Über universale Werte, die alle Menschen respektieren sollen: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“.

Das neue Buch des Philosophen Markus Gabriel
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum ist ein philosophisches Buch, also ein Buch zum Philosophieren, wichtig und bedeutend? Wenn es die LeserInnen zum Nachdenken, Weiterdenken, Erstaunen, Kritisieren und schließlich auch zur Anerkennung überraschender Erkenntnisse führt … und dann eine Erschütterung hinterlässt, z.B.: Wie sehr man als LeserIn bisher hinter dem philosophisch klar bewiesenen Guten zurückgeblieben ist… und eigentlich zum neuen Handeln aufgerufen ist: Also der Erkenntnis folgend, man müsste Neues zu tun, auch in der eigenen Lebenspraxis, die ja nie nur privat, sondern immer auch politisch ist.
2.
Ich bin überzeugt, das neue Buch des inzwischen bekannten Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel erfüllt die oben genannten Kriterien. Schon der Titel weist in die politische Gegenwart: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, und dies ohne Fragezeichen. Dass die Zeiten dunkel sind, dürfte allgemeine Zustimmung finden. Erst der UNTER – Titel macht den philosophischen Ansatz dieser Gegenwartsphilosophie von vornherein brisant:„Universale Werte für das 21. Jahrhundert“. Eine provozierende Formulierung! Provozierend für alle, die noch in der postmodernen Beliebigkeit und dem totalen Relativismus befangen sind und nun zur Erkenntnis universaler Werte geführt werden sollen. Und diese universalen Werte werden nicht religiös begründet oder in den Rahmen einer politischen Ideologie gestellt: Sie werden aus der Vernunft, der allgemeinen, begründet. Markus Gabriel geht von der These aus: Die Menschen als von der Vernunft bestimmte Wesen haben eine gemeinsame, allgemeine Vernunft, aus der sich selbst bestimmte universale Werte ergeben. Damit wird eine elementare Einheit der in sich pluralen Menschheit anerkannt. Rassismus in welcher Form auch immer ist also definitiv als vernunftwidrig ausgeschlossen.
Problematisch mag der Anspruch des Autors erscheinen, wenn er pauschal vom „21. Jahrhundert“ spricht, wo doch dieses 21. Jahrhundert gerade mal erst mit allen Problemen begonnen hat und mancher befürchtet: Wenn alles politisch (populistisch, antidemokratisch), ökologisch und damit neoliberal so weitergeht wie bisher, ist es vielleicht das letzte Jahrhundert für einen Teil der Menschheit.
Die philosophischen Erkenntnisse Markus Gabriels sind zudem von Gewicht, weil sie auch deutlich auf die Corona – Pandemie bezogen sind. Diese hat einerseits Solidarität wachgerufen, andererseits schwierige ethische Fragen, wie die Triage aufgeworfen.
3.
Im Zentrum seiner Argumentation steht also der Hinweis auf „moralische Tatsachen“, die, wie Gabriel betont, „einzig in der universalen Menschenvernunft begründet werden können und müssen“ (343)..
Diese universal für alle Menschen geltenden moralischen, also das geistige Wesen des Menschen auszeichnenden, „Tatsachen“ sind für Gabriel identisch mit einigen universalen Werten. An diese zu erinnern und sie zu beleben ist der Zweck des Buches, das sich nicht zuletzt wegen der leichten „Lesbarkeit“ an weite Kreise richtet.
Es erstaunt dabei, dass Markus Gabriel mit aller Vehemenz auf den allgemein geltenden universalen Werten beharrt. Er sieht die ganze Menschheit unter die Aufforderung gestellt, universale Werte zu realisieren, also das jeweils gebotene Gute zu tun und das durch die Vernunft deutlich gewordene Böse zu unterlassen. Dass sich dabei das Gute bzw. das Böse jeweils inhaltlich auf konkrete Situationen bezogen bleibt, also alles andere als abstrakt bleibt, ist klar.
Wenn das Gute immer mehr realisiert wird, dann wird auch der moralische Fortschritt befördert, von dem Gabriel überzeugt ist. Moralischer Fortschritt ist eine eigene Realität, ist grundlegend, der allen selbständigen Fortschritt in Wissenschaften und Technik und Naturbeherrschung wie eine Art Leitplanke bestimmen sollte.
Aber dieser dringende moralische Fortschritt gelingt nur in der Kraft der Reflexion. „Gegen dunkle Zeiten hilft (philosophische) Aufklärung. Sie setzt das Licht der Vernunft und damit moralische Einsicht voraus…Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen“ (19).
4.
Moralische Tatsachen sind die Normen fürs Handeln der Menschen, sie zeigen differenziert, aber doch allgemein, „was erlaubt ist“ (12). Deutlich wird dabei das Gute und das Böse, aber auch der Bereich dazwischen, den Gabriel „das Neutrale“, das „Indifferente“, nennt (43, auch 103). Also jenen Bereich des alltäglichen Handelns, in dem wir uns oft routiniert bewegen und tun, was nicht moralisch von Bedeutung ist, etwa das Aufräumen oder das Säubern der Wohnung, wobei ein übermäßiger Wasserverbrauch wieder in den Bereich des moralisch Verwerflichen führen kann: man sieht, es gibt Übergänge auf der Skala „Gut-neutral-böse“…
5.
Es überrascht angesichts der Debatten über Relativismus und Postmoderne sicher, mit welcher Bravour Gabriel von den objektiv bestehenden moralischen Tatsachen spricht. “Es gibt moralische Tatsachen, die vorschreiben, was wir tun und was wir unterlassen sollen“ (39). Diese Tatsachen erkennt die Vernunft als solche mit absoluter Gewissheit: Etwa: „Keine Kinder quälen“ (40, noch einmal 91); „die Umwelt schützen“, alle Menschen möglichst gleich behandeln“, also allen die gleichen elementaren Lebensrechte zugestehen (40). Diese moralischen Tatsachen sind universal, gelten kulturübergreifend. Man möchte sagen, sie gelten ewig, wenn damit nicht ein Anklang an religiöse Maßstäbe wach würde, die Gabriel zurecht als Begründung ablehnt, weil sie eben einer bestimmten Tradition entstammen und nicht von der allgemeinen Vernunft erzeugt sind.
6.
Diese moralischen Tatsachen, diese Maßstäbe zur Beurteilung von gut und schlecht, nennt Gabriel WERTE“ (44).
Wie im einzelnen die universal geltenden Werte tatsächlich Schritt für Schritt aus der Vernunft entwickelt werden, zeigt Gabriel meines Erachtens nicht deutlich. Er setzt sie gleich am Anfang als gegeben voraus: „Die Geltung moralischer Aufforderungen liegt vielmehr in ihnen selbst begründet“ (92). Sie zeigen ihre Lebendigkeit und ihre Kraft im Gewissen. Erst später erinnert Gabriel an die Formen des „Kategorischen Imperativs“ von Kant als den Maßstab moralischer Orientierung (144 ff). Aber es hätte meines Erachtens noch deutlicher gezeigt werden können, dass aus dem kategorischen Imperativ die von Gabriel universal geltenden moralischen Tatsachen entwickelt werden können.
7.
Gabriel nennt praktische Forderungen, die sich aus seiner Erkenntnis ergeben: „Wir brauchen eine neue Aufklärung. Jeder Mensch muss ethisch ausgebildet werden, damit wir die gigantische Gefahrenlage erkennen, die darin liegt, dass wir moralisch verblendet fast ausschließlich Naturwissenschaft, Technik und der neoliberalen Marktlogik folgen“ (311).
Gabriel nennt es einen Skandal, dass die Mehrheit der Deutschen ethische Analphabeten sind (339). Es gilt also, die „rationale Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens zu lernen“ (342)
Gabriels Kritik richtet sich gegen Darwin ( „seine Schriften sind gelinde gesagt, keine besonders geeignete Quelle moralischer Einsicht“ (317) oder gegen Peter Singer (322): Gabriel betont gegen Singer: „Der Mensch ist mehr als ein wenn auch komplexer Zellhaufen“ (322)
Politisch deutlich und sehr treffend ist Gabriel, wenn er über neoliberale Weltordnung schreibt: „Sie beruht auf asymmetrischer Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen“ (333), sie „versetzt letztlich sehr viele Menschen in extreme Armut. Und dieser elende Zustand so vieler widerspricht den obersten Werten, die nur „eigentlich“ (also bloß in Sonntagsreden etc.) anerkannt werden…
8.
Gabriel argumentiert durchaus kosmopolitisch:
„Es kann prinzipiell keine Ethik geben, die sich exklusiv damit befasst, was Einwohner eines einzigen Nationalstaates tun bzw. unterlassen sollen“ (335).
9.
Ich finde es bedauerlich, dass sich Gabriel in seiner Ethik ausschließlich auf den Begriff der Werte bzw. der moralischen Tatsachen bezieht und dabei die Fragen und Ansätze einer Tugendethik außer acht lässt, die ja viel älter ist als die „Wertethik“. Und eine etwas breite kritische Debatte über die Werte-Philosophie, prominent vertreten etwa durch Max Scheler, fehlt ohnehin in dem Buch. Aber Gabriels Leistung ist es in diesem Buch, Pflichtethik mit einer bestimmten Wert-Ethik zu verbinden.
10.
Das Problem philosophischer Erkenntnisse in ihrer Beziehung auf die Lebenspraxis ist natürlich auch Markus Gabriel nicht verborgen. Bezeichnend sind deswegen die letzten Worte seiner Studie: „Hören wir den (also Gabriels, CM) Weckruf? Oder fallen wir bald wieder übereinander her wie raffgierige Raubtiere? Es liegt an uns. Der Mensch ist frei“ (344).
Der Philosoph kann also offenbar nur appellieren, kann nur einen „Weckruf“ loslassen, an die unabweisbare Tatsache erinnern, dass wir Menschen eben im allgemeinen frei sind, das Gute zu tun. Also etwa den im Buch beschriebenen Werten in der eigenen Lebenspraxis zu folgen.
Natürlich hängt alles Handeln von der Freiheit des Menschen ab. Aber bei Gabriel werden philosophische Erkenntnisse (Werte, moralische Tatsachen) wieder einmal, so mein Eindruck, als zunächst dem Menschen bloß gegenüberstehend und damit fremd und befremdlich entwickelt. Es ist dies die Position der puren „Sollens-Forderung“. Anders gesagt: Es könnt doch auch alternativ gezeigt werden: Indem man zuerst eine Lebenspraxis beschreibt, in der „immer schon“ Werte jeweilig gelebt werden, vielleicht unthematisch und fragmentarisch…um aber dann von diesem Immer-Schon-Gelebten zu einer vertieften Erkenntnis zu gelangen, auch zur umfassenden Erkenntnis der immer schon (etwas) gelebten Werte. Mit allen den möglichen Korrekturen, um sich von Un-Werten zu lösen und sich den wahren Werten zuzuwenden. So wäre der Übergang zu einer „umfassenderen Werteerkenntnisse“ harmonischer und „vermittelter“, würde Hegel sagen. Von einem solchen Ansatz bei den de facto immer schon gelebten Werten verspreche ich mir eine größere praktische Wirksamkeit. Theorie und Praxis werden und sind eins.
11.
Nebenbei: Über die Kritik einer nur auf Werte fixierten Lebenshaltung – also ohne Einbezug der Pflichtethik im Sinne Kants – hat bekanntlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich das hoch interessante Buch „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“ (Wagenbach Verlag) geschrieben.
12.
Im ganzen möchte ich aber das Buch von Markus Gabriel empfehlen, auch als Grundlage für philosophische Gesprächskreise.

Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein Verlag, 3. Auflage 2020, 368 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche in Berlin wird umbenannt!

Ein Hinweis von Christian Modehn, am 1.9.2020 erneut publiziert.  Siehe auch: LINK.

