Wider den Egoismus der neoliberalen Wirtschaft. Vorschläge von Axel Honneth

Wider den Egoismus der neoliberalen Wirtschaft

Vorschläge von Axel Honneth

Von Christian Modehn

Die Philosophie kann die Ökonomie nicht sich selbst überlassen. Und das führt zu neuen Erkenntnissen. Philosophen haben eigene Vorschläge zur Reform des offensichtlich kaputten ökonomischen kapitalistischen Systems. Das zeigt das neue Buch des Frankfurter Professors für Philosophie und Direktors des dortigen Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth. Das überaus anregende Werk von 628 Seiten hat den Titel „Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit“ (Suhrkamp 2012). Honneth ist ein viel gefragter Philosoph, wenn es um die Frage der Herausbildung normativer Ordnungen geht. Er will die Sozialphilosophie nicht loskoppeln von der Gesellschaftsanalyse und weist auch eine abstrakte, sozusagen empirie – freie Ethik zurück.

Wir können hier für die Gespräche in unserem Salon zuerst nur einen Aspekt herausgreifen: Das Kapitel über “Markt und Moral”, dort besonders die Ausführungen unter dem Titel “Eine notwendige Vorklärung”.

Der Titel des Buches sagt es schon: Es geht um Moral und Ethik innerhalb des Wirtschaftslebens. Kann der kapitalistische Markt heute zu einem Bereich sozialer Freiheit werden, wo Ausbeutung und Unterdrückung stark reduziert und stetig bekämpft werden, wo Selbstbestimmung als gemeinschaftliches Projekt gilt, also als ein Geschehen, in dem die dort Handelnden von Gerechtigkeit und Respekt geprägt sind? Das ist eine der drängenden Fragen, die der Frankfurter Philosoph Axel Honneth entwickelt und beantwortet. Er erinnert daran, was wir in den letzten zwei Jahrzehnten in der kapitalistischen Ökonomie erlebt haben: Von einer „Institutionalisierung sozialer Freiheit“ kann auf dem neoliberalen Markt eigentlich keine Rede sein. Offenbar handelt es sich, so Honneth, um eine „Expansion kapitalistischer Profitinteressen“ oder auch um  eine „Refeudalisierung“… D.h. wir leben in einer Wirtschaftsordnung, in der die einen Akteure in der (umfassend verstandenen) Freiheit des anderen gerade NICHT die Bedingung auch der eigenen Freiheit erkennen. Wer die anderen übersieht und nur die eigene Freiheit realisiert, hat bald selbst diese nicht mehr, weil tendenziell diese Situation alles andere als den Frieden fördert. Ohne Ethik auch in der Wirtschaft ist sozusagen der “Gesamtbestand der Welt” gefährdet.

Dieser Zustand egoistischer Freiheit in der Ökonomie wird zu recht angeklagt. Axel Honneth geht als Philosoph über das Jammern hinaus, er zeigt Wege, wie das Wirtschaftshandeln von Innen her reformiert werden kann. Und das beginnt mit der Erkenntnis, welche ethischen Implikationen und Voraussetzungen immer schon im Wirtschaftshandeln selbst enthalten sind. Man muss nur genau drauf schauen, um die abstrakte Engführung von Freiheit im kapitalistischen Wirtschaften aufzuarbeiten. Also nicht nachträglich muss dem neoliberalen, „egoistischen“ Agieren ein humaner Touch aufgeklebt werden wie eine reformistische, vielleicht sogar bloß caritative Geste. Vielmehr: Es mangelt dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem ein Verständnis dafür, dass schon VOR diesem Wirtschaftshandeln eine wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen Akteure die Basis ist.

Die Bürger dürfen also die Wirtschaftssphäre gerade NICHT den Ökonomen überlassen, die wie Fachidioten nichts als die Ökonomie kennen. Die moderne Entwicklung der Ökonomie zu einer abstrakten, von Geschichte und Philosophie völlig losgelösten Wissenschaft, ist für Honneth ein Irrweg. Denn Wirtschaften ist gerade nicht das strategisch – taktische und  raffinierte Tun von egoistischen Einzelsubjekten; sondern ist ein Geschehen,  in dem intersubjektiv aufeinander bezogene „Kommunikationspartner“ miteinander handeln.

Wir können nur darauf hinweisen, dass Axel Honneth unter anderem zentrale Erkenntnisse aus Hegels „Rechtsphilosophie“ (1820 in Berlin als Buch erschienen) aktualisiert: Das heißt, es wird zurecht damit gerechnet, dass auch Erkenntnis noch die Kraft des Wandels und der Reform  hat. Allen ökonomischen Verträgen voraus liegt die Anerkennung seiner selbst und der anderen als „verantwortlicher Rechtspersonen“ (S. 322 in dem genannten Buch von Axel Honneth), in diesem, allem ökonomischen Agieren voraus liegenden Bewusstsein rechtlicher Freiheit bildet sich der Rechtsstaat: Er ist die Voraussetzung für die rechtlich gestalteten Beziehungen ökonomischen Austauschs unter Privatpersonen. Mit anderen Worten: Erst der Respekt vor dem Rechtsstaat ermöglicht soziale Freiheit auch im Wirtschaftshandeln. Dieses Bewusstsein muss sozusagen prägend sein und prägend bleiben.

Freilich erleben wir heute den „homo oeconomicus“, als den ausschließlich aufs egoistische erfolgreiche Wirtschaften zielenden Menschen. Er ist sozusagen Repräsentant des gängigen Lebens, das nur als beschädigtes sozialen Leben begriffen werden kann. Schon seit dem 18. Jahrhundert wird von Philosophen und Schriftstellern wahrgenommen, wie die Kommerzialisierung der Gesellschaft den einzelnen Menschen erniedrigt, ihn zu einem „bloßen Abdruck des ökonomischen Geschäfts macht“ (F. Schiller). In einem normativen Menschenbild der umfassenden Freiheit muss dagegen gesteuert werden.

Hegel und später dann auch Durkheim drängen auf die Erkenntnis: Es gibt ein Solidaritätsbewusstsein, das allen Verträgen und allem ökonomischen Handeln VORAUS liegt, das also wie eine sachliche Prämisse dieses ökonomische Tun von Innen her bestimmen sollte. Denn nur diese solidarischen Einstellungen, in die sozusagen das ökonomische Handeln „eingebettet“ ist, ermöglichen überhaupt das „reibungslose Funktionieren des Marktmechanismus“ (S. 328). Ohne menschliche Rücksichtnahme, ohne Respekt der unterschiedlichen Partner voreinander, ist kein Marktgeschehen möglich, meint Hegel. Fehlt dies, gerät das ökonomische Handeln zu einem Manöver von Betrug und Aggression. Eine letztlich doch um des Erfolges willen auch angezielte „harmonische Integration der wirtschaftlichen Einzelinteressen“ kann ohne diese „allem voraus liegenden moralischen Regeln“ nicht gelingen. So „pragmatisch“ allgemein nachvollziehbar kann man diesen Hegelschen Gedanken ausdrücken.

Axel Honneth weist darauf hin, dass es aber doch recht unbestimmt bleibt, „wie die von (Hegel und Durkheim) prätendierten  Moralnormen als Bestandteile (!) der Markwirtschaft begriffen werden sollten.“ Der Vorschlag von Honneth ist klar: Das Marktgeschehen braucht die von Hegel und Durkheim entwickelte „sittliche Rahmung durch vor – vertragliche Handlungsnormen“, weil die Wirtschaft nur unter dieser normativen Voraussetzung mit dem Einverständnis aller Beteiligten rechnen kann. „Wie jede andere soziale Sphäre bedarf auch der Markt der moralischen Zustimmung durch alle an ihm mitwirkenden Teilnehmer“ (S. 333).

Diese Erkenntnis ist fundamental: Der Markt braucht also für sich selbst, aus eigenem Überlebensinteresse, die moralischen Normen, die ihm selbst noch als Bedingung seiner Existenz (und seines Erfolges) voraus liegen. Mit anderen Worten: Ein kluger Teilnehmer auf dem Mark ist moralisch. Wer als Kapitalist Fairness und Gerechtigkeit verletzt, schadet letztlich sich selbst. Es gibt also philosophisch gesetzte Grenzen des kapitalistischen Marktes. Versagt der Markt, führt das nicht nur zu ökonomischen Krisen. Schlimmer noch und auch politisch viel erschütternder ist der Verlust an Glaubwürdigkeit und Legitimation durch die Bevölkerung. Ein Phänomen, das wir angesichts der sogen. Bankenkrise seit 2008 immer deutlicher erleben: Die Krise der Banken, also das egoistische, völlig unverantwortliche Verhalten vieler Banker, entwickelt sich heute zur Krise der Demokratie. Darum gilt auch von daher die Einsicht: Die moderne Marktordnung ist alles andere als ein normenfreies System (S. 359). Denn etwa das Unrechtsempfinden, die Selbstzweifel, die Fragen nach Sinn und Legitimation des eigenen (egoistischen) Handelns sind IM Handeln der neoliberalen Akteure ja wenigstens unthematisch anwesend, diese Akteure haben de facto diese moralischen Fragen, auch wenn sie sie unterdrücken oder als irrelevant zurückweisen. Etliche Banker haben ja selbst die Erfahrung (offenbar nur kurzfristig?) machen können, wie es ist, plötzlich arbeitslos auf der Straße zu stehen. Nur wenige haben wohl erkannt, dass diese ihre Situation nur der Ausdruck des Fehlens moralischer Normen IM ökonomischen Prozess ist.

Honneth will diese Erkenntnis förmlich einschärfen: Ein sittliches, die Freiheit garantierendes Verhalten ist nur möglich, „wenn es gelingt, die Sphäre des Marktes als ein in vormarktlichen (also noch logisch vor dem Markt liegenden CM) Solidaritätsbeziehungen begründetes und auf sie zurückgehendes System von wirtschaftlichen Aktivitäten zu beschreiben“(352 f.).

Axel Honneth ist sich bewusst, dass die dargestellte Problematik mit dem Gedanken an Karl Marx (Das Kapital) verbunden werden muss. Vor allem die These müsste hier weiter diskutiert werden, ob die Kapitalisten eine solche Monopolstellung haben, dass sie in jeder Weise erfolgreich, aber unsittlich ökonomisch handeln können. Das dann zu besprechende Ungleichgewicht zwischen „Herren und Knechten“ wäre dann zu diskutieren, etwa der Kampf des Knechtes gegen seinen Herrn.

Um so dringender müssen die von Hegel und Durkheim beschriebenen Möglichkeiten der Einfügung des sittlichen Freiheitsbewusstseins IN den Kapitalismus besprochen werden, zumal wohl nur die grundlegende Reform des Kapitalismus, nicht aber dessen Abschaffung zugunsten eines Staatssozialismus zur Debatte steht. Es geht um die gestaltbare Zukunft eines allseits (!) freiheitlichen, gesellschaftlich kontrollierten Kapitalismus… Wichtiger Schritt ist dabei die städnige öffentliche Freilegung des hässlichen Gesichts des Kapitalismus.

Wir haben uns hier auf einen Ausschnitt aus dem Buch  Honneths begrenzt. Aber dieser Aspekt aus dem wichtigen Buch ist schon inspirierend genug, zeigt er doch die absolute Dringlichkeit, eine sozialen Freiheitsethik weiter zu diskutieren.

Im ganzen zeigte sich Axel Honneth in einem Gespräch (mit “Forschung Frankfurt 1/2012) doch etwas zuversichtlich für die weitere Entwicklung sozialer Freiheit: „Wir haben eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Erinnerungen an normative Rückschritte und moralische Verbesserungen, an Niederlagen und Siege im Kampf um die Verwirklichung der uns gemeinsamen Freiheitsversprechen. Insofern sind die Chancen da.“

Zum Schluss noch ein Hinweis (ebd.) des dänischen Philosophen Raffnsøe-Møller (Aarhus): Für ihn ist das Buch „gegen den Mainstream der politischen Philosophie geschrieben“. Es kann „insofern der Debatte über soziale und gesellschaftliche Gerechtigkeit viele Impulse geben und auch zu einer Erweiterung dieser Diskussion beitragen“.

 

Copyright: christian modehn

 

 

 

 

 

 

 

 

Jean Paul zum 250. Geburtstag: Gott ist tot… und lebt im Gefühl.

Jean Paul zum 250. Geburtstag: Gott ist tot … und lebt im Gefühl. Veröffentlicht am 11.3.2013

siehe den aktuellen Beitrag vom 17.10.2025: LINK 

 

Der gekränkte Mensch. Ein Interview mit dem Philosophen Dr. Jürgen Große

Leben mit Kränkungen:

Fragen an Herrn Dr. Jürgen Große, anläßlich seines Buches “Der gekränkte Mensch”  (mit einem Hinweis zum Autor am Ende des Interviews)

Von Christian Modehn

Welche Rolle spielt für Sie als Philosoph, auch im Blick auf Ihr neuestes Buch „Der gekränkte Mensch“, die Beobachtung von Menschen in der Stadt? Man möchte sagen der empirische Blick des Flaneurs? Ihre „metaphysischen Miniaturen“, so der Untertitel, sind ja alles andere als empiriefreie Spekulationen.

Ich lebe in einer Großstadt und bin dort täglich, hauptsächlich zu Fuß, unterwegs. Das unterscheidet meine Situation sicherlich von der eines Reiseautors, der sich aufmacht, um etwas zu erleben und dann darüber zu schreiben. Die Eindrücke, auf die sich Der gekränkte Mensch bezieht, sind für mich zunächst eher etwas Passives gewesen, etwas, das sich (gewiss nicht nur mir) aufdrängte. Die literarische und philosophische Verarbeitung ist eine Möglichkeit, darauf zu reagieren. Metaphysik hat mit Steigerung, auch Übertreibung von Alltäglichem zu tun. Was ich an mir und anderen auf der Straße nur fragmentarisch erlebe, treibe ich am Schreibtisch zur Konsequenz. Ich fühle mich nicht in einer privilegierten Position wie der des Flaneurs.

Sie wollen das „Wesen“ des heutigen Stadtbewohners erfassen und kommen dabei zum Phänomen des weit verbreiteten Gekränktseins. Rührt Kränkung (durch Demütigung, Gefühl von Tadel und ungerechter Behandlung) vor allem aus einem Mangel an Selbstwertgefühl?

Das schwierigste Wort an dieser Frage ist für mich Selbstwertgefühl. Wodurch entsteht das? Hat man es ständig? Stolz wird zu Selbstgefühl normalerweise nur, wenn er verletzt wurde. Im Kapitalismus ist aber, wenn man sozial funktionieren will, ein dauerndes Wissen vom eigenen Wert gefordert, das nicht so sehr mit erbrachten Leistungen zusammenhängt – die können ja schnell durch technische Fortschritte hinfällig werden –, sondern eher mit der Bereitschaft zu einer Selbstdistanzierung. Um sich ihres Wertes gewiss zu werden, muss die Person dauerhaft neben sich treten können, muss sich als wert versprechendes Objekt vorstellen, darstellen, herstellen. Paradox gesagt: Sie muss sich zum Objekt machen, um als Subjekt überzeugen zu können. „Erfinde dich selbst“ ist der frischfröhliche Ausdruck dafür.

Viele Menschen sind gekränkt, weil sie keine Chance haben, ihre Begabung, ihren Beruf usw. adäquat auszuüben. Ruft Gekränktsein nicht nach „Empörung“ (Stephane Hesssel) auch politischer Art?

Der „Mythos vom Zivilisationsprozess“ besagt, dass physische Übergriffe allmählich durch imaginäre, symbolische Formen der gegenseitigen Verletzung ersetzt werden. Man existiert sozial durch den Respekt, den andere einem zollen, man ist bereit, für ein Bild von sich zu sterben. Die prominentesten Terroristen waren nicht underdogs, die im materiellen, gar physischen Sinne Erniedrigten und Beleidigten dieser Erde. Es waren Aufsteiger aus den Mittel- und Oberschichten der sog. dritten Welt, die ihre Anpassung an die westliche Lebensform nachträglich als demütigend empfanden, oder auch Leute aus dem innersten Zirkel der wissenschaftlich-technischen Zivilisation (Unabomber).

Kann man überhaupt noch einem anderen Menschen die von einem selbst empfundene, also „eigene“ Wahrheit sagen, ohne Angst haben zu müssen, den anderen noch weiter zu kränken?

Wahrheitsliebe und Nächstenliebe sind nun einmal nicht vom selben Stamm. Doch man kann ja auch verletzt sein, wenn man sich belogen findet.

Ist in einer allseits gekränkten Gesellschaft noch Wahrheit, Wahres sagen, möglich?

Mir geht es in dem Buch nicht so sehr um gegenseitige Kränkungen, sondern um die Bereitschaft zur Selbstdemütigung. Wer sich unter das Bild des allzeit disponiblen Subjekts demütigt, glaubt nicht an eine objektiv bestehende Wahrheit.

Wie entkommen wir dem wohl unabwendbaren Geschehen des Gekränktwerdens? Brauchen wir – um den Untertitel aufzugreifen – metaphysische Verwurzelungen? Etwa ein prinzipielles Ja zum nun einmal auch Kränkungen bringenden Dasein?

Unabänderliches zu bejahen wäre bloß intellektuelle Pose.

Veröffentlicht am 4. 3. 2013

Das Buch von Jürgen Große “Der gekränkte Mensch” ist 2012 erschienen. Es hat den Untertitel “Metaphysische Minitiaturen”. Erster Band. Leipzoger Literaturverlag. 109 Seiten.

Zum Autor, dem Philosophen Jürgen Große:

Dr. Jürgen Große, geb. 1963 in Berlin; Lehre als Schriftsetzer, Wehrdienst, Pressevolontariat, Lektor in verschiedenen Verlagen. 1986–1992 Studium der Geschichte und der Philosophie an der Humboldt-Universität sowie an der Freien Universität Berlin, 1996 Promotion, 2005 Habilitation, Lehraufträge für Philosophiegeschichte, akademische Gastaufenthalte im Ausland, seit 2000 freier Autor.

Veröffentlichungen (Auswahl): Aus Zeit und Geschichte (Roderer: Regensburg, 2000); Aus Langeweile. Aphorismen – Essays – Fragmente (Leipziger Literaturverlag: Leipzig, 2004); Kritik der Geschichte (Mohr: Tübingen 2006); Phänomenologie des Unglücks (edition fatal: München, 2007; Teilübersetzungen ins Italienische und ins Polnische 2011); Die Philosophen (der blaue reiter: Stuttgart, 2007); Durch Tag und Nacht. Lehrstunden der Schlaflosigkeit (der blaue reiter: Stuttgart, 2008); Philosophie der Langeweile (Metzler: Stuttgart, 2008); Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989 (Reihe Essay – Aisthesis: Bielefeld, 2010); Lebensphilosophie (Reclam: Stuttgart, 2010); Fünf Zeitbilder. Geschichtsphilosophische Glossen (Leipziger Literaturverlag: Leipzig, 2010); Der gekränkte Mensch. Metaphysische Miniaturen (Leipziger Literaturverlag: Leipzig, 2012); Die Arbeit des Geistes (der blaue reiter: Aachen, 2013).

Auszeichnungen/Stipendien (Auswahl): 1997 Humboldt Fellow Hopkins University/Baltimore, 1999 Stipendium der Akademie Schloß Solitude (für Aus Langeweile), 2001 Förderstipendium Essay der Stiftung Niedersachsen (für Aus Zeit und Geschichte), 2006 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste (für Die Philosophen), 2009 Preis der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für den Essay „Gedankenräume“, 2010 Günter-Bruno-Fuchs-Preis (für Fünf Zeitbilder)

 

Das überforderte Selbst. Zur Krise der Selbstbestimmung

Das überforderte Selbst. Zur Krise der Selbstbestimmung

Eine philosophische Meditation zum Salon am 15.2. 2013, inspiriert von Michael Theunissen

Von Christian Modehn

Selbstbestimmung ist ein unaufgebbares Ziel personalen Lebens im Miteinander in Staat und Gesellschaft. Autonom zu leben ist förmlich ein Menschenrecht, was ja nicht heißt, dass autonomes Leben gesetzloses oder gar verantwortungsloses Dasein bedeutet. Nur sollen eben Gesetze als Ausdruck allgemeiner Vernunft gestaltet sein. An der allgemeinen Vernunft hat der einzelne Anteil. Fremdbestimmung verweist auf Verhältnisse, an denen sich der „Kampf“ um Selbstbestimmung abzuarbeiten hat.

Nun gibt es offenbar unüberwindbare Fremdbestimmungen, die unaufgebbar zur Struktur des Daseins gehören: Ich bin in die Welt ohne meine vorherige Zustimmung „geworfen“, wie Heidegger in „Sein und Zeit“ betonte; ich bin unveränderbar sterblich; ich bin immer leiblich geprägt usw… Selbstbestimmung muss also von jeglichem euphorischen Optimismus befreit werden, so, als wäre das vielfache Bestimmtsein des Daseins prinzipiell zu überwinden und „aufzugeben“.

Für den Berliner Philosophen Michael Theunissen ist vor allem das Hineingestelltsein des Menschen in die Zeit eine unüberwindbare Fremdbestimmung. Wir sind in die stetig fließende Zeit hineingestellt, können sie nicht stoppen, können aus ihr nicht aussteigen, können ihr nicht entkommen. Darauf bezieht sich Theunissen in seinem Aufsatz „Können wir in der Zeit glücklich sein?“. Er wurde in dem Buch „Negative Theologie der Zeit“ veröffentlicht (Suhrkamp Verlag, 1991).

Theunissen nennt seine Hympthese: „Die Zeit herrscht über uns, über uns Menschen wie über die Dinge. Und zwar richtet sie eine entfremdende, keine befreiende Herrschaft über uns auf“ (S. 41).

Das heißt aber nicht, dass menschliche Freiheit sich zu der Zeit nicht individuell verhalten kann, also diese Fremdbestimmung formen und gestalten kann. Andererseits wird in Theunissens Überlegungen deutlich, wie in den unterschiedlichen Formen der Bezogenheit auf Zeit die Überforderungen des Selbst, gerade auch krankhafter Art, etwa in Psychosen, Neurosen und Depressionen, entstehen. Die (objektive) Zeit gestalten oder vor der Allmacht der Zeit erstarren – in dieser Spannung gestalten wir unser Dasein. Alle Menschen sind der Zeit unterworfen, „in Psychosen aber werden Kranke der Zeit (sogar) ausgeliefert“ (S. 49).

Grundsätzlich aber können Menschen inmitten dieser, nennen wir sie „objektiven“, also stetig dahin fließenden Zeit, auch „ihre“ persönliche (Lebens) Zeit gestalten und ihre eigene Lebenszeit formen. Wir sind auf Zukunft ausgerichtet, planen immer schon selbst unsere noch so bescheidene Zukunft; wir schauen aber auch stets zurück, erinnern uns an die von uns erlebte Vergangenheit, etwa an ihre Höhe – oder Tiefpunkte und sammeln dann diese Erfahrungen in der erlebten Gegenwart. Dabei vergegenwärtigen wir dann unsere Zukunft und unsere Vergangenheit in einer langen Dauer, einer dauernden Gegenwart. Sie ist also mehr als das punktuelle Jetzt, das schon ganz schnell wieder Vergangenheit wird. Die auch durch Martin Heidegger angestoßene Zeit – Verbundenheit und immer schon geschehende Zeit – Gestaltung des Menschen führt, so Theunissen, dazu, dass heutige Menschen Zeit immer zuerst als ihre zu gestaltende Lebenszeit sehen.

Jedenfalls meint Theunissen, durchaus im Anschluss an Kant „Kritik der reinen Vernunft“: Der Raum beherrscht uns a priori, aber die Zeit beherrscht uns apiori noch viel mehr (S. 41), weil die Zeit auch unsere geistigen Vorstellungen beherrscht. Wir können an dem ewigen, „objektiven“ Zeitfluss leiden, Theunissen nennt auch Langeweile in seiner Sicht ein Leiden an der Zeit. Und er betont weiter: Psychosen entstehen aus der Überforderung an der Zeit. Denn in den Psychosen haben Patienten die Gewissheit, der Zeit ausweglos ausgeliefert zu sein. Das Krankmachende ist für diese Menschen die Zeit selbst, sie erleben sich, wie in einer Niederlage, der objektiven Zeit hilflos preisgegeben. Das Subjekt hat dann keine Kraft mehr, dem allgemeinen Unterworfensein unter die Zeit kreativ Eigenes entgegen zu halten. D. h. diese Menschen können nicht mehr die Zukunft als ihre ureigene Zukunft gestalten, sie sind außerstande, die eigene Vergangenheit aus dem Meer des Vergangenen zu formen. Dieses Ausgeliefertsein verändert das Zeitgefühl: Ein Tag erscheint dann dem Depressiven wie der andere. Diese Situation wird wie eine ewige Wiederkehr des gleichen erlebt. „Das Leben zieht an einem vorbei“, sagt ein Patient, so berichtet Theunissen. Und das Ich schaut sozusagen dem Zeitfluss nur noch zu. Man erstarrt als Beobachter und kommt letztlich existentiell zum Stillstand. Theunissen weist darauf hin: Depressive Menschen erleben sich als Zurückbleibende im Zeitstrom, Lebensstrom, der an ihnen vorüber fließt. Dadurch entstehen tiefe Hemmungen in der Vitalität. Theunissen erinnert an den Philosophen Walter Benjamin, der sagte: „Die Katastrophe ist, dass es so weitergeht“. Wie die Vitalität wieder gefunden werden kann, wie sich wieder eine ureigene personale Zukunft eröffnet, ist eine Frage, die Philosophen nicht beantworten können. Sie können lediglich darauf verweisen, dass in dem unabwendbaren Hineingestelltsein in die Zeit die Ursachen für seelische Krankheiten zu suchen sind. Sie können weiter daran erinnern, dass wir in einer Gesellschaft leben, die zur Monotonie neigt und Zukunft verstellt, also krankmacht und gerade Selbstfindung eher verhindert.

Entscheidend ist: Für Theunissen gelingt menschliches Leben immer nur TROTZ der Zeit. (S. 56). Also müssen Menschen ihre Herrschaft über die objektive Zeit gewinnen. Und das gelingt im Verweilen in einer langen Weile, verstanden als dauernde Gegenwart, in der das personale Leben gesammelt ist und die Aufgaben der Zukunft und die Last der Vergangenheit aus dem Blick treten: So wird die dauernde Gegenwart als Glücksmoment intensiven Lebens erlebt und gedeutet.

Entscheidend ist auch eine zweite Beobachtung Theunissens: Er weist zu diesem eben beschrieben Geschehen darauf hin, dass die Zeit in sich selbst die Potentialität hat und uns bietet, also doch aus dem ewig währenden und ewig fließenden Zeitfluss auszusteigen. „Im Verweilen leiste ich gerade nichts! Das Glück des Verweilens ist gerade, dass ich mich von der Anstrengung , die mich das Zusammenhalten von Zukunft und Vergangenheit in jedem Augenblick kostet, ausruhe“ (S. 60).

In der gedehnten, verweilenden Gegenwart erlebt ich: Die Zeit ist mehr also mehr als  „Zeit“. Wir können uns gegen diese objektive Zeit wenden, weil in der Zeit selbst etwas ist, das über sie hinausreicht. Und das ist die verweilende Gegenwart. Dieses andere der Zeit kann man Ewigkeit nennen, Ewigkeit verstanden als die dauernde Gegenwart. Ewigkeit – in diesem neuen Verständnis – kann ja selbst nicht noch einmal die Zeitstruktur haben!

Dahin führt also die Frage nach der Selbstbestimmung – trotz des Hineingestelltseins in die Zeit: Die tiefe Gegenwart als das andere der Zeit erschließt – ein neues Verständnis von – Ewigkeit. Philosophieren führt in Dimensionen eines tieferen Selbstverständnisses. Führt Philosophieren in  existentielles Erleben hinein?

Michael Theunissen betont zurecht: „Ein Philosoph darf am Ende, wo er den Boden der schlechten Empirie verlässt, die Spitze seines Gedankens nicht abbrechen“ (S. 63)

Copyright: Christian Modehn

 

Abbé Meslier, Pfarrer und Atheist

Jean Meslier
Jean Meslier (1664-1729), französischer Aufklärer.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” hat bisher meist auf aktuelle Diskussionen und Ereignisse, auch “Gedenktage”, in eigenen Veranstaltungen reagiert und dazu auch publiziert, um zum kritischen Nachdenken und Debattieren einzuladen.

Wir wollen in der neuen Rubrik “Forschungsprojekte” auch ohne unmittelbaren “aktuellen Bezug” Themen aufgreifen, die nicht unbedingt heute im Mittelpunkt (religions -) philosophischer Diskussionen stehen. Dabei sind die hier vorgestellten Themen und Thesen keineswegs “abgerundet” und fertig, sie eröffnen nur einen längeren Prozeß der Forschung und hoffentlich der Diskussion. Dass die “Projekte” viel mehr Beachtung verdienen als bisher, versteht sich von selbst. Insofern handelt es sich um alles andere als um schöngeistige “l`art pour l`art”…

Unser erstes Projekt heißt: Abbé Meslier, Pfarrer und Atheist.

Auch dieses Thema hat allerdings einen aktuellen Hintergrund: Sich atheistisch nennende Pfarrer gibt es auch heute, wir haben das Thema schon einmal kurz dokumentiert, klicken Sie hier.

Sich atheistisch bzw. radikal – religionskritisch äußernde Pfarrer lebten unseres Wissens vor allem in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert.

Kirche in Étrépigny
Foto der kleinen Kirche in Étrépigny, in der Jean Meslier wirkte. Foto: Wikipedia/Roby

In dieser Dorf – Kirche von Etrépigny, im Erzbistum Reims in der Champagne, wirkte Abbé (Pfarrer) Jean Meslier von 1689 bis zu seinem Tod 1729. Meslier wurde 1664 in Mazerny, in den Ardennen, geboren, 1688 wurde er zum Priester geweiht. Er wurde als hochbegabter Junge von den Eltern fürs Priesteramt bestimmt, dagegen wehrte er sich nicht. Es war das kritische Nachdenken über die Lehren des Christentums, vor allem auch die autoritären Umgangsformen des Erzbischof de Mailly von Reims (“ein cholerischer Despot”, so der Historiker Georges Minois) sowie das Elend der Landbevölkerung, die Meslier in den Atheismus und philosophischen Materialismus führten. Meslier ist der wohl bekannteste und von der Wirkungsgeschichte her wohl bedeutsamste atheistische Priester. Er hat ein umfangreiches philosophisches Werk hinterlassen, das allerdings erst nach seinem Tod entdeckt und veröffentlicht wurde. So hatte es der Autor selbst verfügt und angstvoll dafür gesorgt, dass niemand davon vor seinem Tod erfährt. Sein Buch hatte er in mühevoller Arbeit abends bei Kerzenschein mit dem Federkiel selbst 3 mal geschrieben und es in der Gerichtskanzlei der (Orts) Gemeinde hinterlegt. Das ist das Besondere an der Person dieses gebildeten Landpfarrers: Er hat seine üblichen Aufgaben eines Priesters geleistet, gepredigt, Messen gelesen, Sakramente gespendet usw., aber immer in dem Bewußtsein: Eigentlich bin ich Atheist.Dabei war ihm selbst “unbehaglich zumute”, wie Georges Minois in seiner Studie “Geschichte des Atheismus” (Weimar 2000, Seite 333) betont.  Was uns heute als Verlogenheit erscheinen mag, hat im 17. Jahrhundert doch einen anderen, nämlich lebensrettenden Hintergrund: Nur im Verheimlichen der wahren eigenen Überzeugungen konnte Jean Meslier überleben. Das soll ja auch heute für Teile des Klerus gelten…. Meslier war nämlich gewarnt: Um 1700 wurde der Priester Lefèvre wegen Atheismus verbrannt; 1728 aus dem gleichen Grund wurde der Priester Guillaume in Frèsnes verhaftet und ins Exil geschickt (siehe G. Minois, Seite 329)….

Also: Nach Mesliers Tod wurde der Text Mesliers mit dem sehr ausführlichen Titel gefunden: „Mémoires des pensées et des sentiments des J.M., Pretre, curé, sur une partie des erreurs et de la conduite ….“ Das Werk “Mémoires” (=”Denkschrift”) widmet der Pfarrer den Mitgliedern seiner Gemeinde!  In diesem Werk bekennt sich der immer „korrekte“ und kirchlich erscheinende Landpfarrer zum Atheismus und Materialismus, er macht bereits deutlich, dass die künftige Gesellschaft „kommunistische“ Züge haben kann.

Es ist ein gewisses Verdienst von Voltaire, dass er im Jahr 1762 einen Auszug, einen „Extrait“, der Schrift von Meslier herausgab: Er  hat den Titel: „Testament“ und enthält vorwiegend die kritischen Studien Mesliers zur Bibel (er war ein hervorragender Kenner der Bibel); hingegen kommt seine Kritik an den sozialen Verhältnissen in dieser Auswahlschrift Voltaires eher zu kurz und Voltaire neigte dazu, den Atheismus Meliers in einen Voltaire wohl sympathischeren “Deismus” abzuschwächen. Der Historiker G. Minois bezeichnet dieses gekürzte (und verfälschte) Buch Voltaires: “Ein regelrechter Verstoß am Originaltext” (S. 331). Immerhin aber zeigte das „Testament“ seine Wirkung unter den Philosophen der Aufklärung, etwa bei Diderot, d Alembert, Holbach usw. Auch König Friedrich II. von Preußen (der „Alte Fritz“) besaß den Text. Dass das Buch Mesliers eher “weitschweifig”  ausfällt, bemerkten schon die ersten Leser. Trotzdem sind die 300 Seiten ein Beleg für die außerordentliche Reflexionskraft Mesliers. Der Revolutionär Ancharsis Cloots machte 1793 immerhin den Vorschlag, für Abbé Meslier eine Statue im “Tempel der (atheistisch verstandenen) Vernunft” aufzustellen, was abgelehnt wurde, die Jacobiner hatten – aus politischen Gründen – Angst vor dieser allzu deutlichen Werbung  für den Atheismus.

Wieder ist es typisch für das Editionswesen, dass die erste dreibändige Gesamtausgabe der „Mémoires“  in Amsterdam erscheint, und zwar im Jahr 1864, herausgegeben von Charles d` Ablaing van Giessenburg; in Rußland erscheint eine Kurzfassung bereits 1925, eine Übersetzung der Gesamtausgabe 1937. Eine erste kritische Gesamtausgabe (auf Französisch) erscheint von 1970 bis 1972 in Paris, darin sind auch die Texte Mesliers zu Bischof Fénélon enthalten.

Eine zentrale Frage heißt: Warum wurde Meslier Atheist? Eine vorläufige kurze Antwort: Entscheidend für ihn war das Erlebnis der miserablen Lebensbedingungen der Landbevölkerung; sie wurde vom Adel und höheren Klerus ausgeplündert. In seinen Predigten hatte Meslier so viel Mut, diese Missstände öffentlich zu kritisieren, deswegen wurde er von seinem Bischof vorgeladen und – kurzfristig – zum Schweigen ermahnt. Meslier widersetzte sich bischöflichen Drohgebärden. Als “Beichtvater” seiner Gemeinde wußte er zudem genau, wie es mit dem Glauben seiner “braven Christen” stand: “Sie glauben gegen ihre eigene Vernunft und gegen ihre eigenen Gefühle”. (S. 324 Minois).

Inzwischen ist klar: Meslier hat seine Texte zweifelsfrei selbst geschrieben, das wurde deutlich im Vergleich der Handschriften in den Kirchenbüchern seiner Pfarrei.

War Meslier als Abweichler und Atheist ein Einzelfall im damaligen Klerus? Darüber haben die Historiker Dominique Julia und Denis Mc Kee geforscht, sie kommen zu dem Ergebnis:”Die Art und Weise, in der Meslier verpflichtet war, ein jammervolles Doppelleben zu führen, wurde wahrscheinlich von etlichen seiner Kollegen im Priestertum geteilt. Es gibt viele Texte, die bezeugen: Es gab ein =inneres Leben=  der Priester damals, das voller Heimlichkeit hinter einer Fassade gelebt wurde, die nichts als Täuschung war”. So in der Studie, die in der “Revue d Histoire de l Eglise de France”, 1983, Seite 61 bis 86 veröffentlicht wurde; das o.g. Zitat steht auf Seite 86, klicken: Zum Artikel selbst

Interessant ist, dass Meslier und sein Buch sich alsbald “herumsprachen”. Georges Minois bietet eine umfangreiche Dokumentation über “Mesliers Nacheiferer” (Seiute 336 ff). Er nennt jedenfalls eine beträchtliche Zahl “ungläubiger, frei denkender Abbés”. Er nennt allein 18 Namen in seinem Buch. Ausdrücklich wird der Benediktiner Mönch Dom Léger – Marie Deschamps erwähnt (von 1745 bis 1762), Mönch der Abtei Saint – Julien de Tours, bis zu seinem Tod 1774 im Priorat Montreuil – Bellay. Er hat ein atheistisch – metaphysisches System hinterlassen (in seinem Manuskript “Le vrai Système”). Er vertrat radikalere Positionen als die Aufklärer Voltaire oder auch Diderot. Deschamps wäre auch ein “Forschungsprojekt”…. Er kritisierte alle Formen der Aufklärung, die seiner Meinung nach noch zu wenig über ihre eigenen Voraussetzungen aufgeklärt sind….

Mesliers “Testament” ist auf Deutsch erschienen:  Hartmut Krauss (Hrsg.) Das Testament des Abbé Meslier. Erschienen im Hintergrund Verlag, 2005, 403 Seiten, gebunden, Euro 19,80

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophoischer Salon Berlin

 

 

Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die “lebenden Leichname” und die Überflüssigen.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Hannah Arendt legte Wert darauf, nicht (nur) als Philosophin (im „klassischen Sinne) zu gelten. Sie verstand sich ausdrücklich eher als Politikwissenschaftlerin, wobei selbstverständlich ihr origineller Blick auf politische Ereignisse und Politiker durchaus philosophische Prägungen (etwa durch die Methode der Phänomenologie) offenbart.

Dieser Blick, unverstellt und ohne ideologische Brille Phänomene zu sehen, wird wirksam in ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Eichmann in Jerusalem 1961. Ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ trägt den – gleich nach der Veröffentlichung höchst umstrittenen – Titel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Damit wollte Hannah Arendt – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie wollte lediglich betonen: Einer der Hauptakteure der Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle geben fixierter Bürokrat.

Dieser Täter (wie andere in der SS-Führung) ist banal, und gerade wegen dieser Alltäglichkeit beschreibbar und verstehbar und auf seinem Weg zum Schreibtischtäter “nachvollziehbar”. Nur wer das Böse „banalisiert“, also in den Alltag des Gewordenseins stellt, kann das Böse auch möglicherweise überwinden oder einschränken. Es müssen die Wege und Stufen beschrieben werden, die einen Menschen langsam zum Schreibtischtäter werden lassen. Das ist Hannah Arendts überzeugendes Argument! Die beispiellosesten Verbrechen der Menschheit werden von den gewöhnlichsten Leuten begangen. Die Philosophin Susan Neiman (Direktorin des Einstein Forums in Potsdam) hält in ihrem Buch „Das Böse denken“ zu recht die Studie Hanna Arendts zur „Banalität des Bösen“ für den wichtigsten philosophischen Beitrag zum Problem des Bösen im 20. Jahrhundert (Neiman, Seite 397, Suhrkamp).
1988 schrieb Ingeborg Bordmann (in: Freibeuter, Heft 36, 1988, S. 86): “Hannah Arendt versucht nicht, Eichmann zu entlarven, also eine verborgene Wahrheit hinter seinen Worten zu finden, sondern sie achtet darauf, wie Eichmann sich verhält, wie er redet, wann er stockt, verstummt oder in plötzliche emphatische Selbstdarstellung verfällt….Er erinnert sich nur an die Situationen, die mit den Wendepunkten seiner Karrriere zusammenfallen”. Eichmann lebt in einer geschlossenen Welt, seine “standardisierten Ausdrucks- und Verhaltensweisen sind nicht korrigierbar durch den Kontakt mit der Realität… Sein Gewissen ist systemkonform”. Hannah Arendts Eichmann Buch ist ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt eigentlich und immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozeß der Indoktrination von autoritären Verhaltensvorschriften Schritt für Schritt getötet worden. Das ist das eigentlich Böse an dieser Gestalt, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit eigentlich immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht eigentlich wiederholbar. Denn es wütet, so ihr Bild, als das extreme Böse “wie ein Pilz auf der Oberfläche, der sich rasant verbreiten kann, wenn man den Pilz nicht ausreißt”, so Hannah Arendt in einem Brief an Gershom Scholem(vgl. Fn. 10 bei Ingeborg Normann, S. 94). Und Hannah Arendt geht noch weiter: Nicht die Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch widerstehen. “Viel verläßlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…”(S. 92 in Freibeuter)

Und dieser Banalität des Bösen in Form der “Schreibtischtäter” begegnen wir heute vielfach, in der Kriegsführung, etwa im Einsatz von Drohnen, die ferngesteuert Bomben abwerfen und „eben“ zahllose „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung bewirken. Oder im völlig verantwortungslosen Handeln gewisser Banker, die um ihres egoistischen Profits willen eine ökonomische Katastrophe und damit Schaden für Millionen Menschen in Kauf nehmen: immer sind es brave, ängstliche Männer, die die eigene Karriere für absolut vorrangig halten vor allen ethischen Verantwortlichkeiten…

Ein prominenter Schüler Hannah Arends ist Richard Sennett. In seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ geht es ihm darum aufzuweisen, wie die neue Kultur, die von der New Economy der 1990er Jahre ausgeht, zu tief greifenden Veränderungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene führen. Sennett betont: Man muss darauf hinweisen, dass heute in der Ökonomie und Politik weltweit Massen sozusagen nutzloser Menschen „erzeugt“ werden, man denke heute an junge Arbeitslose zu Millionen in Spanien, Griechenland, Portugal usw. Oder an “Überflüssige” in den Slums der Großstädte Aftikas und Asiens…
Das kapitalistische System erzeugt förmlich permanent die überflüssigen Menschen, die zudem auch wissen, dass sie niemand braucht und vom System noch mit einer Minimalunterstützung manchmal noch gerade am Überleben erhalten werden.

Für Hannah Arendt stellten diese überflüssigen Menschen sozusagen die Basis dar, aus der die Mörderbande der Nazis ihre „Mitstreiter“ holten. Eine so genannte demokratische Gesellschaft und ein Staat, die ständig immer mehr „Nutzlose“ erzeugen, gefährden ihre eigene Zukunft.
Auch das ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Werk. In ihrem Buch „Elemente und Ursprung totaler Herrschaft“ (1951) zeigt sie ausdrücklich, wie „der irrsinnigen Massenfabrikation von Leichen die historisch und politisch verständliche Präparation lebender Leichname vorangeht“. (S. 686, Serie Piper).
Damit meint sie: Die lebenden Leichname wurden „produziert“ vom Gesellschaftssystem, es sind die „Millionen Heimatlosen, Staatenlosen, Rechtlosen , wirtschaftlich Überflüssigen und sozial Unerwünschten“ (ebd.). Das totalitäre System des radikal Bösen konnte sich also nur entwickeln, weil so viele „überflüssige“ Menschen „produziert“ wurden. Denn auch die Henker und Täter fühlten sich als Nihilisten, sie lebten in dem Gefühl, dass ihr Leben sinnlos und überflüssig ist. Hannah Arendt warnt: Totalitäre Systeme können wieder „auftreten, wenn wieder hingenommen wird, dass es viele „überflüssige Menschen“ eben geben darf…
Die einzige „Therapie“ zur Rettung der wahren Demokratie ist für Hannah Arendt das aktive Leben, also das bewusste kritische und selbstkritische Handeln mit und für die Stadt, die Polis und die Gesellschaft. Wer das aktive Leben meidet, das Engagement gegen die Produzenten der „lebenden Leichen“, verfehlt sein eigenes Leben. So radikal ist die Botschaft Hannah Arends heute.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Life of Pi” – “Schiffbruch mit Tiger”: Aus einem Interview mit Yann Martel

Wenn der Tiger das Leben rettet

Oder: Wie “das Böse” mit Vernunft besiegt werden kann

Von Christian Modehn.

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Fassung schon 2003 in “Publik-Forum”, nach einem Interview “Christian Modehn befragt Yann Martel”. Weil viele Freunde des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons nachfragten, bieten wir den Text (nicht veraltet!) zum Nachlesen, auch anläßlich des Films des “Starregisseurs” Ang Lee (Taiwan) mit dem Titel “Life of Pi”, Start in Deutschland 26.12. 2012.

Auf hoher See ist er allein. Mit seinem Rettungsboot treibt er irgendwo verloren auf dem Pazifik hin und her: Pi Patel, ein sechszehnjähriger Junge aus Indien, hat bei einem Schiffbruch seine Familie verloren. Auch fast alle Tiere  sind dabei umgekommen. Sie sollten auf dem Dampfer seines Vaters, eines Zoo-Direktors in Pondicherry, Indien, nach Kanada transportiert werden. Jetzt hat Pi nur noch seine kleinen Rationen fürs Überleben – und neben sich einen Tiger. Ihn nennt Pi respektvoll Richard Parker. Er hat überlebt, weil er sich an einem Orang Utan satt fressen konnte; auch der Affe hatte noch das Desaster überstanden.

Nun muß Pi ständig damit rechnen, dass der bengalische Tiger, 450 kg schwer, auch über ihn herfällt. Sie sitzen schließlich im gleichen Boot.

“Schiffbruch mit Tiger” heißt der mit dem angesehenen Booker Preis (London) 2002 ausgezeichnete Roman eines bislang eher unbekannten Autors: Yann Martel (49), aus Montréal, Kanada, erzählt nicht nur in bewegenden Worten die Geschichte eines grossen Abenteuers. Er schildert nicht nur voller Spannung den verzweifelten Überlebenskampf eines verlorenen Menschen. Er geht vor allem der Frage nach: Wie kann ein Mensch, ja, wie kann die Menschheit insgesamt, überleben im Angesicht mörderischer, unberechenbarer, wilder Gefährdungen.

Pi ist ein gebildeter, nachdenklicher junger Mann: Den Tiger im Zustand menschlicher Selbstüberschätzung ins Meer zu schleudern oder auch zu töten, scheidet für ihn aus: Das Tier ist körperlich überlegen. So gilt es für Pi, sich zu arrangieren und mit der Macht des Geistes und der Vernunft, den Tiger zu bändigen. Und davon handelt der Roman ausführlich: Wie sich die menschliche Dominanz ausbauen lässt; wie das Tier, sozusagen gewaltfrei, z.B. mit der Trillerpfeife schikaniert und eingeschüchtert werden kann. “Es kommt darauf an: Das Tier muss es vermerken: Der Mensch achtet sehr darauf , dass seine Grenze nicht verletzt wird”. Mit Vernunft und List kann Pi schließlich den ewigen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden unterbrechen.

Aber Yann Martel nennt eine weitere Bedingungen: “Ich (Pi) hätte aufgegeben – hätte sich nicht in meinem Herzen eine Stimme bemerkbar gemacht. Die Stimme sagte: Ich sterbe nicht. Solange Gott bei mir ist, sterbe ich nicht”.

Pi ist ein spirituell interessierter junger Mann; für ihn ist die Mystik des Hinduismus, Christentums und des Islam gleichermaßen wichtig. Das ist wichtig: Er ist eine „multireligiöse“ Gestalt, darin sehr zeitgemäß, gibt es doch immer mehr Menschen, die sich aus der exklusiven Bindung an eine (herkömmlich- vertraute) Konfession befreien und „Mischformen“ religiösen Bewusstseins für sich selbst suchen und dann „hybrid“ leben. Darauf weisen immer wieder auch TheologInnen hin, wie etwa Manuela Kalsky, Amsterdam, Spezialistin für “multireligiöse Bindungen”.

Nur in dieser spirituellen Kraft, kann sich Pi trotz aller Angst und Verzweiflung durchringen, “dass das wilde Tier am Leben bleibt”. Eine Entscheidung, die ihm später selbst die letzte Energie zum Überleben auf hoher See geben wird: Denn hätte er nicht das Tier bei sich, um das er sich letztlich kümmern muss, der Lebenswille hätte ihn in den Stunden tiefster Ohnmacht längst verlassen: Ein Dampfer fährt nämlich ungerührt an den Schiffbrüchigen vorbei…In dem Moment ist Pi dem Ende nahe, und dann sieht er den hilflosen Tiger vor sich: “Ich liebe dich, Richard Parker. Wärest du in diesem Augenblick nicht hier, ich wüsste nicht, was ich tun würde. Ich glaube, dass ich nicht weiter könnte. Die Hoffnungslosigkeit wäre mein Tod. Gib nicht auf, Richard Parker, gib nicht auf”

Und gegen Ende seines Romans lässt Yann Martel seinen Protagonisten Pi zum Tiger sagen: “Richard Parker, ich danke dir, dass du mir das Leben gerettet hast”. Verkehrte Verhältnisse,  könnte man denken: Nicht das Töten des gefährlichen Feindes rettet den bedrohten Menschen, sondern das Lebenlassen des “anderen”. Nicht tierische Gewalt, sondern menschliche Vernunft führt beide zur Rettung.

Yann Martel hat natürlich keinen philosophischen Traktat geschrieben, obwohl er selbst philosophisch sehr interessiert ist. Er hat einen gut lesbaren ( und gut übersetzten) Roman geschrieben, selbstverständlich mit einem aktuellen Bezug,  angesichts der kriegerischen Gewalt, angesichts der dauernden Gefahren von “Fressen und Gefressenwerden”. Kein Wunder, dass sich bisher allein im englischen Sprachraum mehr als eine halbe Million Leser auf diese Irrfahrt übers Meer mit einem Tiger eingelassen haben. Sie haben dabei die Kunst des Überlebens entdeckt – in der Kraft der Vernunft!

Sie haben aber dabei auch einen Autor kennen gelernt, der “die Idee des Friedens” auf seine Weise praktisch versteht: “Ich lebe eher kärglich und sparsam, ich wohne nie allein, sondern immer in Wohngemeinschaften mit anderen; ich kaufe vor allem Second-Hand-Klamotten; ich habe kein Auto. Wichtiger ist noch, dass ich mich regelmässig ehrenamtlich engagiere: In Montréal besuche ich einmal pro Woche ein Hospiz für Sterbende, ich versuche, diesen Menschen nahe zu sein. Konsumverzicht und Ehrenamt sind für mich zwei revolutionäre Ideen in einer kapitalistischen Welt, bei der sich alles nur um den Profit und die Macht des Stärkeren dreht”.

Mit Verwunderung nehmen die Leser zur Kenntnis, dass sich der jetzt in allen grossen Sprachen übersetzte Autor öffentlich zum christlichen Glauben bekennt. Er ist in einer religiös desinteressierten, “skeptischen Familie” von Diplomaten großgeworden. In Montréal wird Martels Bekenntnis zum Christentum wie eine kleine Sensation behandelt. Denn in dieser Metropole hat die Kirche seit 40 Jahren jegliche Reputation verloren, sie hat alle institutionelle Macht nach der “révolution tranquille” um 1960 aufgeben müssen.  Aber gerade diese schwache, machtlose Kirche von Montréal fasziniert offenbar Yann Martel, etwa die römisch-katholische Pfarr-Gemeinde St. Pierre – Apotre, in der ausschließlich Homosexuelle die Gemeinde bilden und vorbehaltlos als solche angenommen werden und das Gemeindeleben und die Gottesdienste tatsächlich bestimmen.

“Mein Buch  hat mit dem Frieden zu tun”, sagt Yann Martel, “immer wenn wir Brücken bauen zwischen der Mehrheit und den “anderen”, wenn die Vernunft stärker ist als Hass, kommen wir der Harmonie, dem friedlichen Zusammenleben,  näher”.

Yann Martel, Schiffbruch mit Tiger. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf – Allié. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 382 Seiten. 19, 90 EURO.

PS.: Inzwischen hat Yann Martel zugegeben, dass einige  Ideen zu seinem Roman von Moacyr Scliar. einem brasilianischen Autor, stammen. Aber er empfindet,  so sagt Scliar,  die Nachahmung als ein Kompliment…

COPYRIGHT: Christian Modehn, religionsphilosophischer Salon.