Ein Theologe der Poesie und Literatur: Jean-Pierre Jossua, Paris. Gestorben am 1.2.2021

Ein Hinweis von Christian Modehn

Geschieben am 3.2.2021:
Pater Jean-Pierre Jossua ist am 1. Februar 2021 gestorben, an den Folgen der Corona-Pandemie, er wurde 90 Jahre alt, die Impfung kam wohl zu spät?

Der Dominikaner Theologe Jossua war ein außergewöhnlicher Theologe, darauf habe ich früher schon hingewiesen (siehe unten meinen Beitrag vom 24.9.2020).

Außergewöhnlich, weil er seit ca. 40 Jahren kein Interesse mehr darin sah, über Kircheninterna viel zu reden und zu schreiben. Er hatte erkannt, dass es sehr viel Wichtigeres gibt. Etwas, das nachdenkliche Menschen bewegt, die spirituell interessiert, aber un-kirchlich sind im Sinne von “nicht mehr römisch – katholisch”.
Jossua widmete sich der Literatur, selbstverständlich auch der unkirchlichen, „atheistischen“. Er nannte seine Theologie „théologie littéraire“. Ein großartiger Titel. Allein vier Bände umfasst seine Studie „Für eine religiöse Geschichte der literarischen Erfahrung“, erschienen bei Beauchesne, Paris. Sehr viel mehr Bücher hat Jossua verfasst.

Von Jean-Pierre Jossua wissen in Deutschland vielleicht noch einige, die die progressive katholische theologische Zeitschrift CONCILUM noch kennen, zu deren „Direktoren“ er einst gehörte, als er sich mit den Kircheninterna abgeben musste. Aber auf Deutsch liegt meines Wissens kein größeres Werk von ihm vor, auch die deutschen Dominikaner haben ihn wohl vergessen?

Wie früher schon von mir geschrieben: Jean Pierre Jossua stammte aus einer jüdischen Familie, sein Vater wurde in Auschwitz 1943 von Deutschen ermordet. Er selbst rettete sich nach Argentinien und trat als Konvertit 1953 in den Dominikanerorden in Frankreich ein, der damals für viele kritische Intellektuelle ein spirituelles Obdach bot.
Jossua sah seine Aufgabe darin, das Religiöse, auch das Christliche, ins Gespräch mit der gegenwärtigen Kultur zu bringen, auch und gerade der kirchenfernen, der „laique“ Kultur. Solche gebildeten Theologen mit diesen weiten, vernünftigen Ansätzen und Zielen sind sehr sehr selten geworden. Es herrscht heute bekanntlich und überall zu spüren der kleinkarierte, ungebildete Klerikalismus vor.
Katholische, kritische Intellektuelle gibt es nicht mehr, auch nicht in den Orden. Oder?
Man möchte Jean-Pierre Jossua danken.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

……………….

 

Dieser Hinweis wurde verfasst anlässlich des 90. Geburtstages von Jean-Pierre Jossua am 24. 9. 2020:

Ein französischer Theologe hat sich viele Jahre seines akademischen Lebens und Lehrens mit der Suche nach dem Unendlichen, dem Sinnvollen, dem Göttlichen befasst, aber, eben anders als die vielen anderen, gewöhnlichen, möchte man fast sagen. Jean Pierre Jossua hat das Unendliche, Gott, das Göttliche, in der modernen Literatur gesucht und auf ungeahnte Weise gefunden. Pater Jossua ist Dialogpartner für Dichter und Schriftsteller, er will sie nicht belehren, nicht bekehren, sondern das Gesagte verstehen und mit ihnen das Ungesagte entziffern
Der Dominikaner Pater Jean – Pierre Jossua (Jahrgang 1930) ist also eine Ausnahme-Gestalt, die leider in Deutschland weithin unbekannt ist: Und das gibt zu denken: Wie weit ist Theologie in Frankreich selbst unter deutschen Theologen „entfernt“ uns fremd? Lediglich in der internationalen theologischen Zeitschrift CONCILIUM hat Jean Pierre Jossua einige auf Deutsch erreichbare Aufsätze publizieren können. Die Liste seiner Arbeiten auf Französisch ist lang. Eine ausführliche biographische und theologische Würdigung wäre angebracht und dringend geboten, man fragt sich: Warum machen das eigentlich die Dominikaner in Deutschland nicht?

Jossuas Motto heißt: „Als Theologe die Literatur lesen. Und als Theologe literarisch schreiben…“ Beide Forderungen hat er in seinem umfangreichen Werk erfüllt.
Jean Pierre Jossua wurde am 24.9. 1930 in Paris in einer jüdischen Familie geboren, die ursprünglich aus Saloniki, Griechenland, stammt. Jean Pierre Jossua gelingt unter der Naziherrschaft die Flucht nach Argentinien, sein Vater wird in Auschwitz von Deutschen ermordet.

Nach einem Medizinstudium konvertiert Jean Pierre Jossua zum Katholizismus und tritt 1953 in den Orden der Dominikaner ein, der sich damals in Frankreich vieler theologisch progressiver Mitglieder rühmen konnte (konservativer auch), erwähnt seien nur die progressiven Patres Chenu oder Pater Congar, die beim 2. Vatikanischen Konzil von Bedeutung waren. Sie hatten eine Leidensgeschichte hinter sich, etwa wegen ihres mutigen Eintretens für die Arbeiterpriester, dieses „Experiment“ hat Papst Pius XII. dann verboten. Den üblichen vatikanischen geistigen Terror mussten sie aushalten, mit Schreibverboten etc. Wie und warum haben das Intellektuelle damals nur mit sich geschehen lassen? Vielleicht, weil sie die an katholische Kirche doch noch als eine „göttliche Stuftung“ glaubten?
Pater Jossua hat sich als Theologe UND Kenner der Literatur und Poesie vor allem dem Dialog mit den Schriftstellern und Poeten gewidmet. Sozusagen innerhalb der Theologie eine Art Nischenthema,leider.

Ich konnte 2011 mit Pater Jossua in Paris, im Dominikanerkloster St. Jacques im 13. Arrondissement, ein Interview führen. Das große Kloster und die einstige renommierte theologische Fakultät „Le Saulchoir“ ist heute eine bescheidene theologische Bildungsstätte des Ordens.
Pater Jossua hat auf die enge Verbindung von Poesie und Spiritualität hingewiesen: „Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegung geworden. Poesie könnte für sie sogar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich möchte ich sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet kann nur gewinnen, wenn es wieder die Form poetischer Qualität entdeckt“.
Schon 1970, beim internationalen Kongress der internationalen Zeitschrift „Concilium“ deutetd Pater Jossua seine besonderen, vom „Üblichen“ abweichenden theologischen Interessen an: „Streng genommen ist die Idee von einem Berufstheologen eine Blasphemie, steckt doch hinter dieser Idee der Gedanke, dass es im Christentum Fachmänner für Gott gibt“ (S. 54)… Am Ende seiner Vortrags in Brüssel zeigte der damals noch junge Theologen Jossua, welche Interessen ihn bewegen: Er sprach hochschätzend von „Charismatikern“ (geisterfüllten Menschen) „der Schwelle“, von Schriftstellern und Philosophen, die von außen das theologische Leben beobachten. Diese nannte Jossua durchaus auch Theologen,, „die“, so wörtlich, „kein kirchlicher Maßstab messen kann. Ich denke an Menschen wie Bergson, Simone Weil und viele andere“. (in: „CONCILIUM. Die Zukunft der Kirche“. S. 59, Benziger und Grünewald Verlag 1970).
Über diese Theologen der Schwelle“ hat Jossua seine „théologie littéraire“ entwickelt und regelmäßig davon über viele Jahre berichtet, abgesehen von zahlreichen eigenen Studien zum Thema. LINK

Von den zahlreichen Studien Jossuas soll hier nur erwähnt werden: „La passion de l infini: Littérature et théologie“. Nouvelles recherches. Paris 2011, Editions du Cerf.
Eines seiner letzten Bücher hat den für Jossua bezeichnenden Titel: „Chercher jusqu à la fin“, „Suchen bis zum Ende“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Ignorant katholisch“.

Populäre Variationen im aktuellen Katholizismus
Beiträge zum Thema: Mit welchen “dringenden” Themen sich heute einige katholische Theologen befassen…
Hinweise von Christian Modehn

Das Motto:
“Man denke ja nicht, dass ein Kirchenkritiker ein Atheist ist“ (Voltaire)

Das Vorwort:
Natürlich kann jeder glauben, was er will, so lange er in seiner Glaubenspraxis andere nicht gefährdet.
Aber unsere Frage ist theologisch gesehen doch wohl üblich und normal: Kann man im Katholizismus alle nur denkbaren, auch dummen, bloß populären Inhalte als „Glaubensgut“ propagieren? Darf man das tun, wenn einem die seelische und spirituelle Gesundheit, die eigene wie die der anderen Glaubenden, wichtig ist?
Mit dieser Frage wird selbstverständlich nicht für eine Wiederkehr der Zensur plädiert. Pluralität der Glaubensinhalte muss auch im Katholizismus gelten. Aber nicht alles offiziell Verkündete kann vor dem Anspruch der Vernunft bestehen. Und sollte freimütig kritisiert werden. Welchen Maßstab für die Unterscheidung aller nur denkbaren Glaubensinhalte gibt es denn, wenn nicht die selbstkritische Vernunft? Die kritische Vernunft entscheidet, nicht irgendeine der vielen theologisch – dogmatischen Traditionen.