Die Kaiser Wilhelm Gedächtnis Kirche feiert nun ihr 125. Bestehen. Bzw. es werden die Ruinen-Reste der alten Kaiser – Kirche einerseits und die schöne neu erbaute Kirche daneben gefeiert. Der Eindruck drängt sich auf: Diese Kaiser-Kirche ist ruiniert, so wie das deutsche Kaisertum mit den beiden Wilhelms politisch-ethisch-moralisch-religionspolitisch ruiniert ist. Kritisches und gründliches Erinnern an diese beide kaiserlichen Herren gewiss, aber bitte nicht noch in einer Kirche. Dann soll man bitte auch heute gelegentlich das Gesangbuch aus Kaiserszeiten benutzen…Und sich bitte auch daran erinnern: Die offizielle Flagge unter Kaiser Wilhelm I. und dem II. war in den Farben Schwarz-Weiß-Rot; diese Flaggen in diesen Farben verwenden heute Neonazis auf ihren Demos und Veranstaltungen; diese Flagge in diesen Farben stand schon bereit, als Neonazis am Samstag, 29.8.2020 versuchten, den Bundestag/das Reichstagsgebäude zu besetzen. Entsprechende Fotos belegen dies. Es ist die Frage, ob die Kirche insgesamt sich mit dem Namen Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche und mit dieser dem Kaiser damals und den Ndeonazis heute so lieben Flagge schwarz-weiß-rot sich nicht sehr blamiert!

Aber man glaube ja nicht, dass nun anläßlich der Festwoche ab 1.9.2020 ein Gedanke von den Veranstaltern darauf öffentlich verwendet wird, diese Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche UMZUBENENNEN. Also endlich auf den für eine Kirche heute unwürdigen Titel zu verzichten, denn dieser Kaiser und sein Sohn waren Kriegstreiber, Kolonialherren, Rassisten. Die heutige evangelische Kirche in Berlin weiß natürlich genau, was für einen unsäglichen Namen ihre zentrale Kirche am Kurfürstren Damm hat. Darum nennt die Kirche selbst diese Kaiser-Ruine-Kirche meist schamhaft und verlogen nur “Gedächtniskirche” (als gäbe es ein heiliges allgemeines Gedächtnis oder einen “Sankt Geäächtnis”) oder, noch sinnloser, “KWG”. Klingt irgendwie nach KaDeWe oder KSZE usw…. Man schämt sich also des offiziellen langen Titels eigentlich und verbreitet dieses furchtbare Kürzel für ein Haus des Gebets und der Meditation.

Aber es nützt nichts: Diese Kirchenleitung bleibt stur und denkt nicht im entferntesten daran, auf KWG, Gedächtniskirche oder eben “Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche” zu verzichten. Die Hohenzollern werden danklbar sein für diese alte Treue der Kirche heute zu den einstigen kaiserlichen Kirchenchefs.
An würdigen neuen Titeln mangelt es ja nicht: Dietrich Bonhoeffer wäre ein möglicher guter Titel.

Dieser Texte wurde schon im Juni 2020 publiziert:

Na also, endlich: Die „Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“ am Kurfürsten Damm in Berlin wird umbenannt. Nicht länger soll ein weltweit bekanntes evangelisches „Gotteshaus“ den Namen dieses Kaisers tragen. Er war 1870/71 ein ziemlich begeisterter Kriegsherr und bekanntermaßen auch als Kolonialherr der Organisator der berüchtigten „Afrika—Konferenz in Berlin“ 1884/85. Ab 1884 beteiligte sich Deutschland unter des Kaisers Führung am Imperialismus, in der Etablierung deutscher Kolonien in Kamerun, Togo, Namibia, in Teilen von Tanzania und Kenia…Zudem berief Kaiser Wilhelm I., als Oberhaupt der evangelischen Kirche, den Pfarrer Adolf Stoecker im Jahr 1874 zum Hof – und Domprediger, Stoecker “entwickelte” sich in der Zeit zu einem der heftigsten Antisemiten…

Es wird also keine Kirche mehr mit dem Titel „Kaiser Wilhelm“ (Regierung von 1858 – 1888) geben. Die evangelische Kirche will sich damit auch aus dem Schatten eines Kolonialherren befreien. Dies ist eine logische Konsequenz auf die antirassistischen Initiativen weltweit.

ABER: Diese Sätze beschreiben leider keine Nachricht, sie beschreiben keine Tatsache, sondern sind im Augenblick nicht mehr als eine Hoffnung, eine Erwartung, dass es öffentliche Debatten und Aktionen gibt, diese Kirche „umzubenennen“. Denn dass den Verantwortlichen eigentlich der volle Titel dieser Kirche nicht gefällt, zeigt sich in der üblichen Kurzformel „KWG“ oder in dem sterilen, aber ständig gebrauchten Titel „Gedächtniskirche“…

In vielen Ländern Europas finden jetzt Aktionen statt gegen die öffentliche Dominanz von höchsten prominenten Kolonialherren, die etwa durch massive Statuen und Denkmäler ihren Ausdruck findet. Man denke jetzt an Belgien, wo es der kritischen Öffentlichkeit gelingt, „die öffentliche Ehrung von König Leopold II. zu beenden“. Mit dem Sturz der Statuen dieses grausigen Kolonialherren soll ja nicht die dunkle Vergangenheit Belgiens ausgelöscht oder ins Vergessen geführt werden. Es geht, wie es in Belgien heißt, darum: „Réparons l histoire“, „Reparieren wir die Vergangenheit“. Das heißt: Befreien wir unsere Öffentlichkeit von dominanten Bildern, Statuen usw., die das Image der Untaten dieses Gewaltherrschers und Rassisten verdecken. Sie fördern den Ungeist des Nationalismus und Rassismus.

„Reparieren wir also auch in Berlin die Geschichte“. Und beginnen wir damit, und suchen gemeinsam nach einem angemessenen humanen Namen für dieses „Gotteshaus“. Das „Gedächtnis“, die Erinnerung an diesen Kaiser und Kolonialherren kann ja nach der Umbenennung eigens kritisch dokumentiert werden, etwa in einem Nachbarraum zur Kirche. Der Titel für diese Ausstellung müsste heißen: “Die evangelische Kirche Deutschlands: Von einem Kriegsherren und Kolonialherren einst geleitet und geführt“.

Ich habe schon Ende Dezember 2016 für die Umbenennung der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche plädiert, damals nach den Terror-Anschlägen auf den Weihnachtsmarkt neben dieser Kirche.

Ich habe den Pfarrern dieser „KWG“ bzw. „Gedächtniskirche“ vor Monaten schon meinen Vorschlag mitgeteilt und auch dem neuen Bischof in Berlin, und erwartungsgemäß selbstverständlich keine Antwort erhalten. Es fällt vielen Christen in Deutschland schwer, sich nicht nur der dunklen „kaiserlich“ geprägten kirchlichen Vergangenheit zu stellen, es fällt noch schwerer, Schritte der Befreiung zu tun. Zum Beispiel durch neue Kirchen-Titel als Ausdruck für ein neues Denken. Ist denn erst einmal „KWG“ als Titel verschwunden, können weitere Befreiungen von unerträglichen Titeln für Kirchen folgen: So sollte die Kaiser Friedrich – Gedächtnis –Kirche in Berlin – Tiergarten, bezeichnenderweise auch schamhaft nur KFG genannt, auch einen neunen Namen erhalten. Und was soll eigentlich eine Königin – Luise – Gedächtniskirche in Schöneberg oder eine Ernst-Moritz-Arndt-Kirche in Zehlendorf: Ist denn die evangelische Kirche spirituell wirklich so arm, dass sie keine anderen, würdigen Namen für ihre Kirchengebäude findet? Hängt diese offensichtliche Schwierigkeit damit zusammen, dass sie keine „Heiligen“ kennt? Aber: Bei der viel besprochenen evangelischen ökumenischen Offenheit könnte es doch eine Erzbischof – Romero – Kirche geben oder eine Ernesto – Cardenal – Gedächtniskirche. Auch eine Jan Hus Kirche täte den Christen in Deutschland gut oder eine Petrus-Valdes-Kirche…Warum nicht eigentlich auch eine Erasmus-Kirche? Da würde endlich der Mief der alten preußischen Königsfamilien aus „Gotteshäusern“ verschwinden und etwas mehr freier Geist dokumentiert werden.

Aber, wie gesagt, bei der Schwerfälligkeit auch der kirchlichen Bürokratie sind diese Zeilen nicht mehr als eine Hoffnung, eher sogar „nur“ eine ferne Utopie.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
Christian Modehn, M.A. in Philosophie,  ist Diplom-Theologe und Journalist.

Der „Meister“ der Zerstörung von Natur und Menschen: Der rechtsextreme Politiker Bolsonaro.

Über das Buch von Andreas Nöthen „Bulldozer Bolsonaro. Wie ein Populist Brasilien ruiniert“

Von Christian Modehn

Brasilien ist definitiv nicht weit weg von Europa. Das wissen nun hoffentlich alle in Deutschland, in Europa, wenn sie (mit ihren ebenso hilflos wirkenden Politikern) wie gelähmt zusehen müssen, dass ein rechtsextremer Präsident die „Lunge der Menschheit“ und den Lebensraum indigener Völker, die Wälder der Amazonas-Region, abfackelt, niederbrennt, Leben zerstört, Klimakatastrophen beschleunigt…
Diesen Umgang mit der Natur haben vor ihm brasilianische Präsidenten, immer irgendwie geldgierig und korrupt, zugelassen, aber nicht in diesem totalen Umfang wie jetzt.
Nebenbei: Das auswärtige Amt in Berlin meldet noch immer in seinem Internet-Beitrag vom 16.3.2020 von den guten bilateralen und multilateralen Beziehungen zu Brasilien, also zu einem Politiker, dessen „Politik“ inzwischen von kompetenten Beobachtern und vom kritischen Teil der brasilianischen Bevölkerung als mörderisch bezeichnet wird…

Es gehört insofern zur Allgemeinbildung heute, über Bolsonaro und sein Brasilien genau Bescheid zu wissen. Das kann gut tun in Zeiten von Corona, in denen alle Hauptinteressen aller eher national gefärbt sind, den kritischen Blick zu weiten.

Andreas Nöthen bietet in dem vor wenigen Wochen (Juli 2020) erschienen Buch „Bulldozer Bolsonaro“ aus dem Ch. Links Verlag wesentliche Erkenntnisse zum Aufstieg und zur Machteroberung Bolsonaros. Bei dem Titel denkt man eher an polemische Zuspitzungen, aber die unterbleiben: In dem gebotenen sachlichen Ton wird dokumentiert und mit vielen Quellenangaben deutlich, welche politische Gefahr dieser Herr bedeutet, selbst wenn er, nach einem sehr schmutzigen Wahlkampf mit 55 % der Stimmen gewählt wurde. Wichtig ist zu wissen: Der Anteil der Nichtwähler und derer, die ungültige Stimmen abgaben, war extrem hoch: Es waren fast 31 % der Bevölkerung, die weder für den Populisten noch für den Kandidaten der Arbeiterpartei (PT), Fernando Haddad, ihre Stimme gaben. Bolsonaro fand mit seinen dummen rassistischen und sexistischen Sprüchen viel Begeisterung im Milieu der Ungebildeten, der Frommen und der Machos. Es war – wie im Falle Trumps – eine Wahl, die Bolsonaro mit Falschinformationen über alle nur möglichen „sozialen“ Netzwerke gewonnen hat, weil Millionen Menschen auf diese Sprüche reinfielen. Der Autor schreibt: „Weite Teile der Bevölkerung muss man als digital unmündig bezeichnen, diesen digitalen Analphabetismus nutzte Bolsonaro geschickt aus“ (S. 107) … und zwar im totalen Einsatz von Whatsapp. „Auch in den anderen sozialen Netzwerken war er seinen Konkurrenten meilenweit voraus“ (ebd.).
Angesichts seiner Ignoranz in der Corona-Pandemie hat er jetzt zwar an Zustimmung verloren, weil einfach zu viele Patienten unversorgt sterben … und die Wirtschaft daniederliegt. Aber auch heute findet er noch im Mittelstrand unter den Frommen, den immer Bolsonaro-treuen Evangelikalen, und den Reichen viel Zustimmung.

Bolsonaro hat mächtige Freunde, das ist der erste wichtige Punkt. Zu dem ebenfalls rechtspopulistischen Trump gibt es gute Beziehungen. Wichtig und für mich neu sind die Hinweise auf die Verbindungen Bolsonaros zu dem in den USA lebenden Brasilianer Olavo de Carvalhos, „einem der geistigen Väter der neuen Rechten in Brasilien“ und so wörtlich, „Guru“ des Präsidenten Bolsonaro“ (S. 176). … Dieser Guru verbreitet die krudesten Thesen, „etwa: dass Pepsi Cola seinen Süßstoff aus abgetriebenen Föten hestellt…. dass der Klimawandel eine marxistische Verschwörung sei“ usw (S. 104). Dieser Herr de Carvalho gehörte auch zum engeren Zirkel der Regierungsdelegation, als sich Bolsonaro im März 2019 bei Mister Trump vorstellte. De Carvalho wiederum ist mit Stephen Bannon verbandelt, einst engster Berater von Trump, bis jetzt eher im Hintergrund für die globale rechtsradikale Bewegung The Movement tätig. Bolsonaros Sohn Eduardo arbeitet mit dieser Bannon – Bewegung eng zusammen (S. 105). Wie diese freundschaftliche Zusammenarbeit weitergeht, nachdem nun Bannon verhaftet wurde (20.8.2020), wird sich zeigen…

Eng befreundet ist Bolsonaro, wen wundert es, auch mit dem ungarischen Populisten – Präsidenten Viktor Orban (S. 141). Mit ihm hat Bolsonaro einen gleich gesinnten Bündnispartner in der EU.

Zweitens ist wichtig, dass der Autor detailliert zeigt, wie Bolsonaro seine Söhne (auch seine dritte Gattin) ins Regieren mit einbezieht und mit hohen politischen Posten ausstattet. Beobachter, die von der Herrschaft seiner drei erwachsenen Söhne sprechen, schaffen dafür ein neues Stichwort: Die Herrschaft der Söhne, die „Filhocracia“…Das Magazin „Carta Capital vom 27.2.2019 zeigt den Höllenhund Zerberus mit den drei Köpfen der drei Söhne Carlos, Flavio und Eduardo. (S. 110). Die ausführliche Biographie zeigt, wie Jair Bolsonaro als Angehöriger des Militärs zielstrebig und raffiniert das höchste politische Amt anstrebte und sogar noch persönliche Katastrophen, wie eine schwere Verletzung durch ein Attentat, zu seinem eigenen politischen Vorteil erfolgreich vom Krankenhaus nutzte (S.89).

Wichtig ist, dass das Buch auch die brutale Form seines Regierens dokumentiert, den scheußlichen Worten lässt Bolsonaro scheußliche Taten folgen. Dabei ist er so gerissen, dass er als Täter „nur“ das mörderische Milieu pflegt und befeuert, in dem dann rechtsradikale Gewalt real wird. Der Autor erinnert an die gezielte Tötung der bekannten kritischen linken Politikerin Marielle Franco. „Es war ein politischer Mord“, sagt die Frau von Marielle, Monica Benizio (S. 135) „Die Politikerin wurde zum Symbol für die vielen tausend meist schwarzen Brasilianer, die jährlich durch (Polizei-) Gewalt ums Leben kommen“ (ebd.)

Zum Aufstieg gelangte Bolsonaro durch die Macht evangelikaler Pastoren und deren Bewegungen sowie der ebenso einflussreichen Pfingstprediger und deren Gemeinden. Die Bindungen Bolsonaros an diese zahlenmäßig immer stärker werdenden Kirchen (inzwischen ca. 30% der Bevölkerung) beschreibt Andreas Nöthen an verschiedenen Stellen etwas ausführlicher. Pastoren und Bischöfe dieser Kirchen sind oft steinreich, weil sie gleichzeitig als Unternehmer, etwa als Medienbosse, agieren und dadurch konnten sie auch Bolsonaros Wahl unterstützten. Raffiniert wie er ist, ließ er sich als Katholik dann noch einmal im Jordan (Israel) evangelikal taufen, „die Präsidentschaft ist eine weitere Taufe wert“, könnte man sagen. Diese evangelikalen/pfingstlerischen Kirchen sind wirklich von einem so schlichtem intellektuellen Niveau, dass sie etwa verkündeten: “Nicht Krankenhäuser würden in dieser Pandemie die Menschen heilen, sondern die Religionen (vgl. S 175). Theologisch treffend sollte man sagen: Die evangelikalen Kirchen sind weithin eher eine Schande für ein Christentum, das den absolut gültigen Ansprüchen der kritischen und demokratischen Vernunft gerecht werden will. Diese Kirchen sind leider oft Opium des Volkes…

Vernünftige Wissenschaftler hingegen werden von Bolsonaro entweder abgesetzt oder, wenn schon verstorben, nachträglich zu Unpersonen und wie immer üblich in diesem rechtsextremen Kreisen, zu „Marxisten“ erklärt, wie der große international hoch geschätzte brasilianische Pädagoge Paulo Freire (S. 148 f). Freires Bücher dürfen nicht mehr im Unterricht vorkommen, verfügte der Bildungsminister Weintraub (149).

Die Liste der Beleidigungen von Frauen und Homosexuellen, Journalisten, Wissenschaftlern und Künstlern und Schwarzen, die Bolsonaro, öffentlich äußert, ist lang. „Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass bei der aktuellen Regierung Brasiliens Anspielungen auf den Nationalsozialismus (etwa Joseph Goebbels) ziemlich regelmäßig vorkommen, selbst der Minister Abraham Weintraub, der selbst jüdischen Ursprung ist“, schreibt Nöthen, „bedient sich dieser Anspielungen“ (S. 158). Man fragt sich, wie so viele Leute auf Dauer diese Niederknüppelung des Geistes und der Vernunft ertragen können. Sie sind aber leider durch die Massen-Medien derart anspruchslos geworden, dass sie ihren Zustand gar nicht mehr bemerken, das gilt selbstverständlich nicht nur für Brasilien. Die rassistischen Entgleisungen werden sogar von den Schwarzen übersehen: “Viele Schwarze Brasilianer sind empfänglich für die Heilsversprechen der evangelikalen Kirchen. Und hält ihre Kirche Bolsonaro für wählbar, sehen viele über seinen Rassismus hinweg“, schreibt Andreas Nöthen (S. 99)

Was ich in dem Buch vermisse, ist wenigstens der Ansatz einer Analyse zur Bedeutung des Katholizismus in Brasilien in diesem Zusammenhang. Es ist doch bekannt, dass z.B. der Kardinal von Rio de Janeiro ein Freund Bolsonaros ist. Die katholische Kirche wird zahlenmäßig immer schwächer, aber noch ist sie die stärkste Konfession. Am Niedergang hat die Hierarchie selbst schuld, das ist theologisch eindeutig: Das Festhalten am Zölibatsgesetz macht es den Basisgemeinden unmöglich, in eigener Verantwortung durch Laien Eucharistie zu feiern. Und Bischöfe mit richtigen Ideen, wie damals Dom Helder Camara, wurden ignoriert und mundtot gemacht. ABER: Es gibt heute noch immer Befreiungstheologen, es gibt noch immer progressive Bischöfe, die sich öffentlich gegen Bolsonaro wehren, siehe das Schreiben der über 150 brasilianischen Bischöfe vom Juli 2020 gegen Bolsonaro. Aber da war das Buch schon gedruckt. Es gibt jedoch seit vielen (!) Jahren schon gut funktionierende katholische Hilfswerke zugunsten der indianischen Völker und der Landlosen, sie stehen ja im Focus der Bolsonaro – Attacken, der selbst Katholik ist oder war, angesichts seiner Doppeltaufe, wie gesagt, ist auch die religiöse Bindung unklar. …
Sehr schade also, dass gerade diese gerade im Bolsonaro – Zusammenhang wichtigen und „spannenden“ Informationen nicht vermittelt werden. Aber vielleicht plant der Verlag ein Buch eines Lateinamerika Spezialisten über den Wandel des Katholizismus in Lateinamerika (nicht nur Brasilien) heute, so dass man also nicht vorgreifen wollte…

Wenn es zu einer 2. Auflage dieses dennoch empfehlenswerten Buches von Andreas Nöthen kommen sollte: Dann bitte ein eigenes Kapitel über den Katholizismus in Brasilien, in den Zeiten vor und mit und hoffentlich dann auch schon „nach“ Bolsonaro.

Andreas Nöthen, Bulldozer Bolsonaro, Wie ein Populist Brasilien ruiniert. Ch. Links Verlag, Berlin, 2020, 240 Seiten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes wird abgeschafft!“

Als sich die katholische Kirche dogmatisch von der Moderne verabschiedete: Dies geschah im Jahr 1870, am 18. Juli, durch die Entscheidung von Papst Pius IX.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Papsttum “zerbröselt” offensichtlich:
Am 14.7.2020 habe ich ein Vorwort zu dem Text unten geschrieben. Ich will auf die jüngste Publikation “The next Pope” des bekannten sehr konservativen US-amerikanischen Autors George Weigel hinweisen, der schon jetzt, obwohl Papst Franziskus ja wohl noch lebt, das Profl des künftigen Papstes beschreibt. Dieses Buch wurde von dem New Yorker Kardinal Timothy Nolan allen Kardinälen sozusagen zur Einstimmung geschickt. Das Buch ist zudem in einem Verlag erschienen, das dem Jesuitenorden nahesteht, der “Ignatius Press”.

Das Papsttum, das sollten alle an dem Thema noch Interessierten wahrnehmen, löst sich heute zwar noch nicht von selbst ganz auf, aber es zerbröselt so langsam und systematisch. Das wird vor allem sichtbar in den bekannten, öffentlich ausgetragenen Attacken gegen den regierenden Papst Franziskus. Diese vielen polemischen Stellungnahmen aus höchstem kardinalen Munde sind bekannt. Bezeichnend ist, dass Papst Franziskus, wann immer er kann, öffentlich darum bittet, für ihn zu beten. Das ist keine fromme Floskel, sondern Ausdruck der Angst vor den allmächtigen Kurien-Leuten und Kardinälen und reaktionären Theologen. Kaum einer von denen würde offen sagen: Ich bin gegen Papst Franziskus. Aber wer auch zwischen den Zeilen lesen kann, etwa in den Druckerzeugnissen von Kardinal Müller und Co., weiß Bescheid.
Um diesen Auflösungsprozess des Papsttums heute zu begreifen, muss man an die Tatsache erinnern, dass sich der einstige Papst Benedikt XVI. nach seiner selbst gewollten Emeritierung 2013 keineswegs als zurückgezogener, vielleicht Buße tuenden Emeritus verhält, sondern wie eine Art zweiter Papst! Er wird, und das erwartet er wohl, von „seinen Kreisen“, den konservativen Katholiken, verehrt, die er dann seinerseits mit seinen Schriften und Interviews bestens bedient. „Unser Papst ist Benedikt“, man lese die entsprechenden Jubel- Beiträge seiner Fans…
Man sollte also, wenn man den Mut der klaren Analyse hätte, wirklich von einem Gegenpapst Benedikt XVI. sprechen mit seiner starken militanten Lobby um ihn herum. Zwei Päpste also, das ist total gegen die klassische Lehre vom Papsttum.
Und dieses Papsttum zerbröselt, weil die Pluralität der theologischen Meinungen selbst unter den Kardinälen nicht mehr wie einst „unter einem Deckel“ gewaltsam unterdrückt werden kann: Einst, das heißt wohl bis zum polnischen Papst Johannes Paul II., war der Papst und das Amt des Papstes wie eine Art monolithisches Imperium noch zusammengehalten. Heute ist es so weit gekommen, dass der Kardinal von New York Timothy Dolan vor kurzem das Buch eines bekannten, sehr konservativen Autors, George Weigel, an alle Kardinäle schickte. Sozusagen zur Einstimmung für die nächste Konklave, fehlt bloß noch, dass man für ein alsbaldiges friedliches Ende von Papst Franziskus betet. Der Titel des Buches von Mr. Weigel ist „The Next Pope“. Damit wird unverschämterweise, möchte man sagen, gegen das ausdrückliche Verbot des regierenden Papstes Franziskus agiert, schon „ante mortem“ ein Profil des künftigen Papstes zu beschreiben.
Selbstverständlich, Weigel nennt dabei keinen Namen. Aber der Grundtenor ist klar: So, wie unter Papst Franziskus, darf es nicht weiter gehen. Es ist sozusagen eine besondere „Feinheit“, dass dieses Buch im Verlag „Ignatius Press“ erscheint, also in einem Verlag in San Francisco, der mit dem Jesuitenorden eng verbunden ist. Der Gründer des Verlages ist ein Jesuit. Dadurch wird deutlich, dass auch innerhalb des Jesuitenordens Abstand genommen wird von dem Jesuiten – Papst Franziskus.

Diese Details zeigen, dass das Papsttum als Imperium und als monolithischer Block heute de facto nicht mehr besteht und wohl nie mehr bestehen kann: Die theologische Pluralität und die kulturelle Differenz in einer Kirche mit 1,3 Milliarden Mitgliedern vernichtet alle Uniformität und Einheitlichkeit. Und schon allein diese Tatsache der 1,3 Milliarden Mitglieder lässt doch jeden nachdenklichen Menschen meinen: Wie kann ein einziger sehr alter Herr (Papst Franziskus ist jetzt 83 Jahre alt), eine Organisation mit 1,3 Milliarden Mitgliedern „leiten“. Auch ein jüngerer Papst kann dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Darum: Nicht einen Papst, sondern mindestens fünf auf allen Kontinenten könnte diese Kirche gebrauchen. Aber könnten fünf Päpste auf verschiedenen Kontinenten (gemeinsam) “unfehlbar” sein? Wohl kaum.So könnte sich das „Unfehlbarkeitsdogma“ von 1870 von selbst erledigen…
(Siehe: https://www.ncronline.org/news/people/exclusive-dolan-sends-book-next-pope-cardinals-around-world)

Man vergesse auch nicht, dass bereits Kant in seinem Text von 1793 “Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis” eine Regierung als “despotisch” ablehnt, in der sich der Herrscher als ein Vater verhält, der(möglicherweise, je nach Laune) wohlwollend gegenüber seinen Bürgern ist. Diese Bürger aber werden als passive, duldsame Kinder gegenüber dem Vater verstanden. Kant sagt: “Dies ist der größte denkbare Despotismus”. Diese Äußerung Kants gilt es auf die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes zu beziehen. Papa heißt “Vater”. Die Gläubigen sind also seine “Kinder”…(Siehe: Kant, “Zum ewigen Frieden und andere Schriften”, Fischer Taschenbuch, 2008, Seite 99). Aber hätte Papst Pius IX. auf das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes verzichtet, wenn er Kant gelesen hätte? Eher nicht, er wie alle Päpste wollte ja die Gläubigen als gehorsame “Kinder”. Bis heute.

Und man vergesse auch nicht, dass schon 1819, also 50 Jahre vor der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit, der reaktionäre Philosoph Joseph de Maistre in seinem Buch “du Pape” ausdrücklich die Unfehlbarkeit des Papstes forderte. Nur mit dieser Unfehbarkeit, meine er, könnte die alte in seinem Sinne richtige feudalistische Ordnung wieder hergestellt werden… Pius IX. hatte daran geglaubt, ein treuer Schüler de Maistres…

1.
Unter den vielen Dogmen der katholischen Kirche (Dogma bedeutet: „Was ein Katholik glauben muss“) ist die „definitive und unumstößliche Lehre“ der „Unfehlbarkeit des Papstes“ eines der besonders problematischen und abstoßenden Dogmen. Vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, hat Papst Pius IX. diese Verfügung durchgesetzt, bekanntermaßen gegen den Widerstand vieler Bischöfe während des Ersten Vatikanischen Konzils. Pius IX. ist – gerade in höherem Alter – als ein Reaktionär in jeder Hinsicht bekannt: Als ein Feind der Moderne, also der Demokratie, der Menschenrechte, ein Gegner der freien Meinungsäußerung usw. Das kann hier nur angedeutet werden, ist aber ein Hinweis auf den absolutistischen Geist dieses obersten „Brückenbauers“, denn das bedeutet die Selbstbezeichnung der Päpste „Pontifex maximus“. Pius IX. hat keine Brücken gebaut, sondern den Katholizismus auf Dauer von der Moderne und der Aufklärung abgekoppelt. Er ist also faktisch ein Widerspruch zu seinem Auftrag.
Genauso bezeichnend ist die Tatsache: Der ebenfalls theologisch extrem konservative polnische Papst Johannes Paul II. hat im Jahr 2000 Papst Pius IX. selig gesprochen: Er darf also, zumindest regional, verehrt und als Fürsprecher im Himmel angesprochen werden, so die offizielle Lehre zu „Seliggesprochenen“. „Seliger Papst Pius IX. hilf uns, die Demokrartie zu zerstören“, könnte eine fromme Bitte heißen, vielleicht ist dies ein Tipp für katholische Rechtsextreme?
2.
Mir geht es nur um die ganz einfache, aber von katholischen Theologen in dieser präzisen Form meines Wissens nie gestellten Frage: Warum kann die katholische Kirche dieses unerträgliche Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes nicht schlicht und einfach heute und zwar sofort abschaffen?
Als besonderes Geschenk für die Welt und die Katholiken an dem Gedenktag? Dazu wäre ja rechtlich gesehen ein Papst in der Lage. Die Abschaffung dieses Dogmas wäre dann die letzte Tat eines unfehlbar agierenden Papstes. Dann müsste der Papst erklären: „Entschuldigung, was dieser Pius IX. da mit aller Bravour und Einschüchterungen auch gegen die Bischöfe durchsetzte, ist falsch, in heutiger fortgeschrittener Theologie sowieso. Der Katholizismus ist inzwischen geistig doch etwas lebendiger geworden, so dass er sich von diesen überlebten Vorstellungen Pius IX. trennt“.
Der Papst wäre also ab sofort nicht mehr unfehlbar „in Fragen des Glaubens und der Sitten“, wie es einst hieß. Der Papst wäre dann ein Mitglied der Bischöfe unter anderen, er wäre zu einem Lernenden und Suchenden unter anderen geworden.
3.
Selbst wenn immer wieder von herrschenden klerikalen Kreisen gesagt wird: So oft haben die Päpste ja bisher gar nicht Gebrauch gemacht von dieser ihrer dogmatischen „Unfehlbarkeit in Glaubensfragen“. Dann muss man freilich nur an Tatsachen erinnern: Es gibt nämlich eine „schleichende Unfehlbarkeitstendenz in den Aussagen späterer Päpste“, vor allem bei Johannes Paul II. und seinem Chef-Theologen Kardinal Ratzinger. Der katholische Theologe Professor Norbert Scholl schreibt sehr treffend in den „Stimmen der Zeit“ 2018, wenn er sich auf die vielen anderen päpstlichen Verlautbarungen bezieht, die den Katholiken als offizielle Lehre irgendwie ständig aufgedrängt werden: „Ob Enzyklika, Motu proprio, Apostolisches Schreiben, vom Papst approbierte Erklärungen der Glaubenskongregation oder Katechismus der Katholischen Kirche: Immer wird die „willige Annahme der Lehren und Weisungen durch die Gläubigen, die ihnen ihre Hirten in verschiedenen Formen geben“, verlangt, also „religiöser Gehorsam“, „Folgsamkeit in Liebe“ oder „endgültiges Festhalten an diese Entscheidung“. Also genau die gleiche Haltung, die auch gegenüber einem Dogma gefordert wird.
4.
Die Tendenz des Papstes, diese versteckteren Formen der Unfehlbarkeit und damit der autoritäre Rechthaberei in Glaubens – und Moralfragen auszuüben, ist also auf vielfache Weise präsent und ungebrochen bis heute. Papst Franziskus hat dem heftigen Kritiker der Unfehlbarkeit, dem katholischen Theologen Hans Küng diesbezüglich auf einen Brief freundlich geantwortet, aber keine präzisen Aussagen zu einer „Abmilderung dieses Dogmas“ gemacht. Wie immer ist Papst Franziskus in einem freundlichen Ja und Nein befangen, wie es Franziskus als „Jongleur“ so liebt, weil er –diplomatisch gesehen wahrscheinlich klug – ums eigene Überleben im Vatikan besorgt ist und niemanden unter den Kardinälen dort sehr oft stark verärgern will. Das wäre vielleicht die Summe des Pontifikates von Papst Franziskus: „Weil er es allen recht machen wollte, hat er nichts so richtig recht gemacht“. Aber das ist ein anderes Thema…post mortem zu bearbeiten.
5.
Zurück zu unserer eigentlich ganz einfachen Frage: Wird dieser Papst oder einmal ein anderer Papst das Unfehlbarkeitsdogma abschaffen? Es erscheint wie ein hoher unüberwindlicher Berg, der allen Menschen die Sicht nimmt, wenn es um das Suchen nach einem vielleicht doch möglicherweise Vernunft-affinen Katholizismus geht. Aber die katholisch theologische Antwort muss LEIDER nein heißen. Es kann systembedingt keine Abschaffung eines Dogmas geben. Das System lässt dies nicht zu! Denn die katholische Theologie kann und will die über alle und alles herausragende und alles bestimmende Macht des Klerus, also auch des Papstes, nicht aufgeben. Und zu dieser Macht – Ideologie gehört auch die selbst geschaffene Überzeugung: Was wir Kleriker einmal als Dogma, als Wahrheit, definiert haben, gilt ewig. „Denn wir sind“, so behaupten sie, „die einzigen autoritativen Lehrmeister der Kirche“. Es gibt für diese sich so fühlenden Herren, was die Dogmen angeht, eine ewige Kontinuität der Lehre, keine Brüche und keine Abschiede. Diese gibt es nur sehr gelegentlich bei großen wissenschaftlichen Irrtümern, wie zum „Fall Galilei“, der Wissenschaftler wurde bekanntlich (erst) 1992 offiziell rehabilitiert. Der Trick dabei ist: Die Kleriker behaupten, über die Dogmen alles genau zu wissen: So behaupten sie: Es war ja Gott selbst, sein Geist, der – durch päpstlichen Mund – die Dogmen geschaffen hat. Und weil in diesem Denken Gott nur ewig und unveränderlich gedacht werden kann, können auch die von Gott selbst geschaffenen Dogmen nicht von Menschen abgeschafft werden. Sie können bestenfalls neu interpretiert, also in anderen Worten einen anderen Akzent setzen. Aber die einmal behauptete dogmatische Lehre muss erhalten bleiben.
6.
Es würde mich reizen, den Satz des katholischen Theologen Hans Küng zu variieren, der einmal sagte: „Die katholische Kirche hat immer mehr Parallelen zu Diktaturen. Der römischen Kurie sei es gelungen, die Bischöfe weltweit durch eine enge Beaufsichtigung und mit Hilfe von Denunzianten zu einem fügsamen Apparat zu formen, so der 84-jährige.Dieser Apparat erinnere „in seiner Machtstruktur an Leitungskader in totalitären und diktatorischen Systemen, wo auch niemand eine abweichende Meinung zu äußern wagt“. Das berichtet der ORF im Jahr 2012: (http://begegnungunddialog.blogspot.com/2012/05/kung-katholische-kirche-erinnert.html)
Man müsste dann Parallelen ziehen zu den Herrschaftsformen der Kommunistischen Parteien und ihrer Führer, die bekanntlich auch vom Glauben geleitet waren, die Wahrheit zu “haben” und diese anderen aufzudrängen. Wer nicht spurte, wurde verbannt und hingerichtet. Der Umgang mit Andersdenkenden ist ja auch unter Pius IX. sowie vorher und nachher in der römischen Kirche nicht sanft, human oder gar jesuanisch“ gewesen. Aber diesen Vergleich totalitärer Systeme, KP und Vatikan, will ich anderen überlassen. Hans Küng ist 2012 übrigens auch nicht ins Detail gegangen. Zu viel Ärger mit Rom wollte sich der mutige Unfehlbarkeitskritiker dann doch nicht antun. Zumal er als letztlich doch strammer Katholik eben doch wohl immer noch glaubt, dass diese römische Kirche „letztlich“ eine göttliche Stiftung ist. Also etwas „Heiliges“ ist.
7.
Erst wenn sich die Überzeugung durchsetzt: Auch die katholische Kirche, auch das Papsttum selbstverständlich, ist eine Stiftung religiöser Menschen, also nicht mit einem göttlichen Glanz eines göttlichen Stifters versehen, wird sich die Unfehlbarkeitsdebatte erübrigen. Dann werden auch Kleriker, selbst Päpste, wieder „nur“ Menschen sein, Suchende, Fragende, Fehlbare.
8.
Wie wäre es also mit dem (zeitlich gesehen) letzten Dogma der katholischen Kirche, dem Dogma von der Fehlbarkeit der Päpste in Glaubens- und Sittenfragen?
Nebenbei: In Sittenfragen waren sie ja, was ihre eigene Praxis angeht, immer sehr “fehlbar”.

9.
Manchmal werden einige wenige Katholiken von Träumen erfreut. Sie sehen einen vatikanischen Günter Schabowski vor sich, der auf die Frage „Wann wird das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes abgeschafft?“, ganz einfach sagt: „Ich glaube, nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Bolsonaro treibt Menschen in den Tod“ – also ist er ein (Massen-) Mörder!

Die indigenen Völker Brasiliens werden mit den „Corona Maßnahmen“ des Präsidenen ermordet … und die Welt schaut zu.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Scharfe und klare, auch politisch radikale Worte hört man aus katholischen Kreisen Deutschlands eher selten. Nun erklärt einer der leitenden Mitarbeiter des katholischen Hilfswerkes ADVENIAT (Zentrale in Essen), Thomas Wieland, am 9.7.2020: „Mit dem Stopp der Corona-Maßnahmen in Brasiliens Indigenengebieten treibt Bolsonaro die Indigenen in den Tod. Ohne den Zugang zu Trinkwasser, Hygieneprodukten und einer angemessenen Gesundheitsversorgung sind ganze indigene Völker vom Aussterben bedroht.“
Damit schließt sich ADVENIAT der Überzeugung des weltweit bekannten Theologen und Philosophen Leonardo Boff an. Er hatte am 6.6.2020 erklärt: “Präsident Jair Messias Bolsonaro ist angesichts der rasch steigenden Corona-Opferzahlen ein Völkermörder”. Leonardo Boff rief zum Sturz Bolsonaros auf. Über diese Erkenntnisse wird man mindestens debattieren müssen.

Zweierlei ist wichtig in dieser Erkenntnis:

Wie nennt man jemanden, der andere in den Tod treibt? Nach meiner Kenntnis nennt man ihn einen Mörder. Also muss man – der treffenden Einschätzung des Lateinamerika Spezialisten – den Präsidenten Bolsonaro einen Mörder nennen, den letztlich Verantwortlichen für ein mörderisches System. Und diese Einschätzung ist seit längerer Zeit bekannt. Nur wird Bolsonaro in der internationalen Politik – auch aus ökonomischen Gründen, wegen der Holz – Spekulanten usw. – immer noch höflich, verlogen als Präsident angesprochen. Und nicht als Mörder. Wann beginnen sich die großen internationalen Konzerne sich von diesem Mörder und seinem auch ökologisch tödlichen Regime zu distanzieren? Es ist soweit gekommen, dass ich höre: Viele fromme, aber kritische Leute beten für den Tod dieses Herrn Bolsonaro. Sie üben sich förmlich in einer spirituellen Variante der alten katholisch – ethischen Lehre vom Tyrannen – Mord, vorgeschlagen u.a. von dem großen Thomas von Aquin. Aber würde „dann“ das mörderische Regime aufhören? Wohl nur, wenn seine Freunde, die evangelikalen Gemeinden mit ihren Pastoren /d.h. Millionären aufhören, solche rassistischen Typen wie Bolonaro zu wählen.
Und rein jurisisch betrachtet: Was tun Demokratien und Rechtsstaaten mit Mördern? Sie werden bestraft und eingesperrt. Geschieht aber nicht im Fall Bolsonaros, weil Brasilien – wieder mal – kein Rechtsstaat ist!

Zweitens: Ein Mord an vielen hilflosen indigenen, „indianischen“ Völkern geschieht vor unser aller Augen. Ein neuer Holokaust hat begonnen: Der erste große lateinamerikanische Holocaust startete 1492 mit der Eroberung und Plünderung der „amerikanischen Länder“, als viele „Ureinwohner“, viele Millionen „Indianer“, von den katholischen Kolonisten ermordet wurden. Nun also scheint die letzte Phase des Holocausts in Brasilien zu beginnen: Wieder sind es Christen, sehr heftige sogar, fundamentalistische, ewig Lobpreisungen und Halleluja grölende Christen. Auch konservative Katholiken, auch Erzbischöfe Brasiliens, gehören bekanntlich zu Bolsonaros, des Mörders, Freunden.

Aber zurück zu der wichtigen Presserklärung von ADVENIAT vom 9.7.2020:

„Im Amazonasgebiet haben sich bereits haben sich bereits 519.465 Menschen (nicht ausschließlich indigene Menschen) infiziert, 15.939 sind daran gestorben (Stand: 8. Juli 2020, Quelle: redamazonica.org). In Brasilien sterben Indigene doppelt so häufig an Covid-19 wie der Rest der Bevölkerung. Es wird immer wieder deutlich, dass das Immunsystem der Indigenen nicht auf einen solchen Virus vorbereitet ist und die Indigenen aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung deutlich häufiger an den Folgen der Infizierung mit dem Covid-19-Virus sterben“, sagt Thomas Wieland von ADVENIAT. Gleichzeitig sei die Abholzung im brasilianischen Regenwald im Schatten der Corona-Pandemie im April um 171 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Der rechtsextreme Präsident Jair Messias Bolsonaro hatte am 8. Juli ein Veto gegen 16 Maßnahmen eines von Parlament und Senat beschlossenen Gesetzesvorhabens (PL 1142/2020) zur Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 in Territorien der Ureinwohner eingelegt. Dazu gehört die Verpflichtung der Regierung, den Indigenen Trinkwasser, Hygieneprodukte sowie Krankenhausbetten zur Verfügung zu stellen. Auch gegen den erleichterten Zugang zu Sozialhilfe und gegen Hilfsgelder für die Landwirtschaft legte Bolsonaro sein Veto ein.
Bolsonaros Stopp der Corona-Maßnahmen ist auch für den Adveniat-Projektpartner Cimi, den Rat der Katholischen Kirche für die Indigenen Conselho Indigenista Missionário, fatal: „Die Vetos des Präsidenten bekräftigen die Vorurteile, den Hass und die Gewalt der gegenwärtigen Regierung gegenüber indigenen Völkern, Quilombolas und traditionellen Bevölkerungsgruppen“, heißt es in einer Pressemitteilung des Cimi. Ein alarmierendes Zeichen in Zeiten der Corona-Pandemie, da Grundrechte und Garantien für das Leben traditioneller Völker verweigert würden. Der Präsident missachtet laut Cimi auch den Nationalkongress, indem er ein Gesetz stoppt, das bereits fast einstimmig verabschiedet wurde. „Diese Haltung des Präsidenten zeigt völlige Unempfindlichkeit gegenüber der gefährdeten Situation Tausender indigener und Quilombola-Familien und traditioneller Gemeinschaften auf dem gesamten Staatsgebiet in dieser schweren, lebensbedrohlichen Krise“, kritisiert der Cimi. Die ausschließlich finanzielle Rechtfertigung Bolsonaros sei aufgrund des bereits genehmigten „Kriegshaushaltes“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht nachvollziehbar“.

(Die Presseerklärung von Adveniat fährt fort:
Gemeinsam mit seinen Projektpartnern hat Adveniat bereits mehr als 4 Millionen Euro Corona-Nothilfe geleistet – davon ging über eine Million Euro nach Brasilien. Mit dem Geld wurde zum Beispiel der Kauf von auf Essgewohnheiten und Mangelerscheinungen abgestimmte Lebensmittelpakete für die Madihadeni unterstützt. Das indigene Volk lebt am Rio Cuniuá im westlichen Amazonasgebiet. Auch für Indigene in Manaus sind mehr als 2.000 Lebensmittelpakete und Hygienekids mit Desinfektionsmitteln und Seife bereitgestellt worden.
Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, steht für kirchliches Engagement an den Rändern der Gesellschaft und an der Seite der Armen.

Weitere Informationen zur Corona-Pandemie sowie Berichte aus den Ländern Lateinamerikas finden Sie unter: www.adveniat.de/corona.)

Christian Modehn schreibt: Man bedenke bitte: Es werden jetzt viele Milliarden ausgegeben, damit die reichen Europäer, die wohlhabenden Deutschen vor allem, auch nach der Corona-Pandemie reich und wohlhabend bleiben, dass die großen Konzerne uns bitte bestens privilegiert bleiben usw. Natürlich müssen sich Politiker um die eigenen Leute kümmern. Aber wir leben in einer WELT-Gesellschaft. Da muss ökonomischer Egoismus als Problem dargestellt werden.

Die geringe Bedeutung christlicher Solidarität für die sich doch immer noch ein bisschen christlich fühlenden Staaten der westlichen Welt wird an den lächerlichen “Milliönchen” sichtbar, die dem Holocaust an den Indigenas in Brasilien trotzen sollen. Gegen die Macht der Konzerne in Brasilien sind europäische Politiker offenbar hilflos oder bleiben gern hilflos. Ich möchte einmal wissen, wie viele Millionen Euro die ultrakatholische PIS – Regierung in Polen zum Beispiel für Brasiliens Indigenas in Brasilien zur Verfügung stellt.

Wer eher eine Analyse zum Thema auf Englisch bevorzugt, dem empfehle ich einen Beitrag von Eduardo Campos Lima, entnommen der us-amerikanischen, kritisch-katholischen zeitschrift „National Catholic Reporter“ vom 9.7.2020:

Brazil’s Indigenous communities are being devastated by COVID-19
Amazonian region is an epicenter of pandemic

By Eduardo Campos Lima

A young Yanomami is examined by a member of a medical team with the Brazilian army in the state of Roraima July 1, 2020. (CNS/Reuters/Adriano Machado)
SAO PAULO, Brazil — Since the beginning of the COVID-19 pandemic in Brazil, Catholic organizations have warned that protective measures should be taken to keep the virus away from the country’s Indigenous population — or the consequences would be disastrous.
The surge in the number of cases among Indigenous since the end of May appears to demonstrate that the worst has happened.
With at least 367,180 cases of infection and 12,685 deaths, the Amazonian region is one of the epicenters of Brazil’s COVID-19 pandemic. The disease is not only impacting large cities such as Manaus and Belém but has also infiltrated many communities in the countryside, including the villages of traditional peoples that live in the rainforest.
The coronavirus has infected at least 6,626 members of Indigenous groups in the region and killed 157 of them. In the whole country, there are at least 9,500 cases involving Indigenous persons, with about 380 deaths, according to the Association of the Indigenous Peoples of Brazil.

The spread of COVID-19 among Indigenous groups reflects a general lack of governmental protection of their rights, said Antônio Cerqueira de Oliveira, executive secretary of the Brazilian bishops’ Indigenous Missionary Council (known by its Portuguese acronym CIMI).
“In previous administrations, Indigenous rights were not fully secure … but at least there was some kind of dialogue with those peoples,” Oliveira told NCR. “President Jair Bolsonaro has closed all doors and established an anti-Indigenous policy.”
Since his 2018 presidential campaign, Bolsonaro has repeatedly criticized the policy of establishing land reservations for Indigenous groups that are able to prove their historic ties with the territory they are claiming. Although it’s mandated by the constitution, Bolsonaro has claimed that Indigenous peoples already have too much land in Brazil, and promised that he wouldn’t grant any new territory to them.
At the same time, Bolsonaro has declared on various occasions that he would loosen the environmental and legal restrictions for economic activities in the country — especially in the Amazon.
Since he took office in January 2019, there has been an intensification of land invasions and destruction of the rainforest, perpetrated by illegal loggers and miners and by ranchers who want to expand their farming areas. The process often involves violence against Amazonian laborers and Indigenous.
Bolsonaro has also downplayed the severity of COVID-19, even as Brazil has the second-highest number of cases, nearly 1.7 million as of July 8, after the U.S. He tested positive for the disease July 6.

“With the pandemic, the already insufficient number of monitoring agents in the Amazon almost disappeared and invasions quickly increased,” said Oliveira. “The intruders are not only destroying the forest and threatening the Indigenous peoples, but they’re also taking the virus with them.”
Porto Velho Archbishop Roque Paloschi, CIMI’s president, said that wildfires set by invaders also have the potential to increase the dissemination of respiratory diseases. “The removal of such intruders from the Indigenous lands is urgent,” he told NCR.
But the governmental agency for Indigenous affairs, the National Indian Foundation, seems to be going in the wrong direction. According to Oliveira, the foundation has removed its agents from Indigenous lands that are awaiting official recognition from the government, leaving many peoples unassisted.

Young Yanomami try on protective masks as members of a medical team with the Brazilian army examine members of the tribe in the state of Roraima July 1, 2020. (CNS/Reuters/Adriano Machado)
The protection for isolated Indigenous groups — which live in the rainforest and avoid any contact with non-Indigenous people — has also been severely weakened, said Oliveira. “The doors are wide open for invaders,” he said.
Catholic missionaries — at least the ones connected to CIMI — stopped visiting the rural villages at the beginning of the outbreak. They advised Indigenous groups to avoid contact with people from the outside and to remain in their reservations as much as possible.
But eventually, some of the members of the communities go into the city in order to receive their salaries or governmental assistance and to buy groceries. That’s when spread of the virus might occur.

“People have not been properly oriented to use hand sanitizers after leaving a store, for instance, or to always wear face masks, at least when they leave their villages,” said Fr. Aquilino Tsiruia, a member of the Xavante people in Mato Grosso State.
“The healthcare authorities should have told the Indigenous peoples about it, but they failed to do it,” said Tsiruia.
At least 32 Xavante people died from COVID-19, most of them in June. “The local healthcare system is very precarious, with only a handful of ICU beds available,” said Tsiruia. “Our people has a considerable population of elders, many of whom with diabetes. Everybody is very frightened.”
Reports of a lack of physicians and equipped hospitals abound among the Amazonian Indigenous peoples. According to Oliveira, the healthcare situation has deteriorated since Bolsonaro canceled an agreement with Cuba that allowed hundreds of Cuban doctors to work in remote areas in Brazil.
The program had been created during the administration of left-wing former President Dilma Rousseff and was ideologically targeted by the far-right Bolsonaro.
“In many Indigenous reservations, the Cuban doctors were the only professionals available. Now, there’s a total absence of healthcare specialists,” said Oliveira.
This is one of the reasons why many Indigenous people report that they have been treating COVID-19 cases with traditional healing herbs and teas.
“If we only count on regular medicines, there won’t be enough for everybody,” said Fr. Justino Rezende, a member of the Tuyuka people who lives in the city of Santa Isabel do Rio Negro, in Amazonas state.

Rezende came down with COVID-19 in June. “The number of cases here is going up,” he said. “Many elderly people are dying.”
Given that most villages are near small cities, the most serious cases are often taken to the state capitals, where the hospitals are a little better. Deaths occurring so far away from patients’ families lead to other complications.
“The disease is disrupting millennium-long life systems, given that it impedes the practice of very important rituals — especially the funereal ones,” explained Sr. Laura Vicuña Manso, a CIMI missionary. “The Indigenous groups feel deeply like they are doing something wrong when they can’t perform their traditional rites.”
Manso described the despair of a few leaders of the Karitiana people from Rondonia State when the first COVID-19 victim of their village died.
“The healthcare authorities wanted to bury the body in the city,” she said. “In the end, after much discussion, we were able to take the body to the village, but they couldn’t perform the whole traditional ritual.”

Yanomami follow members of Brazil’s environmental agency during an operation against illegal gold mining on indigenous land in the heart of the Amazon rainforest. (CNS/Reuters/Bruno Kelly)
Alberto Brazão Góes, a member of the Yanomami people from the village of Maturacá, in the city of São Gabriel da Cachoeira, said that more than 60 people of his community have shown signs of COVID-19, but only two people have died.
“The health professionals told the families not to take the bodies to the village, but they insisted,” said Góes. “I persuaded them to break the tradition and do a quick burial. We usually would cry for at least two days and then do a cremation. Fortunately, they agreed.”
Paloschi said the impossibility of performing their cultural rites generates serious unbalances in Indigenous societies. “It’s a turmoil in their cultural universe,” said the archbishop. “This is a situation of real violence against them.”
Besides CIMI, local dioceses and parishes have been active in providing help to the Indigenous villages. In São Gabriel da Cachoeira, the diocese is part of a committee to deal with the disease, and one of its buildings is being used to shelter patients during treatment.
“Luckily our region began to fight the pandemic from the start,” said Fr. Geraldo Baniwa, who lives in Assunção, an area away from the city center.
“When there’s a serious case in my community, the patient can be taken to the city and undergo treatment,” he said. “About 80 families live here, and nobody died until now.”
Despite the growing numbers of the pandemic in the Amazon, the major cities in the region started to reactivate the economy and to loosen social distancing measures.
“There’s a considerable circulation of Indigenous peoples in the cities,” said Oliveira. “Such an irresponsible reopening will certainly worsen the situation.”
[Eduardo Campos Lima holds a degree in journalism and a doctorate in literature from the University of São Paulo, Brazil. Between 2016 and 2017, he was a Fulbright visiting research student at Columbia University. His work appears in Reuters and the Brazilian newspaper Folha de S. Paulo.]

Quelle: Pressedienst des “National Catholic Reporter”, 9.7.2020

Dieser Beitrag wurde zusammengestellt von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kirchenmitglied sein – ohne Kirchensteuer zu zahlen

Die Kirchen in Deutschland müssen sich neu erfinden
Ein Vorschlag von Christian Modehn

1.
Noch länger sollten die Kirchen die immer höher werdenden Austrittszahlen nicht ignorieren oder nur mutlos kommentieren in immer denselben üblichen Floskeln. Radikale Reformen, die ein Überleben und vielleicht wieder lebendiges Leben der Kirchen sichern könnten, sind notwendig. Ob diese Reformationen (also nicht bloß oberflächliche „Reformen“ oder „Reförmchen“) getan werden, ist bei der Behäbigkeit der Kirchenbürokraten unwahrscheinlich. Dennoch kann ja noch einmal von den Reformationen gesprochen werden. Sozusagen als Übungen derer, die sich dem heiligen Sisyphus verpflichtet wissen.
2.
Es könnte ja sein, dass die Kirchen als Orte der Kommunikation und einer vernünftigen, reflektierten christlichen Spiritualität weiter bestehen wollen: Dann gibt es nur eine Chance, dies wurde schon hundertmal von Theologen und Soziologen gesagt, dann gibt es nur eine Chance: Ein radikaler Wandel nicht nur der Strukturen, sondern auch der klerikalen Mentalitäten und vor allem: Eine Entrümpelung der Kirchenlehre, also der Dogmatik und der Ethik, und damit eng verbunden: Eine heutige, nachvollziehbare Sprache, auch in Gottesdiensten ist die Konsequenz. „Der Herr sei mit euch“ als Grußwort in Gottesdiensten versteht heute nur noch ein gebildeter Theologe oder Historiker. „Welcher Herr denn“, fragte mich kürzlich ein Freund, „soll denn mit mir sein?“ Mit anderen Worten: Die Kirchensprache sollte nicht länger esoterisch sein bzw. mit einer frühmittelalterlichen Sprachwelt verbunden bleiben.
3.
Die Zahlen, eine Erinnerung:
Immer mehr Christen in Deutschland geben ihre Kirchenmitgliedschaft auf: Im Jahr 2019 sind mehr als eine halbe Million Mitglieder der evangelischen und katholischen Kirche aus den Kirchen ausgetreten. Sie sind in die Amtsstuben staatlicher Behörden gegangen und haben dort in einem gar nicht spirituellen, sondern sehr nüchternen, wenn nicht banalen Akt gegen eine Gebühr ihren Kirchenaustritt erklärt. Basta. Kirchenaustritt und Aufkündigung, die Kirchensteuer zu bezahlen, sind bekanntlich identisch. Und keine Kirchengemeinde oder gar ein Bischof interessiert sich für den „Ausgetretenen“, kein Kleriker fragt nach. Ist ja auch egal, noch geht es den Kirchen (materiell) sehr gut… Und eine Nachfrage, ein Interesse, wäre bei der hohen Anzahl der Ausgetretenen auch zu viel verlangt?
4.
Mehr als eine halbe Million Kirchenmitglieder allein im Jahr 2019 weniger: Wenn dieser Trend anhält, und alles spricht dafür, werden in 10 Jahren die Kirchen mindestens 5 Millionen Mitglieder durch Austritt verloren haben, ganz abgesehen von den „Sterbefällen“ der ohnehin älteren Mitglieder. Natürlich werden einige Beobachter zurecht froh sein, wenn die bestens ausgestatteten Kirchen in Deutschland mit ihren prächtig bezahlten Bischöfen (z.B.: Monatsgehalt von Kardinal Marx, München: 11.500 Euro) dann auf Macht, Privilegien und Einfluss wohl verzichten müssen. Das wäre theologisch gesehen auch eine gute Entwicklung, wenn die Kirchen sich wieder etwas dem Vorbild, dem armen Jesus von Nazareth annähern, den auch die Bischöfe bekanntlich als „Kirchengründer“ verehren.
Andererseits gibt es auch einige Soziologen und Theologen, die den allgemeinen und prinzipiellen menschlichen Wert von Kirchen-Gemeinden als Orten des Zusammenseins unterschiedlicher Menschen hoch einschätzen. Und den Zusammenbruch solcher kommunikativen Orte (schon heute) sehr bedauern. Dass Kirchengemeinden auch Räume einer kritischen, reflektierten Spiritualität sein sollten, ist für mich selbstverständlich, aber eben einer kritisch – reflektierten christlichen Spiritualität, jeglicher christliche Fundamentalismus, jegliches charismatisch-naive Verhalten ist für mich ausgeschlossen.
5.
Der zentrale Vorschlag: „Du brauchst keine Kirchensteuer mehr bezahlen und trotzdem Mitglied der Kirche bleiben!“
Also: Jeder und jede kann Kirchenmitglied bleiben, auch wenn sie keine Kirchensteuern mehr zahlen wollen. Und die Kirchen und ihre Gemeinden freuen sich darüber. Weil ihnen das Dabeisein spirituell interessierter Menschen wichtiger ist als die Tatsache, dass diese als Christen auch die staatlich eingezogene Kirchensteuer bezahlen. Auf den Geist, die Gemeinschaft, kommt es dann den Kirchen an, nicht aufs Geld. Welch ein Kontrastprogramm inmitten der kapitalistischen Gier. Die Gemeinden und Kirchenleitungen freuen sich also über diese endlich vollzogene Entkoppelung von Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer, weil sie eben wirklich gern finanziell ärmer ausgestattet sind, aber menschlich und spirituell eine große Weite und Großzügigkeit leben.
6.
Es muss also jetzt in dieser Zeit eines beginnenden Untergangs der so genannten Volkskirchen die Möglichkeit gegeben werden, eine Variante zur bisherigen absoluten Verklammerung von Mitgliedschaft und Kirchensteuer-Zahlung zu realisieren. Und zwar sehr schnell, alsbald, weil es sich ja in der Sicht der Kirchenleute selbst um die Einschränkung einer „Katastrophe“ handelt. Davon sprach etwa Gabriele Höfling am 19.7.2019 auf der (offiziell katholischen) website katholisch.de bezogen auf die Ergebnisse Austritte im Jahr 2018. Verwendet wurde neben „Katastrophe“ treffend auch die Qualifizierung „Desaster“.
7.
Es wäre dann im Laufe der Zeit zu prüfen, ob diese Möglichkeit einer alternativen Kirchenmitgliedschaft (ohne Kirchensteuerzahlung !) von den „Austrittswilligen“ angenommen und entwickelt wird. Es muss damit gerechnet werden, dass sogar viele, die nicht an einen Kirchenaustritt direkt dachten, dann doch diese Variante „Kirchenmitglied ohne Kirchensteuer-Zahlung“ bevorzugen. Wäre das schlimm? Spirituell gesehen auf keinen Fall!
7.
Mit diesem „alternativen Modell“ der Kirchenmitgliedschaft wird sich selbstverständlich ein Umbau der Strukturen der Kirchen wie von selbst vollziehen müssen: Die Gehälter der Pfarrer werden sinken, die großen Apartments und Dienstwohnungen der Bischöfe, Kirchenräte, Ordinariatsräte usw. werden aufgegeben müssen zugunsten kleinerer billigerer Wohnungen. Die alten schönen Behausungen, Paläste, werden teuer vermietet. Es wird also ein ganz anderes Finanzierungs-System der deutschen Kirchen realisiert. Das finanzielle Niveau der Kirchen in Deutschland wird sich etwas dem Niveau anderer europäischer Kirchen anpassen. In Frankreich erhält ein Bischof ein Monatsgehalt von 1.300 Euro. Europäische Kirchensolidarität könnte so real werden.
8.
Noch wichtiger: Die Gemeinden, nun freiwillig etwas verarmt, bieten nun, im Geiste aber erneuert, reformiert, viel Raum für Initiativen verschiedener Art, spirituell, sozial, politisch usw. Wenn es so ist, dass viele der „Ausgetretenen“ auch mit den dogmatischen Lehren und ethischen Weisungen der Kirchenführung nicht einverstanden waren, dann wird man als Gemeinde und Kirche dies respektieren und sie einladen, wo sie nun in der Kirche bleiben wollen, dass sie ihre eigenen Ideen gestalten und durchsetzen. So kann gemeinsam auch eine reformierte, „verschlankte“, auf das Wesentliche begrenzte Theologie und Dogmatik entwickelt werden.
9.
Keine Gräben ziehen zwischen Glaubenden und Atheisten
Dies scheint mir dringend zu sein, dass die Christen endlich aufhören, sich gegenüber den so genannten Atheisten, Skeptikern, Humanisten, „Ausgetretenen“ abzugrenzen. Wichtiger ist: Alle Menschen, was sie auch immer glauben, (auch Atheisten glauben ja an etwas, an das Nichtvorhandensein Gottes z.B.), sind zuerst Menschen. Sie haben die Humanität gemeinsam, sicher auch eine gemeinsame philosophische Haltung des Humanismus.
10.
Christliche Gemeinden sollten darum auch offene Gesprächsforen sein für Atheisten, Skeptiker usw. Christen sollen entdecken, was sie von diesen Menschen lernen können. Vielleicht sind sie „Fremd-Propheten“, wie der katholische Theologe Edward Schillebeeckx sagte, also „Propheten“ für die Christen, die eine neue Fraglichkeit erzeugen, und damit eine neue Lebendigkeit.
11.
Eine Zusammenfassung: Sie wurde angeregt durch die Ausführungen von Malte Lehming im “Tagesspiegel” vom 5.7.2020, Seite 4.
Fromme Christen stehen nicht automatisch frommen (was heißt das schon) Muslimen näher als etwa den Atheisten, wie Malte Lehming vermutet. Nein: Alle Menschen stehen als Menschen einander nahe und schätzen sich als Menschen, wenn sie denn die Menschenrechte als die oberste Norm für ihr Leben anerkennen.
12.
Entscheidend ist also: Was den Zusammenhalt einer Gesellschaft und eines Staates leistet, ist nicht zuerst die unterschiedliche religiöse Überzeugung. Entscheidend und an oberster Stelle stehen die universal geltenden Menscherechte, die Vernunft und der Respekt des demokratischen Rechtsstaates. Erst danach, an zweiter Stelle der Relevanz, kommt, förmlich als private Überzeugung, der je unterschiedliche religiöse Glaube. Und der kann nur so lange öffentliche Geltung beanspruchen, als er eben die universal geltenden Menschenrechte und den demokratischen Rechtsstaat respektiert.
13.
Ökumene unter Christen, Juden, Muslimen ist theologisch interessant, weil da Unterschiede deutlich werden in den Dogmen usw.. Aber diese Ökumene hat vor allem Sinn, wenn alle drei Religionen erkennen: Nicht unser unterschiedlicher Glaube, sondern unser Menschsein im Sinne der Menschenrechte verbindet uns. Und die Vernunfterkenntnis befreit uns alle von Glaubenstraditionen, die dem heutigen Empfinden von Menschlichkeit widersprechen…Eine Ökumene von drei fundamentalistischen Religionen wäre ein Horror. Erst müssen Religionen sich durch Vernunfterkenntnis vom Fundamentalismus befreien, dann können sie miteinander beten und plaudern.
13.
Insofern haben diese Kirchensteuer/Kirchenaustritts-Debatten auch zu einer tieferen Erkenntnis der Rolle der Kirchen, Weltanschauungsgemeinschaft und Religionen im Staat gebracht: Religionen stehen gegenüber den Menschenrechten an zweiter Stelle. Das heißt: Keine religiöse Weisheit, kein religiöses Prinzip, kann beanspruchen, unmittelbar als solche politische und gesetzliche Geltung zu haben.
14.
Am wichtigsten ist: Wer aus der Kirche austritt, nimmt nicht unbedingt “Abschied von Gott”, wie der Titel von Malte Lehming suggeriert. Im Gegenteil: Wer aus der Kirche austritt, sucht seinen eigenen Gott, weil der offiziell verkündete und von den Kirchen gelebte “Gott” leider irgendwie “passé” ist. Vielleicht aber findet er ihn in den Kirchen doch wieder, wenn Kirchen Orte der Freiheit des Geistes werden.

Copyright: Chrisian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Philosophie und der Rassismus: Perspektiven zum akuellen Aufstand für die Würde aller Menschen!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Mord an George Floyd durch den (weißen) Polizisten Derek Chauvin (und seine Kollegen beobachten) bewegt Menschen weltweit, versetzt sie in Trauer und Wut. Auch viele Weiße demonstrieren gegen den weit verbreiteten Rassismus und damit gegen Rassisten. Wer protestiert, fühlt sich mit den seit Jahrhunderten verachteten und unterdrückten Schwarzen in den USA (und nicht nur dort) verbunden.
Präsident Trump zeigt keine Empathie für die Familie des Opfers und wohl auch für die Schwarzen insgesamt. Sie werden von vielen Weißen, vor allem in der Polizei, immer noch a priori eher als potentielle Verbrecher, als „Minderwertige“, verdächtigt und so behandelt. Sie geraten eher in den „Würgegriff“ der Polizisten, die sich dabei wie die „Herrenmenschen“ benehmen … und von Richtern (auch sie „Herrenmenschen“?) trotz aller Untaten freigesprochen werden… Diese Tatsachen sind seit Jahren bekannt und sie werden nun ausführlich in der kritischen Presse dokumentiert. Wird die us-amerikanische Gesellschaft, werden der Staat, die Gerichte, nun „Rassismus – frei“? Das hängt auch davon ab, ob Mister Trump Ende des Jahres in Pension geschickt wird.

2.
Welchen Sinn haben philosophische Überlegungen in dieser Zeit eines immer noch aktiven Rassismus und einer neuen anti-rassistischen Bewegung?
Philosophische Überlegungen sind gegenüber der Faktenfülle anderer Wissenschaften an allgemeinen Erkenntnissen interessiert. Diese sind alles andere als überflüssig oder bloßer Luxus, weil Menschen immer auch als einzelne sich allgemeine Erkenntnisse zunutzemachen. Weil eben jeder einzelne “Teil” eines Allgemeinen, eines allgemein- menschlichen Zusammenhangs ist, eben des allgemeinen Geistes, um eine Erkenntnis von Hegel zu variieren…
Die anti-rassistische Bewegung jetzt und früher zielt auf strengen Respekt für die universal geltenden Menschenrechte; auf scharfe Kontrollen, z.B. welche Leute überhaupt in den Polizeidienst eintreten dürfen; zielt auf bessere Bildung in den Schulen über die Wurzeln des Rassismus,; vor allem auf Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Die – auch ökonomische – Spaltung der Gesellschaft in Weiße und Schwarze, in Weiße, Asiaten und Latinos, etwa in den USA aber auch weltweit, ist eine Schande der Menschheit im 21. Jahrhundert. Dieses Nebeneinander ist de facto von der herrschenden weißen Führung gewollt, das Nebeneinander ist längst zu einem – internationalen – sozialen, menschlichen Gegeneinander geworden.

3.
Und wenn man auch an die Religionen und Kirchen, etwa in den USA denkt: Da ist es doch sehr problematisch, dass es explizit Kirchen für Schwarze (etwa Baptisten in den Südstaaten) und Weiße (vor allem bei Lutheranern, Evangelikalen etc) gibt bzw. wegen der immer noch tiefsitzenden “Rassentrennung” geben muss. Indem die Kirchen ihrerseits in gewisser Weise die Rassentrennung noch heute praktizieren, zeigen sie mindestens indirekt, dass diese Trennung sozusagen auch unabwendbar, „gottgewollt“ ist. Man wird wohl sagen müssen, dass in den USA am ehesten die katholischen Gemeinden Orte „rassenübergreifenden“ Glaubens sind. Dabei sollte man nicht vergessen, wie tief in die Religions- bzw. Kirchengeschichte die Wurzeln des Rassismus reichen. Man denke an die Verteufelung von Juden und Muslims in Spanien, aber auch an die Degradierung von Christen in muslimischen Ländern. Man denke an den Teufelsglauben und damit an Menschen, vom Teufel besessen, ein Wahn, der heute noch praktiziert wird. Man denke an die vielen Teufelspredigten von Papst Franziskus; an die ständigen Kurse für Exorzisten an päpstlichen Universitäten, etwa durch den Orden der Legionäre Christi usw.): Der Teufel ist jenes Wesen, das Feinde definiert, die am besten ausgelöscht werden sollten…etwa Hexen, Häretiker, Juden…

4.
Hier geht es um eine, wie für Philosophien übliche, grundsätzliche Frage: Was ist eigentlich im menschlichen Geist, also im „Innersten“ des Menschen selbst, die „Basis“ für ein Verhalten, das sich auch rassistisch äußert:
Philosophisch ist zunächst klar: Geistige Orientierungen drücken sich in Gesetzen aus, in Wirtschaftsformen usw. So sehr ökonomische Bedingungen das Zusammenleben auch prägen, so sehr muss elementar anerkannt werden: Diese ökonomischen Bedingungen in ihrer Konkretheit sind Werk und Ausdruck menschlichen Geistes, menschlicher Vernunft bzw. sehr oft der Unvernunft. Insofern sollte die geistige Orientierung in ihrer Notwendigkeit, diese sichtbar, „materiell“, gesellschaftlich auszudrücken, sehr hoch eingeschätzt werden. Die kapitalistische Gesellschaft ist also wie jede Gesellschaft, wie jedes gesellschaftliche “Produkt”, Ausdruck und „Resultat“ geistiger Prozesse. Das scheint mir philosophisch evident zu sein. Das gilt auch, um den Rassismus zu verstehen.

5.
Rassismus sollte als ein Oberbegriff für vielfältiges Verhalten wahrgenommen werden: Rassismus zeigt sich nicht nur als Degradierung der Schwarzen; sondern auch als Antisemitismus, als Homophobie und als Anti-Islam-Haltung, Anti-Sinti/Roma-Haltung, als gewollten Ausschluss der Armen und Obdachlosen aus der Gesellschaft und so weiter.
Mit anderen Worten: Es muss also angesichts der Fülle dieser ANTI-Haltungen gefragt werden: Warum ist unter Menschen die Bereitschaft so stark, andere Menschen auf die Ebene des Feindes, des “Unmenschen”, herabzusetzen, anstatt den anderen und die anderen als gleichberechtigte Partner zu sehen und zu respektieren.
Warum wird der andere nicht als Teil des Eigenen gesehen, warum wird so selten gesagt und entsprechend gelebt: Der andere, er, sie, gehören zu mir, in gewisser Hinsicht: Sie sind wie ich. Warum werden „andere“ aus der eigenen Welt ausgeschlossen, verachtet, diskriminiert, getötet. Warum fühlen sich einige Menschen als Herrenmenschen und machen aus den anderen noch immer nicht nur die „Untergebenen“, sondern die Sklaven, selbst wenn dieser Begriff nicht mehr verwendet wird, der Sache nach aber gilt…

Hegel hat darauf eine Antwort, den Hinweis eines Auswegs, einer Befreiung vom Rassismus: Wir Menschen alle sind in gewisser Hinsicht (ich betone mit Hegel: in gewisser Hinsicht !) identisch. Wir sind insofern „alle“ untereinander und mit einander verbunden und darin identisch, weil wir alle mit dem Geist, der Vernunft „ausgestattet“ sind. Das macht den „unendlichen Wert“ des Menschen als Menschen aus. Diese allen gemeinsame Vernunft kann uns in kritischer Reflexion, auch in selbstkritischer Reflexion, orientieren und gerechte Gesetze hervorbringen.

6.
Unser Thema betrifft natürlich auch die psychologische und die soziologische Forschung.
Aber eben auch die Philosophie. Da könnte man ausführlich rassistische Vorurteile bei „berühmten“ Philosophen besprechen, bei Kant oder bei Hegel, bei Nietzsche oder Heidegger. Das ist eine wichtige Arbeit, die z.T. bereits geleistet wird. Etwa wenn an John Locke erinnert wird, der sagte: „Der Mensch ist eine weißes, rationales Lebewesen“(zit. in „Enzyklopädie Philosophie“, III, S. 2194). Kant meinte gar, „die Weißen seien die einzigen, die immer in Vollkommenheit fortschreiten“ (ebd., S. 2196). Wird wegen dieser kulturell begrenzten falschen Aussage aber Kants Erkenntnis zum „Kategorischen Imperativ“ hinfällig? Ich denke: Ganz und gar nicht. Irgendwo muss die Begrenzung eines Lebens in der Welt Königsbergs im 18. Jahrhundert (!) deutlich werden. Nietzsche betrachtete „die Neger als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen“ (ebd. 2198). Inwieweit dieses Zitat in Nietzsches Lehre vom „Übermenschen“ passt, kann hier nicht weiter diskutiert werden.

7.
Philosophen haben also in ihrer Zeit zu unserem Thema viel Unsinn gesagt. Soll man sie entschuldigen, dass sie eben zu sehr in ihre Zeit, in ihre herrschende Kultur, eingebunden waren? Aber es gab doch einige Denker, die den imperialen, tötenden Wahn der Rassisten erkannten, anklagten und z.T. überwanden: Wie der Theologe Bartolomé de las Casas, der sich für Menschenwürde der indigenen Völker einsetzte. Das heißt, die rassitische Welt war damals schon (im 16. Jahrhundert) “gebrochen”, keineswegs selbstverständlich. Wer wollte, und bereit war, seine Karriere in dieser Welt zu beschädigen, konnte mutig ein Anti-Rassist sein. Es gab einige, die befreiten sich langsam vom Rassismus, selbst wenn etwa Las Casas den Fehler machte, Schwarze aus Afrika auf die amerikanischen Planatagen zu bringen. Ein Fehler, den er später ausdrücklich bedauerte…

8.
Mir scheint ein anderes, grundlegenderes philosophisches Thema noch wichtiger. Die Beziehung eines Menschen zum anderen Menschen, zum „Anderen“, ist die Basis, von der aus das weite Feld des sich sehr vielfältig äußernden Rassismus zu verstehen ist?
Der Mensch ist immer schon und vornherein Beziehung und damit auch Kooperation. Nur in der Beziehung und ALS Beziehung entwickelt sich das Individuum. An die “Genese” des einzelnen Menschen müsste jetzt erinnert werden: Er entstammt immer einer Beziehung von zwei Personen, selbst der anonyme Samenspender ist als anonymer Vater immer noch Ausdruck für eine minimale Beziehung. Von der Beziehung zur Mutter, zu den Eltern, den Verwandten wäre zu sprechen, von der Schule als einem Ort beziehungsreicher Bildung usw. Ein total isolierter Mensch ohne irgendeine Verbundenheit mit anderen Menschen ist absolut unmöglich. Der Mensch als Beziehung: Das wäre, wenn man so will, eine Definition „des“ Menschen…Und weil jeder Mensch nur in Beziehung lebt, ist es tödlich für Geist und Seele des Menschen, diese Beziehung als Herrschaftsform mit “Herrenmenschen” zu pervertieren. Rassismus ist insofern eine Art Suizid der Herren: Sie töten die “anderen” und zerstören sich selbst. Der Rassist tötet sich selbst, tötet seine Seele, sein Menschsein.

9.
Da können kluge Kritiker nichts mehr einwenden, wenn sie auch in dem Fall den alt bekannten, viel zitierten Spruch sagen: „Aus einem Faktum (also: Bindung des einzelnen an die anderen von vornherein) folgt kein Sollen, also kein ethischer Impuls”.
ABER: Dieses beschriebene unverzichtbare Hineingestelltsein jedes einzelnen in ein notwendiges (auch biologisches) Beziehungsgeschehen ist tatsächlich zunächst als Faktum weder gut noch böse. Es ist der neutrale, faktische Ausgangspunkt jeglichen individuellen Lebens: Wir sind automatisch und unausweichlich in die Beziehung zu anderen hineingestellt. Aber wir müssen diese Beziehung im Laufe des Lebens gestalten. Und dann beginnen die Fragen: Ist diese Gestaltung der Beziehung zu anderen gut oder böse? Diese normativen Fragen können gar nicht ausbleiben. Sie haben ihren zentralen Platz, ganz aktuell, in der Erkenntnis, dass die meisten Menschen die Ermordung (etwa von George Floyd) als ein abscheuliches Verbrechen betrachten.
Wer diesen normativen Aspekt nicht einsieht, dem empfehle ich den kategorischen Imperativ von Kant anzuwenden und dann beispielsweise konkret zu behaupten: „Meine Maxime im Leben ist, dass Menschen im Würgegriff ermordet werden dürfen: Also auch ich darf im Würgegriff ermordet werden von der Polizei, auch der Polizist Chauvin darf auf diese Weise ermordet werden. Dass aus dieser meiner Lebens-Maxime als Haltung ein permanenter Bürgerkrieg entsteht, nehme ich in Kauf“.
Wer will im Ernst eine solche Maxime unterstützen, die aus der Reflexion auf die normative Ablehnung des Mordes an George Floyd folgt… Rassisten leben selbst-widersprüchlich. Sie sind insofern geistig verwirrt. Und krank.
Man sieht: Die Abwehr gegen das Töten von George Floyd ist vernünftig und allgemeingültig für eine Menschheit, die sich noch als human betrachtet. Antirassismus ist vernünftig und ein evidentes Gut der Menschheit. Antirassismus ist also alles andere als eine Laune bestimmter Kreise. Antirassismus ist gut.

10.
Philosophisch genauso wichtig ist die Erkenntnis: Jeder Mensch wird in eine bestimmte Sprache hinein geboren. Dabei zeigt sich auch die Grenze der viel besprochenen Autonomie: Ich werde – ohne meine Entscheidung – in die deutsche Sprachwelt hineingeboren, auch wenn ich möglicherweise parallel – z.B. durch einen französischen Vater – zugleich noch Französisch lernen kann: Mit dem notwendigen und gar nicht mehr abzuwerfenden Hineingestelltsein in eine Sprache werde ich sozusagen automatisch mit der Welt der anderen verbunden. Wir teilen uns diese gemeinsame Sprache, leben in den gleichen Begriffen, die ja auch von einem gemeinsamen „Inhalt“ bestimmt sind.
Diese „von uns“ geteilte Sprachwelt kann aber missbraucht werden, wenn bestimmte Leute beanspruchen, nur sie allein können die Inhalte der gemeinsamen Sprachwelt und der mit ihr vermittelten Werte definieren und als Werte durchsetzen. Das gelingt um so eher, als diese Leute ihren ökonomischen Vorteil ausnützen, wenn sie sich besser und umfassender bilden können als andere. Und dann diese „ungebildeten“ Anderen zu den “Untergebenen”, “Zweitklassigen” machen.
Das heißt: Rassismus wird nur in einer Gesellschaft überwunden werden, die keine tiefen Spaltungen von ökonomischen Klassen kennt. Die Debatte über ökonomische Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen ist die notwendige Konsequenz aller antirassistischen Demonstrationen. Und diese Debatten werden mehr Mühe kosten als das Demonstrieren jetzt.

11.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die reichen Länder des Nordens schon durch ihre Wirtschaftspolitik und „Entwicklungspolitik“ arme Länder im Süden auch heute eher als zweitklassig, wenn nicht als minderwertig betrachten. Man denke nur daran, welche Milliarden Euro deutsche Firmen etc. vom Staat erhalten. Einer internationalen, menschlichen Gemeinschaft hätte es gut angestanden, auch einige Milliarden den Ärmsten in Afrika zur Verfügung zu stellen…
Man denkt in Europa immer noch: Im Süden leben Menschen, die eigentlich eine gerechte humane Situation, wie die Menschen im Norden sie erleben, gar nicht „brauchen“. Sie seien mit so wenigem zufrieden, brauchen keine gründliche Bildung, keine würdigen Wohnungen, kein sauberes Wasser und so weiter. Die Armen im Süden seien schon mit einer Schale Reis pro Tag zufrieden. Mit diesem Bild haben Solidaritätsbewegungen auch der Kirchen jahrelang Spenden sammeln wollen. Dieses herablassende Denken und Handeln gegenüber den Armen im Süden kann durchaus auch rassistisch genannt werden. So wie früher viele Westdeutsche den Ostdeutschen, den Verwandten „drüben“, oft nur Minderwertiges in ihre Pakete aus dem Westen steckten: Nach dem Motto: „Na ja, für die da drüben ist das noch gut genug“.
An diesen stillen Rassismus auch im Verhalten des reichen Nordens gegenüber dem meist armen Süden haben sich so viele in dieser verrückten Welt-Un-Ordnung gewöhnt; er verdient genauso viel Aufmerksamkeit wie der spektakuläre mörderische Rassismus jetzt wieder in den USA.

12.
So verbirgt sich Rassismus in unterschiedlichen, z.T. verdeckten Formen im Umgang der Menschen untereinander. Erst wenn sich bestimmte herrschende Individuen von der Ideologie befreien bzw. sich befreien lassen und von anderen befreit werden, sie seien „die Herrenmenschen“, kann eine humane Welt mit weniger Rassismus entstehen.
Wer denkt übrigens daran, bestimmten Männern, die sich Politiker nennen, wie Trump, Bolsonaro usw. eine Psychotherapie dringend zu empfehlen? Solange sie an ihr teilnehmen, sind sie von ihren Ämtern befreit.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.