Die liberale Theologie führt die Kirchen aus dem Getto. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Weiterdenken heißt unsere Interview – Reihe mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, Berlin. Dieses Interview  ist die 34. Folge dieser viel beachteten Reihe.

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.Das Reformationsgedenken, 10 Jahre hat es gedauert, ist nun zu Ende. Nach meinem Eindruck fehlte bei all den vielen hundert Themen, die im Zusammenhang des Reformationsgedenkens von offizieller kirchlicher Seite vorbereitet und dann abgehandelt wurden, die liberale Theologie. Sie selbst sind einer der wenigen führenden Theologen, die unentwegt theologisch denken unter der Perspektive liberaler Theologie. Liberale Theologie bedeutet ja große Weite im Denken und Respekt vor den religiösen Äußerungen auch der nicht kirchlichen Menschen, auch in der Kultur. Ich möchte provozierend fragen: Hätte das Reformationsgedenken die liberale Theologie thematisiert, wäre vielleicht die Idee einer Zweiten Reformation deutlich geworden?

Ja, die liberale Theologie bedeutet auch für mich eine große Weite im Nachdenken über die Religion als einer Angelegenheit des einzelnen Menschen. Liberale Theologie gehört nicht in eine bestimmte Epoche der Theologiegeschichte. Sie steht im Grunde auch nicht für eine theologische Richtung. Sehr viel eher sehe ich in ihr eine Haltung der Theologie und letztlich dem Leben gegenüber, von der ich denke, dass sie viele Menschen heute zu Freunden der Religion machen könnte.

In der Religion nicht mehr die Notwendigkeit einer Zustimmung zu Glaubenslehren und Lebensregeln zu erkennen, sondern die Ermutigung zu einer dem eigenen Ich wie dem Zusammenleben förderlichen Lebenshaltung bräuchte vermutlich tatsächlich so etwas wie eine zweite Reformation. Vielleicht ist diese neue Reformation aber auch längst in Gang.

Vor die Theologie rückt die liberale Theologie die Religion, oder besser, das menschliche Leben, das für religiöse Erfahrungen und religiöse Fragen offen ist: dort, wo wir uns der Grenzen bewusst werden, der Kontingenz unseres Daseins; dort, wo wir den Anspruch hören, den die anderen an uns machen; dort, wo wir merken, dass wir in unserem Planen und Tun, in unserem Wollen und unserer Kritik immer schon vom Sinn des Ganzen ausgehen, obwohl wir diesen doch nicht wissend vor uns bringen können.

Liberale Theologie nimmt von der so sich uns zeigenden Transzendenzoffenheit unseres Lebens ihren Ausgang. Sie setzt darauf, dass es ein menschliches Bedürfnis ist, sich zu dieser Transzendenz bewusst zu verhalten. Wir Menschen wollen, dass unser Leben gelingt, dass es gut mit ihm wird, wissen aber zugleich, dass wir dieses Gelingen, so sehr wir uns auch anstrengen mögen, doch nicht in der eigenen Hand haben. Wir leben von Voraussetzungen, die wir nicht gelegt haben, noch zu legen im Stande sind, wir geraten an Grenzen, die uns unüberwindlich bleiben, wir setzen auf den Sinn unsers Tun, ohne doch dessen Konsequenzen vollständig überschauen zu können. Sich zu Grund, Grenze und Sinn des Lebens bewusst zu verhalten, das bedeutet für liberale Theologie, Religion zu haben.

Aber sie nimmt gegenüber der so gelebten Religion keine belehrende, normierende oder fordernde Rolle ein. Sie will mit Menschen dann und dort, wo sich ihnen die Lebens- und Sinnfragen selbst stellen, ins Gespräch kommen. Nicht mit fertigen Antworten, denn sie weiß, dass es auf die Fragen der Religion keine fertigen Antworten gibt. Das macht sie ja zu religiösen Fragen. Liberale Theologie definiert die Religion so, dass sie sagt: wer Religion hat, lässt sich auf eben die Fragen ein, auf die es sie keine abschließenden Antworten gibt. Deshalb sind Menschen, die Sinn für die Religion haben und dann vielleicht auch für eine sich im Nachdenken über Religion vollziehende liberale Theologie, Menschen, die neugierig bleiben, die sich nie zufriedengeben mit dem Erreichten, aber doch auch voller Hoffnung, indem sie mit dem 1. Johannesbrief sagen: „Wir sind nun Gottes Kinder“ – und als solche in die in Gott gegründete Freiheit gestellt, „aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ (1.Joh 3,2)

Auch die Bibel, die kirchlichen Bekenntnisse und dogmatischen Lehrgebäude liefern keine fertigen Antworten. Liberale Theologie findet in den heiligen Texten aber immer wieder hilfreiche Hinweise zu einem uns förderlichen, ja, tröstlichen Umgang mit dem merkwürdigen Dasein, das wir selber sind, eben weil sie in eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber einweist.

Liberale Theologen sprechen von Demut, Gelassenheit und Dankbarkeit, wenn sie die Haltung dem Leben gegenüber, die Religion gewinnen lässt, beschreiben wollen. In der Sicht liberaler Theologie baut sich das Religiöse jedenfalls nicht aus der Zustimmung zu so genannten Glaubensinhalten auf, schon gar nicht zu biblischen oder kirchlichen Lehren. Das Religiöse tritt in jener Haltung dem Leben gegenüber hervor, die mir daraus erwächst, dass ich mich in eine größere, alles umgreifende, göttliche Wirklichkeit hineingestellt und von ihr getragen weiß. Um den Sinn für Religion zu wecken und zu fördern, versucht Liberale Theologie deshalb davon zu überzeugen, dass das Vertrauen auf einen göttlichen Sinngrund der Welt und des eigenen Daseins in ihr, eine entlastende Kraft hat und den Lebensmut auch noch auf brüchigem Lebensgelände zu erhalten vermag.

Wovon liberale Theologie ausgeht, ist, dass Menschen grundsätzlich leben wollen, und sie wollen, dass ihr Leben gelingt. Liberale Theologie tritt deshalb energisch für die Beseitigung von Lebensumständen ein, durch die Menschen daran gehindert werden, sich selbstbestimmt entfalten und ein Leben in Würde und Freiheit führen zu können. Die Menschenrechte und die in sie eingeschriebene Religionsfreiheit sind ihr Credo. Ihre Leitfrage ist nicht mehr die nach dem gnädigen Gott, sondern die nach echtem, befreitem Leben.

2.Warum haben eigentlich die meisten protestantischen und katholischen Kirchenführer in Deutschland Angst vor einer Anwendung liberal-theologischer Impulse?

Das liegt daran, dass die liberale Theologie nicht nur Demut und Dankbarkeit dem Leben gegenüber, sondern auch Freiheit und Kritik zu Haltungen erklärt, die die Religion fördert, und die es sogar ihr selbst gegenüber einzunehmen gilt. Die liberale Theologie vertritt die religiöse Autonomie jedes und jeder einzelnen. Sie hält dazu an, das Kriterium der subjektiv empfunden Lebensdienlichkeit gegenüber allen von außen und oben herangetragenen Ansprüchen auf Belehrung im rechten Glauben und Leben anzuwenden.

Diese souveräne Haltung der eigenen Religion gegenüber, so meinen viele Kirchenleitende, untergrabe die kirchliche Autorität und öffne der subjektiven Beliebigkeit Tor und Tür. Man muss der Gerechtigkeit halber aber auch sagen, dass sich in der pastoralen und seelsorgerlichen Praxis weithin diese Orientierung an der Subjektivität durchgesetzt hat. Absolute Geltungs- und Wahrheitsansprüche werden kaum noch erhoben. Dass etwas in der Bibel steht, gilt nicht per se schon als Argument. Religiöse Rede muss durch das Nadelöhr der jeweils eigenen Einsicht in ihre Wahrheit. Dann erst – und so verfährt heute jede verständnisvolle pastorale Praxis –, wenn die religiöse Rede subjektiv einleuchtet und sie mich in meiner Lebenssituation zu stärken, zu trösten, aber genauso auch zu kritischem Widerstand zu ermutigen vermag, sind wir bereit, sie für uns anzunehmen.

Auch wenn die pastorale Arbeit im Grunde sich längst auf das liberal-theologische Paradigma umgestellt hat, stimmt diese Weite und Offenheit in der pastoralen Praxis immer noch nicht mit dem öffentlich kommunizierten theologischen Selbstverständnis der Kirche zusammen. Dieses verlangt nach wie vor, von absoluten Vorgaben her zu denken, dem Wort Gottes, der biblischen Offenbarung, den Dogmen und Lehrgebäuden. Auch die dezidiert kirchlich arbeitende Theologie bezieht ihren kirchlichen Einfluss immer noch sehr stark aus ihren Anstrengungen, die Aufgabe der Auslegung und Anwendung der autoritativen kirchlichen Vorgaben wahrzunehmen.

Dass es in der seelsorgerlichen Praxis in erster Linie darauf ankommt, nicht Texte, auch nicht die heiligen Texte, sondern das Leben zu verstehen, das hat in die Selbstauffassung der Kirche zu wenig Eingang gefunden. Auch verunsichert eine solche Selbstbeschreibung immer noch und wird als Bedrohung der Identität und des Auftrags der Kirche gesehen.

3.Wenn die offiziellen Kirchen und Gemeinden in Deutschland – im Unterschied zu den Niederlanden – so viel Ausgrenzung liberal – theologischen Denkens betreiben: Müssten wir, das sage ich auch als liberal-theologischer Journalist, nicht viel stärker unabhängige Orte entwickeln für liberal – theologisches Arbeiten, mitten im kulturellen Geschehen, im Dialog mit sich säkular verstehenden Menschen? Mit anderen Worten: Führt das liberal – theologische Denken nicht auch von selbst über die etablierten Kirchenorganisationen hinaus zu einer neuen religiösen Weite? 

Auch da würde ich zunächst sagen, dass das ja längst auch geschieht. Die religiösen Themen werden überall in der Kultur verhandelt. Kultur ist ja das, womit wir dem Ausdruck geben, was uns bewegt und beschäftigt, was uns bedrängt, weil unsere eigene Identität daran hängt und womit wir doch nicht fertig werden – im persönlichen Leben, in der Gesellschaft, in der Politik. Das alles findet aber auch Eingang in das Engagement so vieler Menschen, sei es durch ihre Mitarbeit in NGOs oder auch durch die verantwortliche Ausübung ihrer beruflichen oder ehrenamtlichen Arbeit. Sie unternehmen dieses Engagement, weil sie ihren Vorstellungen vom guten Leben folgen. Sie gründen Initiativen oder schließen sich solchen an, in denen sie den Kampf für mehr Humanität und die Durchsetzung der Menschenrechten aufnehmen, – denken wir nur noch einmal an die „Willkommenskultur“ im Sommer und Herbst 2015.

Die Weite liberal-theologischen Denken zeigt sich gerade auch darin, dass wir, sofern wir ihm folgen, nicht meinen, wir müssten alle diese Initiativen und Aktivitäten im christlichen Geist der Freiheit und der Menschlichkeit in die Kirche zurückführen oder an sie anbinden. Eine starke Kirche liegt überhaupt nicht im liberal-theologischen Interesse. Ihm geht es am Ort des einzelnen Menschen um die Ermöglichung einer freien und selbstverantwortlichen, in dem allem aber auch gelassenen Einstellung zum Leben.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die liberale Theologie führt die Kirchen aus dem Getto. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Weiterdenken heißt unsere Interview – Reihe mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, Berlin. Dieses Interview  ist die 34. Folge dieser viel beachteten Reihe.

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.Das Reformationsgedenken, 10 Jahre hat es gedauert, ist nun zu Ende. Nach meinem Eindruck fehlte bei all den vielen hundert Themen, die im Zusammenhang des Reformationsgedenkens von offizieller kirchlicher Seite vorbereitet und dann abgehandelt wurden, die liberale Theologie. Sie selbst sind einer der wenigen führenden Theologen, die unentwegt theologisch denken unter der Perspektive liberaler Theologie. Liberale Theologie bedeutet ja große Weite im Denken und Respekt vor den religiösen Äußerungen auch der nicht kirchlichen Menschen, auch in der Kultur. Ich möchte provozierend fragen: Hätte das Reformationsgedenken die liberale Theologie thematisiert, wäre vielleicht die Idee einer Zweiten Reformation deutlich geworden?

Ja, die liberale Theologie bedeutet auch für mich eine große Weite im Nachdenken über die Religion als einer Angelegenheit des einzelnen Menschen. Liberale Theologie gehört nicht in eine bestimmte Epoche der Theologiegeschichte. Sie steht im Grunde auch nicht für eine theologische Richtung. Sehr viel eher sehe ich in ihr eine Haltung der Theologie und letztlich dem Leben gegenüber, von der ich denke, dass sie viele Menschen heute zu Freunden der Religion machen könnte.

In der Religion nicht mehr die Notwendigkeit einer Zustimmung zu Glaubenslehren und Lebensregeln zu erkennen, sondern die Ermutigung zu einer dem eigenen Ich wie dem Zusammenleben förderlichen Lebenshaltung bräuchte vermutlich tatsächlich so etwas wie eine zweite Reformation. Vielleicht ist diese neue Reformation aber auch längst in Gang.

Vor die Theologie rückt die liberale Theologie die Religion, oder besser, das menschliche Leben, das für religiöse Erfahrungen und religiöse Fragen offen ist: dort, wo wir uns der Grenzen bewusst werden, der Kontingenz unseres Daseins; dort, wo wir den Anspruch hören, den die anderen an uns machen; dort, wo wir merken, dass wir in unserem Planen und Tun, in unserem Wollen und unserer Kritik immer schon vom Sinn des Ganzen ausgehen, obwohl wir diesen doch nicht wissend vor uns bringen können.

Liberale Theologie nimmt von der so sich uns zeigenden Transzendenzoffenheit unseres Lebens ihren Ausgang. Sie setzt darauf, dass es ein menschliches Bedürfnis ist, sich zu dieser Transzendenz bewusst zu verhalten. Wir Menschen wollen, dass unser Leben gelingt, dass es gut mit ihm wird, wissen aber zugleich, dass wir dieses Gelingen, so sehr wir uns auch anstrengen mögen, doch nicht in der eigenen Hand haben. Wir leben von Voraussetzungen, die wir nicht gelegt haben, noch zu legen im Stande sind, wir geraten an Grenzen, die uns unüberwindlich bleiben, wir setzen auf den Sinn unsers Tun, ohne doch dessen Konsequenzen vollständig überschauen zu können. Sich zu Grund, Grenze und Sinn des Lebens bewusst zu verhalten, das bedeutet für liberale Theologie, Religion zu haben.

Aber sie nimmt gegenüber der so gelebten Religion keine belehrende, normierende oder fordernde Rolle ein. Sie will mit Menschen dann und dort, wo sich ihnen die Lebens- und Sinnfragen selbst stellen, ins Gespräch kommen. Nicht mit fertigen Antworten, denn sie weiß, dass es auf die Fragen der Religion keine fertigen Antworten gibt. Das macht sie ja zu religiösen Fragen. Liberale Theologie definiert die Religion so, dass sie sagt: wer Religion hat, lässt sich auf eben die Fragen ein, auf die es sie keine abschließenden Antworten gibt. Deshalb sind Menschen, die Sinn für die Religion haben und dann vielleicht auch für eine sich im Nachdenken über Religion vollziehende liberale Theologie, Menschen, die neugierig bleiben, die sich nie zufriedengeben mit dem Erreichten, aber doch auch voller Hoffnung, indem sie mit dem 1. Johannesbrief sagen: „Wir sind nun Gottes Kinder“ – und als solche in die in Gott gegründete Freiheit gestellt, „aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ (1.Joh 3,2)

Auch die Bibel, die kirchlichen Bekenntnisse und dogmatischen Lehrgebäude liefern keine fertigen Antworten. Liberale Theologie findet in den heiligen Texten aber immer wieder hilfreiche Hinweise zu einem uns förderlichen, ja, tröstlichen Umgang mit dem merkwürdigen Dasein, das wir selber sind, eben weil sie in eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber einweist.

Liberale Theologen sprechen von Demut, Gelassenheit und Dankbarkeit, wenn sie die Haltung dem Leben gegenüber, die Religion gewinnen lässt, beschreiben wollen. In der Sicht liberaler Theologie baut sich das Religiöse jedenfalls nicht aus der Zustimmung zu so genannten Glaubensinhalten auf, schon gar nicht zu biblischen oder kirchlichen Lehren. Das Religiöse tritt in jener Haltung dem Leben gegenüber hervor, die mir daraus erwächst, dass ich mich in eine größere, alles umgreifende, göttliche Wirklichkeit hineingestellt und von ihr getragen weiß. Um den Sinn für Religion zu wecken und zu fördern, versucht Liberale Theologie deshalb davon zu überzeugen, dass das Vertrauen auf einen göttlichen Sinngrund der Welt und des eigenen Daseins in ihr, eine entlastende Kraft hat und den Lebensmut auch noch auf brüchigem Lebensgelände zu erhalten vermag.

Wovon liberale Theologie ausgeht, ist, dass Menschen grundsätzlich leben wollen, und sie wollen, dass ihr Leben gelingt. Liberale Theologie tritt deshalb energisch für die Beseitigung von Lebensumständen ein, durch die Menschen daran gehindert werden, sich selbstbestimmt entfalten und ein Leben in Würde und Freiheit führen zu können. Die Menschenrechte und die in sie eingeschriebene Religionsfreiheit sind ihr Credo. Ihre Leitfrage ist nicht mehr die nach dem gnädigen Gott, sondern die nach echtem, befreitem Leben.

2.Warum haben eigentlich die meisten protestantischen und katholischen Kirchenführer in Deutschland Angst vor einer Anwendung liberal-theologischer Impulse?

Das liegt daran, dass die liberale Theologie nicht nur Demut und Dankbarkeit dem Leben gegenüber, sondern auch Freiheit und Kritik zu Haltungen erklärt, die die Religion fördert, und die es sogar ihr selbst gegenüber einzunehmen gilt. Die liberale Theologie vertritt die religiöse Autonomie jedes und jeder einzelnen. Sie hält dazu an, das Kriterium der subjektiv empfunden Lebensdienlichkeit gegenüber allen von außen und oben herangetragenen Ansprüchen auf Belehrung im rechten Glauben und Leben anzuwenden.

Diese souveräne Haltung der eigenen Religion gegenüber, so meinen viele Kirchenleitende, untergrabe die kirchliche Autorität und öffne der subjektiven Beliebigkeit Tor und Tür. Man muss der Gerechtigkeit halber aber auch sagen, dass sich in der pastoralen und seelsorgerlichen Praxis weithin diese Orientierung an der Subjektivität durchgesetzt hat. Absolute Geltungs- und Wahrheitsansprüche werden kaum noch erhoben. Dass etwas in der Bibel steht, gilt nicht per se schon als Argument. Religiöse Rede muss durch das Nadelöhr der jeweils eigenen Einsicht in ihre Wahrheit. Dann erst – und so verfährt heute jede verständnisvolle pastorale Praxis –, wenn die religiöse Rede subjektiv einleuchtet und sie mich in meiner Lebenssituation zu stärken, zu trösten, aber genauso auch zu kritischem Widerstand zu ermutigen vermag, sind wir bereit, sie für uns anzunehmen.

Auch wenn die pastorale Arbeit im Grunde sich längst auf das liberal-theologische Paradigma umgestellt hat, stimmt diese Weite und Offenheit in der pastoralen Praxis immer noch nicht mit dem öffentlich kommunizierten theologischen Selbstverständnis der Kirche zusammen. Dieses verlangt nach wie vor, von absoluten Vorgaben her zu denken, dem Wort Gottes, der biblischen Offenbarung, den Dogmen und Lehrgebäuden. Auch die dezidiert kirchlich arbeitende Theologie bezieht ihren kirchlichen Einfluss immer noch sehr stark aus ihren Anstrengungen, die Aufgabe der Auslegung und Anwendung der autoritativen kirchlichen Vorgaben wahrzunehmen.

Dass es in der seelsorgerlichen Praxis in erster Linie darauf ankommt, nicht Texte, auch nicht die heiligen Texte, sondern das Leben zu verstehen, das hat in die Selbstauffassung der Kirche zu wenig Eingang gefunden. Auch verunsichert eine solche Selbstbeschreibung immer noch und wird als Bedrohung der Identität und des Auftrags der Kirche gesehen.

3.Wenn die offiziellen Kirchen und Gemeinden in Deutschland – im Unterschied zu den Niederlanden – so viel Ausgrenzung liberal – theologischen Denkens betreiben: Müssten wir, das sage ich auch als liberal-theologischer Journalist, nicht viel stärker unabhängige Orte entwickeln für liberal – theologisches Arbeiten, mitten im kulturellen Geschehen, im Dialog mit sich säkular verstehenden Menschen? Mit anderen Worten: Führt das liberal – theologische Denken nicht auch von selbst über die etablierten Kirchenorganisationen hinaus zu einer neuen religiösen Weite? 

Auch da würde ich zunächst sagen, dass das ja längst auch geschieht. Die religiösen Themen werden überall in der Kultur verhandelt. Kultur ist ja das, womit wir dem Ausdruck geben, was uns bewegt und beschäftigt, was uns bedrängt, weil unsere eigene Identität daran hängt und womit wir doch nicht fertig werden – im persönlichen Leben, in der Gesellschaft, in der Politik. Das alles findet aber auch Eingang in das Engagement so vieler Menschen, sei es durch ihre Mitarbeit in NGOs oder auch durch die verantwortliche Ausübung ihrer beruflichen oder ehrenamtlichen Arbeit. Sie unternehmen dieses Engagement, weil sie ihren Vorstellungen vom guten Leben folgen. Sie gründen Initiativen oder schließen sich solchen an, in denen sie den Kampf für mehr Humanität und die Durchsetzung der Menschenrechten aufnehmen, – denken wir nur noch einmal an die „Willkommenskultur“ im Sommer und Herbst 2015.

Die Weite liberal-theologischen Denken zeigt sich gerade auch darin, dass wir, sofern wir ihm folgen, nicht meinen, wir müssten alle diese Initiativen und Aktivitäten im christlichen Geist der Freiheit und der Menschlichkeit in die Kirche zurückführen oder an sie anbinden. Eine starke Kirche liegt überhaupt nicht im liberal-theologischen Interesse. Ihm geht es am Ort des einzelnen Menschen um die Ermöglichung einer freien und selbstverantwortlichen, in dem allem aber auch gelassenen Einstellung zum Leben.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Opium des Volkes: Wenn Evangelikale und Pfingstler in Lateinamerika politisch werden.

Von Christian Modehn am 14.10.2017

Religionskritik als not – wendige Form der Auseinandersetzung mit den real existierenden Religionen darf sich heute in Deutschland nicht auf die muslimischen Fundamentalisten fixieren oder auf offiziell – katholische, aber reaktionäre machtvolle Kreise bzw. auf andere reaktionäre Gruppen wie die traditionalistischen Piusbrüder des Msgr. Marcel Lefèbvre.

Philosophische Religionskritik muss sich vermehrt auch mit Christen und Kirchen etwa in Lateinamerika befassen und dort die machtvollen, auch politisch machtvoller werdenden evangelikalen Kirchen und die zahlreichen Pfingstkirchen beobachten.

Etwa Brasilien heute (Oktober 2017): Der Bürgermeister von Rio de Janeiro Marcello Crivella war bislang Bischof der neu-pfingstlerischen „Universal-Kirche vom Königreich Gottes“. Ich zitiere aus wikipedia zum allgemein bekannten Profil dieser “Glaubensgemeinschaft”: „The Church has frequently been accused of illegal activities and corruption, including money laundering, charlatanism, and witchcraft, and intolerance towards other religions… . There have been accusations that the Church extracts money from poor members for the benefit of its leaders“ (Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Universal_Church_of_the_Kingdom_of_God)

Die Mitgliedschaft in dieser sich auf unverfrorene Weise christliche Kirche nennenden Organisation ist wohl die beste Voraussetzung, um jetzt, in der allgemeinen Wende nach Rechts unter dem korrupten Präsidenten Michel Temer, Bürgermeister von Rio zu sein. So hat z. B. Crivella kürzlich eine Ausstellung verboten, die die Lebenswelten der Queers, der Homosexuellen, Bisexuellen, Transvestiten, darstellen sollte. Bezeichnenderweise sah er darin einen „Angriff auf die Werte (!) der guten Sitten und der Familie“. Man beachte, wie der Begriff WERT in dem Zusammenhang verwendet wird. Ebenso heftig ist die attackierende Kritik der Pfingstler an der traditionsreichen brasilianischen Religion Candomblé, zu der sich mehrheitlich die Nachfahren der Sklaven aus Afrika bekennen. Nun sollen nach evangelikal – politischen Vorstellungen auch im Internet kritische Kommentare ohne Einschaltung der Justiz von Politikern direkt gelöscht werden. Geplant ist auch das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. Eine breite Mehrheit der ebenfalls korrupten Abgeordneten, auch aus pfingstlerischen Kreisen und evangelikalen Kirchen, verhinderte die Aufhebung der Immunität des korrupten Präsidenten Temer. Er regiert weiter danke der evangelikalen und pfingstlerischen Unterstützung!

Diese Beispiele zeigen: Diese Kreise zerstören eine Politik, die an Menschenrechten orientiert ist.

Es muss auch gefragt werden: Was treibt die arm gemachten Menschen in den Slums dazu, diesen Scharlatanen offenbar scharenweise zu folgen und deren Führern die letzten Groschen abzugeben. Warum fühlen sie sich nicht in den ökumenischen Basisgemeinden wohl, in denen politisch-soziales Engagement mit einer elementaren biblisch geprägten Frömmigkeit verbunden werden kann? Die Antwort ist: Weil die römisch katholische Kirchenzentrale in Rom und viele konservative Bischöfe diese Form der Gemeinde aus Armen für Armen zugunsten einer gerechten Politik nicht unterstützen, sondern z. T. bekämpften.

Warum ist also ist heute der religiöse Wahn nicht zu kurieren zugunsten der Vernunft und einer vernünftigen Religion? Warum brauchen so viele Menschen das permanente Gesäusel und Tralala der geistlichen Pfingstgesänge und die fundamentalistische Bibeldeutung durch Evangelikale anstelle der kritischen und politischen Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensfragen? Weil Religion immer noch Opium des Volkes ist, wie Marx treffend sagte: Wer nach Brasilien und Lateinamerika insgesamt schaut und auf die evangelikale und pfingstlerische Szene dort beachtet, muss erkennen: Religion ist noch Opium des Volkes. Und die Befreiung von der Opium Sucht zugunsten der Vernunft wäre doch ein seelischer Gewinn, wenn nicht Heilung.

Wahrscheinlich gibt es tolerante und den Menschenrechten verpflichtete evangelikale und pfingstlerische Kreise auch in Brasilien, aber sie grenzen sich nach außen hin von den fundamentalistischen „Mitchristen“ nicht ab, wenn diese wieder mal Opium verkaufen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Eine gute Zusammenfassung zum Thema bietet auch Andreas Behn in „TAZ“ vom 14.10. 2017, Seite 7.

Flüchtlinge unterstützen: Ein Projekt aller Demokraten

Ein wichtiges Buch als Orientierungshilfe:  Eine Empfehlung von Christian Modehn am 11.10.2017

Die Debatten über Flüchtlinge in Deutschland und Europa gehen zweifelsfrei heftig weiter, zumal in der Bundesrepubli bei den Koalitionsverhandlungen über eine mögliche „Jamaica“ – Koalition. Der Streit über die „Obergrenze“, dieses unsägliche Wort, dauerte zwei Jahre. Es war ein lang hin gezogener, neurotischer Streit zwischen CDU und CSU, ein Streit der Schande (denn ur-plötzlich hatte Seehofer etwas Kompromissbereitschaft). Der Streit ist eine Blamage für die beiden sich immer noch komischerweise „christlich“ nennenden Parteien. Christlich ist ja kein geschützter Begriff, leider. Diejenigen „christlichen Politiker“, die nur von (Hetero-) Familien schwärmen und diese als Ausdruck christlicher Werte behaupten, zeigen sich zudem sehr wählerisch, wenn sie jetzt den Familien (!) – Nachzug für Flüchtlinge weithin einschränken wollen. Eine intakte Heterofamilie soll offenbar nur den weißen Deutschen vorbehalten sein…

Diese Hinweise zeigen nur, wie wichtig es ist, dass wirklich alle Bürger dieses Landes, die lesen können, zu diesem Buch greifen, das ihnen klar und in zugänglicher Sprache viele wesentliche Aspekte über die Anwesenheit der Flüchtlinge in Deutschland erklärt.

Die „Bundeszentrale für Politische Bildung“ ist zwar, wie der Name sagt, regierungsnah, bietet aber immer wieder umfassende politische und soziale Informationen, zu sehr erschwinglichen Preisen.

Miriam Fritsche, Politikwissenschaftlerin in Bremen, und Maren Schreier, Sozialpädagogin und Dozentin, haben eine sehr umfangreiche „Orientierungshilfe“ auch zur weiteren Unterstützung geflüchteter Menschen vorgelegt: Zu bestellen ist dieses wichtige Buch in der Bundeszentrale für politische Bildung, Postfach 1369, 53003 Bonn, www.bpb.de/publikationen. Es hat 222 Seiten und kostet direkt bestellt nur 4,50 €.

Die Autorinnen sind überzeugt: „Eine gerechte, diskriminierungssensible und gewaltfreie Gestaltung von Lebensverhältnissen für alle Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die über den Bereich des unterstützenden Engagements hinausreicht“. Das heißt: Die Unterstützung der Flüchtlinge jetzt kann nicht an einzelne Mutige und Gruppen nun vom Staat delegiert werden. Die Gesetze des Staates müssen den Flüchtlingen helfen, hier als Menschen menschenwürdig zu leben. Wer diese humanen Gesetze in den Dreck zieht oder PolitikerInnen in den Dreck zieht, müssen sich gerichtlich verantworten. Etwa in Sachsen haben die Politiker viel zu lange keine gesetzlichen Schritte gegen Pegida und Co. von Anfang an unternommen. So „kochte“ aller Rassismus erst hoch. Über die Mitschuld etablierter sächsischer Politiker am Starkwerden von Pegida wird viel zu wenig gesprochen.

Das Buch macht zuerst vertraut mit den Lebens- Erfahrungen der (ehrenamtlich tätigen) Menschen, die Flüchtlinge unterstützen.

Ein anderes Kapitel bietet zusammenfassend Informationen über das weite Feld der Flucht und der Ursachen der Flucht. Meiner Meinung nach kommt dabei zu kurz, dass die europäische und nordamerikanische Politik seit der Kolonisierung entscheidend die Ursachen mit geschaffen hat, dass heute Menschen aus diktatorischen Regimen in den einstigen Kolonien fliehen. Kann man im Ausbleiben dieser Informationen als eine Abhängigkeit von der finanzierenden Bundeszentrale für politische Bildung deuten? Also: Bloß nicht zu viel Staats-Kritik?

Wichtig ist das Buch vor allem wegen der Fülle der Hinweise zu websites, die dem Thema sich widmen. Auch die Fluchtrouten werden beschrieben, die gesetzliche Situation der Flüchtlinge hier wird entwickelt. Es werden in einem eigenen Kapitel viele Formen und Initiativen zugunsten geflüchteter Menschen genannt und beschrieben. Da kann sich jede LeserIn etwas Passendes für ein Engagement aussuchen.

Am wichtigsten scheint mir zu sein: Das letzte Kapitel, das deutlich die eigentlichen Ziele der bundesdeutschen Politik beschreibt: „Von der Willkommenskultur müssen wir zu einer Kultur der Anerkennung finden“. Auch da werden wieder viele Initiativen und Forschungszentren, etwa zum Rassismus, genannt.

Empfehlenswert sind die Hinweise zum Rassismus … und was dagegen getan werden kann (S. 190ff). Ausdrücklich werden in diesem Zusammenhang die entsprechenden flüchtlings- und fremdenfeindlichen Akteure, also der AFD und der NPD, genannt. Ob es eine entsprechende Flüchtlingsfeindlichkeit auch etwa in CSU Kreisen de facto gibt, auch wenn man nach außen das Gegenteil behauptet, wird leider nicht eigens thematisiert. Es kann ja sein, dass die anderen Parteien (außerhalb der AFD) sich in einer gewissen bloß verbalen Flüchtlingsfreundlichkeit sonnen.

Das Buch zeigt, dass tatsächlich etwas geschieht zugunsten der Menschlichkeit und Demokratie in Deutschland. Es sind eher Basisinitiativen, die Wichtiges leisten und auch von der Basis aus publizieren.

Mich persönlich überrascht und enttäuscht, dass 1., soweit ich sehe, die Kirchen in Deutschland nicht in jedem Bistum und in jeder Landeskirche einen Anti-Rassismus-Beauftragten haben, der in den Gemeinden für besseres humanes Bewusstsein “sorgt“. Und 2., dass offenbar bei den Philosophen das Thema Flüchtlinge, aktueller Rassismus und Kritik an der AFD und Pegida keine große Aufmerksamkeit findet. Verschlafen die Philosophen in Deutschland irgendwie ein ganz drängendes Thema von heute?

Auch das Literaturverzeichnis in dem Buch ist sehr hilfreich.

Man würde sich wünschen in unserem Europa, dass wenigstens einige wichtige antirassistische Initiativen in der europäischen Nachbarschaft genannt werden. Gibt es in Polen eine Bewegung zugunsten der Flüchtlinge oder in Ungarn? Wer kümmert sich human um die furchtbaren Lebensbedingungen der Flüchtlinge in Griechenland? Was tut sich eigentlich in Österreich? Haben die demokratischen Bürger dort angesichts der mächtigen fremdenfeindlichen Partei FPÖ längst resigniert? Sind die beiden anderen Parteien ÖVP und SPÖ de facto tatsächlich NICHT-fremden und – flüchtlingsfeindlich? Wer ist in Österreich für diese so starke und so verdorbene Mentalität verantwortlich? Wie haben dort die Kirchen versagt, indem sie lieber Marien-Wallfahrten organisierten als antirassische Demonstrationen? Viele Fragen … für ein weiteres Buch, das ja dann wohl nicht in der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn erscheinen dürfte.

Zu dem Buch:  “…und es kommen Menschen!” Eine Orientierungshilfe für die Unterstützung geflüchteter Menschen”. Von Miriam Fritsche und Maren Schreier. 222 Seiten, September 2017, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Wenn Gott schwarz wäre…Ein Buchhinweis

Wenn ein katholischer Pfarrer aus der „Demokratischen Republik Kongo“ von Rassisten aus München vertrieben wird

Ein Buchhinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 25.9.2017

So schlimm ist es bereits gekommen: Rassisten gelingt es, mit ihren Attacken einen katholischen Priester aus seiner Gemeinde in München – Zorneding (9.000 Einwohner) zu vertreiben: Über die Ereignisse berichtete 2016 sogar das ERSTE in den Tagesthemen. Nun hat der betroffene Pfarrer und habilitierte Philosoph Olivier Ndjimbi-Tshiende eine Art Rückblick auf die Ereignisse in München – Zorneding geschrieben und dabei die Chance genutzt, auch einige seiner theologischen Überzeugungen vorzutragen unter dem Titel „Und wenn Gott schwarz wäre…“

Im September 2012 wird Pfarrer Olivier, wie er allgemein wohl genannt wird, in Zorneding in sein Amt eingeführt. Nicht allen gefällt die Anwesenheit dieses afrikanischen Geistlichen im so gut katholischen, aber eben weiß – blau bayerischen Bayern. Vor allem die Ortsvorsitzende der CSU im Kreisverband Zorneding Sylvia Boher, eine promovierte Politologin, beginnt im Oktober 2015 in ihrem Parteiblättchen gegen Flüchtlinge einerseits zu hetzen und Pfarrer Olivier zu attackieren: Er hat sich erlaubt, die humane Geste in der frühen Flüchtlingspolitik von Angela Merkel öffentlich zu loben und richtig zu finden. Die AFD unterstützt die Äußerungen der CSU Frau (S. 25). Der 2. führende CSU Mann dort, Johann Haindl, nennt den Pfarrer „unseren Neger“ (S. 23).

Aus dieser Polemik der CDU Ortsvorsitzenden entwickeln sich heftige verbale Attacken gegen Pfarrer Olivier, bis hin zu unsäglichen Beleidigungen und Drohungen, die um Leib und Leben fürchten lassen. Anonyme Morddrohungen werden abgeschickt, später wird ein Rentner zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt: Er hatte gedroht, den Pfarrer während der Messe zu ermorden. Aber in Zorneding ist die Bevölkerung keineswegs geschlossen aufseiten des attackierten Opfers. „Die Leute machen ihn und seinen Pfarrgemeinderat dafür verantwortlich, dass der ganze Aufruhr um den Text der CSU Frau Boher solche weiten Kreise zieht“ (s. 34). Und das Ergebnis? Das Opfer, der afrikanische Priester, soll schuld sein am öffentlichen Streit über Flüchtlinge und „den Neger – Priester“. Pfarrer Olivier will in diesem widerlichen Milieu nicht weiter leben und arbeiten: Am 6. März 2016 kündigt er seine Abreise aus Zorneding an. Heute arbeitet der Theologe und Philosoph an der katholischen Universität Eichstätt über Flucht und Migration.

Offen bleiben in dem Buch zu den Zornedinger Ereignissen einige Fragen: Wie stark war die Unterstützung der Pfarrer Kollegen für ihren afrikanischen „Mitbruder“? Wie stark war von Anfang die Unterstützung des Münchner Kardinals Marx? Hat er dazu Stellung genommen? Wie hat sich die Parteiführung der CSU in München zu dem rassistischen Skandal verhalten? Warum wagt man es nicht in der Kirchenverwaltung des Erzbistums München, Pfarrer Olivier eine andere Stellung als Pfarrer zu geben, wenn er denn das noch will. Offenbar sind Christen in Deutschland oft nur in der Lage, Geld für Afrika zu spenden, für die armen Heidenkinder, wie man früher sagte. Aber sie sind nicht bereit, sich darüber zu freuen, dass nun aus Afrika selbst ein kompetenter Theologe seine spezielle Sicht des Glaubens erläutert. Diese Leute in Zorneding und anderswo haben offenbar wenig Interesse am Dialog, am Fragen, am Neues Entdecken. Ich hätte mir noch sehr viel mehr harte Fakten in dem Buch gewünscht. Aber offenbar ist der Autor so betrübt, dass er die Zusammenhänge rassistischer Überzeugungen von Katholiken über die CSU bis zur AFD nicht weiter ausführlich freilegen will. Angesichts der Bundestagswahlergebnisse in Bayern wäre darüber erneut zu sprechen.

Pfarrer Olivier ist so höflich, dass er seine eigenen theologischen Vorschläge zur Reform der Katholischen Kirche sehr vorsichtig formuliert. Der 2. Teil des Buches, also ca. 140 Seiten, handelt davon. Es geht um die “ewigen” katholischen Reformthemen, wie Abschaffung des Pflichtzölibates, Zulassung von Frauen zum Priestertum, mehr Barmherzigkeit, und auch dies ist wichtig für den Autor: Weniger Dogmen in einer Kirche, die tausend und einen Lehrsatz kennt und predigt.

Dies sind alles Themen, die in der europäisch dominierten Theologie seit Jahrzehnten – ohne Erfolg selbstverständlich – vorgeschlagen werden. Denn gäbe es nicht den Pflichtzölibat, bräuchte kein polnischer, indischer oder nigerianischer Priester in Deutschland die Lücken stopfen, die der Priestermangel in Deutschland und ganz Europa erzeugt. Und Pfarrer Olivier hätte von vornherein, seiner Ausbildung angemessen hierzulande die afrikanischen Formen des Christentums erklären können….

Bei dem Titel des Buches „und wenn Gott schwarz wäre“ erwartet der Leser zudem auch Hinweise zu afrikanischen Theologien und Spiritualitäten, etwa Berichte über die Inkulturation des Glaubens in den afrikanischen Kulturen. Über die Rolle des Tanzes in der katholischen Eucharistiefeier. Oder Hinweise zu den unterschiedlichen Strömungen afrikanischer Philosophien. Oder Hinweise zu dem von Rom verbotenen Ritus der „Messe von Kinshasa und Zaire“. Oder Stellungnahmen zur heftigen und in Europa als absurd empfundenen Abweisung von gelebter Homosexualität durch die allermeisten katholischen und evangelischen Bischöfe in Afrika. Das Buch „und wenn Gott schwarz wäre“ hinterlässt den Leser also nach großen Erwartungen bei dem Titel sehr ratlos. Das muss bei allem Respekt fürs Leiden Pfarrer Oliviers in Zorneding gesagt werden. Wenn Gott schwarz wäre: Würden dann die weißen Europäer den schwarzen Gott verehren? Jesus von Nazareth, geboren in Kinshasa, warum eigentlich nicht? Aber welchen Sinn haben überhaupt, philosophisch betrachtet, Farbzuweisungen zur geheimnisvollen Wirklichkeit Gottes? Unseres Erachtens gar keinen. Gott und das Göttliche haben keine Farbe und kein Geschlecht. Zentral bleibt die jesuanische Botschaft von der prinzipiellen gleichen Werthaftigkeit aller Menschen! Dies ist die Mitte des Glaubens, auch die politische. Sie passt nur all jenen Christen nicht, die sich als Europäer und CSU Mitglieder für etwas Besseres halten. Und das bedeutet: Vom Christentum haben diese Herrschaft eigentlich nichts verstanden, trotz der Predigten, Wallfahrten, Messen usw., die seit 1000 Jahren im Land der Bayern und anderswo gefeiert werden. Sind alle diese kirchlichen Veranstaltungen wirkungslos geblieben? Manchmal möchte ich das glauben.

In jedem Fall würde ich mir wünschen, wenn Pfarrer Olivier die Kraft fände, die oben genannten Themen zur Inkulturation des Christentums und des Katholizismus in Afrika oder wenigstens rund um den Kongo in einem weiteren Buch zu besprechen. Klar ist, dass uns Lesern hier dann auch die Frage dringend bewegt, wie es denn weiter geht mit der Diktatur in der „Demokratischen Republik Kongo“? Wann wird sie von wem vertrieben und verschwinden? Welche Europäer profitieren von den vielen Diktaturen in Afrika? Braucht Europa das elende Afrika für den eigenen Profit? Diese Fragen sind endlos. Sie werden selbst von aufgeschlossenen Politikern in Europa kaum noch gestellt. Und selten von Kirchenleuten, die es eigentlich wissen (müssten). Zurecht kritisiert Pfarrer Olivier,so wörtlich, die Prunksucht einiger Bischöfe hierzulande. Interessant wären seine Schilderungen, wie denn afrikanische katholische Bischöfe leben? Wie diese dann wahrscheinlich eher armen Bischöfe die Prunksucht ihrer so netten Bischofskollegen in Deutschland erleben? Denken sie dann vielleicht zu recht an Klassenunterschiede in der einen, angeblich so brüderlichen Kirche. Heiße Themen, an die sich niemand heranwagt. Weil die armen Bischöfe, wenn sie denn relativ, auf ihre Bevölkerung bezogen, tatsächlich arm sind, die paar Euros brauchen, die ihnen die Prunkbischöfe mit ihrem Milliardenhaushalt in Deutschland zuwerfen. Und man fragt sich zum Schluss, was die einst kolonisierten und misshandelten Völker Afrikas eigentlich an die Religion, also das Christentum, ihrer gar nicht so lieben Kolonialherren damals wie heute innerlich und spirituell bindet.

Olivier Ndjimbi – Tshiende, „Und wenn Gott schwarz wäre…“ Gütersloher Verlagshaus, 2017. 17,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Die Katholische Kirche ist gespalten“: Aktuelle Analysen aus dem Vatikan und den USA

Hinweise von Christian Modehn am 21. 7. 2017

Heutige Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie bezieht sich als Nachdenken über Religionen und weltanschauliche Ideologien, also auch auf den „atheistischen Glauben“, immer auch, als ein Thema neben anderen !,  auf die faktisch bestehenden Religionen und beobachtet kritisch deren Entwicklung. Ein Hinweis zur Kirchenspaltung in der römischen Kirche.

Die neusten Studien zu der de facto bestehenden Spaltung der römischen Kirche heute kommen Weiterlesen ⇘

Neues zur Erbsünde: Muss der christliche Glaube Angst machen?

Einige weiter führende Thesen von Christian Modehn am 20.7. 2017

Meinen zuerst veröffentlichten Beitrag, in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum, Heft 11/2017, lesen Sie hier mit einem weiteren Thesenpapier, das aus einer Diskussion hervor gegangen ist. Dass selbst Mitglieder des Augustinerordens heute wenigstens leise, aber deutliche Kritik an Augustins Erbsündenlehre äußern, lesen Sie bitte am Ende dieses Beitrags! Und sogar der treu-katholische Theologe und Historiker der frühen Kirche und der so genannten Kirchenväter, Pater Joseph Barbel, kritisiert den “kaum begreiflichen Eifer Augustins zur Widerlegung seines theologischen, die Freiheit verteidigenden Gegners, des Bischofs Julian von Eclanum”. Auch dazu mehr, siehe am Ende dieses Beitrags.

Die Diskussion über Sinn und Unsinn der christlichen Erbsünden-Lehre geht weiter, das zeigen die vielen Weiterlesen ⇘