1.
Ein erstes Beispiel für unsere Rubrik „Ignorant katholisch“: Das Jahr 2021 soll das“ Jahr des heiligen Josef“ sein!

So will es ausdrücklich Papst Franziskus: Josef, den der Papst, wie in offizieller Dogmatik üblich, nicht etwa den Vater Jesu nennt, sondern als den „Ziehvater“ Jesu bezeichnet. Früher sprach man vom „Nährvater“ Josef, um auch so jeglichen sexuellen Kontakt mit seiner Verlobten Maria auszuschließen. Maria wurde bekanntlich dadurch Mutter Jesu, weil sie „vom heiligen Geist empfangen hat“. Dabei aber spricht das Johannes-Evangelium, knallhart möchte man sagen, (Joh. 1, 46), von „Jesus als dem Sohn Josefs“. Aber die leib- und sexfeindliche Theologie machte in ihrer Angst aus Josef den asexuellen Ziehvater. Was für ein Titel! Und dieser „Ziehvater“ soll nun, so wörtlich Papst Franziskus, als „Vorbild“ heute in Corona- Zeiten gelten. Ausgerechnet wegen, so wörtlich, „seines kreativen Mutes, seiner Bescheidenheit, wegen seines Gehorsams und der Zärtlichkeit sowie der Verantwortung“. Dieses Vorbild des heiligen Josef sei gerade in Pandemie – Zeiten relevant. Darf man fragen: Was soll dieses fromme Schwadronieren? Ich kann diese Verkündigung des Papstes Franziskus nur als einen Beitrag für eine Theologie des Absurden bezeichnen: Weil wir allen Ernstes von diesem Mann Josef fast gar nichts wissen. Josef ist nämlich eine Art Phantom. Der aber dann doch, versehentlich möchte man meinen, im Neuen Testament Vater einer größeren Familie genannt wird. Wobei dann Jesu Brüder (vgl. die Namen der vier Brüder Jesu bei Markus, 6,3) zu nahen Verwandten heruntergestuft werden, bloß damit Maria die total unberührte sexuell Reine bleiben kann.
Und auch dieses noch: Kein einziges Wort wird von diesem Familienvaters Josef in den vier Evangelien überliefert, von seinem Tod oder Weiterleben nach der Hinrichtung Jesu ist im Neuen Testament nichts bekannt. Lediglich über seinen Beruf wird ein Wort verloren, er soll den damals angesehenen Beruf des „Bauhandwerkers“ ausgeübt haben, ein Job, den sein Sohn offenbar auch lernte, so überliefern es viele Künstler in ihren Bildern.
Kurzum:
Wie kann eine Phantomgestalt, oder ein Protagonist eines Mythos, heute Vorbild sein für Katholiken im Jahr 2021? Oder werden die Gläubigen schlicht nur aufgefordert, ihrer Phantasie freien Raum zu lassen und sich ihren ganz persönlichen Josef zu imaginieren? Lebt der Glaube etwa von wunderbaren Legenden? Vielleicht wird dann sogar die von Josef mit seiner Gattin (?) Maria gelebte „Josefsehe“ wieder attraktiv in diesen Corona – Zeiten, wo wir leibliche Kontakte möglichst meiden und alle anderen Menschen auf Distanz halten sollen.
Katholiken können bekanntlich Heilige als Fürsprecher im Himmel anflehen: Sie mögen sich doch bitte bei Gott einschalten und dem Betenden hilfreich sein. So wird Josef traditionell als Schutzpatron der Sterbenden verehrt. Meinte dies etwa Papst Franziskus, als er das „Jahr des heiligen Josef“ in dieser Pandemie ausrief? Welche Form von Spiritualität wird dann aber gefördert? Sollte man diese Spiritualität nicht allen Ernstes eine Form des Aberglaubens nennen: Ein heiliger Josef, im Himmel wandelnd, bittet den Ewigen Gott um Erbarmen in einem ganz konkreten Fall eines hoffentlich braven Menschen? Was soll das? Hat das etwas mit christlichem Glauben zu tun?
Wenn schon der Papst dem Jahr 2021 ein besonderes Motto geben will, das für nachdenkliche Menschen nachvollziehbar ist und nicht absurd wirkt: Warum sagt er dann nicht: Das ist ein Jahr der Solidarität, der Hilfsbereitschaft auch der katholischen Gemeinden und ihrer Priester. Sie sind bereit, mit einzelnen, unter Beachtung aller geltenden Schutz-Regeln, zu sprechen; sie öffnen ihre Kirchen tagsüber zum stillen Gebet oder der Meditation für einzelne oder ganz kleine Gruppen, sie sind als Priester in diesen Kirchen anzutreffen, denn in diesen Corona-Zeiten haben die Pfarrer ja so furchtbar viel nicht zu tun, weil alle Gruppen, Bibelkreise etc. ausfallen. Diese Pfarrer und ihre Gemeinden beschenken dann die Pflegenden, trösten die Trauernden. Und verschanzen sich nicht in den hübschen Pfarrhäusern und Klöstern oder katholischen Akademien. Was haben die Akademie Direktoren eigentlich in Corona – Zeiten gemacht? Wahrscheinlich haben sie in der langen Freizeit Bücher geschrieben…
Wie auch immer: Nur praktische Hilfe ist sinnvoll und frei von jeglichem absurden Aberglauben. Ein offizielles Jahr des heiligen Josef weltweit, verführt angesichts der Phantom-Gestalt dieses Mannes nur zu spinösen Ideen … und ist insofern absurd. Lassen wir den heiligen Josef also ruhen oder im Himmel sich erfreuen…

2.
Ein zweites aktuelles Beispiel: Die katholische Kirche soll doch bitte das „Fest der Beschneidung Jesu“ wieder einführen.

Der 1. Januar war bis 1969 das Hochfest der Beschneidung Jesu. Irgendwann aber war den Theologen doch klar, dass für Christen die Beschneidung Jesu aktuell keine Bedeutung mehr hat. Dass Jesus als Jude beschnitten wurde, ist ja klar, bedarf aber wohl keines eigenen christlichen Festes. Nun gibt es im heutigen Katholizismus prominente Stimmen, die das Fest der Beschneidung Jesu wieder einführen wollen. Dadurch soll der „Relativierung des Mann-Seins (sic!) Jesu“ Widerstand geleistet werden (man ahnt, das hat etwas mit der Abwehr des Frauenpriestertums zu tun) und der „Marginalisierung des Jude-Seins Jesu“ sollwidersprochen werden, so etwa wörtlich der katholische Theologe und Universitätsprofessor (Wien) Jan-Heiner Tück in der „Herder-Korrespondenz“ Januar 2021, S. 25. Inzwischen will sich auch Kardinal Marx für die Wiederbelebung des Festes der Beschneidung Jesu einsetzen. Der Provinzial der Jesuiten in der Schweiz, Pater Christian Rutishauser, macht sich schon seit längerer Zeit für das „Beschneidungsfest“ stark. Ein entscheidendes Motiv dafür ist, der jüdischen Gemeinschaft den guten Willen zu zeigen und Jesus als vollständigen Juden auch in christlicher Sicht herauszustellen. Diese Idee ist sehr löblich, man muss sich aber auch mit der Abwehr der Beschneidung durch den Apostel Paulus noch befassen. Und sich fragen, wie der Jude Jesus nicht vielleicht doch aufgrund seiner Kritik an jüdischen Gelehrten dich etwas über das Judentum hinausgewachsen ist. Das wäre ein spannendes religionswissenschaftliches Thema…Diese Wiederbelebung einer katholisch zu feiernden Beschneidung Jesu ist aber sicher kein wirksamer Beitrag, um den auch in katholischen Kreisen immer noch und immer wieder vorhandenen Antisemitismus zu bekämpfen. Judenfeindschaft heute, propagiert von Rechtsextremen, überwinden Katholiken nur, wenn sie gegen den Antisemitismus der Rechtsextremen kämpfen. Und wenn sie in den christlichen Gemeinden die Kenntnis des jüdischen Lebens vertiefen, Begegnungen ermöglichen und vor allem auch die hebräische Bibel studieren. Damit machen sie wohl der jüdischen Gemeinschaft mehr Freude als mit der Wiedereinführung des Festes der Beschneidung Jesu.

Nebenbei: Ich wäre den LeserInnen sehr dankbar, die mir verraten könnten, wo denn überall die kleinen Fetzen der Vorhaut Jesu als bis heute übliche Reliquien in katholischen Kirchen verehrt werden, Hautfetzen, die nach der Beschneidung Jesu übriggeblieben und – angeblich wie immer bei Reliquien – wohl erhalten sind. Nur darf es so viele Hautfetzen eigentlich gar nicht geben….Ich kann nur daran erinnern, dass sich vor etlichen Zeit die Vorhaut Jesu in Antwerpen befunden haben soll. Aber es kommt noch anders: „Am intensivsten war die Vorhautverehrung in Frankreich, wo man sich auch im Besitz einiger Nabelschnüre des Heilands glaubte: “Praeputia Christi”,Vorhäute Jesu, gab es in vielen Städten, wie Besançon, Boulogne, Compiegne, Langres, Nancy, Paris
doch die berühmteste Vorhaut nannte die Abtei von Charroux bei Poitiers ihr Eigen..“ (Quelle: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/kirche/die-vorhaut-christi-vom-niedergang-einer-reliquie).
Für mich ist die Überlegung zu einer Wiedereinführung des Festes der Beschneidung Jesu ein weiterer Beitrag zum Thema „Ignorant –„ oder sollte man schon sagen „absurd – katholisch“.
PS.: Wer sich für eine Ausweitung dieses Themas interessiert, also die Widereinführung alter, Gott sei Dank abgeschaffter Feiertage, möge sich bitte für eine Wiederbelebung des Titels „Fest Mariä Reinigung“ einsetzen oder auch des Festes „Sieben Schmerzen Mariens“. Auch ein großes Fest zu Ehren des imaginären, also „legendär“ genannten heiligen Georg wäre dann sinnvoll. Als siegreicher Ritter gegen allerhand fremde Feinde, auch aus dem Ausland, könnte er doch himmlischer Fürsprecher sein. Vielleicht ist dieser mythische Georg der ideale Schutzpatron der AFD? Die prominenten katholischen Freunde in der AFD, wie Pater Ockenfels OP, sollten sich bitte mal darum kümmern. „AFD -Georgs -Bund“ klingt doch nicht schlecht.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Fortsetzung folgt, leider.

Christentum und Kirche im Kapitalismus.

Weiterführende Überlegungen, anlässlich eines Buches von Rainer Bucher
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Sehr viele verdrängen es, viele wissen es, wenige sagen es laut: Das Christentum ist seit dem Auftreten des Kapitalismus im 18. Jahrhundert („industrielle Revolution“) ein „Christentum im Kapitalismus“. Diese Erkenntnis erläutert jetzt der katholische Theologe Rainer Bucher (Universität Graz) in seinem neuen Buch genau mit diesem Titel: „Christentum im Kapitalismus“.
Ich werde dabei an die offizielle Selbstbezeichnung der evangelischen Kirche in der DDR, Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, erinnert. Der „Kirchenbund“ bezeichnete sich selbst mit Zustimmung von Erich Honecker als „Kirche im Sozialismus“. Dazu gab Bischof Albrecht Schönherr gleich die ausdrückliche Interpretationsanweisung: „Wir sind eine Kirche nicht gegen und auch nicht für, sondern Kirche IM Sozialismus“. Dass dabei die DDR – Herrschaft überhaupt als Sozialismus implizit anerkannt wurde, zeigt, dass diese Selbstbezeichnung de facto mehr war als eine Art geografische Ortsangabe, so, wie man sagen könnte: „Wir sind eine Kirche in Berlin“. Aber das ist ein anderes Thema, genauso wie die Tatsache, dass einige Pfarrer und Kirchenfunktionäre diesen Sozialismus à la DDR offenbar schätzten und deswegen „inoffizielle Mitarbeiter“ („IM“) der Stasi wurden.
2.
Rainer Bucher, Autor des Buches „Christentum im Kapitalismus“, würde seine Interpretation eines Christentums „im Kapitalismus“ niemals analog zur Formel Bischof Schönherrs verstehen, er würde nicht sagen: „Wir wollen ein Christentum nicht gegen, nicht für, sondern bloß im Kapitalismus sein“. Rainer Bucher sieht in „dem“ Kapitalismus vielmehr eine totale, also nicht nur eine ökonomische, sondern auch kulturelle Herrschaft, der die Kirchen unentrinnbar ausgesetzt sind. Der Kapitalismus ist für Bucher „der Souverän“, er „macht sich die anderen untertan, auch die Religion.“ (58). Insofern hat der Kapitalismus längst „gewonnen“, wenn er auch noch nicht ganz „allmächtig“ ist (29). Diese Ambivalenz zwischen einem Kapitalismus als „Sieger“ und noch „nicht ganz allmächtig“ wird vom Autor nicht aufgelöst.
Kann das Christentum sich vielleicht aus dem Kapitalismus befreien und ihn gar mit anderen überwinden? Bloß was kommt dann? Die hartgesottenen neoliberalen Kapitalisten, Millionäre, Milliardäre aller Länder schmunzeln wohl über diese Frage… Sie halten den Kapitalismus und Neoliberalismus für ewig, unersetzbar, zum Kapitalismus gibt es keine Alternative, predigte die neoliberale Zerstörerin des Sozialen, Madame Thatcher.
Trotzdem lohnt es sich beim Thema des Buches zu bleiben. Ohne ein Trotzdem lebt keine Philosophie und eine Theologie schon gar nicht.
3.
Will das Christentum, wollen die Kirchen, in diesem allumfassenden kapitalistischen System wenigstens überleben, müssen sie sich zu ihm kritisch verhalten, das betont der Autor. Er ist wohl schon froh, wenn Christen und Kirchen den Kapitalismus etwas einschränken, etwas bremsen, etwas humaner machen. Dies ist ja die Zielvorgabe der alten SPD. Sozial gesinnte Kreise der so genannten christlichen Parteien in Europa setzten und setzen ausschließlich auf einen inneren Bewusstseinswandel der Bürger: „Sollen die Konsumenten doch anders konsumieren, also etwa Fair-Trade – Bananen kaufen“. Das Wort fair-trade setzt ja automatisch die Erkenntnis frei: Alles andere Obst, Gemüse und Fleisch etc. ist nicht NICHT-fair gehandelt, sondern entstammt unterdrückerischen, also kapitalistischen Strukturen. Nicht-fair Gehandeltes kann zudem „Gammelfleisch“ sein oder das billige Gemüse ist hochgiftig . Wie viele „Rückrufaktionen“ etwa von nicht fair gehandeltem Käse melden die großen Supermärkte wöchentlich. Die Arbeiter auf den „nicht -fairen“ Bananen – Feldern erhalten einen Hungerlohn etc. Den dicken Profit streichen die United-Fruit-Companies etc. ein. Die Supermärkte in Europa sollten also bitte immer den Untertitel führen: „Hier werden vor allem NICHT- fair-gehandelte, also ungerecht gehandelte Waren verkauft“.
4.
Aber die LeserInnen dieser kleinen Buchbesprechung sollen nun bloß nicht meinen, dass in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“ davon die Rede ist. Der Autor hätte ja auch zurecht darauf hinweisen können, dass bei kirchlichen Empfängen und in kirchlichen Akademien usw. fair- trade- Coffee (also anti-kapitalistischer Kaffee) serviert wird. Dieser beruhigt das fromme Gewissen. Fair gehandelter Kaffee beunruhigt aber nur ein ganz kleines Bisschen die nicht fair agierenden Groß-Unternehmen. aggressiven Praktiken des Kapitalismus/Neoliberalismus.
5.
Wenn man schon von Kapitalismus spricht, wäre es auch von der Sache her geboten, den alles entscheidenden Begriff zu besprechen, also vom Klassenkampf zu sprechen, auch vom Klassenkampf im Zusammenhang von Glaube und Kirche. Nur nebenbei: Der katholische Theologe und Philosoph Giulio Girardi hat diesen Zusammenhang von Kirche und Klassenkampf ausführlich reflektiert, er wurde deswegen als Priester aus dem Salesianerorden (SDB) ausgeschlossen und durfte nicht mehr an katholischen Fakultäten lehren. Früher hätte man ihn als Ketzer gern verbrannt, jetzt rettete ihn der liberale Rechtsstaat.
6.
Solche heißen Eisen („Klassenkampf und Kirche“) berührt Rainer Buch in seinem Buch „Christentum im Kapitalismus“ nicht. Er hätte ja dabei an die ganz wenigen katholischen Bischöfe erinnern können, die den Klassenkampf in ihren Ländern und Bistümern genau erkannten und sich bewusst der Klasse der Unterdrückten angeschlossen hatten, von Bischof Pedro Casaldáliga (Brasilien) wäre also zu sprechen gewesen oder von Erzbischof Helder Camara (Brasilien) oder dem heiliggesprochenen Erzbischof Oscar Romero (El Salvador). Auch Bischof Jacques Gaillot (Evreux/Partenia) hat sich mit den unteren Klassen solidarisiert. Gaillot wurde bekanntlich vom Papst als Bischof von Evreux abgesetzt, weil der damalige französische Innenminister Pasqua die Kritik Gaillots an der offiziellen Ausländerpolitik nicht ertragen konnte…
Rainer Bucher fasst also ein gewaltiges Thema an, aber er bietet eine viel zu knapp ausgefallene Studie. Sie hat zudem noch den milde klingenden Untertitel hat: „Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt“. Ist der Kapitalismus im Ernst „Verwaltung“ zu nennen? Verwaltung bewahrt ja wenigstens, Kapitalismus aber zerstört vieles um des Profites willen. Das ist evident.
Bucher übernimmt also mit dem Untertitel diese äußerst dürftige Kapitalismus – Definition des Philosophen Jean – Luc Nancy (S. 20). Später (S. 38) betont Bucher: Nancy fasse den Kapitalismus als „ökonomisches System“ mit der Bevorzugung individueller Eigentumsrechte, zweitens als das Zur-Ware-werden alles Lebendigen sowie als die absolute Geltung des Kapitals, um Gewinne in der Zukunft zu machen.
Die heute von einer überwältigenden Mehrheit der Soziologen und Philosophen gängige Beschreibung eines eher totalitären
Kapitalismus fehlt auch bei Bucher,. Die wesentliche Einsicht der führenden Kapitalismus -Kritiker lautet: Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit, die Anzahl der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten weltweit nimmt ständig zu, Millionen Menschen krepieren förmlich in ihren Slums, die Reichen haben sich an das Elend ihrer vielen Millionen Mitmenschen gewöhnt, sie sind bestenfalls noch zu Spenden bereit usw.. Der Kapitalismus als Neoliberalismus zerstört die Natur und die Umwelt mit seinem Wahn, alles Natürliche in Ware und damit in Geld zugunsten der Konzerne zu verwandeln. Der Kapitalismus mag es sehr, wenn autoritäre Regierungen etwa bei ihrer Naturzerstörung den internationalen Konzernen freie Hand lassen, wie etwa in dem verbrecherischen System zur Zeit in Brasilien. Der Kapitalismus als Ideologie des ständigen ökonomischen Wachstums ist wesentlich kriegerisch: Abwehr und Krieg, Waffenproduktion in Hülle und Fülle und Folter und Verfolgung und „Erzeugung“ von Millionen Flüchtlingen sind das Wesen des Kapitalismus/Neoliberalismus. Dass dann die von den Kapitalisten „erzeugten“ „Flüchtlingsströme“ keine menschenwürdige Aufnahme finden, gehört zum kapitalistischen Ungeist. Mit Unsummen von Geld aus Europa sollen ärmere Nationen (Türkei, Kenia, Uganda, Libyen, Niger usw.) diese vom Kapitalismus erzeugten „Flüchtlingsströme“ von den reichen Ländern bitte schön fernhalten. Und die Kirchen als Kirchen in diesem Kapitalismus bitten um Spenden für diese armen Menschen, sagen aber nicht den Regierenden klar und deutlich: Eure „christliche“ Politik ist nicht mehr menschlich, wir können sie nicht mehr unterstützen. Darüber wird nicht einmal diskutiert. Früher sprach die evangelische Kirche von politischen Situationen, in denen der „status confessionis“ gilt, ein alter Begriff, den man bitte weiter studiert in aktuellem Zusammenhang von „Kirche und Kapitalismus“
7.
Der große Soziologe Hartmut Rosa, wahrlich kein Marxist und „Klassenkämpfer“, beschreibt in seinem Buch „Resonanz“ treffend den Kapitalismus als dem ständigen Wachstum verpflichtet, mit seiner Steigerungslogik, der Sucht nach Profit, Gewinn, Rendite (Seite 725 f. in der Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages 2019). Hartmut Rosa spricht von der „Ersetzung der blindlaufenden kapitalistischen Verwertungsmaschinerie“ (S. 726), von einer totalen Verwertungslogik, und er zitiert in einer Fußnote Karl Marx aus seinem Kommunistischen Manifest. Marx klagt den Kapitalismus an, weil er auch „alles Heilige entweiht“ (S. 680, Fn., 59). Dass sich hier auf Hartmut Rosa hinweise, geschieht sozusagen prophylaktisch, um allen konservativen Geistern zu zeigen: Die tiefgreifende und begründete Ablehnung des Kapitalismus/Neoliberalismus ist in der Welt der Wissenschaft wenn auch nuancenreich, aber universal und selbstverständlich.
8.
Der Ton in Buchers Buch bleibt moderat, der Autor meidet meines Erachtens die wirklichen heißen Fragen bei seinem Thema. Trotzdem lohnt es sich das Buch von Rainer Bucher zu lesen, schon allein deswegen, weil es über den Text hinaus zu weiterem Nachdenken anregt.
Das Buch bietet etwas Material zu den theologisch bislang kaum wahrgenommenen heutigen Marxisten wie Vattimo, Badiou, Zizek.
Das Buch von Rainer Bucher bleibt zudem inspirierend, weil klar gesagt wird: „Auch Religion und Glauben werden in Zeiten des Kapitalismus vom Kapitalismus geprägt, zutiefst und zuinnerst“ (46).
9.
Viele Themen, die das Buch nicht ausführlich behandelt, fallen dem Leser bei der Lektüre selbst ein: Ich nenne nur einige:
9.1.
Allein schon die Einbindung des europäischen Katholizismus in die Kolonialgeschichte wäre ein ganz dringendes Thema wie etwa auch die Frage: Warum glauben eigentlich die (von den Kolonialherren wie Untermenschen behandelten Afrikaner) dem christlichen Glauben, also der Religion der kapitalistisch – imperialistisch geprägten Kolonialherren? Wollen sie die kapitalistisch geprägte Denkform der europäischen Kirche nun ihrerseits übernehmen und eine afrikanisch – kapitalistische Kirche aufbauen? Wer einige Pfingstkirchen in Nigeria oder Brasilien studiert, kommt angesichts deren „Wohlstandsevangelium“ schnell zu dieser Überzeugung.
9.2.
Wenn die kapitalistische Mentalität des Verfügens und Beherrschens auch die kirchliche Spiritualität bestimmt, dann wären ganz dringende Themen zu bearbeiten: Das Festhalten an einer Hierarchie, an der pyramidalen Ordnung, entspricht den hierarchisch strukturierten Großunternehmen. Auch die miserable Rolle, die an führender Stelle Frauen in der katholischen Kirche oder der Orthodoxie spielen, gilt genauso für neoliberale Großunternehmen. Wenn der Kardinal von München jetzt ein Monatsgehalt von 12.526 Euro (B 10) erhält, entspricht diese Honorierung in etwa dem Gefälle der Gehälter in Großunternehmen zwischen Top-Leuten und kleinen Angestellten. Die Kirchen haben sich längst daran gewöhnt, sich wie Großbetriebe zu verhalten. Wenn zum Beispiel klerikales Personal nicht mehr zur Verfügung steht, um alle vorhandenen Pfarreien zu „bedienen“, werden einfach Gemeindehäuser geschlossen und die Kirchengebäude nur noch mit reduziertem Aufwand bedient. Genauso verhalten sich Unternehmen, die allein nach Gesichtspunkten des Profits ihre Filialen aufrechterhalten. Gibt es weniger Kirchenmitglieder, werden Pfarreien geschlossen. Gibt es weniger Kunden, werden Geschäfte dicht gemacht.
9.3.
Es wäre bei dem Thema dieses Buches angebracht, die innere Verdorbenheit der christlichen Glaubenslehre durch den Kapitalismus dreizulegen. Ich kann Aspekte dieses umfassenden und noch weiter auszuarbeitenden Themas hier nur andeuten:
Auch in den Kirchen gibt es die Herrschaft der großen Zahlen: Ein Gottesdienst, eine Predigt, waren dann gut, wenn sehr viele Leute im Gottesdienst waren und die Predigt hörten. Ich erinnere mich an die Klagen der Pfarrer: „Heute waren nur alte Damen im Gottesdienst“. Was ist daran schlimm? Alte Menschen haben – kurz vor Lebensende – ein gutes Recht, spirituelle Impulse zu erhalten. Und modern und jugendlich wollen die Gemeinden der schon äußerlich häßlichen Mega – Churches sein, in den USA, Nigeria, Korea oder Brasilien: Die Gottesdienste, die sie anbieten, sind als totales Show-Programm konzipiert, mit allerhand Singsang und körperlichen Verrenkungen frommer Tanz-Gruppen und den endlosen Monologen der Pastoren, die allen Erlösung versprechen, wenn sie ordentlich für den Pastor spenden. In diesen Mega – Churches wird das „Wohlstandsevangelium“ verkündet: Wer arm ist, der ist selber schuld. Das hätte der Ökonom Hayek, der Heilige der Neoliberalen, nicht besser formulieren können. Diese Mega-Churches sind religiös angehauchte kapitalistische Unterhaltungstempel.
9.4.
Aber damit wird die Frage wichtig: Wie weit ist die innere Glaubenswelt, also das Dogma, das Gebet, die Liturgie, die Kirchenlieder, von der kapitalistischen Mentalität bestimmt? Warum hält die katholische Kirche immer noch am Ablass fest und bietet ihn etwa zu Ostern sogar via Fernsehen, Radio, Internet an? Warum hält die katholische Kirche wie einst, so auch heute, daran fest, dass einfache Laien bei den Priestern Messen „bestellen“ können, gegen ein gutes Honorar freilich? Eine fremde Person betet also anstelle meiner, bloß weil ich diese Person, den Priester, dafür bezahle? Die katholischen Männerorden machen auf diese Weise immer noch ein „dickes Geschäft“. Für die Allmacht des Geldes, etwa im Katholizismus, ein weiteres Beispiel: Warum sind Heiligsprechungen so teuer? Viele tausend Euro, mindestens 50.000 Euro, müssen etwa Ordensgemeinschaften für die Heiligsprechung ihres Gründers der entsprechenden vatikanischen Bürokratie „für Heiligsprechungen“ bezahlen.
9.5.
Kapitalismus ist Egoismus: Das ist ein ganz banaler, aber immer noch treffender Basisaspekt kapitalistischer Mentalität. Der Egoismus der Beter wäre zu untersuchen, in den immer noch populären Bittgebeten: Zuerst und vor allem möge ich gerettet werden, heißt die Standardformel aller Bittgebete.
Auch von der Opfertheologie wäre zu sprechen, die in verschiedenen Konfessionen immer noch eine große Bedeutung hat, bis hin zu den grausigen Liedern am Karfreitag: Jesus Christus opfert sich am Kreuz leidend für die Erlösung der Menschen, weil es sein himmlischer, angeblich liebender Vater, dies so will. Opfert euch auf, rufen die Kapitalisten den Armen zu, gebt euch hin der Arbeit, es gibt keine Alternative für euch, ihr müsst bis zum Umfallen schuften in unseren Fabriken, vielleicht erlauben wir es dann euren armen Kindern, dass es ihnen etwas besser geht. Indem das Christentum den Wahn des Opfers in den religiösen Mittelpunkt stellt, öffnet es die Türen für die Opfer – Ideologie der kapitalistischen Herren-Menschen. Darüber hätte ich auch gern ein paar Zeilen gelesen in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“.
10.
Lässt sich das Christentum wenigstens noch partiell in der PRAXIS vom Kapitalismus befreien? Eine schwierige Frage, auch zu dem Thema bietet das Buch „Christentum im Kapitalismus“ eher wenig. Man hätte doch sprechen können von den kleinen, aber wirksamen Gruppen innerhalb des kapitalistisch beherrschten Christentums, etwa den nicht nur in den USA, sondern weltweit präsenten Gruppen der „Catholic Worker“. Von christlichen anarchistischen (sic!) Gruppen wäre zu sprechen, von den “Religiösen Sozialisten” in der Schweiz, vor allem von den Basisgemeinden weltweit, die selbst die verheerende konservaive Pastoral-Politik des Vatikans nicht vernichten konnte. Es wäre zu denken an die Gemeinden, die wie etwa in Holland, aus dem Verbund mit den Bistümern ausgestiegen sind und unabhängige, selbst finanzierte Gemeinden sind, wie etwa die Dominikus – Gemeinde in Amsterdam (Spuistraat).
11.
Darüber hinaus wäre natürlich der enge theologische Blick zu überwinden, dass man Religion nur da vermutet, wo Religion draufsteht. Kurzum, es wäre zu fragen, ob die wahren Partner eines antikapitalistischen Christentums nicht bei den NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Greenpeace, NABU, AVAAZ) zu suchen sind. Mit denen ließe sich dann die schwere Frage erörtern, wie denn ein Leben de facto zwar noch innerhalb, geistig/politisch/spirituell außerhalb des heute dominanten Kapitalismus aussehen kann.
12.
ZUR SPRACHE:
Nur eine kleine Kritik am Schluss: Bei einer weiteren Neuauflage würde ich herzlich bitten, um des erreichbaren Verständnisses willen, den tatsächlich aus 17 (oder sind es 18?) Druckzeilen bestehenden Satz auf Seite 49) in mindestens drei Sätze aufzulösen.
Und schlechterdings unverständlich, selbst für einen Theologen, ist dieser Satz auf Seite 152: „Ohne die Dynamik des Prozedierens petrifizieren die paradoxen Polaritäten des Christentums entweder an einem ihrer Pole oder diese Balance rastet ein…“ Eingerastet ist auch mein Begreifen als ich von einer „lokalen Entbettung“ (S. 65) las. „Einbetten“ und „Umbettung“ (auf Friedhöfen) geht ja noch. Aber „Entbettung“? Ist Entbettung vielleicht eine neue Strategie des Kapitalismus, uns sogar noch unsere Betten zu nehmen? Den Schlaf raubt der Kapitalismus einigen Leuten ja ohnehin schon.

Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt. Echter Verlag, Würzburg, 2.Aufl. 2020, 224 Seiten, 19,90€.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Weihnachten: „Christus, der Retter, ist da…“ Oder: „Jesus der Retter ist da” ?

….diese Frage ist alles andere als nur theologisch subtil…
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Krisenzeiten neigen Menschen dazu, sich in (angeblich) altbewährte Traditionen zu flüchten, wenn sie sich denn nicht gleich Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien hingeben.
Um beim Weihnachtsfest zu bleiben: Es gibt das Bedürfnis in unserer „durchrationalisierten“ und digitalisierten Welt der totalen Ernüchterung, in die „verzauberte“ Welt der Kindheit, der Märchen und Legenden einzutauchen, um dort – wie im Traum – etwas Halt und seelische Wärme zu empfinden: Weihnachten ist der Inbegriff der Ergriffenheit, der Traditionspflege, des „Einst war es doch so schön“. Der ganze Kommerz–Wahn zu Weihnachten hat diese Wunschvorstellung nicht nur nicht kleingekriegt, der Kommerz hat diffuse Sehnsüchte wohl noch beflügelt…

2.
Also bleiben wir realistisch: Man kann wirklich nicht sagen, dass die Weihnachtsgefühle inklusive der obligaten Weihnachtslieder tatsächlich eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse gebracht haben. Man hat „Christus der Retter ist da“ viele Male gesungen, vielleicht mit Tränen in den Augen voller Wehmut, der Kindheit gedenkend … und ist dann drei Tage später wieder in die übliche Alltagsroutine zurückgefallen, die Alltagsroutine aus Egoismus, Hass, Neid, Gier und Krieg, siehe die orthodoxe Kirche in Pution -Russland und ihres Patriarchen Kyrill…

Weihnachten mit seiner humanen Botschaft hat selten (und kaum nachzuweisen) zu einer Neuorientierung, zur Abkehr vom üblich gewordenen Inhumanen geführt. Das über alle Jahrzehnte und Jahrhunderte empirisch zu belegen, wäre eine tolle Aufgabe. Die Kirchen würden solche Forschungen bestimmt nicht unterstützen…Also: Wer will im Ernst der Erkenntnis widersprechen, dass Weihnachten (gefeiert und Weihnachtslieder gesungen) wenig spürbar zu einer menschlicheren Welt beigetragen hat. Das ist die traurige Bilanz einer Religion, die sich als Heil, als Rettung selbst versteht. Bestenfalls fand diese Erlösung, Rettung, dann im Innern der privaten Seele statt. Aber die Wirkungen nach außen, politisch, sozial im Sinne universaler Gerchtigkeit, blieben aus.

3.
Manche „Optimisten“ werden auf die Bereitschaft zum Spenden hinweisen für „Brot für die Welt“ oder „Adveniat“. Aber Spenden für die Armen sind der hilflose Ausdruck dafür, dass „wir Erlöste“ -angeblich – strukturell die Welt nicht verbessern können oder verändern wollen: Der Hunger von Millionen Menschen weltweit besteht weiter  seit Jahren, die Kriege sind Alltagsrealität, die Rüstungsindustrie floriert, die Zahl der Milliardäre nimmt zu, die Anzahl von diesen Leuten Armgemachten ebenso… Da sind Spenden ein Alibi für die Hilflosigkeit der Kirchen, wirklich praktisch und politisch und sozial spürbar durchzusetzen, dass „dieser Christus der Retter wirksam da ist“. Es blieb und bliebt also beim Singsang. Wirkungslos.

4.
Mein Vorschlag zu einer wirklichen wirksamen Bedeutung von Weihnachten: Singen wir und sagen wir nicht länger „Christus, der Retter ist da“, sondern „Jesus, der Retter ist da“. Das ist mehr als eine theologische Spitzfindigkeit. Da geht es um Wesentliches. Aber das muss erklärt werden.

5.
Mir geht es um ein Thema, das nicht nur religionsphilosophisch Interessierte bewegt: Wenn der christliche Glaube, auch im Falle von Weihnachten, im Leben des einzelnen noch eine Rolle spielen soll, dann ist Glaube sinnvoll nur zu definieren als eine Form der Lebensorientierung, als eine Gestalt einer Lebensphilosophie. Der christliche Glaube als Lebensphilosophie mit der entsprechenden Lebenspraxis: Dann ist immer – wie bei jeder Philosophie – gemeint das vernünftige Verstehen, das Reflektieren, also auch die Kritik der „Inhalte“ dieser Lebensphilosophie, die da als kirchlicher Glaube verbreitet wird.

6.
Wer die uralten Weihnachtslieder betrachtet oder singt und eben darin einen hilfreichen Ausdruck seiner Lebensphilosophie sehen will, sollte sich also fragen: Was singe ich da eigentlich, welche Inhalte singe ich oder summe ich dann mit? Wenn es mir auf den Inhalt, den „Text“ der Lieder gar nicht mehr ankommt und diese für mich verständlicherweise veraltet wirken, dann reicht es, einige Weihnachtslieder einzig instrumental zu inszenieren. Und ich kann beim Hören der Melodie mir meine eigenen Gedanken machen jenseits von „O Kindelein von Herzen“ und den „himmlischen Heeren, die Ehre jauchzen“ usw. Nebenbei: Eines der wenigen, auch vom Inhalt her noch singbare alte Weihnachtslied ist für mich noch das Lied von Paul Gerhardt: „Ich steh an deiner Krippen hier“…

7.
Das beliebte Lied „Stille Nacht…“ verdient eine besondere kritische Aufmerksamkeit. Da heißt es in der 2. Strophe: „Christus der Retter ist da“? Christus ist der Retter. Und er soll also „da“ sein.
Wer das singt, hat, irgendwie verschwommen, einen oder seinen „Christus“ vor Augen, eine Art hoheitlicher Heilsgestalt, einen Gottessohn, der sich am Ende seines Lebens blutend und leidend für die Sünden der Menschen hingibt und dadurch seinen zornigen Vater(gott) versöhnt. Ist diese Überzeugung von Christen aus dem Mittelalter heute noch glaubwürdig und nachvollziehbar? Wie viele andere Theologen und Religionsphilosophen sage ich Nein. Es geht Weihnachten um Jesus von Nazareth, geboren als Kind von Obdachlosen in der Krippe zu Bethlehem, im Stall, inmitten seiner Eltern Maria und Josef. Dann war Jesus in Nazareth als Tischler tätig, später als Prophet und Prediger. Und er wurde umgebracht und später wussten seine Freunde: „Dieser Mensch ist der „Auferstandene“.

8.
Und jetzt kommt in meiner Sicht – ein theologisches Ereignis! Ein spiritueller Umbruch. Dabei geht es nur dem Schein nach um etwas Subtiles für „Spezialisten“: Es geht um den Unterschied zwischen „Christus“ und „Jesus“. Christus wird kirchlich verkündet als der himmlische Herr, die zweite Person der Trinität oder der Sühne leistende Sohn Gottes. Dies gilt in den Kirchen, selbst wenn oft von „Jesus Christus“ die Rede ist: Da tritt aber die Gestalt des Menschen Jesus immer in den Hintergrund gegenüber dem allmächtigen Christus. Das Konzil von Nikäa (325!) und die folgenden Konzilien haben diese Tendenz absolut verstärkt. Leider!

9.

Jesus von Nazareth hingegen ist der jüdische Mann mit einer bestimmten Geschichte, mit einem Lebensentwurf, einer bestimmten Lebensphilosophie. Er ist ein Mensch mit einem Gesicht, einer Geschichte, er wird zum Propheten, den viele für einen Lehrer, einen Weisen, halten. Als ein solcher Weisheitslehrer mit einer bestimmten Lebensphilosophie kann er dann als der “Christus”  bezeichnet werden, der über den begrenzten jüdischen Raum hinausweist: Ein Weisheitslehrer für viele Menschen vieler Kulturen, für Menschen, die sich seinen Werten anschließen wollen. Jesus als Person, mit einem Gesicht, einer Geschichte, mit seiner Liebe zur Gemeinschaft, zum gemeinsamen Speisen, seiner Praxis der Meditation und des gelegentlichen Rückzugs in die Wüste, mit seiner Liebe für die Frauen, seiner Liebe zu seinem “Lieblingsjünger Johannes” usw.: Dieser Mann Jesus weckt neue Einsichten, inspiriert zum Leben in Gerechtigkeit.

10.
Man denke daran, dass der große katholische Theologe Edward Schilllebeeckx (Nijmgen, NL) von Jesus als dem erlösenden Vorbild sprach. Insofern befinde ich mich hier in bester theologischer Gesellschaft. Und Jesus als Vorbild führt weiter zu der argumentierenden Frage: Wo sind heute weitere Vorbilder? Wahrscheinlich Gandhi oder Martin Luther King? Oder Bonhoeffer? Oder Erzbischof Romero aus El Salvador? Oder bestimmte Werke der Musik, vielleicht die Missa Solemnis von Beethoven? Oder manches von Literaten oder von Malern, etwa von van Gogh? Wie auch immer: „Jesus der Retter ist – in gewisser Hinsicht – da“.

Rettung – dieses große Wort – erhält so ein Angesicht, eine historische Konkretheit. Rettung ist dann etwas anderes als ein transzendentes, als ein nur innerliches Geschehen der Versöhnung, das sich abstrakt „himmlisch-irdisch“ zwischen Gott – Vater und seinem „eingeborenen“ Sohn „abspielt“.

11.
“Rettung der Welt”, ökologisch, friedenspolitisch, im Sinn der Menschenrechte… wird zur Aufgabe der Menschen, die Weihnachten feiern. Aber dies nicht als Last, nicht als Fremdbestimmung, sondern als Form, das eigene menschloche Wesen zu leben, lebendig zu sein.

Weihnachten ist das „Eingedenken“ an Jesus von Nazareth, den universalen Lehrer der Weisheit, den Propheten.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Theologisches Denken gelingt nur im Miteinander

„Theologie aus Beziehung“ – ein neues Buch der Theologin Hadwig Müller
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
So war es Jahrhunderte lang: Die (Lehr)Bücher der katholischen Dogmatik, der Moraltheologie oder des Kirchenrechts usw. wurden an Schreibtischen verfasst, in Klöstern oder in Studierstuben von Priesterseminaren oder bischöflichen oder vatikanischen Palästen. Theologie, als Rede von dem Gott der Kirchen, entstand auf diese Weise in Europa. Und Europa war absolut, für alle Welt, maßgebend! Und es waren Männer, die „den“ Glauben „der“ Kirche den anderen „zum persönlichen Glauben“ vorsetzten. Katholische Theologie hatte, global betrachtet, im monologischen Denken einzelner oder gleichgesinnter Kleriker- Gruppen, ihren Ursprung und ihre Mitte. Das änderte sich nach 1970, also nach dem Ende des 2. Vatikanischen Konzils. Da fühlten sich auch Laientheologen berufen, ihre Ethikbücher oder ihre Fundamentaltheologie zu schreiben, meist aber auch als einzelne am Schreibtisch. Oft hatten die Autoren die Fragen ihrer Studenten noch im Hinterkopf.
Ich erinnere mich noch an eine zufällige Begegnung unterwegs in München – Schwabing mit dem mir bekannten ökumenisch aufgeschlossenen, also dialogfreudigen katholischen Laientheologen (und Ex-Dominikaner) Otto Hermann Pesch. Er erklärte mir stolz, er schreibe gerade an seiner katholischen Dogmatik. Als ich fragte, ob diese Dogmatik denn von München oder Bayern und den Menschen dort geprägt sei, sagte er mir eher verlegen: „Na ja, irgendwie schon“.
Die Bindung ans Universelle und die Methode des Monologischen überwiegt bei Theologen bis heute. Da und dort gab es früher wenigstens Vorbesprechungen der Sonntagspredigt von Pfarrern mit den Laien. Aber dafür haben die wenigen verbliebenen Priester keine Zeit mehr. Die Beispiele monologischer Theologie sind uferlos. Den nur mit einer monologischen Theologie glaubte die katholische Kirche viele Jahrhunderte lang ihre „Einheit“ zu retten.
Aber, wie gesagt, allmählich ändern sich die Verhältnisse – seit etwa 1970: Katholische TheologInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien melden sich mit eigenen Studien zu Wort, nicht immer zur Zufriedenheit der vatikanischen Glaubens-Behörde. Die Liste der Bestrafungen und Schreibverbote von TheologInnen aus den genannten Kontinenten ist lang. Einheit kann also Rom nur als Einheitlichkeit verstehen.
2.
Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, kann man verstehen, welche Bedeutung die theologische Arbeit von Hadwig Müller hat, gerade dann, wenn sie ihrem neusten Buch den sehr knappen, wie ein Programm gemeinten Titel gibt „Theologie aus Beziehung“. Also, einmal ausführlicher formuliert heißt das: „Theologie als Versuch, von Gott zu sprechen, aber erlebt, erfahren, gedacht und formuliert aus Begegnungen und Dialogen … und nach Begegnungen und Dialogen und Auseinandersetzungen. Und erst danach geschrieben, aber voller Verunsicherung und Infragestellung des eigenen Lebens. Theologie also geprägt von der Anwesenheit der oft befremdlich Anderen“.
3.
Hadwig Müller meint in ihrem Buch immer die konstruktiven theologischen Beziehungen, die zwar auch konfliktreich sein können, die aber nicht in ein Verhältnis der Herrschaft und Willkür ausarten. Schließlich hatten die viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden und werden, auch „Beziehungen“. Und auch die Beziehungen sind nicht gemeint, wenn Posten an theologischen Fakultäten oder Akademien nur aufgrund von „Beziehungen“ erreicht werden können.
4.
Theologie aus Beziehung also, entstanden im Dialog, im Hinhören und auch im emotionalen “Miteinanderschweigen”: Dies ist das Motto und wie ein Programm eigentlich für alle, die aus dem anstudierten und angelernten, dogmatisch exakten Floskelhaften des Sprechens von dem Göttlichen, von Gott, dem Ewigen, herausfinden wollen. 20 Aufsätze aus zwei Jahrzehnten hat Hadwig Müller unter diesem Titel versammelt. Wer genau in der Bibliographie (S. 327 – 342) hinschaut, wird auf viele weitere, aktuelle Aufsätze, Studien und Bücher verwiesen. Die meisten Beiträge in dem Buch „Theologie aus Beziehung“ sind aus Begegnungen als Lernprozessen in Brasilien entstanden oder in Frankreich. Nach ihrer theologischen Promotion über Lacan zog es Hadwig Müller erst einmal vor, Deutschland zu verlassen, und sich den Fremden, den anderen, auszusetzen, eben in Brasilien, dort lebte sie von 1983 – 1993 vor allem in Basisgemeinden. Sie wird förmlich hineingestoßen in die reale Lebenserfahrung, wie die Armen ihren Gott erleben, als eine Wirklichkeit, die allem Elend zum Trotz Sinn stiftet und Mut macht, die Misere der totalen Ungerechtigkeit zu überwinden. Hadwig Müller sagt von ihren brasilianischen Freunden und Freundinnen, es seien „Menschen, die mich leben lehrten“ (49). Die Gemeinschaft der Unterdrückten – also eine Schule des Lebens: Nicht, um sich in diesem Zustand zu fixieren, sondern um die Gerechtigkeit für alle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Autorin erkennt während ihrer Gespräche mit Ausgegrenzten und Armen in Sao Paulo und in Crateus (Nordostbrasilien) in Gemeinschaft mit dem wegweisenden Bischof Antonio Fragoso: „Armut ist geraubtes Leben – und ich war nicht auf der Seite der Beraubten“ (29). Das führt zu weiteren Fragen, die eigentlich das herrschende System einer reichen Kirche erschüttern: „Die Kirche ruft Gläubige dazu auf, die Lebensbedingungen de Armen zu verbessern. Aber sie schweigt meistens darüber, wie sich ihre Beziehung zu den Armen auf ihre Identität als Kirche Jesu Christi auswirkt“ (51f.). Ein Bischof, der als single in einem Palast lebt (wie so viele “Oberhirten” in Deutschland usw.) und dann von der kirchlichen Solidarität mit Armen schwafelt, ist natürlich aprioi unglaubwürdig. Zu einem solchen Satz kann sich Hadwig Müller allerdings nicht aufraffen… Sie schreibt eleganter, aber nicht minder radikal: „Die Option für die Armen verlangt von den Reichen selbst ein anderes Bewusstsein: sich als Bedürftige zu wissen, die selbst aufs Empfangen angewiesen sind und die um nichts anderes als die Armut der Armen“ (55). Was das nun wieder in einer katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, die ein Kirchensteueraufkommen im Jahr 2018 von 6,25 MILLIARDEN Euro hat, wird leider nicht erwähnt oder gar ausgebreitet. Dabei hatte ich immer geglaubt, dass durch die Befreiungstheologie sozusagen die Aufmerksamkeit auf die Gelder und Reichtümer der Kirche geschärft wird auch hierzulande…
Sehr eindringlich ist ihr Essay „Der Hunger nach Brot – das Begehren des anderen“. Im Hungern wie im Begehren äußert sich die gleiche Sehnsucht und Angewiesenheit, “nicht ohne andere“ leben zu können. Die viel besprochene Option der Kirche für die Armen ist für die Autorin das „Herzstück der Befreiungstheologie“ (58), aber sicher auch der Mittelpunkt jeder Theologie.
5.
Es wäre für ein weiterführendes Gespräch vielleicht interessant, wenn man auch kritisch die Befreiungstheologen befragen könnte, inwieweit sie in vielen ihrer Aussagen die Bibel fundamentalistisch, im Sinne von wortwörtlich, verstehen. Und inwieweit die einzelnen Verhaltensweisen und Lebensregeln Jesu von Nazareth zu unmittelbar als relevant für die (auch politische) Gegenwart eingesetzt werden. Diese Kritik wird nicht vorgebracht, um die Theologien der Befreiung zu diskreditieren, sondern um andere befreiungstheologische Möglichkeiten aufzuzeigen, die weniger im Verdacht des biblischen Fundamentalismus stehen. Alternativ wäre zu denken und mit den Betroffenen zu besprechen: etwa die Erfahrung und die daraus entstehende Weisheit, dass Gott Mensch wird in Jesus von Nazareth, wie er erlebt wird, dass nun alle Menschen göttliche Würde erhalten! Das ist – ultrakurz gefasst – auch ein Gedanke Hegels und der christlichen Mystiker, etwa Meister Eckarts. Von da aus ließe es sich auch sehr gut eintreten für eine politische Neu-Ordnung, die die Menschenrechte als oberstes „göttliches“ Gestaltungsprinzip anerkennt. Da wäre mehr vernünftige Argumentation möglich als im unvermittelten Verweis darauf, dass Jesus ein armer Handwerker war „wie wir“, dass er solidarisch war und die Frauen und die Armen liebte…Aus solchen biographischen Elemente wird dann unmittelbar geschlossen: „Also sollten wir auch solidarisch sein etc…“. Wenn hingegen jeder Mensch von unendlichem göttlichen Wert ist, kann viel besser argumentativ und vernünftig auch eine mögliche „Revolution“ zugunsten und mit den Armen eingeleitet werden.
6.
Nach Deutschland zurückgekehrt, konnte sich Hadwig Müller u.a dem deutsch-französischen Dialog widmen, aber immer unter der kaum beachteten, aber wichtigen Perspektive der Religion und der katholischen Kirche. Die Autorin hat u.a. die hochinteressanten und durchaus – leider – einmaligen Entwicklungen im Erzbistum Poitiers genau kennengelernt. Sie erlebte dort eine Kirche, die, wie bekannt, auch von dem zunehmenden Mangel an Priestern bestimmt ist. Die aber daraus, geleitet von ihrem mutigen Bischof Albert Rouet, neue Konsequenzen zog: Teams von Laien werden in den Dörfern – und Stadt-Gemeinden ohne Priester zu verantwortlichen Animateuren der Gemeinde. Deutsche Pfarreien, das weiß ich, haben sich das Projekt in Poitiers angeschaut, aber meines Wissens nichts davon als Modell für Deutschland „übernommen“. Die Fixierung auf den Klerus ist also in Deutschland nicht zu brechen. Und das Modell von Poitiers macht eben auch viel Arbeit – bei den Hauptamtlichen…
7.
Diese hier besprochenen Themen erscheinen sicher vielen philosophisch Interessierten, etwa in Berlin, der säkularen Stadt, wie Einblicke in eine ferne noch kirchlich bestimmte Welt. Aber deutlich wird: Wenn sich TheologInnen auf das Zuhören, das geduldige Mitsein, den Dialog einlassen, und sich dabei in Frage stellen lassen: Dann gibt es neue, ungeahnte Einsichten. Das gilt ja auch für die Philosophien.
8.
Ein gewisses Hemmnis für säkular, „bloß“ philosophisch Interessierte ist sicher der Untertitel des Buches: „Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. Diese speziellen Zuordnungen gelten wohl dem zweifellos begrenzten Lesepublikum innerhalb der Kirchenorganisation, die mit diesen Begriffen noch etwas anfangen kann. So aber werden mit diesen Begriffen förmlich sprachliche Barrieren aufgerichtet, die verhindern, dass säkulare und „bloß“ philosophisch Interessierte dieses Buch aufschlagen und einiges lesen. Aber das Thema „Theologie aus Beziehung“ ist bleibend inspirierend: Eine ganze Buchserie könnte unter diesem Titel erscheinen aus Beziehungen von Theologen mit Arm-Gemachten hierzulande oder mit Schwulen und Lesben und deren neuen Familien oder mit Flüchtlingen oder mit Opfern rechtsextremer Gewalt. In jedem Fall werden nun vermehrt Menschen fragen: Spricht da ein Bischof aus Beziehung mit anderen Menschen, spricht er aus dem Leben als Begegnung, der Verantwortung, der Irritation durch andere? Und man wird sicher in Zukunft noch mehr theologische Bücher beiseite legen, die nur altbekannte Begriffe dreimal hin- und herwenden und den Eindruck bestärken, vom einsamen Schreibtisch aus eine zeitgemäße Spiritualität oder Theologie entwickeln zu können. Falls diesen meinen Hinweis Theologinnen lesen, bin ich gespannt, wie sie mir plausibel machen, dass nicht allein Hadwig Müller Theologie aus wirklichen Beziehungen, Begegnungen und Lernbereitschaft gestaltet…

Hadwig Ana Maria Müller, „Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. 351 Seiten. Grünewald-Verlag, Ostfildern, 2020, 38 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

(Nebenbei: Das Thema Befreiungstheologie bewegt mich seit vielen Jahren: Ich habe 1973 in der Philos.-Theolog. Hochschule St. Augustin bei Bonn die erste große Tagung über die Befreiungstheologie in Deutschland organisiert. 1975, also zu Beginn der Debatten über die Befreiungstheologie in Deutschland, habe ich einen kleinen Essay als Broschüre veröffentlicht „Der Gott, der befreit“. 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner und Hans Zwiefelhofer das Buch „Befreiende Theologie“ herausgegeben…)

Mystik als Betrug? Die populäre katholische Seherin Marthe Robin (Frankreich) wird vom glorreichen Sockel gestürzt.

Über ein mittleres Erdbeben in der frommen katholischen Welt.
Ein Hinweis von Christian Modehn

Da lebte eine schwer kranke Frau ans Bett gefesselt. Geboren 1902, gestorben 1981, ernährte sie sich – angeblich – seit 1930 von nichts anderem als der täglichen Hostie; sie erhielt himmlische Visionen, sie soll die Wundmahle Christi an ihrem Körper gehabt haben; wurde deswegen zur Attraktion für Fromme aus aller Welt, die zu Tausenden zu ihr strömten in ihr Haus in Chateuneuf-de-Galaure im Département Drome. Es wurden in ihrem Geist „Heime der Liebe“ („Foyers de Charité“) errichtet. Sie sind weltweit zu finden, auch in Österreich, sowie in Gunzenbach bei Aschaffenburg, aber sehr viele in Frankreich (etwa in Ottrott, Alsace) und Afrika und Lateinamerika. Die neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die Charismatiker (Gemeinschaft Emmanuel) oder die weltweit tätigen „Johannesbrüder“ verehren diese so genannte Mystikerin über alles…

Diese Seherin und Autorin viel gelesener mystischer Bücher heißt Marthe Robin. Ihre vielen VerehrerInnen setzten sich natürlich für die Seligsprechung ihrer Marthe ein, Papst Franziskus hatte ihr sogar schon einen „heroischen Tugendgrad“ bescheinigt. Nun sollte es bald so weit sein, dass sie vom Vatikan selig gesprochen werde, sozusagen als heiligmäßiges Vorbild auf die Höhe der Altäre gehoben, wie man so in katholischen Kreisen sagt.

Aber daraus wird nun nichts. Zumal auch die Priester, die so eng mit der Seherin verbunden waren, sexuellen Missbrauch praktiziert haben sollen: Der spirituelle „Vater“ der angeblichen Mysterikerin, Abbé Georges Finet, soll bei der Beichte die armen Sünder, vorwiegend Jugendliche, sexuell belästigt haben. Auch der Priester, der die Seligsprechung im Vatikan voranbringen sollte, Bernard Peyrous, musste erst mal zurückstecken, weil auch er angeklagt wird wegen der „gestes gravement désordonnés“, der schwer ungeordneten Verhaltensweisen also, im sexuellen Bereich, vermutlich.

Bislang war rund um Marthe Robin alles hübsch mit einem Heiligenschein umgeben. Nun kommt die große Ernüchterung: Und Beobachter sprechen von einem neuen, schweren Skandal, der in den kommenden Oktobertagen 2020 einmal mehr die katholische Kirche erschüttern wird: „Paris Match“ hat sich für den 8.Oktober schon mal exklusive Vorabdruck Rechte gesichert, berichtet die Pariser katholische Wochenzeitung „Témoignage Chrétien“,Paris, am 24.9.2020.
Am frühesten hat, ökumenisch sehr mutig, die bekannte protestantische Wochenzeitung „Réforme“ (Paris) am 20.9.2020 über die falsche Mystikerin berichtet. Und der Autor, Philippe Clanché, hat völlig recht, wenn er schreibt: „Die Mehrzahl der neuen spirituellen katholischen Bewegungen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, sind heute beschmutzt (souillés) durch die Freilegung des Autoritarismus oder des abweichenden sexuellen Verhaltens (also des Missbrauchs) ihrer Gründer.“ Ich habe diese vielfältigen Verirrungen dieser von Papst Johannes Paul so hoch verehrten neuen geistlichen Gemeinschaften auf der website religionsphilosophischer-salon.de dokumentiert. Diese Kreise sollten die so genannte „neue Evangelisierung“ befördern, haben aber oft nur Probleme und Irritationen geschaffen.
Der Autor der Wochenzeitung „Réforme“ fährt fort: „Und wir erfahren heute, dass eine der am meisten populären Heldinnen des frommen Frankreich nun offenbar von ihrem Sockel gestürzt wird“: Marthe Robin, die Betrügerin, umgeben von einem Kreis von Betrügern, die die Seherin hoch puschten, zur Heldin machten …um davon zu profitieren.

Am 8. Oktober 2020 soll also in dem angesehenen Verlagshaus „Editions du Cerf“ in Paris, das von den Dominikanern geleitet wird, ein Enthüllungsbuch erscheinen, über das bisher sehr wenig enthüllt ist: Nur so viel: Die hoch verehrte Mystikerin Marthe Robin (1902 -1981) aus Frankreich war eine Betrügerin. Ihre bewunderten und so außergewöhnlichen Visionen, die sie niederschreiben ließ und die als Bücher erschienen, sind tatsächlich keine außergewöhnlichen himmlischen Einsichten, sondern ganz banal und etwas raffiniert: Eben Plagiate! Abschriften von spirituellen Texten aus dem 19. Jahrhundert. In mühevoller Jahrelanger Arbeit hat das Prof. Conrad de Meester aus Belgien herausgearbeitet, er ist im Dezember 2019 gestorben. Er war ein angesehener Fachmann für Fragen der Mystik und Mitglied in dem auf Mystik sozusagen spezialisierten Orden der Unbeschuhten Karmeliten. Das Manuskript dieses Buches fand man in seinem Kloster in Belgien post mortem in seinem Schreibtisch.
Prof. de Meester zeigt in seinem umfangreichen Buch, dass die angeblich seit Jugendzeit ans Bett gebundene, kranke Marthe Robin doch wohl nicht gelähmt war, wie ihre VerehrerInnen glauben: Der Professor hat z.B. die Hausschuhe von Marthe Robin untersucht, und da zeigten sich „usures inexplicables“, unerklärliche Gebrauchsspuren.
Sehr viel mehr hat „Réforme“ bisher mangels Kommunikation mit dem Verlag nicht publizieren können, lediglich vom Verlag du Cerf wurde für einige Tage eine Pressenotiz im Internet sehr bedeutungsvoll verbreitet: „Dies ist eines der Investigations/Forschungs- Büchern, deren Erkenntnisse ein davor und ein danach markieren. Denn dieses Buch enthüllt eine etablierte Lüge, indem es jedes geheim gehaltene Urteil („raison“) demontiert, auseinandernimmt und auch jedes versteckte Netzwerk freilegt, weil es dessen Autoren, Komplizen und den Opfern die Masken abreißt („démasquer“).
Bemerkenswert ist, dass diese Pressemeldung des Verlages du Cerf noch am 22.9. 2020 auf der Website des Verlages von mir gelesen wurde. Heute, am 24.9.um 15 Uhr, ist diese Pressemeldung von der Verlagswebsite verschwunden! Es kann schon sein, dass gegen dieses monumentale Buch (von ca. 400 Seiten) gerichtlich vorgegangen wird oder dass es in einem nicht-katholischen Verlag erscheinen muss, weil die Dominikaner mit der Angst zu tun bekamen.

Denn Marthe Robin zu entthronen, bedeutet: Mystik als Betrug: Das ist schon „ein Skandal“, den viele kritische Beobachter schon bei dem heiligen Scharlatan Pater Pio oder der Seherin Therese Neumann von Konnersreuth entdeckten. Aber die katholische Kirchenführung hält wider besseren theologischen Wissens an diesem Wunderglauben, diesen Stigmatisierungen und Visionen etc., fest. Die Kirche glaubt mit diesem „Zeug“ die Spiritualität, den Glauben, in der säkularen Welt retten zu können. Aber die Menschen wollen Argumente für Gott, nicht spinöse Wundermärchen und Lügen.
Klar ist schon jetzt: Ein ganzes Werk, diese „foyers de charité“, erscheint in anderem, finsteren Licht von Betrug und Machenschaften…
Und die Menschen nehmen hoffentlich Abstand von einem mysteriösen Glauben, der mysteriös aufgebauscht wurde.

Das Interesse an einer authentischen Mystik, die gibt es ja noch manchmal (!), dieses Interesse bleibt. Meister Eckart oder Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz wird man wohl nicht des Betrugs überführen. Dafür sind ihre Texte echt.

Conrad de Meester, „La fraude mystique de Marthe Robin“. Editions du Cerf, Paris, soll, so Gott und der Vatikan wollen, am 8.10. 2020 erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Von den Abgründen der Seele und dem Wahnsinn der Politik: Francois Mauriac.

Die Abgründe der Seele und der Wahnsinn der Politik

Über den Schriftsteller Francois Mauriac
Hinweise von Christian Modehn

1.
Wer heute an den Schriftsteller Francois Mauriac erinnert, bezieht sich nicht auf eine Gestalt und ein Werk von vorgestern, wie dies jetzt gern behauptet wird! Mauriac ist doch erst vor 50 Jahren gestorben. Aber die Distanz – wie ist sie zu dieser nahen und doch fern wirkenden Zeit und ihrer Kultur mit dem Schriftsteller Mauriac zu verstehen? Unter den Jüngeren, zumal in Deutschland, ist Mauriacs Name kaum noch ein Begriff. Können Gedenktage wieder zur lebendigen Erinnerung, zum Denken, führen? Der Nobelpreisträger für Literatur (1952) Francois Mauriac wurde vor 135 Jahren, am 11. Oktober 1885 geboren und vor 50 Jahren, am 1.9.1970, ist er gestorben.
2.
Mauriacs Romane werden, selbst in seiner Heimat,in Frankreich, wie die Tageszeitung „La Croix“ (Paris) kürzlich schrieb, kaum noch gelesen, genauso seine Gedichte, auch seine Theaterstücke werden nicht mehr aufgeführt. Aus einem eher politischen Interesse werden seine berühmten, oft spitzen und polemischen, journalistisch – literarischen „Bloc-Notes“, seine „Notizblöcke“, neu herausgegeben, Notizen, die er über viele Jahre (von 1952 -1970) in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte (jetzt im Verlag Laffont als „Bouquins“ neu herausgegeben).
3.
Mauriac gehört prominent zu einer Epoche der französischen Kultur, die etwa von den 1930 Jahren an einen Aufschwung ganz eigener Art erlebte: Es gab damals in Frankreich parallel und dialektisch – disputierend verbunden mit der vorherrschenden säkularen, agnostisch – atheistisch und politisch oft kommunistisch orientierten Kultur eine starke, sichtbare und durchaus auch respektierte intellektuelle katholisch geprägte Literatur und Philosophie. Und dies in einem Staat, der bekanntlich seit 1905 von der Trennung von Kirchen (Religionen) und Staat bestimmt war, mit einer einflussreichen antiklerikalen Mentalität und militanten atheistisch – freidenkerischen Organisationen. Diese stark wahrgenommene Präsenz katholischer Schriftsteller, Journalisten und Philosophen in Frankreich von etwa 1930 bis 1970 ist aus heutiger Sicht nichts anders als erstaunlich zu nennen: Da gibt es Intellektuelle, die sich dem katholischen Glauben anschließen, von Bekehrungserlebnissen sprechen, obwohl sie wissen, welche konservativ – reaktionären Positionen im Vatikan vertreten werden. Schriftsteller, wie Mauriac, haben in ihren Werken zentrale Themen des Glaubens und der katholischen Dogmatik literarisch bearbeitet und individuell geformt. Und das haben damals viele Leser begeistert aufgenommen. Mauriac hat die Bürokratie der Kirche, die Verlogenheit ihrer offiziellen Theologie, öffentlich kritisiert, aber an seiner Verbundenheit mit der Institution Kirche im allgemeinen hat er dennoch festgehalten. Aus einem vielleicht letztlich „kindlichen“ Glauben, den ihm seine fromme Mutter vermittelt hatte…
4.
Aber: Ich denke, es gehört einfach zum Verstehen „unserer“ Gegenwart, den tiefen Bruch hinsichtlich der religiösen Mentalitäten im 20.Jahrhundert wahrzunehmen. Ich habe vor einigen Jahren auf spirituelle Aspekte heutiger französischer Literaten hingewiesen, aber es sind eben „nur“ spirituelle Aspekte, keine direkt christlichen, geschweige denn katholische. (Siehe den LINk: https://religionsphilosophischer-salon.de/10014_auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-gott-religioese-fragen-franzoesischer-schriftstellerinnen-von-heute_gott-in-frankreich)
Das ist eine Beschreibung von Tatsachen, keine Wertung, wobei natürlich zu fragen wäre: Welchen Anteil die katholische Kirchenführung über all die Jahre hat, dass sich eigentlich kaum noch ein französischer Intellektueller mit der Kirche und ihrer Lehre identifizieren kann. In Deutschland, ja in ganz Europa ist das genauso. Unter den großen französischen Historikern gab es bsi vor kurzem noch einige wenige bekennende Katholiken, wie Prof. Jean Delumeau, aber auch er hatte zur Kirche insgesamt ein gut begründetes kritisches Verhältnis.
Nebenbei: Das noch katholische Milieu Frankreichs ist heute geprägt von Angestellten und Beamten, Mitarbeitern aus der Wirtschaft und Technik … und sehr vielen Rentnern…
5.
Auch wenn nicht alle Romane Mauriacs explizit die Verbundenheit seiner ProtagonistInnen mit dem Thema Sünde, Gnade, Schuld, Strafe, Gottes Gericht bezeugen: Die innere Welt dieser „Mauriac-Menschen“ ist ohne die katholische Prägung des Autors nicht zu begreifen. Und das Erstaunliche ist ja, dass Mauriacs Romane damals auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurden, schließlich hat Mauriac 1952 für dieses sein katholisches Werk den Literatur Nobelpreis erhalten: „Für die tiefe spirituelle Reflexion und künstlerische Intensität, mit der seine Romane eingedrungen sind in das Drama des menschlichen Lebens“, wie es in der Begründung aus Stockholm heißt.
6.
Zu den Romanen: Der Theologe und hervorragende Kenner der Literatur, Pater Jean-Pierre Jossua aus dem Dominikaner – Orden in Paris, hat darauf hingewiesen: Es gibt nur wenige Romane Mauriacs, die nicht unmittelbar von Themen der christlichen Glaubenswelt und katholischen Tradition geprägt sind, dazu gehört wohl das Meisterwerk „Thérèse Desqueyroux“ (1927). Ein Roman, der die leere und moralisch miserable Welt in Mauriacs Heimat, Bordeaux und die Umgebung mit den großen Weingütern und deren Chateaux, beschreiDer Roman zeigt „la misère de l homme sans Dieu“, schreibt Mauriac und, wie Kritiker betonen, „die gefrorene Oberfläche der Seele“…Über die Protagonistin Thérèse Desqueyroux hat Mauriac später noch weitere Texte verfasst, wie „La fin de la nuit“ (1935)…
Als Meisterwerk gilt auch „Le Noeud de Vipères“ (Natterngezücht) von 1932, auch dieser Roman führt in das menschlich so zerstörerische bourgeoise Milieu, voller Bosheit, eine Welt, die Mauriac bestens kannte.
7.
Seine tiefe spirituelle Bindung an zentrale Dogmen der katholischen Kirche war für Mauriac überhaupt kein Hindernis, ausdrücklich für Reformen und Neuansätze in der französischen Kirche einzutreten. Insofern wird er durchaus zurecht als „linker Katholik“ dargestellt. Konflikte mit der Kirchenleitung scheute er nicht, sein literarisches, nicht exegetisches Jesus-Buch „Vie de Jesus“ (1936) zeigt den Mann aus Nazareth in seiner ganzen Menschlichkeit, was der auf „Göttlichkeit“ bedachten Hierarchie gar nicht gefiel und erwartungsgemäß Mauriac attackierte. Wichtig ist in dem Zusammenhang bis heute sein Vortrag „Die Nachahmung der Henker von Jesus Christus“, den er am 15. November 1954 vor der „Vereinigung katholischer Intellektueller“ (auch das gab es damals!) hielt und darin zeigte: Eigentlich sind die sich brav fühlenden Christen in ihrer rassistischen und kolonialistischen Haltung ebenfalls Henker („bourreaux“) wie die Misstäter, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Die sich katholisch nennenden Henker sah Mauriac damals in weiten Kreisen der französischen Politiker und Militärs, die etwa brutal den Freiheitswillen der Marokkaner niederknüppelten. Dieser Vortrag Mauriacs wurde erst 1984 als Buch veröffentlicht (bei Desclée de Brouwer).
Schon 1933 hatte sich der eigentlich konservativ geprägte Katholik Francois Mauriac aus großbürgerlichem Hause zum Verteidiger der Menschenrechte entwickelt, als er die Aggressionen Mussolinis in Äthiopien verurteilte und sich den links-katholischen und vatikankritischen Zeitschrift „Temps présent“ (ab 1937 mit einem Beitrag jede Woche auf der ersten Seite vertreten) anschloss. Heute werden diese Ideen fortgesetzt in der Revue „Parvis“ an der sich auch liberale Protestanten beteiligen. (https://www.reseaux-parvis.fr/)
8.
Ein eigenes Kapitel ist die Unterstützung Mauriacs für die in den 1940 bis 1950 Jahren „berühmten“, aber vom Vatikan letztlich verurteilten Arbeiterpriester. „Der Arbeiterpriester ist für Mauriac vor allem die Möglichkeit, das Christentum von der bourgeoisen Korruption zu befreien“ (zit. in dem großartigen von Jean Louis Schlegel u.a herausgegebenen Buch „A la Gauche du Christ“, ed. du Seuil, 2012, S.128 f). Mauriac kennt gut die Arbeiterpriester, etwa in der Wohngemeinschaft in Montreuil bei Paris mit André Depierre und Geneviève Schmitt. Er schätzt deren Versuch, einen nicht bürgerlichen Katholizismus mit den Arbeitern und den Armen zu leben. Aber, als Rom unter Papst Pius XII. im Jahr 1954 das „Experiment der Arbeiterpriester“ stoppt, ist Mauriac hin – und hergerissen zwischen der Treue zur Institution und dem von vielen anderen geforderten Widerstand gegen diese römische Entscheidung. Mauriac entschied sich dann doch für die Treue zur Institution. „Es ist ihm unendlich viel leichter, sein Talent zu entfalten im Namen der Caritas und der Gerechtigkeit, etwa in seinem Kampf gegen die Folter (von Franzosen ausgeübt) in Nordafrika als in der Anklage der katholischen römischen Bürokratie. In letzter Instanz führt ihn seine Gläubigkeit immer dazu, diese kirchliche Bürokratie zu rechtfertigen“ (a.a.O., S. 130).
9.
Mauriac, wie gesagt, großbürgerlicher, „bourgeoiser“ Herkunft und in einer letzten frommen Anhänglichkeit mit der Institution Kirche verbunden, war kein politisch militanter Verteidiger der Menschenrechte, sicher kein Linker, aber bekannt ist sein Einsatz zugunsten der Résistance. Wegen seiner Haltung in der Résistance gehörte er im Herbst 1945 zu dem „Conseil National des Ecrivains“ (CNE), der die Aufgabe hatte, mit dem Pétain Regime und mit dem französischen Nazis verbundene Schriftsteller zu überprüfen, zu „säubern“ und den Strafen zuzuführen, wenn sie denn Verbrechen der Okkupation begangen hatten. Mauriac gehörte zu diesem Kreis der mit den „Säuberungen“ Beauftragten neben Malraux, Camus, Sartre, Aragon und anderen. Er war in diesem Kreis des CNE eher ein Gemäßigter. Mit Claudel, Anouilh, Colette hatte er sogar ein – letztlich vergebliches – Gnadengesuch für den Nazi-Schriftsteller Brasillach unterschrieben. Brasillach wurde hingerichtet; ein anderer rechtsextremer Poet, Céline, konnte fliehen und wurde 1951 begnadigt. Unter de Gaulle wurde alles unternommen, Frankreich als Land der Résistance zu etablieren, was den Fakten nicht entsprach.
Interessant ist in dem Zusammenhang Mauriacs Beziehung zu Camus. Mauriac schätzte Camus, auch wenn es mit ihm Streit gab in der Einschätzung der épuration. Mauriac war überzeugt: Absolute Gerechtigkeit kann es in der Welt nicht geben. Anläßlich des plötzlichen Todes des großen Humanisten Camus konnte Mauriac nicht darauf verzichten zu sagen: „Schade, dass Camus kein Christ war“.
10.
Meine Hinweise haben nur an einige Aspekte im Werk Francois Mauriacs aufmerksam machen wollen. Über Mauriacs Verehrung für de Gaulle wäre zu sprechen genauso wie über die nun deutlicher diskutierte homosexuelle Neigung Mauriacs, die Jean Luc Barré in seiner „Biographie intime“ (im Verlag Fayard) ausführlich würdigt. Barré stellt auch die Frage, wie diese von Mauriac niemals öffentlich gemachte homosexuelle Neigung (er war bekanntlich verheiratet und hatte vier Kinder) das eigene Werk, die Romane etwa, verschwiegen, aber „strukturell“ auch prägt…Dass die tiefe Verbindung zum bourgeoisen Milieu und die von der Mutter vermittelte Abhängigkeit von der katholischen Lehre auch nicht gerade förderlich war für ein öffentliches Bekenntnis (Coming-out), ist auch klar. (vgl.: https://www.lemonde.fr/idees/article/2010/10/29/jean-luc-barre-mauriac-a-lutte-contre-le-feu-qu-il-portait-en-lui_1432937_3232.html)
11.
Um noch einmal an den Anfang dieser Hinweise zurückzukommen: Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist das „Verschwinden“ katholischer Intellektueller (Schriftsteller, Philosophen usw.) in Frankreich, aber auch in vielen europäischen Staaten im 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein philosophisch zu bedenkendes „Zeichen der Zeit“. In Paris wurde das schon erwähnte „Zentrum der katholischen Intellektuellen Frankreichs“ in der Rue Madame in Paris im Jahr 1977 aufgelöst… weil es so viele katholische Intellektuelle einfach nicht mehr gibt …Und vielleicht ist manch ein „säkularer“ Autor tatsächlich auch von „christlichem“, jesuanischen Geist geprägt…
Noch einmal: Für diesen hier nur angedeuteten kulturellen – religiösen Umbruch als Vertreibung Intellektueller aus der Kirche ist die katholische Kirchenführung, also der alles bestimmende Klerus, selbst mit verantwortlich: Sie hat sich über all die Jahre trotz mancher Reformen bzw. Reförmchen als hierarchisch-antidemokratische und letztlich auch Frauen- und Homosexuellen feindliche Institution etabliert. Sie hat die Kritik von Mauriac in seinem schon zitierten Vortrag über die „Nachahmung der Henker von Jesus Christus“ nicht beantwortet: „Ich bin wie besessen von all den Kreuzen, die immer noch errichtet werden von dieser blinden und tauben Christenheit…“(Seite 17). “Und der Lauf der Geschichte wurde nicht von Heiligen bestimmt. Sie haben zwar Herzen und Geist bewegt. Aber die Geschichte ist kriminell geblieben“ (Seite 21).
12.
Das Schloss und der Park der Domaine Malagar, Mauriacs „Landsitz“, ist heute das „Centre Culturel Francois Mauriac“ http://malagar.fr Oder: https://monumentum.fr/domaine-malagar-actuel-centre-culturel-francois-mauriac-pa00083896.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin