten Priester und Bischöfe, und dies ohne Zustimmung des Vatikans, der war ohnehin weit weg. Und sie weihten auch Frauen zu PriesterInnen. Nach dem Erfolg der Samtenen Revolution 1989 hatte die offizielle klerikale Kirche kein Interesse, diese mutigen katholischen PriesterInnen in die offizielle Kirche einzugliedern. Sie wurden verstoßen. Viele nachdenkliche Kritiker empfinden das als Skandal. Die Kirchenführung hatte viel mehr Interesse, um die Rückgabe ihrer uralten Besitzungen an Land, Wald, Häusern wieder zu kämpfen. Letztlich war Geld dem Klerus am wichtigsten. Dabei versäumte es die katholische Hierarchie, in neuer Sprache auf die vielen „unreligiösen“ Menschen zuzugehen. Die theologische Fakultät in Prag wurde zum Hort reaktionären Denkens. Man lese die entsprechende Kritik an diesen Zuständen in den Büchern des Priesters und Philosophen Tomas Halik. So etwa in dem Buch „Nachtgedanken eines Beichtvaters“ (Herder, 2012, S. 174f.). Die Theologische Fakultät „siechte“, so Halik, unter dem Druck eines kontra-aufklärerischen, vulgarisierten Neo-Thomismus vor sich hin“. Noch deutlicher sind die Äußerungen Haliks, dieses tschechischen Intellektuellen und katholischen Priesters, auf S. 224 dieses insgesamt lesenswerten Buches.

7.
PHILOSOPHIE:
Ich will hier nur erinnern an den großen Dissidenten, den leider in Deutschland nicht mehr sehr bekannten Philosophen Jan Patocka:Er, der internationale hoch geschätzte Philosoph, war ein Sprecher der Charta 77. Er wurde von den Kommunisten verhört und dabei „zu Tode verhört“. “Patocka stirbt nach mehreren Verhören durch die Staatspolizei an einem Hirnschlag. An seinem Begräbnis nehmen trotz Überwachung und Kontrolle durch die Staatssicherheit über 1000 Trauernde teil”…In einer der geheim gehaltenen Vorlesungen im Jahre 77 betonte er: “Wo ändern sich die Welt und die Geschichte? Im Innern, besser gesagt, im Leben des Einzelnen.”

Ich möchte auch hinweisen auf den sehr ungewöhnlichen marxistischen Philosophen Milan Machovec, der als Dissident innerhalb (!) des Prager Kommunismus/Stalinismus immer noch viel Beachtung verdient, zumal sein Buch: “Jesus für Atheisten”. Machovec war aktiv im christlich-marxistischen Dialog in den 1970 Jahren, zusammen mit dem katholischen Theologen Karl Rahner und Johann B. Metz.

Noch ein Hinweis auf die große Tradition philosophischen Denkens, die schon in der Gestalt Tomas Garrigue Masaryks sichtbar wird. Zu Masaryk, dem ersten Philosophen- Präsidenten der Republik, habe ich einige Hinweise notiert.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon, Berlin

Buchmesse: Norwegen – ein religiöses Land ? Über Edvard Munch und die lutherische Staatskirche.

Über den „Ehren-Gast“ der Buchmesse in Frankfurt 2019
Ein Hinweis von Christian Modehn

Wird man auf der Buchmesse auch explizit über Religion(en) in Norwegen sprechen? Der religionsphilosophische Salon Berlin kann hinsichtlich der eigenen Interessen nicht darauf verzichten: Und weist zur weiteren Diskussion auf einige interessante Fragen zu „Religion in Norwegen“ hin.

1.
Edvard Munch war nicht nur ein Interpret allgemein – menschlicher Ängste, sondern ein Künstler, der auch heute noch das „innere Leben“, die Ängste der Seele des heutigen Norwegen, d.h. der Norweger, zum Ausdruck bringt. Und dies trotz oder wegen des umfassenden Wohlfahrtssystems und der Ölmilliarden? Man denke an das Massaker auf der Insel Utoya, an den Massenmörder Anders Breivik und seine rassistische Ideologie; an die „Black-Metal-Jünger“ und ihren Nihilismus; an die Zerstörer, die Brandstifter von Kirchen vor einigen Jahren: Transparenz und Demokratie und Reichtum, „typisch norwegische Eigenschaften“, stehen im Schatten von Katastrophen. Wird die Lust an den stets zahlreicher werdenden norwegischen Kriminalromanen da hilfreich sein? Und: Falls die Welt einmal untergehen sollte, gibt es wenigstens in Nordnorwegen, in der Stadt Mo i Rana, eine umfassende und bleibende Sammlung von Literatur und Musik…

2.
Eine interessante These: Edvard Munch sah, „entdeckte“, schon die Klimakatastrophe. Lassen sich seine Gemälde mit dem Titel „Der Schrei“ nicht auch in der Hinsicht interpretieren? Für Munch ist die Landschaft ein Spiegel der gar nicht lebensfreundlichen, der unbehausten, der fremden (Um)Welt. „Der Schrei“, so sehr auch Ausdruck der Angst des einzelnen, findet vor einer unerträglich erlebten Landschaft statt. Diese ist förmlich selbst der Schrei: Die Umgebung, das Meer und der Himmel sind erfüllt vom Schrei. Munch schreibt: „Ich ging die Straße hinunter, als die Sonne unterging. Und sich der Himmel plötzlich blutrot färbte. Ich blieb stehen, lehnte mich todmüde an das Geländer… und ich fühlte, dass ein unendlicher Schrei durch die Natur ging.“ Der Freund Munchs, der Dichter August Strindberg, meint: Der Maler hörte den Schrei der Natur, „und des Entsetzens der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt durch Sturm und Donner zu den törichten kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen“.
Der Kunsthistoriker und Theologe Horst Schwebel betont: „Der Schrei“ (1893) ist das stärkste religiöse Bild des 19. Jahrhunderts“ (in: „Die Kunst und das Christentum“, Beck-Verlag, 2002, S. 90).

3.
Edvard Munch, geboren am 12. Dezember 1863, wächst bei seinem Vater in einem von Angst erfüllten pietistischen Glauben auf. Edvard wurde gleich nach der Geburt, wie man sagte, „notgetauft“, aus Angst, es könne sterben, ohne durch das Sakrament der Taufe von der Erbsünde befreit zu sein. Denn so meinten die lutherischen Pfarrer, ohne Taufe droht den Neugeborenen nach ihrem plötzlichen Tod eine Art Hölle. „Krankheit, Wahnsinn und Tod hielten wie schwarze Engel Wache an meiner Wiege. Sie haben mich mein ganzes Leben begleitet“, schreibt Edvard Munch. Die Mutter stirbt früh an Tuberkulose, sie hat einen Abschiedsbrief geschrieben, aus dem immer wieder den Kindern vorgelesen wird mit den schauerlichen Kommentaren: „Mutti hört im Himmel zu und beobachtet uns“.
Edvard Munch wächst in einem Christentum auf, in dem das ganze Leben von Angst zerfressen ist. Er selbst bleibt sein Leben lang davon seelisch belastet. Ein Mittel, die Angst zu bearbeiten, wird für ihn die Kunst. „Ebenso musste er den Tod malen, um persönliche böse Erinnerungen loszuwerden“, schreibt Ragna Stang in ihrem großen Buch „Edvard Munch – der Mensch und der Künstler“ (1979, Königstein im Taunus, S. 121).

4.
Sehr bekannt sind die fünf um 1894 entstandenen Gemälde mit dem Titel „Madonna“. Diese Madonna, wenn sie denn auch auf Maria, die Mutter Jesu, bezogen werden kann, könnte auch als eine Pietá interpretiert werden: Sie ist vom Leiden, vom Tod, gezeichnet, hat dabei aber auch eine erotische Ausstrahlung bewahrt. Auch die Madonna der Renaissance hat in ihrer blühenden Leiblichkeit erotische Züge. „Liebendes Weib“ nannte Munch diese Madonna, vielleicht ein Titel, der die Spannung zwischen Hingabe bis zum Tod andeuten will. Vielleicht auch ein Werk, das seinen eigenen starken erotischen Leidenschaften Ausdruck gibt. Eine Ausstellung seiner Bilder musste wegen der Proteste des angeblich moralischen Publikums geschlossen werden.

5.
Viermal (1893, 1895) hat Munch „Der Schrei“ gemalt, inzwischen längst eine Ikone, weltweit verbreitet und wie ein Kultbild verehrt und als Massenware missbraucht. Munchs seelisches Erleben und Erschaudern bleibt inspirierend bis heute. Sein Freund Janes Thiis hielt Munch für einen metaphysisch begabten Menschen: „Er gab in seiner Kunst Ausdruck vom Wunder des Lebens“. Munch selbst bekannte: „Gott ist in uns und wir leben innerhalb von Gott, einem ursprünglichen und originalen Licht von überall her“. Und er betonte: „Aus allen (meinen) Reden wird man sehen, dass ich ein Zweifler bin, aber niemals die Religion verleugne oder verspotte“ (ebd. S 123). Diese alle Dogmen der Kirche überwindende, mystische oder „pantheistische“ Spiritualität spricht in Munchs Werken. Sie ist ein Hoffnungsschimmer, auch in den Bildern der Verzweiflung.
1909 war Munch nach längeren Auslands-Aufenthalten, auch in Deutschland, vor allem Berlin, nach Norwegen zurück gekehrt.
Edvard Munch ist am 23. Januar 1944 auf Ekely/ Oslo gestorben.

6.
Die Staatskirche in Norwegen
Luthertum und Staatskirche haben sich historisch sehr oft als Einheit verschmolzen. In Norwegen wurde der lutherische Glaube den Menschen aufgezwungen, als das Land im Zuge der Reformation um 1550 Teil des dänischen Königreiches wurde. Das Kirchengut wurde vom dänischen König übernommen: Reformation war auch ein kommerzieller Gewinn. Die lutherische Kirche Norwegens wurde als „nationale Kirche“ offiziell Staatskirche mit dem König als dem Oberhaupt der Kirche!
Es gab lange mühsame Debatten über die Trennung von Kirche und Staat. Die synodalen (demokratischen) Strukturen der Kirchenleitung wurden erst langsam Realität, am 21.5. 2012 gab es eine Verfassungsänderung: Der König ist nicht mehr formelles Kirchenoberhaupt.
Ob diese Staatsnähe der Kirche auch verantwortlich ist für die zunehmende Entfremdung der Norweger von der lutherischen Kirche, wäre als These zu untersuchen: 2016 waren nur noch 73 % der Norweger Mitglieder der Kirche; am Sonntagsgottesdienst nehmen laut Angaben der Kirche selbst 2 bis 3 Prozent der Mitglieder teil. Nur 58 % der neugeborenen Kinder werden getauft. Ob sich junge Menschen auch eher abgestoßen fühlen von den immer noch starken pietistischen Kreisen, wäre ebenfalls zu untersuchen: Nur etwa die Hälfte der Jugendlichen wird konfirmiert. Siehe auch:
https://kirken.no/nb-NO/die-norwegische-kirche/
Die Sehnsucht nach Gemeinschaft auch außerhalb der Kirchengemeinden ist offenbar groß: Die eher atheistisch eingestellten „Humanisten“ Norwegens haben beachtlich viele Mitglieder: etwa 90.000!
Die religiöse, weltanschauliche Pluralität ist längst Tatsache: Es gibt eine Verbindung von „Extreme Metal“ und sich selbst explizit nennendem Heidentum. So wurden kleine germanisch-neuheidnische Gruppen von der Regierung als Glaubensgemeinschaft anerkannt: Etwa 1996 die Åsatrosamfundet Bifrost, sie kann rechtlich wirksame Zeremonien wie Eheschließungen abhalten.
Die katholische Kirche war bis zum Jahr 200 etwa eine kleine Minderheiten-Kirche, erst als viele (polnische) Arbeitsmigranten nach Norwegen kamen stieg die Zahl der Katholiken den Bischöfen zufolge rasant an: Die Bischöfe sprechen heute von 200.000 Katholiken in Norwegen. Es wurde der Vorwurf gemacht, die Katholiken manipulierten die Zahl der Katholiken in Norwegen, um auf diese Weise hohe staatliche Zahlungen zu erhalten, indem man kurzerhand Einwanderer automatisch als katholisch deklarierte. (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/norwegens-bischof-bernt-eidsvig-betrugsverdacht-13457343.html)

7.
Bischöfe im Widerstand
In der norwegischen lutherischen Staatskirche gab es rebellische Bischöfe: Im besetzten Norwegen herrschte seit 1940 eine pro-nazistische Regierung unter Ministerpräsident Vidkun Quisling. Er war mit dem dort tätigen NS „Reichskommissar“ Josef Terboven eng verbunden. Quisling war Führer der faschistischen norwegischen „Nasjonal Samling“.
Gegen die Praxis der Besatzungsmacht und gegen Quilsling und seine Nazis traten am 1. März 1942 alle sieben Bischöfe der lutherischen Staatskirche zurück. D.h.: Sie blieben zwar geistliche Leiter ihrer Kirche, hatten aber keine amtlichen, sozusagen politischen Funktionen innerhalb der Staatskirche. Dies war vielleicht schon eine kurzzeitige, vorweggenommene Trennung von Kirche und Staat! Dabei hatten kirchliche Kreise die Partei von Quisling bis 1935 durchaus unterstützt, sie war nationalistisch und antikommunistisch.
Am 2. April 1942 wurde der Bischof von Oslo, Eivind Berggrav, von der Nazi-Regierung unter Hausarrest gestellt. Darauf legten auch die meisten Pfarrer in Verbundenheit mit ihrem Bischof und im Protest gegen die Nazis ihre offiziellen, staatsbezogenen Ämter nieder. Weite Teile der norwegischen Kirche verweigerten sich der Besatzungsmacht und „waren zu Streik und Sabotageaktionen bis hin zu direktem Widerstand bereit“ (Sabine Dramm, Orientierung Zürich, 2005, Seite 165). Der berühmte deutsche Theologe und Nazi-Feind Dietrich Bonhoeffer besuchte Mitte April 1942 Oslo, er hatte auch Kontakte zu der rebellischen Kirchenführung! Bischof Berggrav hatte schon 1941 zu zivilem Ungehorsam aufgerufen!
Bonhoeffer ermunterte die Christen, ihre Pfarrer und Bischöfe weiterhin zum Widerstand. „Er dürfte sich an seine eigenen – vergeblichen Hoffnungen auf Pfarrerstreik und Amtsniederlegungen vor neun Jahren (1933) in Deutschland erinnert haben. In jedem Fall versuchte er, die norwegischen Protestanten zu überzeugen, in ihrem Protest nicht nachzulassen und den neuen Weg, die sie eingeschlagen hatten, nicht gegen einen glatteren, gefügigeren preiszugeben“. (Sabine Dramm, a.a.O, S.166) Sabine Dramm schreibt, dass der Osloer Bischof Breggrav am 16. April 1942 aus dem Gefängnis entlassen und in einer Waldhütte bis zur Befreiung von den Nazis interniert wurde.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin