Lob der Langeweile: Von der leeren Zeit zum Lebenssinn.

Gerade inmitten der Corona – Krise sind viele Menschen auf sich selbst zurückgeworfen, weil sie etwa in Quarantäne leben müssen, isoliert von anderen. Viele Betroffene klagen ausdrücklich, “unter Langeweile zu leiden”. Philosophische Reflexionen auf die Stimmung der Langeweile kann ein anderes Licht werfen auf diese Situation und sie dadurch vielleicht wandeln.

Der folgende Text einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn kann wie eine philosophische Reflexion, wenn nicht wie eine philosophische Meditation gelesen werden. Dazu laden vor allem auch die in der Sendung vertretenen Philosophen und Theologen ein!
Der Text geht auf eine Ra­dio­sen­dung im WDR, Programm Lebenszeichen auf WDR 3, im Jahr 2011 zurück. Die Redaktion hatte Theodor Dierkes. Seit der Zeit (2011) haben sich viele andere auch genau für den Titel “Lob der Langeweile” entschieden… Die äußere Gestalt des Textes wurde in der für den Hörfunk üblichen Form belassen. C.M.

Lebenszeichen WDR:
Lob der Langeweile
Von der „leeren Zeit“ zum Lebenssinn

Von Christian Modehn

1. SPR.: Erzähler
2. SPR.: Zitator
3. SPR.: Übersetzer des Französischen O Tons

1. Musikal. Akzent.

2. SPR.:
Langeweile ist gewiss die Qual der Hölle. Nenn mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme: So wie ich dasitzen und im Zimmer die Nägel betrachten, auf – und niedergehen, aus dem Fenster sehen, um sich wieder hin zu setzen, um sich auf etwas zu besinnen …und man weiß nicht worauf:

1.SPR.:
Der Dichter Ludwig Tieck in seinem Roman „William Lovell“.

2. SPR.:
Nenn mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme. Der nach und nach die Zeit verzehrt, wo die Tage so lang und der Stunden so viele sind.

1. SPR.:
Schriftsteller und Theologen, Künstler und Philosophen schreiben über die Langeweile, weil es für sie ein absonderliches und deswegen „spannendes“ Phänomen ist. Aber auch weil es sie selbst wie auch so viele andere betrifft. Der Philosoph Emil Cioran hat sich schon als junger Mensch fast zu Tode gelangweilt; er nahm die Langeweile als „Hohlheit des Herzens“ wahr, als gähnende Leere. Bis ins hohe Alter hat ihn diese Qual geprägt, betont der Berliner Philosoph Jürgen Große :

2. O TON, Jürgen Große
Langeweile ist für ihn vielleicht eher die triviale Form des Verzweifeltseins, also ein allgemeines Nicht – Engagement, eine emotionale Unbetroffenheit von der Welt, in der man sich aber sehr verankert fühlt. Also: Man sieht alles, aber wie durch wie durch eine Glasscheibe. Man sieht alles, man kann alles intellektuell usw. einordnen, man weiß den Nutzen von allem zu benennen, aber für einen selbst hat es keine emotionale Herausforderung.

1. SPR.:
Langeweile ist nichts Beiläufiges, sie gehört zum „Wesen des Menschen“, sagen schon die frühen christlichen Theologen. Die Mönche im vierten Jahrhundert sprechen vom Leiden an der acedia (sprich Azéhdia), dem Lebens – Überdruss. Wenn die Arbeit in den Klostergärten getan und die Zeit des Studiums beendet war, beteten sie zur Mittagszeit gemeinsam den Psalm 91. Ein Vers wurde mit aller Inbrunst gesprochen:

2. SPR.:
Des Herrn Wahrheit ist Schirm und Schild vor der Pest, die im Finstern schleicht und die am Mittag Verderben bringt.

1. SPR.:
Diese Pest „am Mittag“ nannten Mönche den „Mittagsdämon“.

2. SPR.:
Diese verführerische Stimmung der Langeweile ist gefährlich wie die Pest: Sie kann alle geistigen Interessen still legen und töten.

1. SPR.:
Der Mönch Cassian berichtet im 5. Jahrhundert, wie er diesen „Dämon“ mit allerlei Ablenkungen abzuwehren versucht:

2. SPR.:
In solcher Anfechtung besucht der Mönch die anderen Kloster – Brüder. Er besucht die Kranken in der Ferne; er legt sich religiöse Pflichten auf; er beschließt, Verwandte wieder zu sehen und die Menschen in der Umgebung zu begrüßen.

1.SPR.:
Die Mönche ahnen, dass allerlei Tätigkeiten diese öden Stunden der Langeweile überbrücken können; bloß irgendetwas tun, damit man nicht auf „dumme Gedanken“ kommt. Damals wie heute wollen Menschen die Langeweile durch aktives Tun überspielen, berichtet Michael Bongardt, der gebürtige Bonner ist Theologe und Ethiker an der Freien Universität Berlin:

3. O TON, Michael Bongardt,
Langeweile ist etwas, was zu überwinden ist. Das ist im Umkehrschluss deshalb interessant, weil wir damit eine ganz klare Wertigkeit in unsere Lebensgestaltung reinbringen:, die man ganz kurz beschreiben kann: Der größte Wert ist das ständige Beschäftigtsein. Nietzsche macht deutlich, dass er sagt: Wenn ich einmal meine ganzen Beschäftigungen unterlasse und im Wald spazieren gehe. Und in diesem Wald trifft mich dummerweise ein Bekannter, der mich da spazieren gehen sieht, werde ich ihm sofort antworten: Ich tue es nur zur Erholung, d.h. ich tue gerade mal nichts, um ganz bald wieder etwas tun zu können.

1. SPR.:
Nietzsche sieht genau, wie sich moderne Menschen förmlich genieren, in der Muße, beim Nichtstun, „ertappt“ zu werden. Wie blamabel ist es doch, die höchsten Werte zu ignorieren, das Arbeiten und Tätigsein. Heilig ist doch einzig das Tun, so ein Dogma der westlichen, der christlich geprägten Welt seit der Reformation.

4. O TON, Petra von Morstein.
Wir sind ja alle unter immensem Druck, von einem Termin zum anderen zu kommen, Leistungen zu erbringen, viele Aufgaben mehr oder weniger auf einmal zu erfüllen. So dass die Zeit gleichsam segmentiert wird, in Stücke zerschnitten wird.

1.SPR.:
berichtet die Berliner Philosophin Petra von Morstein. In den „modernen Zeiten“ absoluter Betriebsamkeit sei es selbst für Rentner schwer, die eigene Lebenszeit noch als eine Einheit zu erfahren:

Fortsetzung O TON:
Ich lebe ja jetzt pensioniert, aber sehr tätig. Und bin immer noch in der Arbeit, mein Leben so zu balancieren, dass meine Zeit fließt, nicht zerstückelt ist.

1. SPR.:
Unser „normaler Tag“ besteht aus unterschiedlichen Bruchstücken, etwa aus den kurzen Fristen familiären Zusammenseins, aus den langen Zeiten unterschiedlicher Beschäftigungen, den Fahrten hin und her oder den Momenten der Erholung. Auch die Freizeit wird wie die Arbeitszeit vom Terminkalender bestimmt. Bloß keinen Leerlauf zuzulassen, vor allem am Abend oder am Wochenende. Darum müssen auch viele Menschen in ihrer freien Zeit „auf Hochtouren“ laufen. Sie müssen für Ablenkung sorgen, damit sich niemand langweilt, hat Jürgen Große beobachtet:

5. O TON, Jürgen Große
Diese Überlegung geht ungefähr so: Wenn die größten materiellen Bedrängnisse geschwunden sind, also wenn die Notdurft des Leibes, der Wohnung, die materiellen Grundbedürfnisse erfüllt sind, dass dann alle weitere Tätigkeit nur aus Langeweile erfolgt, oder um so eine gewisse flaue Unruhe von Innen her zu vertreiben.

2. musikalischer Akzent

1. SPR.:
Viele Menschen versuchen auf Dauer die Stimmung der Langeweile, diese „flaue Unruhe“, zu überspielen. Einigen gelingt das nicht. Sie erleben dann ihre Langeweile wie eine Krankheit. Der Psychologe Erich Fromm:

2. SPR..
Die Langeweile als Krankheit ist das Gefühl, dass wir freudlos in der Fülle leben, dass das Leben uns wie Sand durch die Finger rinnt, dass wir verwirrt und ratlos sind.

1. SPR.:
Diese Menschen brauchen Hilfe und Begleitung. Die Psychotherapeutin Verena Kast aus Zürich unterstützt Patienten, die aus dem Schmerz der langen und öden Zeit ohne Sinn herausfinden wollen.

6. O TON. Verena Kast.
Wenn wir uns langweilen, dann fühlen wir uns gequält; wir sind ohne Inspiration, wir sind ohne Interessen. Wir fühlen uns auch sehr wenig lebendig.
Und das ist halt ein Zustand, dem wir abhelfen wollen. Wenn wir ihm aber zu schnell abhelfen, also wenn wir z. B. einfach Aktionen machen, action, wie die Jungen sagen, dann können wir im Grunde genommen nicht von dieser Situation der Langeweile profitieren.

1. SPR.:
Mit Nachdruck weist Verena Kast auf ihren therapeutischen Ansatz hin: Wir können von der Langeweile „profitieren“, also Nutzen ziehen für unser weiteres Leben:

7. O TON, Verena Kast
Wenn es uns gelingt, uns mal darauf zu konzentrieren, dass uns jetzt gar nichts anspricht, dann kann eine neue Idee auftauchen. Dann merken wir plötzlich, wo eigentlich unsere Interessen wären, was uns von Innen her wirklich ansprechen würde. Aber dazu es eben einen Mut zur Langeweile. Also: Das wissen Menschen verhältnismäßig gut, die kreativ sind; die haben etwas gemacht, die haben eine Idee ausgearbeitet. Und dann fällt ihnen zunächst mal nichts ein. Und dann langweilen sie sich: Und sie wissen aber aus Erfahrung: Wenn ich mich auf diese Langeweile konzentriere, dann wird wieder etwas Neues.

1. SPR.:
Aber der Weg zu einem „neuen“ Leben kann sehr mühsam sein. Therapeuten berichten, wie Menschen in dieser Stimmung tiefer Verlassenheit auf sich selbst zurück fallen; sie kreisen nur noch um ihr eigenes Ich; interessieren sich für nichts anderes mehr als für die Bedürfnisse des eigenen Körpers … und die sexuelle Gier. Der Sexualtherapeut Johannes Wahalla begleitet in Wien diese Patienten:

8. O TON, Johannes Wahala
Zu mir kommen sehr viele und sagen: Ich habe das Gefühl, ich bin sexsüchtig, ich kann es nicht mehr kontrollieren Die Leute berichten mir oft und sagen: Es ist ein innerer Drang, so ein ständiges Suchen nach Sexualkontakten. Dass sie aber erleben, dass sie sagen: Obwohl ich gar nicht jetzt Lust habe ja, sind sie aber ständig z.B. im Internetforen, in Sexforen, oft auch abgespalten vom eigenen Gefühl, was sie nicht benennen können, ja.

1. SPR.:
Im geduldigen Gespräch, gemeinsam mit dem Therapeuten, können die seelischen Ursachen aufgedeckt werden:

9. O TON, Johannes Wahala
Langeweile ist eigentlich für alle meine Klienten etwas sehr belastend Depressives, dass viele nicht gelernt haben, wirklich ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle wahrzunehmen. Und das scheint mir ein sehr wesentlicher Prozess zu sein, dass Menschen wieder so einen Zugang zu sich selbst bekommen, dass sie ihre Wünsche, ihre Gefühle, wieder spüren, wieder wahrnehmen: Was will ich mir gern in diesem Leben verwirklichen. Denn eines müssen wir sagen: Das Leben ist uns nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung gestellt.

1. SPR.:
Die eigene Lebenszeit wieder wahrnehmen; respektieren, dass ich meine Lebenszeit nicht wie eine unerschöpfliche Quelle verplämpern und vergeuden sollte. Carpe Diém, sagte der römische Dichter Horaz, nütze den Tag, gestalte deine Zeit. Der Psychologe und Sozialarbeiter Kazim Erdogan arbeitet im sozialen Brennpunkt Berlin – Neukölln. Er wäre schon froh, wenn die Jugendlichen dort diese alte Lebensweisheit entdecken könnten.

10. O TON, Kazim Erdogan
Ich höre immer wieder von den Jugendlichen, wenn sie negativ auffallen, mit Gewalt zu tun hatten, das mit Langeweile auch begründen. Dass sie sagen: Ich hab nicht gewusst, was ich am Samstag mache und ich bin rausgegangen. Dann bin ich auf diese komische Idee gekommen, das höre ich immer wieder.
Ich möchte das unter den Oberbegriff Kommunikations – und Sprachlosigkeit rein tun. Wir reden immer weniger mit unseren Kindern, mir unseren Jugendlichen. Die Eltern entlassen die Kinder zu früh vor die Glotze oder sie sagen: Geh in dein Zimmer, und dann mach mal am Computer was. Es fehlt an sozialer Kontrolle, dass die Eltern nicht mitbekommen: Mit wem sind unsere Kinder, wo halten sie sich auf, was machen sie. Und in dem Moment, wenn die Jugendlichen eine Lücke finden, die man Langeweile nennen kann, dann sind sie gefährdet.

1. SPR.:
Kazim Erdogan leitet in Berlin – Neukölln einen „sozial – psychologischen Dienst“; die kürzlich verstorbene Richterin und Autorin Kirsten Heisig hat mit ihm eng zusammengearbeitet. Auch sie war überzeugt: Wenn junge Männer ihre Langeweile aggressiv und besinnungslos austoben wollen, dann sind vor allem praktische, „präventive“ Hilfen zur Freizeitgestaltung geboten! Kazim Erdgan hat „Projekte gegen die Langeweile“ gegründet:

11. O TON, Kazim Erdogan
Die Jugendlichen des Vereins machen ehrenamtlich Nachhilfeunterricht für die Grundschüler sozusagen als Vorbilder. Und das kommt sehr, sehr gut an. Und sie engagieren sich auch politisch; sie mischen sich in die bildungspolitischen Debatten; sie haben auch ein Fest organisiert, sie haben gemeinsam Musik gemacht. Wir versuchen, dass wir nicht von trennenden Wänden ausgehend operieren, sondern die Elemente, die uns verbinden, sind ausschlaggebend bei allen Projekten, die wir machen.

1. SPR.:
So wichtig eine sinnvolle Freizeitgestaltung auch sein mag: Ein gewisser „Schuß“ philosophischer Bildung sei doch immer hilfreich, meint Petra von Morstein. Denn nur wer als junger Mensch selbständig denken lernt, kann später, als Erwachsener, sein eigenes Leben gestalten und mit der eigenen Lebenszeit sinnvoll umgehen.

12. O TON, Petra von Morstein
Da wehre ich mich eigentlich gegen den Ausdruck „Zeit haben“. Es ist nicht der Fall, dass wir Zeit haben und es ist nicht der Fall, dass wir Zeit nicht haben. Es ist kein Haben. Wir sind in der Zeit.. Das spielt natürlich darauf an, dass die Zeit keine objektive Größe ist, also eine von uns getrennte, sondern etwas in uns. Zeit ist, sagte schon Kant, der innere Sinn. Und der innere Sinn hängt mit allem, was innerlich ist, zusammen, mit unseren Empfindungen, mit unseren Wünschen, mit unseren Zielen, mit unseren Tätigkeiten. Also bin ich ja auch dafür verantwortlich zu einem gewissen Grade, wie ich Zeit erlebe.

1. SPR.:
Eine philosophische Einsicht, die unmittelbar im Alltag von Jugendlichen gilt. Wie viele behaupten doch immer wieder ganz „cool“, sie müssten „halt mal wieder“ ihre freie Zeit „totschlagen“:

13. O TON, Petra von Morstein
Wenn die Zeit wirklich der innere Sinn ist, Zeit ist immer erlebte Zeit, dann schlagen wir uns wörtlich, das ist ein logischer Schluss, selbst tot, wenn wir Zeit totschlagen.

1. SPR.:
Eltern wünschen in der Regel, dass ihre Kinder zu glücklichen, zu friedfertigen Menschen heranwachsen. Dabei kann die Erkenntnis hilfreich sein: auch junge Menschen brauchen Momente des Nichtstuns, also Zeiten der Langweile.
Eltern können ihre Kinder vor einem vollen Terminkalender bewahren, in dem dann keine freie Minute bleibt angesichts von Schule und Sport und Reiten und Musizieren und Yoga, betonen Pädagogen. Wenn es dann plötzlich eine Unterbrechung dieser Betriebsamkeit gibt, werden die Kinder irritiert von der leeren Zeit des Nichts-Tuns. Dorothea Waag wollte das ihren Töchtern ersparen:

14. O TON, DOROTHEA WAAG.
Ich fand es ganz schön, sie darin zu unterstützen, Langeweile auszuhalten und hab das dann auch erlebt, dass kreative Kräfte dadurch freigesetzt wurden. Langeweile tut nicht weh, in diesem Ton habe ich das damals sicherlich nicht gesagt. Aber dass Langeweile etwas ganz wichtiges ist, um etwas zu entdecken, was ich selber was machen kann, selber was gestalten kann, hab gesagt: Ihr habt Sachen da, ihr könnt auch was malen. Es war nicht so, es muss nicht alles gestaltet werden und die Kinder müssen dauernd unterhalten werden. Kurzweil ist nett, ist amüsant, aber hat im allgemeinen großen Unterhaltungswert, hält nicht an, hat keine Tiefe. Und in der Langeweile, hab ich erlebt, kann Tiefe entstehen.

3. musikalischer Akzent,

1. SPR.:
Aber welche Tiefe kann uns die Langeweile lehren? Michael Bongardt empfiehlt, sich an die Meister des Denkens zu halten, zum Beispiel an den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard:

15. O TON, Bongardt
In seinen Überlegungen zur Langeweile kommt es in einer sehr schönen Gegenüberstellung heraus, dass er sagt: Es gibt zwei Formen von Langeweile, es gibt zum einen die Menschen, die andere langweilen, durch das was sie tun, durch das, was sie erzählen, durch da, was sie sind. Diese negative Form des Langweilens setzt Kierkegaard ab von einer positiven Form, die er ausdrücklich eine Kunst nennt, nämlich die Kunst, sich selbst zu langweilen, und das ist schon wieder ein bewusster Akt. Die Langeweile ist ein Wert an sich, ist eine Form von Menschsein, die für sich selbst wertvoll ist. Und wenn sie dann nur damit gefüllt wird, dass einem spontan Bilder, Ideen, Gedanken kommen, die man für nichts brauchen kann, die einfach aber auch ihre Qualität darin haben, dass sie etwas Bereicherndes für mich haben. Punkt. (Lachen.)

1. SPR.:
Kierkegaard empfiehlt also einen Wechsel der Perspektive: Warum können wir die Langeweile nicht auch als ein unvorhergesehenes Geschenk verstehen? Die lange, ausgedehnte Weile kann man doch auch schätzen und lieben lernen. Petra von Morstein hat sich von diesem Gedanken faszinieren lassen:

16. O TON, Petra von Morstein
Ich komme jetzt gerade aus den Ferien zurück. Und da habe ich mich gehen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes, ich bin viel gegangen, in wunderbarer Frühlingslandschaft, ohne Druck. Ich brauchte nicht zu wissen, wie spät es ist, wann es Mittagessen gibt. Und das hat die Aufmerksamkeit, das hat die Sinne so belebt, dass ich mich einfach nur freuen konnte. Und gar nicht genau wusste, worüber ich mich eigentlich freue. Und ich war einfach da, völlig wach mit allen Sinnen im Da. Und das war Langeweile, erfüllt in jedem Augenblick. Hab mich nicht gelangweilt.

1. SPR.:
Aber auch die lange, ausgedehnte „Weile“ der Ferien geht einmal zu Ende; dann beginnt wieder die Monotonie des Alltags; dann leben wir wieder in einem Rhythmus, den andere vorgeben, die Arbeitgeber oder die so genannten „Sachzwänge“ der Gesellschaft. Aber dürfen wir uns davon wirklich bestimmen lassen?

17. O TON, Petra von Morstein.
In mir wehrt sich schon, nicht nur seit ich älter bin, sondern auch schon in jüngeren Jahren, immer etwas dagegen zu sagen: Hoffentlich ist bald Sommer, hoffentlich kommt bald das Wochenende. Ich will Zeit nicht wegwünschen. Ich hab wirklich eine persönliche Furcht davor, Zeit wegzuwünschen. Das ist nicht nur eine Sache des Alterns, das einfach ist eine Sache des Im-Leben-Seins. Selbst wenn Zeit, die vor mir liegt, belastet ist, mit schwierigen, traurigen Erfahrungen und ich das weiß, will ich sie trotzdem so erleben, dass ich sie nicht wegwünsche, sondern bejahe.

1. SPR.:
Den Alltag annehmen, heißt: Die Langeweile ist ein Teil von mir. Ich kann ihr sogar „ins Gesicht zu schauen“. Darauf hat der Philosoph Martin Heidegger immer wieder hingewiesen; er ist einer der wichtigen Denker, der die Langeweile als positive Chance für die Menschen gedeutet hat. Dabei dachte er nicht an seelisch kranke, sondern an die vielen, sich gesund fühlenden Menschen. Michael Braun, Philosoph in Berlin, findet diese Perspektiven sehr hilfreich:

18. O TON, Michael Braun
Wir handeln ganz oft so, dass wir ständig bemüht sind, Probleme aus dem Weg zu räumen. Und Heidegger sagt, dieses ständige Bemühtsein, Probleme aus dem Weg zu räumen, alles in den Griff zu bekommen, dass das eigentlich nichts anderes ist, wie vor dieser Langeweile davon zu laufen.

1. SPR.:
Die Erfahrung der Langeweile, so Heidegger, stellt die Menschen vor entscheidende Fragen: Worauf wollen wir eigentlich hinaus in unserem Dasein? Worin sehen wir den Sinn des Lebens? Gibt es wichtigere Fragen? Vor der Langeweile sollten wir deswegen nicht panikartig flüchten, wenn sie uns packt. Geradezu blitzartig, meint Heidegger, kann uns dann aufgehen: Der Beginn der Langeweile kann der entscheidende Augenblick sein, unsere eigene Freiheit wahrzunehmen; sie allein ist die Basis für ein glückliches Leben.

19. O TON, Michael Braun
Die tiefe Langeweile führt uns an diesen Punkt, wo wir erfahren: Nur wenn wir im Augenblick in ein wesentliches Handeln kommen, brechen wir diese Langeweile auf. Und im Augenblick greifen wir sozusagen unsere eigene Zeit wirklich auf, weil wir es sind, die handeln. Wir sind nicht mehr gebunden an Parolen, an politische Meinungen, an Dogmen.

1. SPR.:
Nimmt man die Langeweile wie einen Freund an, kann sie unser Leben erneuern: Heidegger wird nicht müde zu betonen: Unser Leben ist allein uns selbst aufgegeben. Angesichts der Langeweile meldet sich diese Einsicht mit voller Wucht. Diese Erkenntnis muss Teil von uns selbst werden, sie kann wie in einer „philosophischen Therapie“ eingeübt werden:

20. O TON, Michael Braun.
Insofern ist natürlich Heidegger jemand, der einen Raum eröffnet, wie er es nennen würde, besinnlich diese ganzen Fragen zu stellen. Wichtig ist es überhaupt, erst einmal heraustreten aus diesem ganzen Betrieb, aus diesem ganzen gewöhnlichen Alltag. Und das kann eigentlich jeder. Das Wesen der Philosophie ist das Philosophieren, und das Wesen des Philosophierens ist das Fragestellen. Und das kann auch jeder.

4. Musikalischer Akzent,

1. SPR.:
Religiöse Menschen werden die Vorschläge Martin Heideggers nur als einen ersten Schritt betrachten, zu einem „eigentlichen“, also authentisch freien Leben zu gelangen. In der buddhistischen Tradition werden praktische Übungen angeboten, die Zerstreutheit und Zerrissenheit, also die Auswirkungen der Langeweile, meditativ zu bearbeiten. Wichtig ist der praktische Ausstieg aus den Alltagsrhythmen, und der beginnt mit der „Geh-Meditation“, berichtet die buddhistische Autorin Ursula Richard:

23. O TON, Ursula Richard,
Wir gehen dabei auch in ganz normalem Tempo, also nicht im Hetztempo, sondern verlangsamt. Und versuchen dabei, den Körper und den Atem und den Geist zu harmonisieren. Indem sie zum Beispiel auch ihre Schritte zählen und versuchen mit dem Atem in Verbindung zu bringen. Oder indem sie auch so kurze Sätze sagen: Friede ist in mir. Oder: In mir ist ein Lächeln, oder wie auch immer. Wo sie auch versuchen diese Harmonie zwischen Atem und den Schritten hin zu kriegen. Und das ist unglaublich erholsam, und das können sie überall machen, wo immer sie gerade sind.

1. SPR.:
Mit jedem meditativen Schritt wollen buddhistische Lehrer ihre Schüler aus der Zerrissenheit befreien. Im Achten auf den eigenen Atem sollen sie ihr eigenes Dasein spüren; dann schwindet das Klammern an negative Lebenserfahrungen, wie Leere, Zerstreuung, Getriebensein, betont der Zen–Meister Willigis Jäger:

24. O TON, Willigis Jäger
Dieser Weg besteht in nichts anderem als im Loslassen, und das ist schwer. Weil unser Ich so aktiv ist, uns ständig hierhin und dorthin treibt. Alles, was ich machen kann, ist loslassen. Und sich dem zu überlassen, jetzt nicht noch tausend andere Dinge nebenher denken, sondern wirklich ganz da drin zu sein, das ist die Kunst.

1. SPR.:
In der christlichen Spiritualität hat sich vor allem Blaise Pascal, der vielseitig begabte Denker im 17. Jahrhundert, mit der Langeweile auseinandergesetzt. In seinem wichtigsten Werk, den nach seinem Tod veröffentlichten „Pensées“, den „Gedanken“, mahnt er wie ein Prophet, nicht in blinder Betriebsamkeit und Unterhaltung die Langeweile zu überspielen:

2. SPR.:
Als ich es unternommen habe, die ruhelose Geschäftigkeit zu betrachten, denen sich die Menschen zu Hofe und bei Kriege aussetzen, woraus so viele Streitigkeiten, Leidenschaften erwachsen, hab ich mir gesagt: Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.

1. SPR.:
Eine beinahe verhaltenstherapeutische Empfehlung: Bleib in deinem Zimmer und schau dort den Krisen deines Lebens ins Auge, fordert Pascal, sieh die Langeweile an! Dieser Vorschlag findet noch heute viel Aufmerksamkeit, etwa bei dem Pariser Philosophen Jean Mesnard:

21. O TON, Jean Mesnard

3. SPR.:
In der Unterhaltung und Zerstreuung wenden wir uns vom Wesentlichen ab. Diese Ablenkungen sind das Gesetz des menschlichen Lebens. Der Begriff Unterhaltung gilt ja für Feste, Spiele und alle möglichen Ablenkungen. Das ist durchaus ein modernes Thema. Es ist absurd, dass der Mensch die Unterhaltung sucht, denn damit wendet er sich von den wahren Problemen ab.
Übrigens ist die menschliche Arbeit auch eine Form der Unterhaltung. Im allgemeinen denkt man, arbeiten und sich unterhalten seien Widersprüche. Für Pascal handelt es sich um dieselbe Sache. Wir arbeiten, meint er, um unsere Lebensangst loszuwerden. Dabei ist die Angst doch eine gute Sache. Denn in der Angst gelangen wir zum Wesentlichen, zum Absoluten. So drückt die Unterhaltung nur die Tatsache aus, dass wir uns vom Absoluten entfernen.

1. SPR.:
Die Distanz vom „Absoluten“, von Gott, gilt es zu überwinden. Für Pascal wie für seinen Interpreten Jean Mesnard wird in den Erschütterungen des Lebens deutlich: Einzig die innige Bindung an Gott bewahrt vor den Schrecken der Langweile und den Wirrnissen, die Unterhaltung und Zerstreuung erzeugen. Die Langeweile wird also in die Ewigkeit Gottes einbezogen, die Ödnis des Daseins erhellt. Und so verliert sie ihren Schrecken, meint Pascal in seinen Pensées:

2. SPR.:
Das wahre Glück des Menschen ist in Gott zu finden, und Gott ist weder nur außerhalb von uns noch nur in uns. Gott ist das höchste Gut. Folgen wir unser Sehnsucht und unserem Drang, in der Unendlichkeit unser Glück zu finden. Dann bessert sich die Lage des Menschen, nämlich Unbeständigkeit, Ruhelosigkeit, Langeweile.

1. SPR.:
Diese Vorschläge haben auch bei den Dichtern der Romantik viel Sympathie gefunden; nicht von ungefähr verstanden sich viele Schriftsteller damals als gläubige Christen. Sie wollten mit der äußerlich perfekt geordneten und verwalteten Welt nichts zu tun haben. Das oberflächliche Geplauder der braven Bürger, die sie Philister nannten, erzeugte bei ihnen nur ein gelangweiltes Gähnen. Der Philosoph Rüdiger Safranski betont:

2. SPR.:
Es kommt den Romantikern darauf an, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein zu geben.

1. SPR.:
Denn allein der kunstvoll gestaltete Glaube an das himmlische Geheimnis befreit aus der Öde des grauen Alltags. Das wahre Leben ist dann nicht mehr nur „irdisch“. Joseph Eichendorff schreibt in dem Gedicht „Mondnacht“.

2. SPR.
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst
Dass sie im Blüten – Schimmer
Von ihm nur träumen müsst.

4.Musikal. Intermezzo,
1.SPR.:
Die Bücher der Bibel kennen das Wort „Langeweile“ nicht. Aber die Autoren des Neuen Testaments beschreiben in vielen Farben, wie ein glückliches Leben im Angesicht Gottes aussehen könnte. Und im Kontrastbild dazu wird die Gefahr eines existentiellen Dahindämmerns beschworen; etwa wenn Jesus dazu aufruft, „wach zu bleiben“ und „nicht zu schlafen“. Er preist jene Menschen selig, die im Zustand gedanklicher Klarheit leben und wachsam sind. „Immer können wir mit einem Augenblick intensiven Erlebens konfrontiert werden, mit einem JETZT, das auch aus den Bedrängnissen der tiefen existentiellen Langeweile herausruft“, betont der protestantische Theologe und Psychotherapeut Günter Funke:

22. O TON, Günter Funke.
Ich denke natürlich auch, dass im Christentum, auch im Judentum, das Jetzt eine favorisierte Stelle hat: Heute ist der Tag des Heils, JETZT ist deinem Hause Heil widerfahren, also wir könnten das an einander reihen. Auch da ist die Gegenwärtigkeit, sich seiner selbst und seines Lebens gegenwärtig werden, das ist der erste Schritt zum Glück, und nicht irgendwelchen Vorstellungen nachhängen. Denn die Vorstellungen sind immer Projekte in die Zukunft oder ein Nachhängen in der Vergangenheit. Der Augenblick hat in sich die Fülle. Und deshalb haben die Mystiker immer gesagt, dass das Leben selbst die Quelle des Glücks ist.
5. musikal. Akzent.

Copyright: Christian Modehn, Berlin

„Die Pest“ von Albert Camus: Eine Lektüre-Empfehlung in Zeiten des „Corona-Virus“.

Ein Hinweis von Christian Modehn

In Zeiten des Corona-Virus hilft gegen die Angst auch das Lesen. Und mit dem Lesen auch das Nachdenken. Dabei werden alte, ältere, Texte wiederentdeckt: Zum Beispiel: Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus. Mit der „klassischen“ Pest hat die Corona Pandemie nicht alles gemeinsam. Corona ist sozusagen universal, auch wenn alle Staaten ihre Grenzen schließen; die Hilflosigkeit in den Kliniken ist auch Ausdruck für das total privatisierte Krankenhauswesen, einzig auf Gewinn konzipiert. Wird sich das ändern?

Aber die „Pest“, geschrieben in den Jahren 1940, wie auch das Corona Virus heute, verlangen ein neues, bislang nicht sehr eingeübtes menschliches, nicht-egoistisches Verhalten: Nämlich Solidarität; Entschlossenheit, die Vernunft herrschen zu lassen; sowie Dankbarkeit gegenüber allen ÄrztInnen, PflegerInnen, die ihr Bestes geben.

Warum also noch einmal, oder vielleicht auch zum ersten Mal, „Die Pest“ von Albert Camus lesen? Diesen Roman, der 1947 in Paris erschienen ist, und inzwischen in 30 Sprachen übersetzt wurde, diesen Roman, der geschaffen wurde nach Jahre langen Arbeiten des Autors. „Die Pest“ ist ein Plädoyer für die Humanität, die Mitmenschlichkeit, die dem Furchtbaren trotzt. Ein Roman der Hoffnung, trotz der Katastrophe. Der Roman spricht vor allem vom Kampf des Arztes Dr. Rieux in der algerischen Stadt Oran gegen die Pest: Wie die Bewohner wegen der Pest als „Geisel“ eingeschlossen sind, wie sie sich deswegen nur um sich selbst drehen, wie förmlich für sie eine andere, eine nur für sie erlebte Zeit beginnt, losgelöst von der allgemeinen chronologischen Zeit der Daten, Tage, Monate. Aber der Roman hat eine Botschaft: Das total Negative, die Pest, kann medizinisch zwar nicht überwunden werden – aber im solidarischen Handeln doch letztlich besiegt werden. Die Pest verschwindet dann tatsächlich nach etlichen Monaten wieder aus Oran. Aber alle wissen. Sie kann auch wieder auftreten.

Für Camus hatte der Roman auch eine politische Bedeutung: Denn er wusste, die Pest galt damals in dem von Deutschen, von Nazis, besetzten Frankreich, als die „braune Pest“, die es mit allen Mitteln des Widerstandes zu überwinden galt.

Wichtig ist, dass der entscheidende Held, der Arzt Dr. Bernard Rieux, sich als Atheist versteht. Er ist der bescheidene, aber immer in seiner Menschlichkeit großzügige „Held“, bestimmt vom Geist der Toleranz.

Was religionsphilosophisch hoch interessant ist: Camus führt in den Roman auch den Jesuiten-Priester Paneloux ein: Zuerst ist er mit der alten klassischen, menschenfeindlichen Ideologie verbunden: Die Pest sei eine Strafe Gottes für die vielen Sünden der vielen Sünder, betont er in seinen ersten Predigten. Aber im Kontakt mit Kranken, vor allem in Verbindung mit Dr. Rieux und seinen Freunden, verändert sich der Jesuit. Von Strafe Gottes ist nun keine Rede mehr in seinen Predigten, sondern von der Anerkenntnis: Diese Pest kann man, auch religiös gesehen, einfach nicht verstehen. Da kommt die Theologie an ein Ende. Der Priester leidet eines Tages selbst an den Symptomen der Pest, er weigert sich, medizinisch behandelt zu werden und stirbt als ein „cas douteux“, wie es heißt, als ein „zweifelhafter Fall der Medizin“. Der Jesuit nimmt also diese unvollkommene Welt an, so wie sie ist, auch mit dieser Pest: Anders als Dr. Rieux, der gegen diese Welt revoltiert. Aber Camus ist überzeugt, dass beide, Dr. Rieux und Pater Paneloux, auf ihre berechtigte Weise mit der „Pest“ umgehen und ihr standhalten wollen. Revolte und eingestandenes Nichtwissen in metaphysischen Fragen gehören für Camus zusammen.

Wichtig ist auch die Gestalt des Journalisten Raymond Rambert: Er sieht sich plötzlich in Oran eingeschlossen, versucht alles, um zu entkommen, weil er seine Frau in Paris wieder sehen muss! Als es kein Entkommen aus der Stadt gibt, schließt er sich den Helfern an, die die Kranken betreuen. Mit anderen Worten: Aus einem eher egoistischen Typen wird ein solidarischer Mensch. Rambert hat in der Sicht von Camus das menschliche Maß wieder gefunden. Rambert wird förmlich belohnt, wenn er nach der Pest seine Frau wieder findet.

Camus hat als Autor, hat als Philosoph, eine Botschaft: Aus Menschen können und sollten Mitmenschen werden. Solidarische Menschen.

Camus war kein militanter Atheist. Er war ein toleranter Humanist.

Dieser Hinweis als Lektüreempfehlung kann natürlich nicht die Lektüre des Romas „Die Pest“ ersetzen.

Wenn Sie sich für religionsphilosophische Aspekte im Werk von Albert Camus interessieren, dann lesen Sie etwa meinen Hinweis „Ein Atheist aus göttlicher Gnade“, bitte hier klicken, und meinen Beitrag über den ungewöhnlichen, humanen Glauben von Albert Camus. Klicken Sie hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Friedrich Hölderlins “Friedensfeier”: Die Stiftung einer neuen christlichen Gemeinde?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.3.2020

Friedrich Hölderlin ist einer der wichtigen Dichter. Er inspiriert auch heute, er führt weiter und ins Weite. Das muss eigentlich nicht mehr weiter begründet werden. An Hölderlin denken heißt anlässlich seines 250. Geburtstages am 20. März: Mit Hölderlin denken. Und das ist nicht nur in einer distanzierten Lektüre etwa seiner Gedichte möglich und nötig. Die mitvollziehende, „bewegte“ Lektüre führt zu einer Form der Berührt-Seins, des Ergriffenseins. Lesen wir nicht eigentlich immer auch aus diesem Grund Gedichte?

Man lese also etwa das Gedicht „Friedensfeier“, ein schwieriger Text, gewiss, der Ausdauer, Ruhe, Sammlung verlangt.

Ich will hier nur auf einen sehr wichtigen, anregenden Aspekt hinweisen, den der Philosoph Heinrich Rombach in seinem Aufsatz „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“ herausgestellt hat, in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985, dort S. 41 bis 75.

Rombach interpretiert als Philosoph das Gedicht „Friedensfeier“ in der ersten Fassung Hölderlins. Der Text selbst ist in dem Buch abgedruckt, er wird bedächtig gedeutet als eine herausfordernde Beanspruchung und Bewegtheit auch für heute.

Die Grundthese Rombachs heißt: Hölderlin ist als Dichter (und Philosoph) auch ein Theologe ganz eigener, man möchte sagen: bisher einmaliger Art. Darin stimmt Rombach mit vielen Hölderlin-Deutern überein. Das heißt konkret: Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber in der ursprünglichen Gestalt, wie es die Zeugnisse des Neuen Testaments freilegen. Die orthodoxen Dogma – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin bekanntlich ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus Gestalt bedeutete ihm als innere Erfahrung, als inneres Wissen, sehr viel. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung bringen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Ja, Christus wird, so Rombach treffend, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt.Es gibt keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ (S. 66). Aber um dieses Thema der von Hölderlin selbst gesuchten und gelebten „Universaltheologie“ („die alten Götter sind Vorgestalten Christi“, S. 65) geht es mir hier jetzt nicht.

Heinrich Rombach (1923 – 2004, war viele Jahre Philosophieprofessor an der Universität Würzburg) weist auf eine bisher, meines Erachtens, wenig erörterte Erkenntnis Hölderlins in der „Friedensfeier“ hin: Auf die ungeahnte Form der Feier, des Festes, dessen, was man heute Gottesdienst nennt, der ja als offizieller Gottesdienst selten ein Fest, sondern eher Routine, etwa der immer gleiche Ritus der „Messe“, ist. Das Fest, an das Hölderlin denkt, wird gestaltet von den Freunden in Tübingen, zu denen auch Hegel gehörte! Es geht also Hölderlin um einen, wie Rombach sagt, „Gestaltwandel“ der Gemeinde, der Kirche.

Die Voraussetzung für das Fest der Tübinger Freunde ist: Sie wissen sich mit dem göttlichen Geist verbunden und vereint. „Das Göttliche wird aus dem Menschen selbst herausgeboren“ (S. 67). Es lebt also in der Mitte und als Mitte der Menschen Gottes Geist als der Geist des auferstandenen Christus. Und nur dann, in diesem Wissen, entsteht die neue Feier, die man bisher gewöhnlich nur rituellen Gottesdienst nannte.

Rombach sieht in der Feier der Freunde ein Fest, „das der Dichter nur ganz zart andeutet, und bei dem vielleicht Wein getrunken und Brot gegessen wurde. Aber so wie es junge Dichter tun, denen sich die Speise in Geist und Wort und kühne Ideen umsetzt – und so vielleicht auch in den Gedanken, dieser hochfliegende gemeinsame Geist, der ja eine neue Zukunft und eine neue Welt herauf rief, könnte der lebendige Christus selber sein, der jetzt als Dichter und aus Dichtern, aus Freunden, spricht“ (S. 57)

In der Feier von Brot und Wein, in diesem Fest, werden die vom göttlichen Geist Bewegten zur Erkenntnis Gottes geführt. „In dem sich schnell höher wiegenden Gespräch werden alle Teilnehmer über sich hinausgeführt, und jeder ist mehr zu geben fähig, als es ihm für sich allein möglich gewesen wäre“ (S. 60). Christus wird gegenwärtig – als geistige Realität der Freunde im Gespräch – „gerade auch wenn es in der Form eines ausgelassenen Gemeinschaftsgeschehens dichterisch begeisterter Menschen geschieht“ (S. 61). Auferstehung heißt ja: Gottes Geist erweckt Jesus auch dadurch, dass die Gemeinde nach Jesu Tod, von Gottes Geist erfüllt, Jesus als lebendigen Geist erfährt. Dabei weiß die Gemeinde, auch sie selbst ist „auferstanden“, wird auferstehen. Jesus ist „nur“ der Erste der Auferstandenen.

Worauf es ankommt als Anregung für heute: Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Er ist nur als konkreter Geist lebendig! Und dem entspricht vor allem auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder, Gemeinde ist vor allem ein kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, also ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, also ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. In den Feiern von Brot und Wein kann Poesie gelingen, Poesie, die man Gebet nennen könnte. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: die ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, Hölderlin paraphrasierend, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens.

Eine gewaltige Herausforderung. Eine Überforderung, auch für heute? Dies gilt nur dann, wenn man Kirche und Gemeinde in der bisherigen Form auf immer festschreiben will. Das aber wäre ein „ungeistiges“ Verhalten, auch im Sinne Hölderlins! Gerade jetzt, in der viel besprochenen Kirchenkrise, sollten Christen, denen noch etwas liegt an der inneren Erfahrung des Glaubens und des „universalen Christus“, zu der Feier von Brot und Wein, zum begeisterten Gespräch, zum Miteinander der Freundinnen und Freunde finden … und diese Feiern eben – einfach selbstverständlich gestalten! Freiheit gibt es nur als realisierte Freiheit. Auch in den Kirchen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Gott der Monotheisten contra den Gott der Philosophen. Kritische Hinweise auf Lutz von Werders neues Buch

Von Christian Modehn

1.
Daran ist wohl kein Zweifel: Lutz von Werder (geb. 1939) hat als Dr. der Pädagogik und als Soziologe sowie auch als M.A. im Fach Philosophie das philosophische Denken „unters Volk“ gebracht: Durch seine gut besuchten philosophischen Gesprächskreise und Vorträge im Berliner Literaturhaus und in der Urania seit 1997 bzw. 1999 und dann als Gesprächspartner im Philosophischen Radio des WDR über viele Jahre. Vor allem aber: Er hat seine Vorträge dort immer auch verbreitet durch seine sehr zahlreichen sehr populären Darstellungen zur Philosophie und vor allem zur Philosophiegeschichte. So hat er gezeigt, dass außerhalb der Universitäten das Philosophieren als Gesprächskultur der Bürger einen festen Platz haben sollte. Dafür gebührt ihm Dank! Inzwischen gibt es, nebenbei gesagt, philosophische Cafés und philosophische Salons in vielen Städten, philosophische Beratungspraxen „freier Philosophen“ usw.

2.
Nun hat Lutz von Werder nach etlichen Büchern, die meist unter dem Motto „Lebenskunst“ erschienen sind, noch ein weiteres Buch mit dem anspruchsvollen Titel „Der Gott der Philosophen und die Lebenskunst“ vorgelegt. Der Titel erinnert deutlich an die umfassende und wirklich grundlegende Studie des Philosophen Wilhelm Weischedel, einst Professor an der FU Berlin. Nur setzt Lutz von Werder eben die „Lebenskunst“ noch in den Titel. Er will also in der Lektüre der Texte von Philosophen die „Kunst zu leben“ fördern. Wie üblich, versucht er dies vor allem auch durch Fragen zu provozieren, die in den Text hineingestreut sind. Er nennt das „Übungen“. Ob das geistige Leben, also menschliches Dasein in dieser Welt, immer unter der Kategorie der Kunst, des kunstvollen Selbstgestaltens, verstanden werden kann und gefasst werden sollte, ist eine andere Frage. Sie wurde schon im Zusammenhang von Michel Foucault und Wilhelm Schmid heftig diskutiert. Der Begriff „Kunst“ weckt bei vielen eher die Vorstellung eines „elitären Geschehens“. Es sei denn, man hat Joseph Beuys vor Augen und seine berühmte These…

3.
Es ist ja richtig zu sehen: Wahrscheinlich haben alle Philosophen auf ihre Weise zum Thema „Gott“, Absolutes, „Ewiges“, Göttliches usw. Stellung genommen. Das geht ja auch philosophisch gar nicht anders, wenn man denn konsequent fragend und reflektierend das Leben und das Dasein im Ganzen auch auf seinem Grund hin bedenken will. Lutz von Werder bietet in diesem Buch Hinweise zum Gottes-Denken von 27 Philosophen, beginnend bei Platon und endend bei Harari bzw. Wilhelm Weischedel, den von Werder ganz besonders schätzt! Es fällt auf, dass nicht nur die üblichen „Klassiker“ kurz vorgestellt werden, sondern auch aktuelle Philosophen unterschiedlicher Bekanntheit, wie Holm Tetens oder Wilhelm Schmid, den von Werder – lobend oder kritisch ? – „den Papst der Lebenskunst“ (S. 21) nennt. Auch die Engländerin Karen Armstrong wird vorgestellt, eine der wenigen Frauen in dieser Gilde “großer” Männer. In diesem Armstrong- Kapitel wird auch ultrakurz auf muslimische Denker des Mittelalters verwiesen. Interessant auch, dass von Werder auf den „Transhumanisten“ Ray Kurzweil in einem eigenen Kapitel hinweist und dessen Thesen zugunsten eines sehr langen und perfekten Lebens kritisch bespricht. „Technik wird zur Ersatzreligion“ heißt in dem Zusammenhang sein kritischer Hinweis.

4.
Dennoch bleiben Fragen und Einwände zum Buch. Etwa zum Kapitel über Hegel: Er ist ja, wenn man schon pauschale Einordnungen betreibt, eben kein Vertreter des „objektiven Idealismus“ (S. 171), wie von Werder schreibt, sondern des „absoluten Idealismus“. Und auch die Qualifizierung eines „pantheistischen Gottes“ im Denken Hegels ist falsch, wenn schon solche Qualifizierung, dann, wie üblich, in der Philosophiegeschichte die des PanENTheismus für Hegel. Wer sich solche „griffigen“ Titel dann auch noch einprägt und sogar glaubt Hegel auf diese formelhafte Weise verstanden zu haben, hat vom lebendigen und höchst anspruchsvollen Denken Hegels dann doch nichts begriffen. Und noch etwas: Gotteserkenntnis bei Hegel ist auch nicht Sache des „objektiven Geistes“ (S. 176), sondern des “absoluten Geistes”.
Vor allem ist entscheidend: Hegel hat seine eigene Philosophie explizit und mehrfach sehr deutlich betont „als Theologie“ und andererseits „christliche Theologie als Philosophie“ verstanden, unter zahlreichen Belegen dafür lese man nur „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ III, S. 64, Werk Ausgabe des Suhrkamp-Verlages oder die wirkich philosophische, umfangreiche und grundlegende Studie von Prof. Michael Theunissen (FU Berlin) „Hegels Lehre vom absoluten Geist“. Diese innere und enge Verflochtenheit von Offenbarungs-Reflexion (Theologie) und Philosophie bei Hegel wird von Lutz von Werder nicht wahrgenommen und a priori schon in der „Einleitung“ zu seinem Buch explizit ausgeschlossen. Eher grob abstrakt, also etwas „holzschnitzartig“, wird dort die religiöse Offenbarung dem philosophischen Denken als das ganz andere, wenn nicht als das Gefährliche, gegenübergestellt. Dabei wäre es doch spannend, bei jedem einzelnen philosophischen Gott-Denker in Europa nachzuweisen, wie auch deren Denken von Einsichten und Fragen der Offenbarungsreligion etwa des Judentum und des Christentums, auch des Islam, direkt und indirekt bestimmt ist! Dann wäre ein interessantes, ein weiterführendes Buch entstanden.

5.
In dem Buch ist angesichts der jüdischen, christlichen und muslimischen treffend von Gott im Plural, also von „Offenbarungs – GÖTTERN“, ab Seite 27, ständig die Rede ist. Denn jede monotheistische Religion hat ihre eigene Pluralität im eigenen Gottesdenken, und es ist bekanntlich alles andere als selbstverständlich, dass alle drei monotheistischen Religion denselben Gott verehren, wie so oft volkstümlich behauptet wird. Pluralität bei den religiösen Göttern? Ja!
Hingegen will uns der Autor einreden, dass im Falle der vielen Philosophen von Platon bis Kurzweil werde nur “DER Gott der Philosophen”, also offenbar der eine Gott im Singular!, deutlich. Richtig wäre es, wenn Lutz von Werder auch von den sehr unterschiedlichen GÖTTERN der Philosophen sprechen würde. Was hat denn etwa der Gott des Philosophen Meister Eckart mit dem Gott des Philosophen Schopenhauer gemeinsam? Ich sehe da abgesehen von der Verwendung des gleichen Gott-Titels keine Gemeinsamkeit.
Also: Es gibt nur viele GÖTTER der vielen Philosophen. Dann wird die Sache interessant, zumal wenn man die viel besprochene „Lebenskunst“ im Hinterkopf hat: Für welchen der Götter der Philosophen soll ich mich denn dann entscheiden? Oder lasse ich mich nach den knappen Skizzen im Buch von niemandem mehr “be-geistern”?

6.
Was ärgerlich ist schon in der „Einleitung“ des Buches: Die „Götter der Offenbarung“ kommen gegenüber dem vorausgesetzten „einen“ Gott der Philosophen durchwegs schlecht weg. Auch diese von mir polemisch empfundene Abwehr des religiösen Glaubens bei von Werder sollte zugunsten wirklicher Sachlichkeit überwunden werden: Denn die alten philosophischen Schulen in Rom (Stoa, selbst Epikur…) haben die christlichen Gemeinden selbst als eine philosophische Schule verstanden, und die christlichen Gemeinden haben sich auch als solche verstanden, man lese die Bücher des unbestrietbar großen Kenners Pierre Hadot. Ein Clemens von Alexandrien zum Beispiel war als Christ ein hervorragender Philosoph. Es stimmt einfach nicht, wenn von Werder behauptet: “Der Offenbarungsglaube ist nur zu glauben und nicht zu wissen“ (S. 37). Was heißt denn schon „Wissen“? Es wissen doch bekanntlich viele Philosophen sehr genau, dass die letzte Basis ihres eigenen Denkens nur im Glauben (!) erreicht werden kann und nicht in einem Wissen. Wer “weiß” denn die Gründe dafür, warum die Gesetze der Mathematik mit den Gesetzen der “Außenwelt” offenbar übereinstimmen? Gibt es da nicht immer mehr Staunen als Wissen? Man lese bitte den späten Wittgenstein als ein Beispiel. Oder die wichtigen Studien über die wechselseitige (!) Durchdringung von Glauben und Wissen von Prof. Volker Gerhardt.
Lutz von Werder kann meines Erachtens auf seine Polemik, wenn nicht Wut gegen die Offenbarungsreligionen nicht verzichten. Da sind selbst explizit atheistische Philosophen wie der bekannte Engländer Tim Crane („Die Bedeutung de Glaubens“, 2019) viel weiter, viel objektiver und differenzierter.
Dass Lutz von Werder jetzt auch die Atheisten in dem neuen Buch heftig verurteilt, für mich etwas Neues bei ihm, (etwa: „Sie – Atheisten – meiden jedes Denken über Gott“, Seite 28, verwundert dann doch. Jedenfalls hat sich Lutz von Werder nun im Alter „dem“ Gott der Philosophen zugewandt, den seiner völlig unbegründeten Schätzung nach 10 % der Weltbevölkerung verehren: Angeblich lebten diese 10 % in einer skeptischen Haltung, wobei diese Skepsis auch wieder unvollständig bleibt, weil sie sich selbst nicht noch einmal skeptisch reflektiert! Erst die sich selbst gegenüber skeptische Skepsis hat den Anspruch, skeptisch sein zu können. Wenn das nicht der Fall ist, werden eben auch Dogmen verbreitet, philosophische eben.

7.
Seine eigenständige philosophische Position hat der populäre Vermittler des Denkens anderer bisher eher nur am Rande mitgeteilt. Diesmal ist in der hinsicht beachtlich der knappe Text von zwei Blättern im Buch, mit dem ein bisschen an Heidegger erinnernden Titel: „Nur ein Gott der Philosophen kann uns retten“ (S. 333). Heidegger sagte bekanntlich in dem berühmten SPIEGEL Gespräch noch viel offener „Nur ein Gott kann uns retten“…
Mag ja sein, dass diese zwei Seiten in Lutz von Werders Buch sozusagen aus dem Rahmen fallen, weil sie vor allem auch sprachlich aus der sonst sehr nüchternen, sehr sachlichen, manchmal abrupt wirkenden Sprache herausragen. Aber eigentlich wird hier die grundlegende Frage auch nur berührt: Wie und wann und warum “rettet” denn der Gott der Philosophen die Menschheit und den einzelnen Menschen? Es ist der Gott, so Lutz von Werder, der im skeptischen Schweigen, „in der Nacht“, ganz kurz mal, erlebt wird. Es wird auch ein Wir (der philosophisch-skeptisch Frommen) beschworen, das Widerstand leistet gegen die Zerstörer/Zerstörung der Welt. Das sind alles interessante, ins Mystische gehende Formulierungen. Sie sind lesenswert!

8.
Aber: Welche rettende Aktivität kann denn ein gedachter Gott der Philosophen als solcher ausüben? Mag ja sein, dass einige dieser Götter die Menschen zum Tun des Humanen aufrufen, aber gilt das denn etwa Nietzsche? Sicher nicht! Sicher ist es doch auch, im Sinne einer spekulativen Philosophie im Sinne Hegels gedacht, so: Dass der vom Menschen gedachte Gott selbst ein Werk Gottes ist. Weil menschlicher und göttlicher Geist in einer gewissen Hinsicht, Hegel zufolge, eins sind. Voraussetzung ist natürlich, dass man einen Gott überhaupt annimmt, aber das macht ja Lutz von Werder. Warum dann also nicht konsequent sein und denken: DIESER vom Menschen gedachte Gott ist selbst Gottes Werk. Also Werk des „wirklichen Gottes“, möchte ich nun auch einmal etwas „holzschnitzartig“ sagen dürfen. Nur dieser Gott als absoluter Geist hätte dann rettende Kraft, weil er in eine tiefe Sinn – Erfahrung führt – auch als Gabe, als Geschenk verstanden. Aber das wird in dem Buch leider nicht gesagt. Und kann es auch nicht sagen, weil es von diesem falschen abstrakten Gegeneinander von Offenbarung und Philosophie lebt…
9.
Dass man heute dieses Thema nicht mehr eurozentrisch und schon gar nicht nur auf Publikationen in deutscher Sprache bezogen darstellen darf, wäre noch ein weiteres Thema…

Lutz von Werder, Der Gott der Philosophen und die Lebenskunst. Schibri Verlag in Milow. 2019. 355 Seiten. 15 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der unterlegene, aber siegreiche Knecht: Eine Christus-Interpretation auf Anregung Hegels

Von Christian Modehn

Es sollte versucht werden, philosophische Denkmodelle mit religiösen, christlichen Inhalten nicht nur zu konfrontieren, sondern diese christlichen Inhalte, etwa aus dem Neuen Testament, hineinzutragen in philosophischen Denk-„Modelle“. Um möglicherweise einen neuen Blick auf religiöse Traditionen zu gewinnen.

Dies gilt für die Erzählung von „Herr und Knecht“ bei Hegel („Phänomenologie des Geistes“ und „Enzyklopädie“).

Im Brief des Apostels Paulus an die Philipper (Kapitel 2, Vers 7) wird Jesus Christus erstaunlicherweise als KNECHT bezeichnet. Von dem Himmelsherrn – siehe die Mosaike der Basiliken – ist da noch keine Rede!
Die Aussage des Theologen Paulus: Der eigentlich (himmlische, ewige) „Gott-gleiche“ Christus, (der „Logos“ im johanneischen Sinne), hat sich in die Welt der Menschen begeben, hat sich ent – äußert. Er wurde hier zum Knecht, genauso, wie andere Menschen in den Verhältnissen dieser Welt auch Knechte sind. Paulus selbst verwendet in seinem Philipper – Brief das altgriechische Wort „doulos“: Das ist präzise der Knecht, sogar der Sklave. Ins Lateinische übersetzt ist dann die Rede von „servus“, Knecht und Diener.

Christen sind also Freunde eines „Knechts“, der gegen die Herren kämpft. Wer hat diese Definition Jesu Christi jemals in einem Gottesdiest gehört? In welcher Bischofskirche? In welcher Kirche in Rom=

Wenn man diesen Knecht Jesus Christus hineinschreibt in die Konstellation „Herr und Knecht“ im Sinne Hegels, ergeben sich diese Erkenntnisse:

Auch der Knecht Jesus Christus steht in seinem Leben in Judäa/Galilea, selbstverständlich, wie in der Erzählung Hegels, dem Herren bzw. historisch-konkret den Herren gegenüber. Diese sind die Mächtigen in Religion und Politik. Ihm, dem ungewöhnlichen Propheten, dem Interpreten dessen, was gottgefällig und Gesetz ist, setzen diese Herren zu, misstrauen ihm, verfolgen ihn, machen ihm den Prozess, morden ihn schließlich am Kreuz.
Dieser Knecht Jesus Christus ist ein sonderbarer Knecht, er hat – im Unterschied zu Hegels Erzählung – nicht den Willen, ein Herr zu werden oder den Herrn, bzw. die Herren, siegend zu überwältigen. Er will überzeugen, aber die Herren sind verblendet. Dem Knecht genügt es dann, die Herren in ihrer Macht zu blamieren und dadurch in ihrem „guten Ruf“ etwas zu erschüttern. Die Herren verändern sich allerdings nicht in ihrem Herr-Sein.

Jesus Christus siegt zwar nicht über diese Herren. Aber er zeigt überragende geistige und seelische Größe, er lässt sich nicht verführen hin auf die Seite der Mächtigen und deren Ideologien. Dies macht ihn in den Augen seiner Freunde dann doch zu einem (ganz anderen) „Herrn“, zu einem gewaltlosen, machtfreien Herrn.
Der Kampf zwischen Herr und Knecht endet also in der Sicht des Neuen Testaments zwar mit einem politischen Sieg der Herren dieser Welt. Jesus Christus stirbt, politisch betrachtet, als religiöser Aufrührer, als Kritiker, als Umstürzler, dann als Verfolgter, im Elend der Kreuzigung.

Aber es gibt einen dialektischen „Umschlag“: Denn Jesus hat in seiner Menschenfreundlichkeit zugunsten der Kleinen, der Vernachlässigten, der Armen, der Verachteten, eine Gemeinde der Freunde hinterlassen, einen Kreis von Frauen und Männern, die man ApostelInnen und JüngerInnen nennt. Der gescheiterte Knecht hat also förmlich eine kleine Widerstands – Bewegung der Schwachen bewirkt; sie steht den Herren ebenfalls prinzipiell kritisch gegenüber. Später ämderte sich das und da stand die Kirche aufseiten de Herrscher, bis heute, aber das ist ein anderes Thema…

Die Gemeinde der „Freunde des Knechtes Jesus Christus“ überlebt trotz Verzweiflung auch geistig den Tod ihres Vorbildes und Meisters.

Der gescheiterte Knecht Jesus Christus stirbt zwar elend. Aber seine Gemeinde, die treuen FreundInnen, wissen nach seinem Tod: Solch ein „Knecht“ kann nicht sterben. Diesen Menschen wird also die Einsicht geschenkt: Dieser gescheiterte Knecht Jesus Christus lebt. Er ist stärker als die tötende Macht der Herren. Er ist also kein unterlegener Knecht mehr. Er ist –letztlich – der Sieger. Das sind keine Wahnvorstellungen „Gestörter“. Vielmehr die Konsequenzen einer sinnvollen Lebensphilosophie, Glaube genannt.

Genau dies ist die Erfahrung, die man Ostern nennt: Der gescheiterte Knecht Jesus Christus lebt. Und zwar anders als eine „irdische“ Gestalt, anders als ein leiblicher Mensch dieser Welt. Man nennt dieses andere Leben über den Tod hinaus ein ewiges Leben, in das Jesus eingetreten ist. Denn in ihm, Jesus Christus, wirkt und lebt, wie in den Menschen, seinen Freunden auch, der göttliche Geist. Dieser ist, weil göttlicher Geist auch der ewige Geist, nicht tot zu kriegen in dieser Welt. Mit anderen Worten: Der tote Jesus liegt im Grab – und lebt … auf ewig. Daran hält sich die Gemeinde, weil sie weiß: Auch wir Menschen haben – wie Jesus – Anteil am ewigen Geist Gottes.

Die Herr-Knecht-Beziehung am Beispiel Jesu Christi hat eine allgemeine Bedeutung: Sie zeigt: Die Niederlage, das Scheitern des Knechtes, letztlich jedes menschlichen Knechtes, ist nicht definitiv das Ende. Mit anderen Worten: Es ist sinnvoll, gegen die Herren der Welt den Kampf der Menschlichkeit (und Demokratie) zu führen. Selbst die furchtbare Form der Todesstrafe, die Kreuzigung, ist kein Beweis für den definitiven Sieges der Herren dieser Welt.

Es ist das Ewige, als das Göttliche, das sich im Scheitern des Knechtes, aller Knechte, im Kampf gegen die brutalen Herren sozusagen „durchhält“ und letztlich nicht zum Verschwinden gebracht werden kann.

Diese Erkenntnis ist kein Opium der Vertröstung auf ein ewiges „Jenseits“. Diese Erkenntnis drängt sich auf, wenn man die Anwesenheit göttlichen Lebens in der von Gott „geschaffenen“ Welt trotz aller irritierender Fakten sieht. Die Welt als die von einer göttlichen Lebendigkeit „geschaffene“ Wirklichkeit mit ihrer Natur und ihren Menschen kann gar nicht anders gedacht werden, als: dass Göttliches eben auch in der Welt und den Menschen anwesend ist und lebt. Dies ist ein Bereich, in dem alle, auch die festesten „Naturalisten“ und/oder militanten Atheisten insgesamt auch eher andeutend, suchend, fragend, im „Vielleicht“ sprechen.

Die innere Verbindung der “geschaffenen“ Welt mit dem schöpferischen Gott ist der zentrale Gedanke der Philosophie Hegels, die bekanntlich insgesamt Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist, wie der große Philosoph Michael Theunissen gezeigt hat.

Aber die anderen, die Freunde Jesu, wissen: Wenn sie jene Menschen ehren und feiern und im Gedächtnis bewahren, die, wie Jesus Christus, den Weg der Konfrontation mit den Herren der Welt wagten und dabei ihr Leben lassen mussten: Dann sind diese mutigen Menschen über ihr Martyrium hinaus bleibend lebendig, auch inmitten der Gemeinde: Man denke an Bischof Oscar Romero (El Salvador) oder Dietrich Bonhoeffer und einige andere.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ein Atheist versteht religiöse Menschen und kritisiert die militanten Neu-Atheisten

Über das Buch von Tim Crane „Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten“.
Ein Hinweis von Christian Modehn

Der britische Philosoph Tim Crane wurde „katholisch erzogen“ (S. 91), er versteht sich aber, offenbar seit längerer Zeit, (Details nennt er nicht), „als Atheist“. Und ihm liegt sogar daran, „den Atheismus voranzubringen“ (174). Aber in seinem neuen Buch wirbt er nicht stolz und besserwisserisch für den „Nichtglauben an Gott“ (28). Ganz anders als die bekanntermaßen heftig missionarisch agierenden „neuen Atheisten“, bzw. „Anti-Theisten“, wie die internationalen Erfolgsautoren Dawkins, Dennett, Sam Harris usw. Tim Crane hat gar nichts übrig für diese Herren. Er spricht etwa von „Dennett und Konsorten“ (24). Der Autor will die Atheisten aller Art belehren, was Glaube religiösen Menschen bedeutet, wer sie eigentlich sind. Dabei betont er, den Atheismus nur „beschreiben“ (28), nicht verteidigen zu wollen. So sollen förmlich Bildungslücken gefüllt werden, die gerade viele Atheisten gegenüber gläubigen Menschen haben. Dies ist das Thema des Buches. Dass dabei auch religiöse Menschen Anregungen erhalten, über ihren eigenen Glauben aus der Sicht eines toleranten Atheisten nachzudenken, ist auch klar. Mit seiner manchmal doch mühsam zu lesenden Studie möchte er als „Minimalziel für Toleranz“ sorgen zwischen Religiösen und Atheisten. Als „Maximalziel“ geht es ihm um einen „Dialog“ der Menschen verschiedener Weltanschauungen in einer demokratischen Gesellschaft (176). Ein gewisses missionarisches Ziel im Sinne eines toleranten und humanen Miteinander hat er also doch!
Die Hauptvorwürfe gegen seine philosophisch-atheistischen Gegner, ausschließlich im Englisch sprechenden Raum, sind seit längerem auch aus anderen Studien anderer kritischer Philosophen bekannt. Crane formuliert die bekannte Kritik in seinem Schlusskapitel: Diese militanten Atheisten haben eine grundlegend falsche Konzeption von Religion. Denn die monotheistischen Religionen haben gar nichts zu tun mit (natur)wissenschaftlichen Hypothesen. Sie sind keine Konkurrenz zu Naturwissenschaften. Religiöse Menschen glauben an die schöpferische Kraft eines „göttlichen Wesens“ (mangels eines besseren Wortes), ohne sich dabei auf alle Details der Naturwissenschaften einzulassen. Diese wissen nämlich auch nicht sehr viel Exaktes und definitiv Genaues über den Ursprung des Kosmos und das Leben.
Religionen sind vielmehr eine eigene, philosophisch berechtigte und insofern auch anzuerkennende Form von Überzeugungen, sie haben ihre eigene Vernunft. Denn ihnen geht es um die notwendige Suche nach einem letzten gründenden Sinn. Über dieses nicht „Greifbare“ muss gesprochen werden, denn es gibt das „kaum Greifbare“ auf andere Weise als die Objekte in dieser Welt. Wer würde es denn wagen, etwa die Liebe mit naturwissenschaftlichen Maßstäben „messen“ zu wollen? Dieses Beispiel bringt Crane leider nicht, denn es könnte eine Brücke sein zu der eigenständigen Kenntnis und absolut gar nicht naturwissenschaftlichen Lebensdeutung, die Religionen verbreiten. Aber auch das wurde schon mehrfach gegen diese Neoatheisten gesagt. Die meisten Leser haben diese richtige Kritik kaum zur Kenntnis genommen, sie halten Dawkins „und Konsorten“ für das Non-plus-Ultra. Dass Religionen in ihrer Vielfalt auch viel Unsinn erzeugen, etwa in Form der Magie etwa, ist Crane auch klar…
Der jetzt in Ungarn („Central European University“, Budapest) lehrende britische Philosoph legt allen Wert darauf, nur die Bedeutung des religiösen Glaubens, nicht aber seine Wahrheit, zu erklären. Ob beides so getrennt werden kann, ist die Frage. Denn was ist schon „Wahrheit“ einer Religion? Doch wohl ihre Lehre, ihre Dogmen. Und davon muss man ja wohl in einer Auseinandersetzung sprechen…
Problematisch in meiner Sicht ist auch das letztlich doch enge Verständnis dessen, was Crane Religion nennt. Warum ist es denn nicht eine Art religiöser Bindung, wenn sich Menschen ihren wichtigsten Mittelpunkt in ihrem Leben wählen (Geld, Sex, Sport, Körper, Arbeit usw…)? Und diesen zentralen Sinn – Mittelpunkt, um dessen willen sie leben, dann auch verehren und ihm auch alles andere opfern: Warum sollte man diesen Mittelpunkt (der kann im Laufe eines Lebens variieren) nicht ihren Gott nennen? Darauf hat ja Luther zurecht schon hingewiesen. Dadurch, dass Crane diese offene Definition der Religionen, die bekanntlich auch von dem bekannten Soziologen Thomas Luckmann unterstützt wird, abweist: Wird eben auch Kommunismus oder der Faschismus oder der Kapitalismus und jede allumfassende Ideologie nicht mehr als religiöse Angelegenheit ganz eigener Art wahrgenommen. Dabei gibt es viele Studien, etwa von „Sowjetologen“, die den Kommunismus als Religion deutlich erklären. Man denke an die Arbeiten des Philosophen Michael Ryklin, Moskau-Berlin.
Crane vertritt also meines Erachtens einen sehr begrenzten, man möchte sagen fast kirchlich geprägten religiösen Glaubensbegriff. Dabei definiert Crane ja „den“ Atheismus selbst als einen Glauben: „Atheismus ist der Nichtglaube an Gott“ (28).
So bleiben also am Ende der Lektüre doch, global gesehen, zwei Glaubensformen als menschliche Daseinsmöglichkeiten: Religiöser Glaube und/oder atheistischer Glaube. Und für Crane sind beide letztlich im Sinne eines offenen Humanismus berechtigt. In seinen manchmal mühsamen Erläuterungen zum Relativismus wird zwar nicht gesagt: Beide Glaubensformen sind relativ wahr. Aber die Tendenz der Aussage geht meines Erachtens doch dahin. Relativ wahr will sagen: In der HINSICHT der Bindung eines einzelnen Menschen an seine (augenblickliche) Wahrheit.
Crane weist ausdrücklich die These der Neuatheisten zurück, alle brutale Gewalt auf Erden sei immer schon vor allem, wenn nicht einzig und allein, der Religion bzw. dem Glauben dieser Übeltäter geschuldet. „Die eigentliche Frage lautet, was genau religiöse Gewalt ist und worin das Potential der Religion besteht, Gewalt in häufig extremer Form zu schüren“ (134). Es muss also differenzierter gedacht werden. Und es gilt auch: Religiöse Gewalt ist bekanntlich nicht nur tötende, brutale, körperliche Gewalt. Sehr viel häufiger ist religiöse Gewalt die Umsetzung einer fundamentalistisch verstandenen religiösen Moral: Etwa die Verachtung, Ausgrenzung und Verfolgung von Homosexuellen in allen monotheistischen Religionen, die Degradierung der Frauen, das Bemühen um Missionierung der “anderen“. Mit anderen Worten: So ganz überzeugt diese Apologie von Tim Crane zugunsten der Religion doch nicht! Er hat für Gläubige mehr Sympathien als für Atheisten. Ist er also ein „unzufriedener Atheist“? Vielleicht.
Nebenbei: Crane hat seine Mühe, Versuche der Atheisten (der atheistischen „Humanisten“ in England) zu akzeptieren, wenn diese sich religiöse Feierlichkeiten konstruieren. Man denke etwa an die auch in Deutschland gescheiterten „Sunday-Assemblies“, dieser Melange aus transzendenzfreiem Ritus, Pop -Songs und lebenskundlichen Vorträgen. Mit Kollekten!

Und noch ein Hinweis: Wenn Crane sagt, die säkularen, areligiösen demokratischen Staaten sollten doch bitte religiöses Verhalten inkorporieren (68), dann ist er sehr eng mit entsprechenden Überlegungen von Jürgen Habermas verbunden. Dieser betont ja ständig, die säkularen Menschen in säkularen Demokratien sollten lernbereit auch auf das hören, was religiöse Menschen an Einsichten und Werten vorzutragen haben. Habermas wird von Crane nicht zitiert. Indirekt aber sind seine Themen vorhanden, wenn Crane sagt: „Man kann ein religiöses Temperament haben, ohne gläubig zu sein“ (56). Habermas nennt sich zwar „religiös unmusikalisch“, kann aber als religiös „Unbegabter“, „Nicht-Talentierter“, Richtiges über Religionen schreiben, siehe etwa sein letztes Opus Magnum „Auch eine Geschichte der Philosophie“.
Vielleicht gehört der ehemalige Katholik Tim Crane zu dieser sicher nicht kleinen Gruppe der Menschen, die „nur“ mit einem gewissen religiösem Temperament ausgestattet sind. Die aber doch tatsächlich glauben, eben an die Nicht-Existenz Gottes. Atheismus treffend als Glaubensform bestimmt, ist auch eine Frage des Temperaments.

Dies ist ein Buch, dessen Thesen hoffentlich bei Atheisten und glaubenden Menschen gleichermaßen diskutiert wird. Die Frage muss mal gestellt werden: Gibt es eigentlich in Deutschland noch Orte, wo Atheisten und Glaubende sich regelmäßig austauschen? Mir ist nicht bekannt, dass etwa die katholischen Akademien in Deutschland den regelmäßigen Austausch mit Atheisten pflegen…
Oder hat man sich nichts zu sagen, hat man sich etwa „alles“ schon gesagt? Der religionsphilosophische Salon Berlin ist ein bescheidener Ort des Austauschs “religiös Verschiedener”.

Tim Crane, Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten. Suhrkamp Verlag Berlin 2019. Aus dem Englischen von Eva Gilmer. 188 Seiten. 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Hölderlin: Über Kirchen und Christentum hinaus… zu den Mythen Griechenlands

Hinweise anlässlich des 250. Geburtstages von Friedrich Hölderlin am 20.3.2020

Von Christian Modehn – Siehe auch den Hinweis zum Gedicht “Friedensfeier” als Anregung für eine “Gemeinde” der Freunde. LINK.
1.
Viele religiöse Menschen, unter ihnen Christen, erleben, wie der überlieferte christliche, dogmatisch geprägte Glaube für sie selbst ungenügend ist. Wie er ihren Lebenserfahrungen nicht (mehr) entspricht. Warum soll man auch einer fest umrissenen Lehre anhängen, wenn sie das eigene Leben nicht klärt, nicht vertieft, nicht erleuchtet? Das wäre Fremdbestimmung! Deswegen wenden sich viele den Meditationsformen zu oder einem westlich verstandenen Buddhismus. Viele wollen trotzdem mit der christlichen Spiritualität verbunden bleiben. Und ihr Überliefertes mit Neuem verbinden.
2.
Der Dichter Friedrich Hölderlin ist eine Art prominenter Vorläufer für religiöse Menschen, die nach einer weiten Synthese von Christlichem und Nicht-Christlichem suchen. Hier kann nicht die umfassende Hölderlin-Forschung auch zu diesem Thema ausgebreitet werden.
Nur auf einen gewiss zentralen Aspekt soll hier nur hingewiesen werden. Auf die Erfahrung des Ungenügens des Christlichen allein und die Suche nach einer anderen religiösen Welt, die der Griechen. Und dabei wird nicht verschwiegen, dass gerade im 19. Späteren Jahrhundert viele andere, Poeten, Philosophen, Literaten, Musiker, sich zu „multireligiösen“ Menschen entwickelten in einer großen ideologischen Vielfalt, man denke an Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Rudolf Steiner usw… Diese Suche nach einer Überwindung dogmatischer Grenzen gilt für viele Menschen heute. Für Hölderlin stand als „Ausweg“ aus der Enge des dogmatisch Christlichen noch nicht eine asiatische Spiritualität z.B. „zur Verfügung“. Er musste förmlich nach Griechenland ausweichen.
3.
Das Leiden:
Friedrich Hölderlin hat schon als junger Mensch gelitten: Er hat am despotischen System des Herrschers, des Herzogs Karl Eugen von Württemberg (1737 – 1793), gelitten und vor allem an der rigiden, dogmatisch verkrusteten evangelischen Theologie und der meisten ihrer Pfarrer dort.
Zusammen mit seinen Freunden im Tübinger Stift (Hegel, Schelling) lebte er in der Sehnsucht nach freiheitlichen politischen Verhältnissen, ihr Motto zu der Zeit war „Zuerst das Reich Gottes“, also das Leben in einer humanen, Menschliches und Göttliches verbindenden Gesellschaft.
Hölderlin sollte auf Wunsch der frommen Mutter evangelischer Pfarrer werden. Aber er wollte das absolut nicht und suchte die religiöse Weite, die er in der dogmatischen Kirche nicht fand.
Sein leidenschaftliches Interesse an einem „anderen Leben“ in Harmonie, Freiheit, Schönheit, Liebe, führte ihn gedanklich in die alte griechische Welt der Mythen. Hier sieht er, wie der „Gott in uns“ erfahren wurde, und der Gott nicht länger der kirchlich konzipierte despotische Himmelsherr sein musste. In wieweit diese religiöse Überzeugung verstärkt wurde durch das Umkippen der Französischen Revolution in eine Gewaltherrschaft müsste näher untersucht werden. Tatsache ist: Hölderlin (wie Hegel) waren im Tübinger Stift zunächst begeisterte Anhänger der Französischen Revolution und ihrer Ideen. Von 1797 bis 1800 war Hölderlin sozusagen Hegels „Philosophischer Mentor“. Hölderlins Gedanke der Einheit von Göttlichem und Menschlichem wurde von Hegel „übernommen“.
4.
„Alles ist in Gott“ wurde früh schon Hölderlins Leitgedanke: “Es glimmt in uns ein Funke der Göttlichen…“ In der Dichtung glaubte er den Zugang zu dieser Welt der Göttlichen zu finden und darin ein neues, ein humaneres, ein „heiles“ Leben. Hölderlin war überzeugt, dass die Dichter den verlorenen Zusammenhang von Menschen und Göttern wieder aufbauen und zu Leben wecken können. Die philosophische Ästhetik ist für ihn der wichtigste Aspekt der Philosophie!
Nicht eine neue Religion wollte er stiften, sondern das Leben insgesamt geistvoller, freundlicher, humaner werden lassen – durch den Bezug auf die griechischen Mythen und deren Götter. Das Problem für ihn war nur: Innerlich konnten diese Göttergestalten nicht als solche erfahrbar werden! Es blieb beim hymnischen Gesang, es blieb beim Wort des Dichters Hölderlin. Nebenbei: Ist das beim Feiern und Singen und Sagen des christlichen Gottes so anders? Ist dieser Gott als Gott – etwa im Kultus der Gemeinde – erfahrbar? Oder hat nicht Jesus von Nazareth in die richtige Richtung gewiesen: Dass im menschenfreundlichen Leben selbst, im Tun des Guten, des Gerechten, der Nächstenliebe Gott und Göttliches erfahren werden kann.
Im Spätwerk Hölderlins deutet sich ein gewisser Wandel an: Die Christus-Gestalt wird förmlich einbezogen und eingeordnet in die griechische Götter-Welt, ohne dabei eine herausragende Bedeutung Christi leugnen zu wollen, darauf weist Heinrich Buhr in seinem wichtigen Buch „Hölderlin und Jesus von Nazareth“ (1977) hin… In Hölderlins letzten Hymnus, vor seinem geistigen Zusammenbruch, erlebt er Christus als den Versöhnenden, als Friede und als den Unsterblichen, als den Fürsten der „Friedensfeier“.

„Versöhnender, der du nimmer geglaubt
Nun da bist, Freundesgestalt mir
Annimmst, Unsterblicher, aber wohl
Erkenn ich das Hohe
Das mir die Knie beugt…“

Dieser Fürst der Friedensfeier, Jesus Christus, ist kein machtvoller Herrscher, erbringt die „heilige Herrschaft der Liebe“, einen „neuen Frieden“.
Nur in einem dogmatisch nicht fixierten Christentum wird man die poetisch-religiöse Leistung Hölderlins erkennen können, wie man überhaupt selbst als christlicher Theologe Versuche der Menschen respektiert, die ihre eigenen spirituellen Wege einer Synthese unterschiedlicher Religionen und Philosophien suchen. Diese Versuche sollte man nicht, wie Hans Küng (in: Dichtung und Religion, Serie Piper, 1988, Seite 140), so wörtlich „als Ersatzreligion“ abtun. Da klingen sehr uralte und veraltete römisch-katholische Topoi selbst bei Küng an!
5.
Man vergesse nicht, dass der junge Hölderlin an der starren Christenheit litt, „die aus der heiligen lieben Bibel ein kaltes, geist – und herztötendes Geschwätz“ machte. Sie hat „ihn, Christus, den Lebendigen, zum leeren Götzenbilde gemacht“. Hölderlin hat aus der Kraft des Leidens nicht nur bleibende Poesie geformt, er hat das europäische Christentum insgesamt zu weiten versucht.
Der Hölderlin Forscher, der Theologe Heinrich Buhr, schreibt: Es sei falsch zu meinen, dass im Sinne Hölderlins „Christus die alten Götter (Griechenlands) überflüssig mache, verdränge und er (Christus) allein an ihre Stelle trete. Aber so versteht Hölderlin Christus gerade nicht. Er kämpft ja darum, dass er sich des Guten und Schönen, wo immer er es findet, uneingeschränkt freuen kann“ (S. 98).
Christus zerbricht den trennenden Zaun, die Mauer, zwischen den Menschen, zwischen den unterschiedlichen religiösen Menschen, dies ist Hölderlins Überzeugung.
Heinrich Buhr (1912-2001) , der ev. Theologe und Hölderlin Freund und Hölderlin Forscher, hat unter der geistigen Begrenztheit seiner evangelischen Kirche sehr gelitten, „die jede fremde (religiöse) Erfahrung nur ironisierend abtut als Versuch des sich selbst rechtfertigenden, überheblichen natürlichen Menschen“ (S. 103).Gemeint ist die rigide dialektische Theologie im Sinne Karl Barths…
6.
Diese maßlose Überheblichkeit lebt heute in sehr vielen evangelikalen und pfingstlerischen Kirchen, zumal in Amerika und Lateinamerika, fort; die Kirchengemeinschaften, die alle „anderen“ religiösen und ethischen Lebensformen verdammen und verfolgen (siehe Brasilien unter Bolsonaro), weil sie nicht dem eigenen klein karierten Fundamentalismus entsprechen.
Hölderlin würde sagen: Diese evangelikalen Kirchen verderben das menschenfreundliche Evangelium Jesu Christi.
7.
Und wer klagt noch in der weiten Christenheit darüber, dass diese evangelikalen Machtblöcke sich auch politisch immer mehr durchsetzen?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin