Philosophische Salons – die neuen Orte für Spiritualität, Lebenskunst und Religion

Anregungen anlässlich des 250. Geburtstages der ersten Saloninère in Berlin, Rahel Varnhagen.

Von Christian Modehn

1.
Gedenktage sind nicht nur Tage des Rückblicks und der kritischen Erinnerung, sondern auch Tage des Vorblicks: Der Blick in die (nahe) Zukunft soll von der Begrenztheit des Gegenwärtigen befreien und Neues soll konzipiert werden, Besseres, das die Routine traditioneller kultureller Praxis überwindet.
2.
So auch beim Denken an Rahel Varnhagen (17.5.oder 19.5.1771 bis 7.3.1833). Ihr großartiges Lebenswerk ist bekannt, wer es noch nicht kennt, sollte seine Bildungslücke alsbald schließen, Gelegenheiten gibt es ausreichend, auch im www. Dabei wird man sich auch auf die vielfältigen großartigen schriftstellerischen Leistungen Varnhagens konzentieren.
3.
Ich möchte hier nur an ihre bleibende Leistung erinnern, die mir von aktueller Bedeutung erscheint: Es ihre Gründung und Gestaltung von Gesprächsrunden, die dann später “Salons“ genannt wurden, also gesellige Zusammenkünfte mit hohem Gesprächsniveau, an dem sich unterschiedliche Menschen, meist Männer, beteiligten. Die Liste der „berühmten“ TeilnehmerInnen ist lang: Jean Paul, die Brüder Humboldt, Friedrich Schlegel, Heinrich Heine, Schleiermacher, Hegel usw. Die Gastgeberin, Rahel Varnhagen, leitete ihre Salons von 1790 bis 1806, und dann noch einmal von 1820 bis 1833. Die Zusammenkünfte in der Privatwohnung waren geprägt vom Geist der Aufklärung und damit der Vernunft, und damit auch der Toleranz: Diese Lebensphilosophie war bester Ausdruck ihrer zeitgemäßen jüdischen Spiritualität.
4.
An Rahel Varnhagen denken – das heißt heute: Nachdenken, wie denn diese offenen und von Vielfalt und Toleranz geprägten SALONS heute eine große Rolle spielen können. Dass es sozusagen „objektiv“ in der Gesellschaft einen Bedarf gibt an niveauvollem Gespräch und Austausch der verschiedenen Meinungen, braucht nicht bewiesen zu werden. Zumal die großstädtische Gesellschaft zerfällt förmlich in Inseln der Kommunikation der Gleichen, wenn nicht ohnehin die Isolierung und Einsamkeit des einzelnen beherrschend ist.
5.
Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat in seinem 1799 veröffentlichten Text mit dem Titel “Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” sich von den Berliner Salons inspirieren lassen und mit großer Dringlichkeit die Bedeutung der Salons unterstrichen.Vor allem werden dem Teilnehmer an Salon-Gesprächen “andere und fremde Welten nach und nach bekannt” und “auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse würden dem Menschen befreundet und nachbarlich”.
6.
Ich will nur daran erinnern, dass de facto in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, die alte Struktur der Kirchengemeinde sich auflöst: Gottesdienste werden gefeiert mit stets abnehmender Teilnehmerzahl. Aber wichtiger noch: Die Gesprächsangebote, die „Gruppen“, die Bildungsveranstaltungen in den Kirchengemeinden sind eher marginal. Und wenn sie noch stattfinden, müsste das intellektuelle und kritische Niveau geprüft werden. In den meisten Fällen bleiben diese Gruppen eher „homogen“ unter sich: Welcher Atheist, welcher Skeptiker, welcher Flüchtling, welcher ausländische Student usw. verirrt sich schon in einen üblichen Gemeindekreis? Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat eine christliche Gemeinde als Ort des Gesprächs und der Begegnung definiert, daran sollte man sich erinnern.
Nebenbei: Heute hat der herrschende Klerus in der katholischen Kirche Europas die Gemeinde zu Orten des Messelesen degradiert: Ein Priester eilt sonntags von einer Kirche zur anderen, um die Messe feiern, weil nur er, als Kleriker, beansprucht in der Lage zu sein, Eucharistie feiern zu können und zu dürfen. Und die wenigen verbliebenen Katholiken in den Gemeinden nehmen diesen Klerikalismus (noch) hin.
7.
In dieser Situation des kirchlichen Niedergangs haben die offenen Debatten über Spiritualität, Lebenskunst, Religion, Philosophie in Salons eine große Chance. Sie finden nicht unter einem Dach einer Kirche oder einer Religion statt, diese Salons sind undogmatisch, offen, plural, an der Vielfalt und dem Streitgespräch interessiert.
8.
Wer kann solche Salons eröffnen? Jeder und jede, der/die sich für kompetent hält, nicht nur einen angenehmen Gesprächsraum anzubieten, sondern auch thematisch die Abende zu gestalten. Ein Künstler lädt zu Gesprächen über Kunst ein, warum nicht auch zu religiöser Kunst? Ein Kenner der Romane oder eine geduldige Leserin von Poesie lädt zu literarischen Gesprächen ein, die ohnehin die grundlegenden Sinnfragen berühren. Ein Naturwissenschaftler lädt ein, über Natur, Naturschutz, Naturgesetze und Evolution oder gar „Schöpfung“ usw. zu sprechen.
9.
Nun leben in den großen Städten zumal auch viele TheologInnen, die noch als solche tätig sind oder längst andere Berufe (Coach etc.) haben: Warum laden sie nicht zu Gesprächen über „Gott und die Welt“ ein? Und die vielen Leute, die Philosophie studiert haben: Der philosophische Salon wäre in meiner Sicht die beste Form der Erinnerung an Rahel Varnhagen.
10.
Die Frage ist, ob die entsprechenden Herren und Damen des kulturellen Establishments die enorme Bedeutung der Salons erkannt haben. Interessieren sie sich mehr für die Opernhäuser und Theater als für die eher „kleinen“, aber feinen kulturellen Basisinitiativen, wie die Salons? Falls dies der Fall ist, sollten die kulturell verantwortlichen Politiker und auch die Hochschulen und Universitäten überlegen: Wie kann man in einer Art Grundkurs Salonnièren ausbilden und fördern? Wie können die Organisatoren auch finanziell unterstützt werden, ohne dass dabei die Salons in Abhängigkeit geraten?
11.
Über den seit 2007 bestehenden (wegen Corona seit einem Jahr „ruhenden“) „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ kann man sich informieren und vielleicht inspirieren lassen: LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Napoléon: Wenn sich ein gewaltiger Herrscher seine Kirche schafft und seinen Kult begründet.

Der Autokrat und seine Religion.

Ein Hinweis von Christian Modehn anlässlich des 200. Todestages Napoléon Bonapartes.

1.
Die Kirche des napoleonischen Staates
Die Beziehungen Napoléons zur Religion bzw. vor allem zur katholischen Kirche sind zwar nur ein Thema unter vielen „Napoléon-Themen“ anlässlich seines 200. Todestages am 5. Mai 2021.
Seiner politischer Leidenschaft und seinem unendlichen Streben nach Macht ist es gelungen, dem Kirche-Staat–Verhältnis in Frankreich eine neue rechtliche Struktur zu geben. Diese war zwar vor allem innerhalb der Kirche stets umstritten, sie blieb aber bis zur Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 bestimmend.
Napoléon war mit einer katholischen Kirche konfrontiert, die nach dem Ende der Herrschaft der Revolutionäre gespalten war. Nur ein Beispiel: Unter den Priestern gab es viele, die den „Treueid“ auf die Revolution und ihre Ideale geschworen hatten und im Rahmen der neuen revolutionären Kirchengesetze auch das Zölibatsgesetz als für sie ungültig erachteten. Und es gab Priester und deren Gemeinden, die antirevolutionär eingestellt waren und die alte Kirchenordnung mit ihren Gesetzen, vor der Revolution von 1789 respektierten.
Eine einheitliche Kirche in dem zentralistischen Staat Frankreich erachtete der Herrscher Napoléon als notwendig für die Sicherung des so genannten inneren Friedens. Hinzu kam, dass die oft verwüsteten Kirchengebäude mit staatlicher Hilfe wieder in einen brauchbaren Zustand versetzt werden mussten. Die Ausbildung von Priestern musste neu gestaltet werden genauso wie die finanzielle Sicherheit der Geistlichen. Und es musste geklärt werden, wer denn das letzte Wort zu sagen hat in der Ernennung der Bischöfe: Der Papst oder er, der Herrscher und spätere Kaiser Napoléon. Napoléon legte allen wert darauf, dass selbstverständlich er wie immer das letzte Wort habe.

2.
Das Konkordat
Diese Fragen wurden in dem Konkordat von 1801 entschieden, das Napoleon mit den päpstlichen Beamten ausgehandelt hatte. An diesem Vertragstext lag Napoléon sehr viel, weil er darin den Ausbau seiner Vormacht als politischer Herrscher gegenüber der geistlichen Gewalt des Papstes sichern konnte. Napoléon konnte so die alte französische Konzeption einer „Gallikanischen Kirche“ (also der von der politischen Herrschaft in Frankreich gesteuerten Kirche) durchsetzen. Die von der Revolutionsregierung 1790 beschlossene „Constitution civile du Clergé“ hatte der Papst 1791 verurteilt, sie war eine Art Zuspitzung der sozusagen „gallikanisch – revolutionären“ Kirche. Der Papst zur Zeit von Napoléons Herrschaft, Pius VII., hingegen stimmte im Konkordat mit Napoleon zu, dass er, der Herrscher, Bischöfe ernennt, die der Papst zur Ernennung bestätigt. Zu diesem Kompromiss war Pius VII. bereit, um das (Über)Leben der katholischen Kirche in Frankreich überhaupt zu sichern. Der päpstliche Unterhändler damals, Kardinal Consalvi, hatte sich mit seiner Forderung nicht durchsetzen können, dass der Katholizismus offiziell zur Staatsreligion erklärt wird. Napoleón bestimmte mit seiner Formel „Der Katholizismus ist die Religion der großen Mehrheit der Franzosen“ eine moderatere Form von Staatskirche, ließ aber Raum für andere Religionen und Kirchen, die gesetzlich geschützt waren. Die materiellen Güter des Klerus, die von der Revolutionsregierung eingezogen wurden, durften von der Kirche nicht zurückverlangt werden. Der Staat sicherte sich seinen Einfluss auf die Kirche durch die Gründung eines „Ministeriums für die (religiösen) Kulte“. Es koordinierte die Beziehungen des Staates zu den Bischöfen und zum Klerus, dieses Ministerium bestand bis zur Trennung von Kirche und Staat 1905. In der Zeit der Restauration unter Karl X., dem Bruder Ludwig XVIII., war sogar ein Bischof Minister, Mgr. Frayssinous. Höhepunkt des Strebens nach Allmacht war die Kaiserkrönung Napoléons in Paris 1804. Die Welt war Zeuge, wie Napoléon förmlich den Papst rufen darf, damit er dem Wunsch des Herrschers entspricht. Und Napoléon krönte sich selbst während der Papst – Messe in der Kathedrale Notre Dame zum Kaiser. Der Papst setzte ungerührt die Messe fort. Aber Pius VII. war nicht bereit, Napoléons Machtpolitik zu akzeptieren, als dieser Rom zum Teil des Französischen Staates erklärte. Der Papst bewies seine Macht, als er den Kaiser 1809 exkommunizierte…Förmlich als Bestrafung wurde der Papst als Gefangener nach Savona, dann 1812 nach Fontainebleau verschleppt. Nach der Abdankung Napoléons 1814 konnte Pius VII. nach Rom zurückkehren, dies wurde von der Bevölkerung wie ein Triumph gefeiert. Pius VII. war ein ungewöhnlich großzügig denkender Papst: Der Familie Bonaparte gewährte er in Rom Asyl, bei den Engländern setzte er sich für Napoléon ein. Pius VII., durchaus ein bemerkenswerter Papst!

3.
Der demokratische Priester Abbé Grégoire
Ein eigenes Thema, der Vertiefung wert, ist die Gestalt des Abbé Grégoire(1750-1831), der als hoch gebildeter philosophischer Theologe und Priester während der Revolution zum Bischof von Blois gewählt (!) wurde. Er kämpfte gegen das Konkordat, das Napoleón aushandelte, er war gegen Napoléon, aus seiner demokratischen Grundüberzeugung heraus. Aber der ließ den demokratischen Priester und Vorkämpfer der Rechte der Sklaven leben…

4.
Der Katholizismus stiftet die Einheit im Staat
Entscheidend ist: Für Napoleon als unumschränktem Herrscher, als Kaiser, als Diktator, als Militarist, war die katholische Kirche nur als Dienerin des Staates, seines Staates, wichtig und interessant. Die Kirche sollte sich ums Jenseits kümmern, meinte er und sich aus politischen Themen heraushalten. Für ihn galt absolut das Primat des Politischen. Es kam ihm auf die ideologische Einheit im Staat an, und diesen Zusammenhalt sollte auch die katholische Religion als „die Religion der meisten Franzosen“ befördern. Spaltungen innerhalb des französischen Katholizismus lehnte er ab. Darum unterdrückte er die „Petite Eglise“, verbreitet vor allem in der Vendée, die sich den Bestimmungen des Konkordates widersetzte und an der alten Kirchenordnung vor der Revolution festhalten wollten Deswegen lehnte Napoleon den Atheismus ab, denn der würde den Zusammenhalt im Staat zerstören. Auch jede Form eines wirren, unvernünftigen Aberglaubens war ihm suspekt. „Nur durch religiöse, d.h. katholische Bindungen kann die Anarchie im Staat verhindert werden“. Darin war er durchaus religionspolitischen Positionen der Reaktionäre, wie Metternich, verwandt. Auch die philosophisch geprägte religiöse Gemeinschaft der Theophilanthropen, die eine deistische, stark die Ethik betonende Position vertrat, konnte er nicht dulden. Und die Protestanten waren ihm nicht zuverlässig genug … wegen der protestantischen Vielfalt. Insgesamt fühlte er sich, auch darin sehr unbescheiden, von Gott selbst in diese höchste politische Führung berufen.

5.
Napoléon – ein frommer Katholik?
Napoleons persönlicher Glaube war vom Katholizismus geprägt, auch wenn er viele Sakramente, Riten, Gebräuche des Katholizismus für sich selbst ablehnte, erst auf der Insel Sankt Helena soll er wieder die Beichte geschätzt haben.
Zu dem Thema hat der Historiker Hannes Liebrandt (Helikon, 2014) einen längeren Aufsatz publiziert.
Liebrandt folgt der biographischen Entwicklung: Bonaparte wurde von einer sehr religiösen, katholischen Mutter erzogen, als Jugendlicher und während der militärischen Ausbildung schätzte er eine allgemeine, wenig katholisch bestimmte Verehrung Gottes. Wenn er später, als Kaiser, an der katholischen Messe teilnahm, dann wohl eher, um einen guten Eindruck als Politiker zu machen und nicht aus innerer katholischer Bewegtheit. Im ganzen gesehen, so Liebrandt, kann zwar von einer Grundtendenz der katholischen Bindung und Frömmigkeit Napoléons gesprochen werden, aber ein definitives Urteil ist unmöglich. Wie so oft im Falle Napoléons, der insgesamt eine zwiespältige Person ist, egozenrischstes Machtstreben ist wohl seine einzige eindeutige Qualität.

6.
Der kaiserliche Katechismus
Ausdruck des maßlosen Wahns Napoléons, sich auch als religiöser Führer zu präsentieren, ist die Veröffentlichung des „Kaiserlichen Katechismus“ (1806), der als katholisches Lehrbuch überall in Frankreich Verwendung finden und zu einer exzessiven Verehrung des Kaisers führen sollte: Die Priester waren verpflichtet etwa diese widersinnigen Sprüche zu Ehren des Diktators zu lehren: „Les chrétiens doivent aux princes qui les gouvernent et […] en particulier à Napoléon Ier, notre Empereur, l’amour, le respect, l’obéissance, la fidélité, le service militaire, les tributs ordonnés pour la conservation et la défense de l’Empire et de son trône ; nous lui devons encore des prières ferventes pour le salut et pour la prospérité spirituelle et temporelle de l’Etat […] Honorer et servir notre Empereur est donc honorer et servir Dieu lui-même. […]“ „Die Christen schulden den Fürsten, die sie regieren und besonders Napoléon I., unserem Kaiser, Liebe, Respekt, Gehorsam, Treue, den Militärdienst, schulden ihm die befohlenen Abgaben zur Erhaltung und Verteidigung des Kaiserreiches und seines Thrones. Wir schulden ihm glühende Gebete für seine Gesundheit und Gebete für das spirituelle und zeitliche Glück des Staates. Unseren Kaiser zu ehren und ihm zu dienen bedeutet iatsächlich Gott selbst zu ehren und ihm zu dienen“.
Quelle: https://archives.var.fr/article.php?laref=11129&titre=decret-du-19-fevrier-1806-instaurant-la-fete-de-la-saint-napoleon-et-le-retablissement-de-la-religion-catholique-1-k-48-
Dieses religiöse Lehrbuch ist ein politischer Katechismus, er erinnert an ähnliche Lobeshymnen religiöser Art, die andere Diktatoren zu ihrem Ruhm anordneten, etwa die Gebete, die zum Wohl Marchall Pétains formuliert wurden oder die politisch – religiöse Verehrung, die bei jeder Messe zugunsten des widerwärtigen Diktators Trujillo in der Dominikanischen Republik geleistet werden musste. Das Thema „theologische Selbsterhöhung der Diktatoren“ zu vertiefen, wäre spannend und wichtig.

7. Der heilige Napoléon
Das staatliche Fest des heiligen Napoléon (ein Märtyrer unter Kaiser Diokletian) wurde auf Befehl des Kaisers Napoléon eingeführt, selbstverständlich am Geburtstag von Napoléon Bonaparte, also am 15.8. (Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Saint-Napol%C3%A9on).
Napoléon bezog sich bei diesem seinem Fest (mit Prozessionen im Freien) auf einen Heiligen Neopol bzw. Neopulus. Rom hingegen hat abgelehnt, diesen wirklichen Heiligen mit einem eher konstruierten Heiligen „Napoléon“ in Verbindung zu bringen. Darum wurde dieser Kult um den Heiligen Napoléon endgültig 1870 abgeschafft, lediglich in Ajaccio auf Korsika, dem Geburtsort von Bonaparte, soll es noch eine gewisse Verehrung für den heiligen Napoléon geben.
Es ist in gewisser Weise eine Ironie, dass Napoléon Bonaparte den Kult um einen heiligen Napoléon einführte, der als Widerstandskämpfer gegen den Kaiser ermordet wurde! Eins steht fest: Ein heiliger Napoléon ist eine politisch – theologische Erfindung! Aber die führenden Bischöfe und ihre Priester in Frankreich damals machten diesen theologischen Blödsinn gern und unterwürfig mit!(Quelle:https://www.cairn.info/revue-historique-2012-3-page-609.htmhttps://www.cairn.info/revue-historique-2012-3-page-659.htm, ein Beitrag von Vincent Petit).

Wichtig ist auch das Buch von Werner Telesko, Wien 1998:, „Napoleon Bonaparte. Der moderne Held und die bildende Kunst“. 1811 als Buch, 513 Seiten.

8.
„Napoléon und Jesus
Im März 2021 ist in Paris ein erstaunliches Buch erschienen, mit dem Titel „Napoléon et Jésus“, der Untertitel, ins Deutsche übersetzt: „Die Thronbesteigung eines Messias“. Autorin ist die junge Philosophin Marie-Paule Raffaeli-Pasquini, erschienen ist das Buch in dem katholischen Verlag (des Dominikanerordens) Editions du Cerf, Paris. Die Autorin will zeigen, dass sich Napoléon selbst in der Rolle eines Messias sah, dessen Werk ewig währt. Unterstützt wurde er in dieser maßlosen Selbsteinschätzung auch von der Verehrung, die ihm, wie einem heiligen Objekt, entgegengebracht wurde. Zahlreiche Gemälde, auch viele populäre Chansons und literarische Hymen bestätigen diesen Trend. Dass dabei auch von katholischer Seite Widerspruch kam, ist selbstverständlich. Einige Pfarrer verglichen den maßlosen Anspruch des „Christus – Napoléon“ mit drohenden Aussagen des biblischen Buches der Apokalypse (etwa zum Antichristen).
In jedem Fall: Napoléon wollte mit sich selbst als Monarchen noch einmal den von Gott gesandten Herrscher lebendig werden lassen. Die Autorin bezieht sich in ihrer ausführlichen Analyse auf ein so genanntes Mémorial, das auf St. Helena von Emmanuel Las Cases, Politiker und Napoléon – Freund verfasst wurde. Zu der genannten Neuerscheinung: Ein Interview mit der Autorin, veröffentlicht von der „Fondation Napoléon“ : https://www.napoleon.org/magazine/interviews/marie-paule-raffaelli-pasquini-napoleon-et-jesus-avril-2021/

9.
Sein bürgerliches Gesetzbuch
Es mag ja sein, dass sich Napoléon für eine Art zweiten Christus gehalten hat oder der Nachwelt dies bloß einreden wollte. Tatsache ist aber auch, dass er ein Egomane, eine Gewaltherrscher war, ein Freund des Krieges und des Mordens. Dass er die Ideen der Freiheit verbreitete, zumal in Deutschland, ist eine Tatsache. Einige zentrale Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, hat er in Deutschland und Holland durchsetzen können aufgrund seines „Code civil“, des bürgerlichen Gesetzbuches, das 1804 in Frankreich in Kraft trat. Dieses Gesetzbuch enthielt bürgerliche Freiheitsrechte für männliche (!) Bürger, es sicherte die Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz des Privateigentums usw. Wegen dieser Haltung, der Vollendung der Ideale der Französischen Revolution, wurde Napoléon auch von G.W.F. Hegel geschätzt, selbst wenn er seine jugendliche Begeisterung für den französischen Herrscher im Alter bremste…

10.
Ein rassistischer Gewaltherrscher
Es ist eine Tragik in der Menschheitsgeschichte, dass einige richtige Ideen manchmal von Gewalttätern vertreten werden. Und es ist eine Schande, dass diese Herrscher nicht in der seelischen Reife leben, sich selbst, persönlich, an die propagierten Ideale zu halten. Dadurch werden die politischen strukturellen Beschädigungen nur fortgesetzt. Und es ist wohl auch, gelinde gesagt, hoch problematisch, wenn eine Nation, Frankreich, auch heute noch meint, sich immer noch in dem dunklen Glanz dieses Napoléon sonnen zu können. Äußerliche Größe des Autokraten wird als nationale Größe verstanden, was für ein Wahn. Die Debatten um die Dekolonisierung werden das rassistische Gesicht Napoléons deutlicher machen. Man wird die Menschen zum Beispiel in Haiti fragen, was sie vom brutalen Kolonialherren denkenn

11.
Wann verschwindet der Text der “Marseillaise”?
Die maßlosen Feierlichkeiten, gewundenen Festreden und offiziellen Erinnerungen (Ausstellungen) an den Autokraten Napoléon jetzt, die ebenso maßlose Begeisterung der vielen Napoléon Forscher und Napoléon Publizisten, allein in diesem Jahr werden mindestens 100 neue Bücher über ihn in Frankreich erscheinen, all das zeigt: Es gibt eine gewisse Erstarrung in der französischen Kultur. Es ist dieses Sich-Klammern an alten, falschen Glanz der angeblich großen Nation. Das deutlichste Beispiel dafür ist für mich immer noch die selbstverständliche Praxis, diese Nationalhymne, die “Marseillaise” auch mit dem unsäglichen Text heute noch zu singen bzw. zu schmettern. Warum nur sind alle Versuche selbst “prominenter” Leute gescheitert, diese Marseilaise mit diesem verrückten Text in den Kellern histoischer Museen verschwinden zu lassen? Darauf gibt es bisher keine Antwort. Es ist wohl diese Macht der Gewohnheit, die so verstörend, so gefährlich ist. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wie christlich war das „christliche Europa“?

Ein zentrales Thema französischer Historiker und Religionssoziologen
Ein Hinweis von Christian Modehn

Vorwort:
Man sollte nicht vergessen, mit welchen Bravour und Penetranz der polnische Papst Johannes Paul II. (er regierte von 1978 bis 2005) sein Programm „Wir brauchen (wieder) ein christliches Europa. Wir brauchen eine Neu-Evangelisierung Europas” öffentlich überall äußerte! Das christliche Europa (gemeint war immer das katholische unter päpstlicher Leitung) beschwor er: Es war explizit nicht das liberale, also demokratische Europa! Dieses galt in päpstlicher Sicht als das relativistische und konsumistische Europa. Und es war auch NICHT das sozialistische Europa, sondern ein Europa, das sich „auf seine Wurzeln“, wie Johannes Paul II. gern sagte, besinnt … und entsprechend, vergangenheitsbezogen, handelt. Diese Wurzeln waren für den Papst das christliche Menschenbild, wie er es deutete, also der Mensch als Ebenbild Gottes. Und dieser Gott hat seine Rechte, Gottesrechte, sie waren für den Papst immer wichtiger waren als die Menschenrechte, die auf der Autonomie des Menschen (Kant) allen Wert legen. Gottesrechte kann bekanntlich allein die katholische Kirche deuten! Dieses alte Europa in der Phantasie des Papstes hat so nie bestanden, darin sind sich die Historiker einig. Aber der Papst brauchte diese Propaganda und Illusion, um kirchliche, d.h.klerikale Macht in Europa durchsetzen zu können. Die von ihm so geliebte neuen geistlichen Bewegungen (Opus Dei, Neokatechumenale, Legionäre Christi, Emmanuel, Communione e liberazione und andere) waren und sind noch immer die „Kampftruppen“ der neuen Evangelisierung Europas. (vgl. zu dem Themenkomplex die Studien in dem Buch „Le Reve de Compostelle“, Edition Centurion, Paris, 1989).
Man sieht an dem Vorwort einmal mehr auch die kirchenpolitische und religionskritische Relevanz unseres Themas…Und muss sich erinnern, wie sehr etliche der Führer und Gründer dieser neuen geistlichen Gemeinschaften inzwischen des sexuellen Missbrauchs bzw. des spirituellen Missbrauchs angeklagt und z.T. überführt wurden…

1.
Die Frage: „Wie christlich waren eigentlich die sich christlich nennenden Europäer?“ ist ein umfassendes Forschungsprojekt, wenn man die Kulturen Europas verstehen will.

Aber welche Kriterien sollen gelten, um die Christlichkeit der Europäer oder Europas „festzustellen“?
Da gibt es einerseits die Kriterien, die in den Dogmen der Kirchen vorgegeben sind: Danach ist christlich der Mensch, der an den Sakramenten teilnimmt und regelmäßig am Gottesdienst, der Hl. Messe,  und gehorsam die Weisungen der jeweiligen Hierarchie befolgt usw. Ethische Kriterien, etwa Friedfertigkeit, Toleranz für Andersdenkende, diakonisches Engagement usw. spielen dann eine untergeordnete Rolle. So kann man allen Ernstes lesen, das europäische Mittelalter und die Neuzeit seien christlich gewesen, weil Kathedralen errichtet wurden und fromme Orden durch viele tausend Mitglieder florierten und die Leute Pilgerfahrten unternahmen. Welch fromme Zeiten…Weniger Beachtung finden dabei die Kreuzzüge, die Ketzerverfolgung, die Judenverfolgung, die Missachtung und Tötung von Homosexuellen, die Degradierung von Frauen, die Hexenverbrennungen, die auch kirchlich geduldete Sklaverei und der Kolonialismus und so weiter.
Man sieht also, das Kriterium zur „Messung“ der Christlichkeit Europas, das sich an den Dogmen der Kirchenführung orientiert, ist höchst problematisch.
Aber ist eine Alternative als Kriterium so viel überzeugender, die betont: Respektieren wir die unterschiedlichen Glaubensformen und religiösen Praktiken, die etwa im Mittelalter und der Neuzeit und auch heute vorhanden sind. Und schätzen wir diese bunte und unüberschaubare Vielfalt als normal und üblich ein. Seien wir also „liberal“ und freuen uns über Astrologie und Teufelskult, über trinitarischen Glauben und antitrinitarischen Glauben, über Marienkulte und Wunderglauben, über Reliquienverehrung und Glossolalie usw. Wer als Kriterium einfach nur die bunte Vielfalt nimmt und diese gut und richtig findet als erfreuliche Pluralität aller nur denkbaren Glaubensformen, wird kaum dazu neigen, irgendeinen Augenblick der europäischen Geschichte als „Verlust des Christlichen“ bzw. als Böüte des Christlichen. zu bewerten. Religion war ja schließlich immer „irgendwie“ vorhanden.
Weiter führt und richtig ist nur ein Kriterium, das NICHT den Religionen und ihren Dogmen entnommen ist, sondern das aus der allgemeinen Vernunft stammt. Gemeint sind der auch politisch realisierte Respekt und die tatsächliche Förderung der Menschenrechte. Das ist das entscheidende Kriterium, um eine Epoche christlich oder weniger christlich zu nennen. Was als Kriterium säkular, weltlich, auf den ersten Blick erscheint, ist de facto eng gebunden an die Ethik Jesu, die im ethischen humanen Handeln den besten Gottesdienst sah und dann förmlich als Fortsetzung in der philosophischen Ethik etwa von Kant fand.

2.
Historiker und Soziologen, die noch den dogmatischen Vorgaben der Kirchen folgen, um eine Gesellschaft christlich zu nennen, verdienen trotzdem unsere Aufmerksamkeit. Denn die Ergebnisse der Historiker und Religionssoziologen müssen sich noch öffentlich, auch in den Kirchen, herumsprechen. Denn sonst besteht das Vorurteil weiter: „Früher waren die Menschen in Europa gläubiger/religiöser als heute“. Soweit man Religiosität eines Menschen überhaupt von außen „feststellen“, also an äußerer religiöser Praxis messen kann: Die These vom christlichen Abendland, bevölkert von dogmatisch und moralisch „hundertprozentigen Christen“, ist falsch. Die Leidenschaft etwa der katholischen Inquisition reagiert bereits auf diese Situation, dass in der Sicht der Kirchenführung eben nur einige als zuverlässige dogmatische Christen eingestuft werden können.
Dese Erkenntnis wirft ein ganz neues Licht auf die vielbesprochene Säkularisierung des Bewusstseins in den letzten Jahrhunderten. Aber was ist der Unterschied zwischen dem weit verbreiteten religiösen Desinteresse im 17. und 18. Jahrhundert und der Säkularisierung und dem Atheismus des 19. und 20. Jahrhunderts? Das muss noch untersucht werden.

3.
Hier geht es zunächst um Darstellung einiger wesentlicher Tatsachen, die die Geschichtswissenschaften bisher vermitteln.
Ich beginne mit Bernhard Groethuysen und seiner umfassenden Studie „Die Entstehung der bürgerlichen Welt und Lebensanschauung in Frankreich“, die zuerst 1927 in Halle erschienen, dann bei Suhrkamp 1978 veröffentlicht wurde. Nur einige zentrale Erkenntnisse können hier aus dem 2. Band dieser Studie vorgestellt werden. Groethuysen bezieht sich auf die Einschätzung des Bürgertums durch die katholische Kirche Frankreichs im 18. Jahrhundert. Und er zeigt die Verbindung, wie mit der Ablehnung des aufstrebenden Bürgertums durch die herrschende Kirche die Bürger sich in dieser Kirche nicht mehr „wohlfühlten“, verstanden fühlten und deswegen in eine radikale Distanz zur Kirche und der Kirchenlehre traten. Die Kirche hatte sich festgelegt auf „eine ein für allemal fixierte Gesellschafts – Ordnung“ (S. 195), die keinen Raum ließ für eine Verbindung des Glaubens mit den Idealen der aufstrebenden Bürger. Die Kirche verurteilte deren Willen, auch finanziell erfolgreich zu sein, etwa durch die Praxis des Geldleihens mit der Zahlung von Zinsen. Die Kirche wollte verhindern, dass der nach (ökonomischem) Erfolg strebende Bürger „über die ihm vorgezeichneten (ewigen) Grenzen hinausstrebt“ (197). Veränderungen, zumal Revolutionen, waren die größten Übel für diese Kirche. Welche Konsequenzen ergaben sich? Groethuysen schreibt: „Der Bürger braucht die Religion nicht mehr. Er hat ihre Lehren nicht eigentlich verworfen, wohl aber hat er sich ein Leben gebildet, das außerhalb des religiösen Vorstellungskreises verläuft. Religion bedeutet für ihn Vergangenheit, sie stellt sich als etwas dar, was am Leben selbst unwahr geworden ist“ (206). „Der Bürger will vor allem ein ehrlicher Mann sein, es kommt ihm nicht mehr darauf an, als frommer Mann zu gelten“ (ebd.) Und das gilt im Frankeich des 18. Jahrhunderts! Die Pfarrer und Theologen damals, so schreibt Groethuysen ausführlich, kommen zu der Überzeugung: „Die Bürger leben außerhalb des Christentums, und es könnte manchmal so scheinen, als seien sie überhaupt niemals Christen gewesen“ (S. 208). Dabei steht fest: Den Maßstab des Christlichen liefert die Kirchenführung! Aber der ehrliche Bürger könnte doch, wenn er ehrlich ist und seine Mitmenschen nicht schädigt, durchaus elementare humane und christliche Werte leben. Aber das kann und will die Kirchenführung nicht sehen und anerkennen. Groethuysen fasst die Überzeugung des nicht – kirchlichen Bürgers zusammen: „Der Bürger bedarf der kirchlichen Vorstellungswelt nicht mehr. Er findet in seinen eigenen Anschauungen und Wertungen und nur in ihnen das, dessen er bedarf, um das gesellschaftlich – wirtschaftliche Leben zu regeln und seine Ansprüche zur Geltung zu bringen.“ (210).
Damit, so müsste weiter geprüft werden, wurde der Bruch und Widerspruch eingeleitet zwischen einer Moral der kapitalistischen Wirtschaft und einer religiösen, traditionell christlichen Ethik. Weil diese sich dem Bürgertum gegenüber als total abweisend verhielt, wurde christliche Ethik später, auch selbst in reflektierter Form, als Gestaltungskraft des maßlos werdenden Kapitalismus ignoriert.

4.
Einige empirische Studien:
Wer anschauliche, eher journalistische Einschätzungen zur Religiosität der Pariser Bevölkerung wenige Jahre vor der Revolution 1789 studieren möchte, dem empfehle ich Louis Sébastien Merciers Werk „Mein Bild von Paris“, auf Deutsch, als Auswahl, als Insel Taschenbuch 1979 erschienen. Die französische Ausgabe „Tableau de Paris“ umfasst 2.400 eng bedruckte Seiten. Mercier, gesellschaftskritischer Autor und Romanschriftsteller, lebte von 1740 bis 1814 in Paris.
In der genannten deutschen Ausgabe gibt es unterschiedliche empirische Beobachtungen und Notizen. Etwa ein Kapitel mit dem Titel „Messen“. Darin beschreibt der Autor, wie die vielen und viel zu vielen Priester in Paris dort ihre (lateinischen, still gesprochenen) Messen „daher beten“ (S. 134), um Geld zu verdienen. Für die Messen müssen die Gläubigen bezahlen, die Messen gelten dem ewigen Seelenheil eines verstorbenen Angehörigen. Aber, so beobachtet Mercier, die Teilnahme an diesen Messen geschieht ohne religiöse Betroffenheit. Den ganzen religiösen Kultus hält kaum noch ein gebildeter Pariser für erwähnenswert, geschweige denn für berührend und wichtig. „Wer heute über die Messen herzieht, riskiert im schlimmsten Fall, sich lächerlich zu machen… Witze über die Messen machen höchstens noch Friseurgehilfen. Soll sie zelebrieren, soll sie hören, wer sie mag. Zu reden gibt es gar nichts mehr über die Messen“, so Mercier (S. 137). Über den sehr lebendigen Aberglauben, dem die Frommen in einem Reliquienkult anhängen, schreibt er in einem Kapitel über die „Sainte Chapelle“ (110 f). Das Niederknien selbst in schmutzigen Straßen wird als Ausdruck einer oberflächlichen Frömmigkeit beschrieben, wenn ein Priester die Straße entlanggeht, sichtbar einen Kelch vor sich hin tragend, um Todkranken die Kommunion zu reichen. Dafür kassiert der Mitarbeiter oder der Ministrant dann im Haus des Sterbenden das Honorar. Eine interessante Beschreibung über die Riten, die man Sterbenden zukommen ließ… Mercier schreibt über den damals selbstverständlichen Zwang, regelmäßig zur Beichte zu gehen, wenn man denn eine kirchliche Trauung wünscht (331). Im ganzen beobachtet Mercier: Die meisten Beichtenden sind noch teils frömmelnde teils aufrichtige Bürgersfrauen, verschiedene Greise … sowie „Dienstmägde, die – gingen sie nicht zur Beichte – von ihrer Herrschaft als Diebinnen verdächtigt würden“ (330). Aufschlussreich ist auch das Kapitel „Sonn – und Feiertage“ (235 ff). „Die Kirchen bleiben also, abgesehen von den großen Feierlichkeiten, deren prunkvolles Zeremoniell noch immer eine gewisse Anziehungskraft ausübt, ziemlich leer“ (236).

5.
Als ein universal gebildeter „Mentalitätshistoriker“ hat Jean Delumeau (1923 – 2020), zuletzt Professor am Collège de France, die „Christlichkeit“ Europas studiert. Vor allem in seinem Buch „Stirbt das Christentum?“ (Walter Verlag, Olten, 1978), hat er sich mit dem gelebten, alltäglichen Christentum an der Basis auseinander gesetzt. Er kommt zu dem Gesamtergebnis: Es geht um eine vergangene „Welt, die, obwohl faktisch fast jedermann in einer Kirche hineingeboren wurde, immer ein christliches Missionsgebiet gewesen ist“ (S. 12). Mit anderen Worten: Die getauften Christen waren de facto Heiden wie in einem Missionsgebiet. Zu der Einschätzung kann Delumeau nur kommen, weil er als praktizierender Katholik die Kriterien der Christlichkeit von der kirchlichen Dogmatik übernimmt. Und er findet Unterstützung bei dem bekannten Mittelalter-Historiker Jacques Le Goff, der betont:“ Die Christenheit um 1500 ist beinahe ein Missionsland“ (S. 32). Dieses christliche Europa „war eher eine autoritäre Konstruktion, ein gemeinsamer Rahmen für die Völker, als der bewusste Glaube der Massen an die Offenbarung“ (S. 46). In einem Vortrag über „Christenheit und Christianisierung“ im Jahr 1984 hat Delumeau erneut das Thema aufgegriffen, die katholisch-theologische Zeitschrift „Theologie der Gegenwart“ hat den Vortrag 1985 zugänglich gemacht. Die Veröffentlichung in Deutschland geschah sicher auch deswegen, weil Delumeau die besorgten Theologen des 20. Jahrhunderts beruhigen wollte. Denn seine zentrale These auch aus seinen anderen Studien lässt sich so zusammenfassen: “Heute sind eigentlich viele Europäer besser christlich gebildet als zu Zeiten der angeblich blühenden Christenheit früher“.

6.
Aber schon bald, spätestens 20 Jahre nach Delumeaus Studien, haben französische Religionssoziologen mit vielen Fakten dokumentiert gezeigt: Die Säkularisierung des Bewusstseins der Europäer spitzt sich heute förmlich zu. Während Delumeau noch ein Fragezeichen hinter seinen Buchtitel „Stirbt das Christentum?“ setzen konnte, so verwenden heute Religionssoziologen und ehrliche Theologen eher ein Ausrufungszeichen hinter diesen Titel: Ja, das Christentum, verstanden als dogmatische Organisation der großen Kirchen, stirbt langsam. Und dazu gibt es zumal in Frankreich viele sehr erhellende Studien vor allem von Religionssoziologen und Historikern. (Man denke etwa an eine Studie „Les Francais sont – ils encore catholiques?“ (hg. Von Guy Michelat u.a.), Paris 1991)

7.
Der Historiker Prof. Guillaume Cuchet hat 2018 seine Studie veröffentlicht “Comment notre monde a cessé d etre chrétien“ („Wie unsere Welt aufgehört hat christlich zu sein“). Das Buch mit dem Untertitel „Anatomie eines Zusammenbruchs“ bezieht sich auf die Situation in Frankreich, erinnert etwa an den Philosophen und Mathematiker Blaise Pascal, der schon im 17. Jahrhundert betonte: „Das authentische Christentum ist immer eine Sache einer Minderheit gewesen“. Oder an den dänischen Philosophen Kierkegaard wird erinnert, der im 19. Jahrhundert betonte: “Das Christentum existiert eigentlich nicht …Was ist das im Grunde für eine furchtbare Komödie im ganzen Land, das sich christlich nennt“ (zit. s. 12). Cuchet wendet sich dann aber sehr ausführlich einer langen Liste von Studien einer auch kirchlich orientierten Religionssoziologie zu, die alle Leidenschaft darauf verwendet(e), Statistiken zum Gottesdienstbesuch in den unterschiedlichen Regionen Frankreich während vieler Jahre zu erheben. Ausführliches Kartenmaterial wurde über all die Jahre angelegt, etwa von dem bekannten Religionssoziologen und Priester Fernand Boulard. „Keine Kirche in der ganzen Welt hat sich (wie die katholische Kirche in Frankreich CM) zu derartigen Übungen der soziologischen Selbstanalyse hingegeben“ (S. 26).
Wer versucht, angesichts der vielen, immer wieder neuen Studien eine Art Gesamteinschätzung zu formulieren, muss erkennen: Die in Frankreich viel besprochene „déchristianisation“ (Entchristlichung) hat sehr früh schon begonnen, schon vor dem Beginn der 3. Republik und den Gesetzen der laicité. Schon im 17. Jahrhundert wird dokumentiert, wie in bestimmten Regionen Frankreichs die getauften Katholiken sich von der Kirche distanzieren (vgl. S 75). Auch auf die Bedeutung der Religionsgesetze der Französischen Revolution muss hingewiesen werden. Dort, wo die Priester die “Zivilkonstitution für dem Klerus“ ablehnten, also die Revolution verurteilten, blieb die religiöse Praxis erhalten. Aber das ist nur ein Element für die Kirchenbindung. Wichtig bleiben vor allem die regionalen Unterschiede der kirchlichen Bindung in Frankreich: Es gab und gibt immer noch stark kirchlich bestimmte Gegenden, wie die Vendée oder die Bretagne UND auch Départements, in den die kirchliche Praxis de facto Null ist, wie im Département Creuse, das übrigens als einziges Département Frankreichs keinen eigenen Bischof hat (der zuständige Bischof sitzt in Limoges). Im Département Creuse “betreut” z.B. 1 Priester in 6 Pfarrgemeinden für ca. 200 Dörfer… Aber das am Rande.

8.
So sehr man auch, verglichen mit dem schwachen Stand der Religionssoziologie in Deutschland, überrascht ist, von der Fülle auch statistischer Studien und spezieller Karten in Frankreich: Die Frage, warum diese Kirche, die sich selbst „älteste Tochter der Kirche“ nennt, nun offensichtlich an ihr zahlenmäßig sichtbares Ende kommt, wird von Religionssoziologen nicht umfassend beantwortet. Dies ist eine theologische und religionswissenschaftliche Frage. Emmanuel Todd und Hervé Le Bras betonen in ihrer Studie „Le Mystère francais“ (2013), dass der französische Katholizismus als System von Glaubenshaltungen und Riten außerhalb eines begrenzten städtischen und eher auf Rentner bezogenen Milieus verschwinden könnte. (S. 83 im Buch von Cuchet). Warum? Die emanzipatorischen Bewegungen des Mai 68 werden als ein Grund genannt, auch innerkatholische Entwicklungen, wie die „Pillenenzyklika“ „Humanae Vitae“. Aber es wird nicht deutlich gesagt: Ein entscheidender Grund für das Verschwinden des katholischen Glaubens in Frankreich und anderswo in Europa sind die starre dogmatische Haltung der Kirchenführer, die Überforderungen eines vor allem alten, wenn nicht greisen Klerus, das Festhalten am klerikalen System, der Ausschluss der Frauen vom Amt sowie in den letzten Jahren: Die vielen nachgewiesenen „Fälle“ sexuellen Missbrauchs durch Priester und die Vertuschungen durch Bischöfe.

9.
Die Menschen, „ehemalige Kirchen-Mitglieder”, bleiben oft an der kulturellen, alten Welt des Katholizismus interessiert, etwa an den prächtigen gotischen Kathedralen und Klöstern, den lateinischen Gesängen und Arbeiten der Künstler. Aber wenn sich in dem Zusammenhang eine Glaubenshaltung entwickelt, dann ist sie nicht mehr oft auf die Organisation Kirche bezogen. Sondern aus solchen „kulturell – katholischen“ Erfahrungen in Kathedralen bildet sich jeder und jede dann seine individuelle Spiritualität. Die man allein lebt und bedenkt oder in kleinem privaten Kreis bespricht. Nach dem Besuch der Kathedrale kann dann selbstverständlich anschließend ein Zen-Buddhistischer Kurs besucht werden oder eine Yoga-Gruppe. Vielleicht auch einen philosophischen Zirkel, in dem die Bibel als ein Buch der Weisheit gelesen wird. So verändert sich die christliche Religion grundlegend, nicht nur in Frankreich. Verschwindet sie auch? Das sicher nicht. „Die Religion zieht um“, hat ein holländischer Theologe einmal gesagt. Nur: Die katholische Kirche beobachtet hilflos ihr eigenes langsames Verschwinden. Sie ist nicht imstande, von such aus undogmatische Gesprächskreise für die vielen Menschen anzubieten, die nach dem Sinn des Lebens fragen, vielleicht auch nach Gott, die aber keine Kirchenbindung mehr ertragen können….wohl aber dringend menschliche Gemeinschaften für ein reifes geistiges Leben suchen.
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Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Elend, nackt und bloß. Jesus am Kreuz. Der Text einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn.

Der TEXT der Ra­dio­sen­dung “Elend, nackt und bloß. Jesus am Kreuz. von Chrostian Modehn

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GOTT UND DIE WELT
Elend, nackt und bloß – Jesus am Kreuz Sendung am 2.4.2021
Eine Sendung von Christian Modehn

Redaktion: Anne Winter
Sprecher: Markus Hoffmann
Regie:Roman Neumann

1. Musik, Statio I, 1 Lachrimae tristes (Jordi Savall)

1. O TON, Bachl
Das Kreuz ist in unserer christlichen Kulturwelt, in unseren Räumen, doch weit-hin ein Möbel geworden. Zwar ein Möbel mit einer gewissen Ehrfurcht behandelt, es ist ein Möbel, ein hübsches Ausstattungsstück für eine Wohnung. Wenn das Kreuz etwas ist in der Kultur, dann ist es der Querbalken in der Kultur.

1. Musik

2. O TON, Sander
Man identifiziert sich mit jemandem, der ohnmächtig ist. Und das ist eine ganz schwierige Identifikation. Weil man sich damit mit seiner Ohnmacht auch aus-einandersetzen muss. Von daher ist die Auseinandersetzung mit dem Gekreuzigten immer auch das Zu-sich-Selber-Finden in die eigenen Abgründe hinein.

1. Musik

3. O TON, Manfred Richter
Die Nacktheit war verbunden mit gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Und je mehr die Hinfälligkeit des irdischen Lebens bewusst wurde, hat man diesen Aspekt des ausgegrenzten Christus als Trost verstanden

1. Musik

Titelsprecherin:
Elend, nackt und bloß – Jesus am Kreuz
Eine Sendung von Christian Modehn

2. Musik, Statio VI, Spiritu Morientis

Sprecher:
Der katalanische Komponist Jordi Savall kann seinem Entsetzen über das Sterben Jesu nur musikalisch Ausdruck geben. In der Sprache der Musik äußert er die Gefühle der Freunde Jesu, erzählt von ihren Tränen, dem Schluchzen, dem Schrei des Entsetzens.

2. Musik

Sprecher:
Jordi Savall lässt sich von einem Gemälde des italienischen Meisters Caravaggio inspirieren. Es hat den Titel „Kreuzesabnahme Christi“ und wurde im Jahr 1603 für eine Familienkapelle in der Kirche Santa Maria in Vallicella zu Rom geschaffen: Der fast nackte Leichnam Jesu wird von Joseph von Arimathäa, einem treuen Jünger, und von Johannes, dem Apostel, sanft gehalten, bevor er ins Grab gelegt wird. Maria von Magdala verbirgt inmitten der Trauernden ihr Gesicht, sie will ihre Verzweiflung nicht zeigen. Maria, die Mutter Jesu, wendet sich, vom Schmerz bewegt, noch einmal ihrem verstorbenen Sohn zu. Dessen rechter Arm, reglos und schlaff, berührt bereits das Grab. Der Apostel Johannes ist so verwirrt, dass er beim Heben des Leichnams in Jesu offene Wunde greift. Sie wurde verursacht, als die römischen Soldaten das Herz durchbohrten. Diese Szene wird von einem schwarzen Hintergrund beherrscht. Die Trauerden stehen wie vor einer undurchdringlichen Mauer. Der Kunsthistoriker Dominique Fernandez schreibt:

Zitator.:
Es ist ein nicht mehr zu steigerndes, ein absolutes Schwarz. Ein solches Drama ist eigentlich unbegreiflich, unsäglich, jenseits jeglicher Form.

Sprecher:
Jesus von Nazareth hängt leblos am Kreuz, ausgeblutet, qualvoll verendet an diesem Todes-Balken, mit dem die Römer in ihrem Imperium gewöhnliche Verbrecher, politische Fanatiker und Rebellen hinrichteten. Seit mehr als tausend Jahren beherrscht diese Szene das Christentum und seine Kirchen. Jeder Altar braucht sein Kruzifix. Christen verehren den geschundenen Heiland in seiner Todesstunde, ein Motiv, das auch Künstler immer wieder beschäftigt. So wird der Schmerzensmann in alle nur denkbaren Landschaften platziert, in Städte, Häuser, Kirchen.

3. Musik Statio I, Deploratio I,

Sprecher:
Jeder Künstler nimmt auf seine Weise das Kreuzesgeschehen wahr. Raffael und Rembrandt, Tizian und El Greco, Hieronymus Bosch und Rubens, Altdorfer und Caravaggio, um nur einige prominente Maler des 16. und 17. Jahrhunderts zu nennen, schaffen alles andere als dokumentarische, gar historisch korrekte Arbeiten. Sie bieten dem Betrachter ihre Sicht des Kreuzweges; sie interpretieren ihren Kalvarienberg und ihre Kreuzesabnahme und Grablegung. So können die Gläubigen immer wieder einem neuen Antlitz des Gekreuzigten begegnen. Aber immer wird ein fast nackter Jesus gezeigt, bemerkt der Salzburger Theologe Hans – Joachim Sander:

4. O TON, Sander
Der nackte Jesus am Kreuz ist eine Demonstration, und zwar die Demonstration einer Ohnmacht. Der Gekreuzigte selbst, der dann im Mittelpunkt rückt, das ist die Darstellung eines zerstörten, zerbrochenen Männerkörpers, der einer politischen, religiösen Konstellation zum Opfer gefallen ist. Und damit das Zurschaustellen, das Ausstellen, das Aussetzen eines ohnmächtigen Menschen.

3. Musik

Sprecher:
Für die Christen der ersten Jahrhunderte war das Kreuz noch nicht das entscheidende Symbol ihres Glaubens. Sie hatten vielmehr eine große Scheu, die Gestalt Jesu von Nazareth bildhaft darzustellen. Der Berliner Theologe und ehemalige Leiter des Kunstdienstes der evangelischen Kirche Manfred Richter hat sich mit dieser Frage befasst:

5. O TON Manfred Richter
Man hat nun, jahrhundertlang, also die erst zwei bis drei Jahrhunderte lang, keine Bilder gehabt. Man hatte keine gebauten Gottesdienststätten. Man ist in den Hauskirchen zusammen gekommen. Und dann hat man ganz andere Motive für Jesus verwendet, wie der gute Hirte, der das Lämmchen auf der Schulter trägt, den verlorenen Menschen. Für die Christenheit, für die Jüngerschaft, war es ein Skandal erster Ordnung, dass der, auf den sie gesetzt hatten, am Kreuz wie ein aufbegehrender Rebell hingerichtet wurde in entehrender Weise. Die Hinrichtung hat ja außerhalb der Stadt stattgefunden, also an einem unreinen Ort.

Sprecher:
Der elend ans Kreuz Geschlagene, der soll der Erlöser sein? Er soll der Gottmensch sein, dem alle Ehre gebührt? In den ersten Jahrhunderten nach Christus stellten die Gebildeten, vor allem die Philosophen, diese Fragen. Sie konnten die positive Antwort der Christen nicht nachvollziehen und fanden sie eher merkwürdig. Erst unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert gelang es, die breite Öffentlichkeit umzustimmen und für die Verehrung des Gekreuzigten zu gewinnen. In den neu gebauten Kirchen, den Basiliken, wurde dann ein Kreuz besonderer Art gezeigt: Es verzichtete auf den Corpus, den Leichnam Jesu. Die riesigen Mosaike präsentierten voller Stolz den neuen Herrscher, den Gottmenschen Jesus Christus: In der Apsis der römischen Kirche Santa Pudenziana ist ein entsprechendes Mosaik noch heute zu sehen. Der Kunsthistoriker Horst Schwebel schreibt:

Zitator:
Das neue Christusbild des 5. Jahrhunderts greift auf die Darstellungen des Kaiserbildes zurück. Die Kirche, Basilika genannt, wird zur Königshalle des himmlischen Kaisers Christus. In Purpur gekleidet sitzt er auf dem Globus als Symbol für den Kosmos. Bis in die Zeiten der romanischen Kunst wird Jesus hoheitsvoll dargestellt, finster blickend, aber den Sieg Gottes verheißend.

3. Musik

Sprecher:
Im Mittelalter verlangten die Menschen nach anderen Bildern. Seit dem 11. Jahrhundert setzt sich die Überzeugung durch: Dieser machtvoll herrschende Christus ist viel zu abweisend! Er hat kein Mitgefühl. Die Erfahrungen von Leid, Krieg und Gewalt waren so einschneidend, dass nur der mitleidende Jesus, der Schmerzensmann am Kreuz, eine Antwort auf die letzten Lebensfragen sein konnte. Ein demütiger Mann, wie ihn die Evangelisten beschreiben, in einer armseligen Krippe im Stall geboren. So elend, nackt und bloß wie er auf die Welt gekommen war, so endete er auch, einsam am Kreuz. Diesem Jesus will Franziskus von Assisi nachfolgen, der Sohn einer reichen Tuchhändlerfamilie. Er befreit sich im Italien des 12. Jahrhunderts von seinen bisherigen Überzeugungen und wirft im Moment seiner Bekehrung tatsächlich alles von sich, sagt Pater Cornelius Bohl, der Provinzial des Franziskanerordens in München:

7. O TON, Pater Cornelius Bohl,
Franziskus trennt sich von seinem Vater, er gibt ihm also alles zurück, selbst die Kleider, die er hat. Und sagt eben: Bisher habe ich dich meinen Vater genannt, aber jetzt habe ich nur noch den Vater im Himmel. Er steht nackt vor dem Vater und vor der ganzen Stadt, und das wird zum äußeren Zeichen auch seiner radikalen Trennung von seinem bisherigen Leben. Also wenn er sich von den Kleidern trennt, die auch einen Stand ausgedrückt haben, die Reichtum bedeutet haben, die gesellschaftliche Stellung ausgedrückt haben, dann trennt er sich nicht nur vom Vater, sondern von diesem ganzen System, in das er hineingeboren ist; ein System, das auf Macht basiert, auf Geld, all das lässt er los, um etwas ganz Neues zu beginnen.

Sprecher:
Franziskus von Assisi gründet eine Ordensgemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die sich zu einem Leben in radikaler Armut verpflichten. Viel weiter noch reicht seine Anregung, die allen Christen gilt: Sie sollen den leibhaftigen, den historischen Jesus verehren, vor allem sein Leiden am Kreuz.

4. Musik

Sprecher:
Seit dem 14. Jahrhundert werden Kreuzesdarstellungen immer beliebter, sie zeigen einen von Schmerzen gekrümmten Jesus, festgenagelt am Balken des Todes, nackt bis auf ein Lendentuch. Diese Darstellung setzt sich endgültig durch. Nur einmal und bloß für kurze Zeit, präsentieren Künstler einen schönen Gekreuzigten. Michelangelo zum Beispiel will in der Renaissance, im 15. und 16. Jahrhundert, für einen anderen Christus werben: Einen wunderschönen Jüngling, einen idealen Menschen, der gelassen und vom Schmerz unberührt am Kreuz seinem Tod entgegen sieht. Michelangelo hat als junger Künstler für die Augustinerkirche in Florenz eine viel beachtete Skulptur eines schönen nackten Jesus geschaffen und später für die Sixtina in Rom nackte Leiber der Heiligen gemalt. Dabei ließ sich auch Michelangelo von biblischen Impulsen leiten, meint Pater Cornelius Bohl:

8. O TON, Cornelius Bohl
Die Nacktheit ist eigentlich der natürliche Zustand, der paradiesische Zustand des Menschen, der Mensch, der so ist, wie er von Gott geschaffen ist, der sich nichts vormacht, der anderen nichts vormacht, der sich nicht verstecken muss, auch durch Kleider nicht verstecken muss. Weil er sich annehmen kann, auch von Gott angenommen ist. Also Nacktheit ist gut und Nacktheit ist paradiesisch.

Sprecher:
Je mehr sich jedoch die genaue Kenntnis der biblischen Erzählungen durchsetzte, umso deutlicher wurde: Von ästhetisch gefälliger Schönheit kann bei Jesus nicht die Rede sein. Sein Lebensende heißt Leiden, Blut, Schmerz, Einsamkeit. In Zeiten von Pest und Hungersnot stand dieser Schmerzensmann den Menschen näher als ein wohlgeformter Jüngling am Kreuz, sagt der emeritierte Professor für katholische Dogmatik Gottfried Bachl:

09. O TON, Gottfried Bachl
Das, meine ich, müsste man auch sich vergegenwärtigen: Die Hässlichkeit Jesu in ihren verschiedenen Brechungen. Ich meine damit nicht den charakterlichen Mangel oder dass er unsympathisch gewesen sei oder abstoßend gewesen sei. Ich meine damit seine wirkliche Querlage zu dem, was wir gemütlich nennen, hübsch, zu all dem, was wir mit einer gewissen Lust über unser wirkliches Leben hinweg schmieren und zumachen und verniedlichen.

Sprecher:
Ein hübscher Jesus, der selbst am Kreuz noch eine gute Figur macht – das hätte den Sterbenden im Hospiz von Isenheim im Elsass wohl kaum gefallen. Sie suchten den verständnisvollen Freund, ein Vorbild auch im Leiden. Sie waren überzeugt: Wer an Jesus Christus glaubt, wird wie er den Tod überwinden. Matthias Grünewalds Wandelbild des Gekreuzigten des Isenheimer Altars von 1515 zeigt Jesu’ ganze grauenvolle Qual. Doch wenn die Kranken den Hingerichteten genauer betrachteten, konnten sie in dem Gemälde durchaus Trost und Hoffnung erkennen, erklärt Pfarrer Manfred Richter:

10. O TON, Manfred Richter
Wenn man mal beobachtet, gerade bei Grünewald, dass der Lendenschurz, zugleich geschwungen gezeigt wird, dass er nämlich quasi spricht. Das ist das Zeichen, dass sein Leiden sprechend ist und einem Zuspruch bedeutet. Als Trost ja. Als Zuspruch erst mal der Leidenden, die also da im Krankenhaus diesen Christus vor Augen hatten, dass er wie sie leidet, und durch dieses Leiden hindurch die Irdischkeit hinter sich gelassen werden kann.

Sprecher:
In einer religiös geprägten Kultur gab es für die Menschen keine Zweifel: Die Kreuzesdarstellungen verweisen auf die Lebensgeschichte Jesu. Es gilt also, sich bewusst zu machen, wie er in Palästina aufgetreten ist. Dann werden überraschende Erkenntnisse geschenkt, meint der Jesuitenpater Klaus Mertes:

11. O TON, Klaus Mertes
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, also dass Jesus ganz offensichtlich jemand ist, der ich sagt. Also er predigt nicht über Dinge, sondern er spricht über sich. Wenn er zum Beispiel sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Dann sagt er nicht: Ich verkündige euch die Auferstehung und das Leben. Sondern er sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Was ich zu sagen habe, zeige ich durch das, was ich bin. Durch mein Sein. Also ich habe nicht etwas im Kopf, was ich euch sagen will, sondern ich zeige euch, was ich lebe, ich zeige euch, welche Menschen ich liebe, ich zeige euch, welche Dinge mich verletzen. Ich zeige euch, was meine Sehnsucht ist. Das ist meine Verkündigung. Es ist ein Sprechen durch Sein mehr als durch Worte. Und das ist die tiefere Nacktheit bei Jesus!

5. Musik: Spiritum Morientis

Sprecher:
Vom Kreuz Jesu kommen die Künstler nicht los, selbst wenn sie nicht mehr im Dienst der Kirchen stehen. Seit dem 18. Jahrhundert kommt es kaum noch vor, dass ein Bischof oder gar ein Papst einen angesehenen, aber kirchenkritischen Maler mit einer Arbeit beauftragt. Und auch die Kirchengemeinden sind selten bereit, auf den üblichen Gebrauchskitsch der Kunsthandwerker zu verzichten und sich ein wirkliches Kunstwerk zu leisten. Wenn seit dem 18. Jahrhundert Künstler ihren Schmerzens-mann malen, dann nur aus ihrem eigenem, individuellen spirituellen Interesse. Lovis Corinth hat die Schrecken des Ersten Weltkrieges überstanden. Er sieht das Gemetzel noch Jahre später vor sich, die Leichenberge, die zerfetzten Köpfe der Soldaten. 1922 malt er ein außergewöhnliches Bild. Es zeigt einen völlig blutbespritzten Christus mit Dornenkrone, dem ein Mann eine Lanze in die Brust rammt.

12. O TON, Manfred Richter
Lovis Corinth: Der rote Christus, da wird der existentiell bis zum Letzten zerrissene und kaputt gemachte Mensch, wie er im Ersten Weltkrieg erlebt werden konnte, und im zweiten auch erst recht, dargestellt. Und dieser Lovis Corinth Christus ist rot und Fleisch, wie Francis Bacon in drastischerer Weise die Zerrissenheit der menschlichen Figur, darstellt. Da ist noch mal ein neuer Typus der Christusbesinnung da, die ihn aber mit uns, mit unserem zeitgenössischen Schicksal, in engste Verbindung bringt.

Sprecher:
Lovis Corinth ist nicht der einzige Künstler, der überzeugt ist: Dieser leidende Jesus lebt heute, er ist gegenwärtig. Auch andere Künstler wie Max Beckmann oder Arnulf Rainer, Francis Bacon, Georges Rouault, Alfred Hrdlicka und Herbert Falken haben den Schmerzensmann gemalt. Und etliche gehen soweit, dass sie sich mit dem sterbenden Jesus identifizieren. Der Schweizer Maler Louis Soutter war dem Ende nahe, seelisch zerrüttet, von der eigenen Familie abgeschoben in ein Heim. Nackt und auf dem Boden kauernd, hat er dort 1935 seinen persönlichen Heiland Jesus am Kreuz gemalt, sagt der Kunstexperte Pater Friedhelm Mennekes:

13. O TON, Pater Mennekes
Er hat die Christusgestalt immer wieder gemalt, ans Kreuz geheftet. Aber es sind Christusgestalten von einer unglaublichen Spannung und Dichte, bei denen sich zeigt, dass hier an der Gestaltung dieser Figur ein Mensch um sein Über-leben als vernünftiger Mensch kämpft, wie ein Mensch im Malen des Christus Trost und Lebensmut erringt, erzeichnet. Am Ende seiner Tage mit bloßen und sogar blutigen Händen. Wir verdanken ihm die ersten Fingermalereien, ohne Pinsel, sondern direkt mit der flachen Hand und den bloßen Fingern gemalt: Das Entscheidende an seinem Christusbild ist, dass hier ein Maler im Zeichen des Christusbildes für sich eine dauerhafte Hoffnung errungen hat und die Therapie: dass er nicht in die völlige geistige Umnachtung zurückfiel.

Sprecher:
Kann man sich ein solches Christusbild über dem Altar vorstellen? Gehören künstlerische Darstellungen des nackten Jesus am Kreuz in die Mitte eines Kirchengebäudes? Darüber wird kaum noch gestritten: Viele Gemeinden begnügen sich mit einem Kruzifix nach der Art der Schnitzwerkstätten von Oberammergau. Anders die evangelische Gemeinde in Berlin – Plötzensee. In den 1960er Jahren hatte ihr damaliger Pfarrer Bringfried Naumann den Bildhauer und Maler Alfred Hrdlicka aus Wien eingeladen, für diese Berliner Kirche ein umfangreiches Werk zu schaffen, den Plötzenseer Totentanz. Mit diesem Auftrag wollte die Gemeinde auch bezeugen, wie stark sie von der Nachbarschaft zur ehemaligen Hinrichtungsstätte der Nazis in Plötzensee betroffen ist. So entstanden mehrere große Tafeln, in schwarz –weiß gehalten. Auf einer Arbeit wird auch die Kreuzigung Jesu gegenwärtig. Sein Leichnam ist total nackt, erläutert der heutige Pfarrer Michael Maillard:

14. O TON, Michael Maillard
In dem Hinrichtungsschuppen in Plötzensee gibt es einen Stahlträger mit Haken dran. An dem wurden Hitlergegner mit einer Schlinge um den Hals herum gehängt. Ein sehr grausamer Tod. Dann hat Alfred Hrdlicka gesagt, er möchte die Kreuzigung Jesu in diesen Kontext stellen. Obwohl er ansonsten auf diesem Bild Klassisches darstellt, Jesus in der Mitte mit Dornenkrone und anderen Zeichen, die wir aus der biblischen Überlieferung kennen, rechts und links die beiden Verbrecher, mit denen er zusammen hingerichtet worden ist. Bei uns ist er völlig nackt dargestellt, die beiden Schächer auch. Es soll dargestellt werden, dass die Leute, die da hingerichtet wurden, aller Würde entblößt worden sind. Und das passiert heute in Gefangenenlagern, Foltercamps, immer noch.

Sprecher:
Auch hier bricht das Grundmotiv moderner Künstler durch: Jesu Leiden ist keineswegs nur ein Ereignis der Vergangenheit; seine Kreuzigung geschah gestern und geschieht heute in den Hungerregionen Afrikas oder den Todeslagern Nordkoreas. Aber, so will Alfred Hrdlicka sagen, schaut genau hin! Dann werdet ihr Lebensmut empfangen: Denn dieser Jesus, der Gerechte, verhält sich sogar sterbend noch wie ein Erhabener:

15. O Ton, Michael Maillard
Auf der Kreuzigungsdarstellung des Plötzenseeer Totentanzes fällt auf, dass die Christusfigur die Fäuste nach oben reckt, die Hände der beiden anderen Gehängten hängen schlaff nach unten. Aber die Christusfigur hat Kraft in den Händen. Das ist auch sehr wichtig. Da hat Alfred Hrdlicka, das ist überliefert, an Menschen gedacht, die nach dem Todesurteil aufrecht, ungebrochen, in den Hinrichtungsschuppen gegangen sind. Und gewusst haben, eigentlich sind sie die Sieger, und nicht der Freisler, der sie gerade zum Tode verurteilt hat, weil sie das Richtige gemacht haben und den richtigen Weg gegangen sind.

6. Musik: Lacrimae Tristes

Sprecher:
Ist der irdische Tod das absolute Ende? Diese Frage kann bei der Auseinandersetzung mit dem Kreuz Jesu gar nicht ausbleiben. Aber die Hoffnung auf eine Überwindung des Todes stellt sich bei modernen Künstlern nicht so schnell ein. Hrdlicka denkt zwar an den Auferstandenen. So malt er eine Szene der Emmausjünger: der lebendige, auferstandene Jesus teilt mit seinen Freunden das Brot – doch das tut er im Dunkel einer Gefängniszelle. Ein optimistisches Bild ist das nicht. Und dennoch scheint auch Hrdlicka zu sagen: Inmitten des Grauens gibt es Spuren des Lichts, der Hoffnung. An dem Thema hat sich auch der weltweit bekannte Joseph Beuys abgearbeitet. Als spiritueller Mensch war er von der geistigen Präsenz des Gottmenschen Christus in der heutigen Wirklichkeit überzeugt. Selbst noch in den hässlichen Abstellkammern der Kliniken, wo Schwerkranke mit dem Tod kämpfen, gibt es für ihn Hoffnungsschimmer. Eine seiner Installationen nannte Joseph Beuys „Zeig mir deine Wunde“, sagt der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes.

16. O Ton, Pater Mennekes
Beuys ist ja wirklich einer, der tief davon überzeugt ist, dass auch die Welt der Todeszonen, wie etwa ein Sezierraum, umgriffen ist, von einer Welt, die durchpulst, durchseelt ist, ist von der Christussubstanz.

Sprecher:
Wer sich mit dem Kreuz Jesu meditativ betrachtend auseinandersetzt, sucht Antworten auf seine spirituellen Interessen. Es geht um die Frage, wie man angesichts des Todes persönlich reifen und wachsen kann. Die Beschäftigung mit dem nackten Jesus am Kreuz eröffnet dann Möglichkeiten, sich selbst authentisch wahrzunehmen, sagt Pater Klaus Mertes:

17. O TON, Klaus Mertes
Ich kann dem nackten Gott nicht begegnen, wenn ich selbst bekleidet bleibe. Eigentlich habe ich immer das Christentum so verstanden, dass es ein Bekenntnis zur eigenen Nacktheit ist. Und zur Nacktheit Gottes in mir. Und nur in dieser Nacktheit begegne ich Gott.

Sprecher:
Wer dieser Sichtweise folgt, wird im Blick auf den sterbenden Gottmenschen die Fragwürdigkeit des Daseins erkennen, meint Pfarrer Manfred Richter:

18. O TON Manfred Richter
Es ist die condition humaine, die Grundbefindlichkeit des Menschen, die und das ist ja die Stärke der zeitgenössischen Kunst, die darauf verzichtet, jetzt eine definitive Antwort zu geben, sondern das ist ein so lauter Schrei oder eine so totale Stille, dass du selbst aufgerufen wirst, eine Antwort zu suchen. Aber nicht zu schnell, denke erst mal nach.

Sprecher:
Aus der Kraft des Innehaltens, der Unterbrechung und des Nachdenkens im Angesicht des Kreuzes wächst dann eine neue Spiritualität: Sie braucht keine glanzvollen, keine entzückenden Bilder und wortreichen Lehren. Sie wird als christliche Religion selbst einfach, nackt und bloß!

Titelsprecherin:
Elend, nackt und bloß – Jesus am Kreuz
Sie hörten eine Sendung von Christian Modehn
Es sprachen: Markus Hoffmann und Steffen Brück
Ton: Martin Seelig
Redaktion: Anne Winter
Regie: Roman Neumann

Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen, aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email: religion@rbb-online.de. Und zum Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter Kulturradio.de

Charles Baudelaire – 200. Geburtstag.

Ein Poet – auch des Religiösen?

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum an Charles Baudelaire erinnern? Sein 200. Geburtstag am 9. April 2021 ist ein willkommener Anlass, an ihn zu denken, sein Werk zu lesen, auch als einen Zeugen des religiösen Umbruchs, der vom 19. Jahrhundert aus bis heute bestimmend ist. (Baudelaire ist am 31. August 1867in Paris im Alter von 46 Jahren gestorben).
Baudelaire ist ein Meister der Poesie, seine Worte überraschen, führen ins Fragen, stören und verstören. Er spricht von der Transzendenz, von Gott, aber nicht nur von einem guten Gott. Der göttliche Tyrann ist ihm genauso nahe wie das Böse. Baudelaire erlebt, wie Bindungen an die herrschende katholische Religion schwinden und eine neue spirituelle Pluralität entsteht
Er ist ein Poet der Widersprüche, auch in seiner politischen Haltung. Den Aufstand der Arbeiter im Juni 1848 unterstütze er, den erzreaktionären Autor und Politiker Joseph de Maistre respektierte er.
Dass die Poesie eigenständig ist und sich nicht unmittelbar einem Zweck zur Verfügung stellen darf, ist seine bleibende Einsicht.
Als Poet erlebt er radikal die sozialen Umbrüche in seinem 19. Jahrhundert. Er ist erschüttert über den radikalen Umbau von Paris, er sieht, was die Herrschaftsarchitektur (von Haussmann betrieben) anrichtet, also auch das Vertreiben der Armen aus dem Zentrum der Metropole.
In seiner Poesie will er nichts „Fremdes“ wiedergeben, sondern nur die eigenen inneren Erfahrungen zu Wort bringen. Seine Gedichte (auch seine „Poesie als Prosa“) finden kaum Zustimmung, werden als Skandal empfunden von einer sich moralisch korrekt fühlenden „Elite“.
Baudelaire lebt also in einem Moment spiritueller wie politischer Konfrontationen. Es ist ein Pluralismus, den manche als Durcheinander der Orientierungslosigkeit deuten. Das Negative, Belastende, Ausweglose, Ungewisse beherrscht das Lebensgefühl. Den Zustand der Gegenwart, die von den Herrschern als gut und von Gott gewollt ausgegeben wird, ist auch für ihn nur eine systematische Form der Unterdrückung.

2.
Charles Baudelaires Vater Joseph-Francois Baudelaire war katholischer Priester (geb. 1759, gestorben 1827), aber schon während der Revolution gab er im Jahr 1793 sein Priesteramt auf. Der Sohn wird in katholischen Schulen und Internaten erzogen. Dort ist die Prügelstrafe noch üblich, Baudelaire hat den damals unverschämten Mut, sich dagegen öffentlich zu wehren. Das Zusammenleben der Menschen, von Gewalt geprägt, erlebt er als krankhaft, pathologisch.

3.
In dieser Welt muss Baudelaire als Poet leben. Er gerät in finanzielle Abhängigkeit, weil Lyrik, Dichtung, Literatur ins Feuilleton der Zeitungen verwiesen werden und damit dem launischen Geschmack der Massen ausgesetzt sind. Was der Masse nicht passt, wird eben nicht gedruckt…

4.
Als Poet will er zeigen, wie dann „mitten im Schmutz“ auch die Blumen, das Schöne, entstehen kann. In einem seiner Gedichte (Epiloge der „Blumen des Bösen“) sagt Baudelaire (wie in einem Anklang an Alchemie?) über Paris: „Tu m` a donné ta boue, j en ai fait de l or“ („Du hast mir deinen Dreck gegeben, ich habe daraus Gold gemacht“). Er muss zum Hässlichen Stellung nehmen, es aussagen, erst dann kann die Überwindung des Hässlichen, des Negativen, eventuell gelingen. Baudelaire opponiert gegen das Bestehende. Schönheit als solche kann er selbst vor allem in der Musik und der Malerei erleben.

5.
Das Hauptwerk Baudelaires ist ein Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel „Les fleurs du mal“, „Die Blumen des Bösen“, das Werk ist in drei Fassungen zwischen 1857 (1.100 Exemplare) und 1868 erschienen. Es enthält etwa 100 Gedichte, und es war schon im Moment des Erscheinens hoch umstritten: Dem Autor wurde von dem insgesamt reaktionären Regime Napoléons III. die Missachtung der Moral und die Gotteslästerung vorgeworfen, sechs Gedichte wurden als besonders anstößig empfunden und durften nicht publiziert werden.
„Die Blumen des Bösen“ sind das poetische Hauptwerk, ein Durchbruch für die französische Poesie insgesamt. Inhaltlich geht es in den Gedichten auch um die seelischen Erfahrungen des Menschen in der großen Stadt. Wie lebt der Mensch, der sich inmitten der Massen langweilt und am Leben leidet, im Erleben des Bösen. Auswege sucht Baudelaire selbst im Rausch durch Opium und Haschisch und Alkohol… mit Geld kann er nicht gut umgehen. Diese Unfähigkeit gilt in der Zeit der „moralischen, kirchlichen Ordnung“ als eines der schlimmsten Übel, das bestraft werden muss. Schon 1844, als Baudelaire erst 23 Jahre alt, leitet tatsächlich die eigene Mutter (inzwischen als Madame Aupick mit einem Major verheiratet) das Entmündigungsverfahren gegen ihren Sohn ein, am 21.9.1844 erhält Baudelaire einen Vormund, Maitre Ancelle.

6.
Er lebt in einer Epoche, die zunächst von Louis Philippe, dann in einer kurzen Phase einer liberalen Republik (1848), danach aber von dem sehr konservativen und dem Klerus ergebenen Regime Napoléons III. bestimmt ist. Es ist eine Zeit, in der es kleine Kreise „liberaler Katholiken“ (Lamennais, Montalambert, Lacordaire) gibt, sogar christliche Sozialisten (Philippe Buchez). Aber im Ganzen lassen sich der Adel und die „braven Bürger“ (nicht die Republikaner, nicht die Arbeiter, nicht die Armen) von der starren, auf Prinzipien und Dogmen bedachten Katholischen Kirche (wenigstens nach außen hin) bestimmen. Oder sie benutzen diese Dogmen als Stütze der eigenen politischen Ideologie, die monarchistisch, reaktionär und antisemitisch ist.
Für Baudelaire ist religiöser Glaube auch eine Frage der Ästhetik. Kunst wird für ihn etwas Heiliges!

7.
Etwa 50 Gedichte in den „Blumen des Bösen“ haben Anklänge an religiöse Themen. Über die religiöse Bindung Baudelaires ist vieles Unterschiedliche publiziert worden. Der Literaturkritiker und Theologe im Dominikanerorden, Pater Jean Pierre Jossua, (Paris), hat darüber einen ausführlichen Bericht geschrieben ( Quelques interprétations de la religion de Baudelaire | Cairn.info)
Ein „definitives“ Urteil, welche Bedeutung der christliche Glaube für Baudelaire hatte, wird kaum möglich sein, dazu sind dessen entsprechende Äußerungen zu vielfältig und zum Teil doppeldeutig, wenn nicht widersprüchlich. Aber auch dies ist zunächst kein Mangel, sondern ein Beweis dafür, wie tief Baudelaire dem religiösen Suchen und Zweifeln in seiner Zeit verhaftet ist.
Das kann man auch beobachten an seiner Tendenz zu einem gewissen Satanismus. Als große List Satans nannte er dessen Fähigkeit, den Menschen glauben zu machen, dass es ihn, den Satan nicht gebe. Baudelaire dachte, es gebe einen ewigen Kampf zwischen Gott und dem Satan. Aber vielleicht war das auch nur Phantasie? Da war sich Baudelaire nicht sicher.

8.
Jean Pierre Jossua meint in einer Art vorsichtigen Gesamteinschätzung: Baudelaire sei schon aufgrund seiner Herkunft und Bildung auf betont eigene Weise christlich gewesen: In seinen letzten Gesprächen mit dem Freidenker Nadar sei er noch für den Glauben an Gott eingetreten. Und auch Beten sei ihm immer wichtig gewesen, freilich in der Form einer individuellen frommen Poesie. Was das Christentums ihm doch bedeutet, bringt Baudelaire noch einmal zur Sprache in dem Gedicht „Mon coeur mis à nu“, das erst 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Darin bekennt Baudelaire, dass er an jedem Morgen sich im Gebet Gott zuwendet, der für ihn eine Art Reservoir aller Kraft und aller Gerechtigkeit ist. Aber, so sagt Baudelaire in der ihm eigenen Spiritualität, er wende sich im Gebet auch seinem verstorbenen Vater, dann auch Mariette (dem guten Dienstmädchen aus der Kindheit) und dem Dichter Edgar Allan Poe zu, und er meint sie als Fürsprecher bei Gott. (siehe: https://fr.wikisource.org/wiki/Page:Baudelaire_-_%C5%92uvres_posthumes_1908.djvu/139)

9.
Jean-Pierre Jossua ist überzeugt: Der christliche Gedanke an eine Erlösung war Baudelaire sicher fremd und die Erfahrung der Macht des Bösen wohl zu stark. Sie wurde verstärkt durch den Augustinismus und Pessimismus des reaktionären Autors von Joseph de Maistre. Über die Bindungen an reaktionäres politisches Denken wäre eigens kritisch zu sprechen.

10.
Trotz aller Spannungen der widersprüchlichen Person Baudelaire gehört sein Werk als Anregung in unsere heutige Zeit, weil er dadurch typisch ist, dass er auf die religiösen Umbrüche in einer Art subjektiven Sensibilität immer wieder irritierend reagierte. Als Mensch des 19. Jahrhunderts gehört er insofern auf seine Art auch in eine Reihe mit Nietzsche oder dem ganz anderen, dem prophetischen Karl Marx. Baudelaire hat auf seine Art die Menschen der Moderne erinnert, dass der damals schon allgemeine Glaube des Materialismus tödlich ist für Geist und Seele. Für Yves Bonnefoy, den kürzlich verstorbenen Poeten und Baudelaire Kenner, steht fest: Die Poesie Baudelaires kann wirksam auf das menschliche Verlangen antworten, das Gefühl für die Transzendenz zu bewahren, dies gilt auch, wenn man annimmt: Gott ist tot. (Vgl. Yves Bonnefoy, Le siècle de Baudelaire, Ed. Du Seuil, Paris 2014.)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Osterpredigten heute: Theologisch, d.h. religionskritisch betrachtet!

Ein Hinweis von Christian Modehn: Auf welchem Niveau bewegen sich Predigten/Ansprachen zu Ostern?

Ich möchte die LeserInnen auffordern, auf die Oster-Predigten (auch der Bischöfe) zu achten und zu fragen: Wiederholen diese Prediger bloß zum hundertsten Mal die bildreichen Predigten der vier Evangelisten? Oder machen sie sich als Leute, die sich Theologen nennen, manchmal auch als Dr. theol., die Mühe, die Ergebnisse theologischer Forschung zur Auferstehung Jesu wahrzunehmen und in den Predigten zu erläutern?

Wer als Prediger, auch als predigender Bischof, nur die alten Floskeln und Formeln wiederholt, sorgt schlicht und einfach für die weitere Unbildung, wenn nicht Verdummung der wenigen noch verbliebenen Gemeindemitglieder.
Hier also eine naturgemäß unvollständige Sammlung zentraler Sätze aus den Osterpredigten 2021.

1.
Erzbischof Dr. Heiner Koch, Berlin sagt in seiner Osterpredigt in Berlin, Kirche St. Joseph, 2021. (Titel seiner Doktorarbeit: „Befreiung zum Sein als Grundperspektive christlicher Religionspädagogik“): “Doch dann geschah Ostern: Das Grab war leer und Menschen begegneten ihm, dem von den Toten Auferstandenen“.
2.
Erneut bedient Koch die uralte Üblichkeit: Die Auferstehung Jesu gibt es nur, wenn sein Grab leer ist, also ohne den Leichnam.
Der verstorbene Jesus tritt also in der Welt auf. Koch sagt „Menschen begegneten ihm“, dem Auferstanden, also der auferstandenen Leiche? Man denke an das irreführende Gemälde von Caravaggio, auf dem Thomas, der Apostel, der leibhaftig auferweckten Leiche Jesus förmlich in dessen Seitenwunde grabscht… Ist dies „Begegnung“? Für wie dumm halten eigentlich Prediger ihre Zuhörer?
3.
Interessant ist, dass Koch nicht sagt, wie es die Schriften des Neuen Testaments ständig betonen: „Jesus erscheint (nur) den Jüngern“, also einer kleinen Gruppe. Nein, Koch sagt: „Menschen“ also viele, ganz unterschiedliche Leute, trifft der Auferstandene.
Damit wird suggeriert, als sei die Auferstehung Jesu eine Art historisches Ereignis, das „Menschen“ im allgemeinen wahrnehmen konnten. Dem ist nicht so. Die Auferstehung ist kein datierbares Ereignis! Den Fehler macht Koch noch einmal, wenn er von den Menschen spricht, die wussten, „dass Jesus auferstehen werde am dritten Tag (!). Menschen erfuhren ihn als den Lebenden und bezeugten ihn gegen alle Zweifelnden und gegen alle Einwände“.
4.
Auch die Erwähnung des „dritten Tages“ wird nicht erläutert, es wird wie immer suggerier: Drei exakte Tage nach Karfreitag sei, sozusagen datierbar, die Auferstehung geschehen. Kein Sinn für die Symbolsprache der Bibel wird geweckt.
5.
Diese Predigt könnte man fundamentalistisch nennen. Ich vermute, dass evangelikale Gemeinden diese Predigt gern übernehmen können. Es fehlt jede politische Dimension, etwa Solidarität mit den Armen in den armen Staaten, die keine Impfstoffe erhalten. Oder naheliegend, ein Hinweis auf das politische Friedensengagement. Es gibt doch die katholische friedensbewegung PAX Christi und die Ostermärsche… Nichts davon in der Oster – Predigt Kochs.

Wer lesen will: Diese Koch-Predigt ist über die Pressestelle des Erzbischöflichen Ordinariats Berlin in voller Länge verfügbar.

Die Predigt am Ostersonntag 2021 des katholischen Bischofs Dr. Gerhard Feige, Magdeburg.

Diese Predigt hat die akuelle Situation der Pandemie und auch die dringende Suche nach Reformen in der katholischen Kirche als Schwerpunkt. Seine Argumente leitet Bischof Feige her von einer knapp gehaltenen, aber auf dem Niveau der kritischen Bibelwissenschaft befindlichen Interpretation des “Auferstehungsgeschens”. Bischof Feige sagt:“Das leere Grab hat keine Bedeutung mehr. Es geht auch gar nicht darum, was mit dem Körper Jesu passiert ist. Es geht darum, dass Jesus von nun an nicht mehr unter den Toten, sondern unter den Lebenden zu finden ist. Er ist auferstanden”

Eine treffende Aussage, die keinen falschen Wunderglauben erzeugt: Der tote Körper Jesu ist für uns unerheblich, sagt Bischof Feige. Mit anderen Worten: Im Grab kann auch noch der Leichnam liegen. Jesus ist trotzdem der auf andere Art lebendig. Wichtig sind für Bischof die Konsequenzen dieser Einsicht: “Ja, der Auferstandene ist uns längst vorausgegangen, und es ist an uns, ihn zu erspüren: in den Problemfeldern und Wunden dieser Welt, in unserer eigenen Angst und Ohnmacht, aber auch in unserer Sehnsucht und Hoffnung – und in unserem Mut und unserer Kreativität, womit wir versuchen, der Resignation zu trotzen und als Kirche neue Wege zu gehen”.
Die Predigt kann nachgelesen werden: LINK

Zu den Aussagen zur Auferstehung Jesu von Kardinal Rainer Maria Woelki, KÖLN 2021

1.
Zum eher kurz gefassten „Ostergruß“ (offenbar bestimmt an alle Gemeindemitglieder) Kardinal Rainer Maria Woelkis am 3.4.2021:
Woelki bezieht sich dabei auf die von ihm so genannte „Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs“, dabei erlaubt er sich, diese mit dem Wegwälzen des Steins am Grabe Jesu zu verbinden. Wörtlich schreibt Woelki:

„Auch im Zusammenhang mit der schmerzlichen Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Erzbistum Köln liegen schwere Monate hinter uns. Mit dem kürzlich vorgestellten Gutachten ist nun ein erster Stein weggewälzt. Jetzt müssen wir hinschauen, um Entscheidungen für eine bessere Kirche zu treffen. Erste Schritte haben wir bereits eingeleitet, weitere müssen und werden folgen. Ich habe die Hoffnung, diesen Weg mit Ihnen gemeinsam gehen zu können. Lassen Sie uns dabei verbunden im Glauben auf den auferstandenen Christus schauen“. Quelle: https://www.erzbistum-koeln.de/news/Ostergruss-2021-von-Kardinal-Woelki/)

2.
Zur Oster – Predigt im Hohen Dom zu Köln am 4.4.2021:
Woelki erzählt, vermischt aus Zitaten mehrerer Evangelien, die ja bekanntlich je Unterschiedliches zur Auferstehung Jesu sagen, vor allem die Begegnung der Frauen am leeren Grab und dort mit dem Auferstandenen Jesus wieder. Eine übliche und seit Jahrhunderten praktizierte Nacherzählung also.

Interessant ist, was Woelki dann sagt: Dass Maria am Grabe Jesu vom auferstandenen Jesus „jenseits der Todesgrenze, nämlich von der Zukunft Gottes her, beim Namen“ gerufen wird. Eigentlich ein richtiger Ansatz. Aber es wird nicht erklärt, dass der auferstandene Jesus selbstverständlich kein lebendiger Leichnam ist, sondern eine geistige Realität, die in der unsterblichen Seele aller Menschen ihre Begründung hat. Genauere Erklärungen werden aösp nicht geboten. Woelki driftet sofort ab zur religiösen Praxis der Katholiken heute, also Hinweise auf die Taufe, den Zweifel überwinden usw.
Also: Klarheit über die Auferstehung wird nicht geboten.
Das Grab Jesu ist NICHT leer und Jesus lebt trotzdem: Diese selbstverständliche Aussage wagt auch Woelki nicht zu sagen. Er schwadroniert also, wie die meisten, ignoriert die theologische und bibelwissenschaftliche Forschung… Alles bleibt wie immer in einem frommen Nebel. Man möchte wünschen, dass diese Prediger das Buch des katholischen Theologen Hans Kessler „Auferstehung?“ (Grünewald -Verlag, 2021) lesen und ihre Gemeinden auch zu Ostern auf den Stand theologischer Erkenntnis bringen.

Quelle: https://www.erzbistum-koeln.de/erzbistum/erzbischof/dokumente/210404_rcw_pr_ostersonntag.pdf

Fortsetzung folgt alsbald

Das Nachwort:
Was geschieht, wenn etwa praktische Ärzte unbestrittene Erkenntnisse der medizinischen Forschung ignorieren? Sie werden aufgefordert, ihre Praxis zu schließen.
Was geschieht, wenn heute demokratische Politiker politische und ökonomischen Idealen des 18. Jahrhunderts folgen: Sie verlassen die politische Bühne.
Was aber passiert mit Predigern, Priestern und Bischöfen, die die Ergebnisse der theologischen Wissenschaft zur Auferstehung Jesu ignorieren, aus Angst, Unfähigkeit oder Faulheit, wie auch immer: Diese Herren der Kirche brauchen keine theologische Fortbildung, so predigen sie theologischen Unsinn weiter wie bisher. Bis die Kirchen leer sind.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Über die Unendlichkeit. Zum neuen Film von Roy Andersson.

Zugleich auch Hinweise zum Unendlichen, das die Endlichkeit und das Endliche in sich umfasst. Inspiriert von Hegel und (am Schluss) mit einem Zitat des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy.

Von Christian Modehn, zuerst publiziert am 21.9.2020.  Überarbeitet publiziert am 29.3.2021. Und noch einmal ergänzt am 4.4.2024.

1.
Der neueste Film von Roy Andersson „Über die Unendlichkeit“ liegt nun endlich als DVD, auch auf Deutsch, vor. Und er kann in der ARTE Mediathek bis zum 9.4.2024 betrachtet werden. LINK !!!  Betrachten ist der treffende Ausdruck.

Andersson zeigt wie in früheren Filmen wieder Denk-Bilder, vielfältige Szenen, die ins Philosophieren führen. Ein großartiger, gelungener Versuch! Denkbilder entstehen nur, wenn die Bilder wirklich stehen, wenn keine Schnitte geschehen, wenn alles oder das meiste ruht, sich darbietet zum Schauen, Betrachten und Verweilen. Und diese Bilder Anderssons prägen sich dem Gedächtnis ein, so werden sie Denkbilder über die man nach dem mehrfachen Betrachten wieder …dnekt. Und man schaut dann wütend auf die Flut der rasanten Schnitte der schnellsten action, die uns heute in den meisten Filmen das Zuschauen verderben.

2.
Der Titel “Über die Unendlichkeit” lässt keinen Zweifel, dass es Andresson entschieden um die Frage nach dem Ewigen, dem Göttlichen und vielleicht Gott geht. Die Fragen nach einem echten, freundlichen Leben in Achtsamkeit und Solidarität führt ja bekanntlich als ethische Frage ins Religiöse. Ein lutherischer Pfarrer hat in dem Film ein Problem: “Wenn man den Glauben verloren hat, was kann man dann noch tun?” fragt der Pfarrer, als er Hilfe bei einem hilflosen Psychiater sucht. Wenn er in seiner Not am Ende der Sprechstunde erneut Beratung sucht, wird er rausgeschmissen. Der Arzt darf seinen Bus nicht verpassen…

3.
Die vielfältigen Bilder werden durch eine Kommentatorin eingeleitet, die OFF-Stimme beginnt immer mit den Worten: “Ich sah … einen Mann”…bzw. “Ich sah … eine Frau”. Wer das Neue Testament kennt, wird dabei sehr deutlich an das Buch “Apokalypse des Johannes” (Offenbarung des Johannes) erinnert. Die allermeisten Kapitel dieses biblischen Buches werden mit den Worten “Und ich sah…” eingeleitet.

Andersson bindet seinen Film also an apokalyptische Erfahrungen. Das macht die eindrucksvolle Szene am Anfang deutlich, in der ein eng umschlungenes Liebespaar über die zerstörte Stadt Köln schwebt. Die Zerstörung erscheint total, sie ist in gewisser unendlich: Unendlich wird die Ruinenlandschaft jetzt (April 2024) auch in Gaza, auch in der russisch besetzten Ukraine, auch in den endlosen Elendshütten Haitis und so weiter.

Man denke auch an die lange ruhige Einstellung in dem Film, die Gefangene zeigt auf dem Weg ins Straflager Sibiriens. Da sagt der Geist des Zuschauers: So viel Erniedrigung darf und soll nicht sein. Es wächst förmlich von selbst die Sehnsucht nach einer guten, humanen Unendlichkeit.

Das Ewige und Bleibende wird sozusagen naturwissenschaftlich angesprochen in einem Bild: Studenten unterhalten sich über die Gesetze der Thermodynamik, über das (ewige?) Erhaltenbleiben der Energie…Die Studentin möchte dann lieber als Tomate denn als Kartoffel nach Millionen Jahren wieder auftreten, auf Witz und Ironie kann Roy Andersson niemals verzichten.

4.
Der Film ermuntert natürlich, philosophisch weiter über das Unendliche nachzudenken. Bei dem Thema kann ich auf Hinweise zu Hegel nicht verzichten. Hegel ist DER Denker des Verbundenseins von Endlichem und Unendlichem.

5.
Zum Phänomen des Endlichen: Das Endliche ist das Geschaffene, Begrenzte, Sterbliche, Zerstörbare, auf andere Verwiesene und von Anderen Abhängige. Der Mensch fühlt sich manchmal autonom; dabei weiß der endliche Mensch, dass er nicht aus eigener Kraft entstanden ist, dass er etwa die körperlichen Funktionen im eigenen Leib nicht wirklich selbst bestimmen und steuern kann, dass er nicht nur nicht sein Geborenwerden bestimmt hat noch – wahrscheinlich – die Stunde des eigenen Sterbens kennen wird.
Menschliche Autonomie gibt es, „Gott sei Dank“, aber sie ist doch sehr begrenzt. Und dennoch erleben wir und wissen wir endliche Wesen manchmal, dass wir über das Endliche hinausreichen, in einer Art geistigen Dynamik, die uns Grenzen und Begrenzungen, also Endliches, überschreiten lässt.

6.
Schon in der „Differenzschrift“ Hegels, verfasst in jungen Jahren, 1801 in Jena, geht es in dem ersten Kapitel um die Überwindung des üblichen „alltäglich geglaubten“ Gegeneinanders von Endlichem und Unendlichem, ein Thema, das Hegel sein ganzes Leben beschäftigt. In der „Differenzschrift“ heißt es (zitiert nach der Suhrkamp Ausgabe, Band 2, Seite 21): “Das Unendliche, insofern es dem Endlichen entgegengesetzt wird, …drückt für sich nur das Negieren des Endlichen aus“.
Damit will Hegel sagen: Ein Unendliches, das sich nur im permanenten Negieren des Endlichen zeigt, ist das, wie er sagt, „unwahre Unendliche“. Wie kommt Hegel zu dieser Erkenntnis?

Wir überscheiten im Denken (und Handeln) ständig das Endliche, „negieren“ es, schreiten von einem Endlichen zum nächsten Endlichen, das wir dann auch wieder als Endliches überwinden. Das ist gerade in den Naturwissenschaften ein normaler Vorgang, der grenzenlos erscheinende, deswegen unendlich genannte Weg von einem Endlichen zum anderen.
Wie auf einer Linie ohne Ende schreitet förmlich das Denken von einem zum anderen, dem dann meist besser Erkannten. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie erleben wir, wie die Forschung sich langsam von einer Erkenntnis zu nächsten vortastet. Diese Forschung ist, indem sie immer alte endliche Erkenntnisse negiert, ein unendlicher Prozess, und es ist gut, dass ihn Forscher betreiben.

7.
Aber ist dieser unendliche Weg der Überwindung einer Endlichkeit zu einer anderen Endlichkeit schon eine Erfahrung der Unendlichkeit? Ist Unendlichkeit Grenzenlosigkeit auf einer horizontalen Linie, auf der wir von einer endlichen Erfahrung zur nächsten gehen?
Hegel sagt dazu entschieden Nein, so sehr er auch die oben beschriebene Forschung als Fortgang von einem Endlichen zum nächsten schätzt und für notwendig hält.

8.
Die wahre Unendlichkeit zeigt sich erst, wenn der Mensch in seinem Geist diese gerade beschriebene ständige Überwindung des Endlichen noch einmal reflektiert und fragt, wie ist sie eigentlich möglich? Welche innere geistige Kraft treibt mich über jedes Endliche hinweg zum nächsten Endlichen?
Und dabei wird entdeckt: Es lebt eine Kraft im menschlichen Geist, die diese Dynamik des Lebens im Endlichen (auch im Forschen des Endlichen) sozusagen ständig belebt und ermöglicht. Schon 1801 in der genannten „Differenzschrift“ (S. 25) schreibt Hegel: „Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, das Endliche IN das Unendliche als Leben zu setzen“.
Das heißt: Das Endliche, also auch der Mensch, ist in das Unendliche hineingesetzt, als Bedingung der Möglichkeit seines geistigen Lebens.

9.
Das wahre Unendliche im Sinne Hegels ist die im Inneren des menschlichen Geistes anwesende, sozusagen „vertikal“ ins Innere gelagerte Unendlichkeit, dies ist für Hegel der unendliche Geist, man könnte im Sinne Hegels sagen: Das Göttliche, Gott.
Diese Erkenntnis mag für einige heute ungewöhnlich sein:
Hegel betont: Es ist die Anwesenheit des unendlichen Geistes (als des Geistes des Unendlichen, also Gottes), die das geistvolle Leben, dieses ständige Suchen nach dem Unendlichen ermöglicht. DIESE Unendlichkeit drückt sich in der Wirklichkeit aus, wenn der Mensch, künstlerisch, schöpferisch tätig ist, voller Phantasie, die den Alltag überschreitet. Der Mensch formt sich dann auch Religionen, schafft sich in bunten Erzählungen die heiligen Schriften (Bibel, Koran usw.). Der endliche Mensch liebt den und die anderen, dabei schwingt er manchmal aus sich heraus; er steigert sein Selbstgefühl.

10.
Der Mensch ist das transzendierende, d.h. die eigene Endlichkeit überschreitende Wesen.

Das (schöpferische) Unendliche umfängt förmlich als innere Struktur im Endlichen das Endliche, ohne dieses in seiner Freiheit und Tätigkeit einzuschränken. So wird das Endliche, also der endliche Mensch, nicht nur zum Überschreiten jeglicher Endlichkeit aufgefordert. Das Endliche weiß zudem, dass er gleichzeitig mit dem unendlichen Geist verbunden ist. So gibt es also eine wahre Einheit von Endlichem und Unendlichem.

11.
Was hat das alles mit dem Film „Über die Unendlichkeit“ zu tun? Die vielen Beispiele des Verstricktseins in die Endlichkeit, in das Leiden der Menschen, werden wenigstens gedanklich versöhnt, weil im Nein zu diesen endlichen Situationen ein Licht der Anwesenheit des Unendlichen aufleuchtet. Dieses Licht bleibt, es kann von Menschen übersehen, totgeschwiegen, aber nicht „abgeschaltet“ werden. Der Geist lässt sich nicht töten!
Diese Erfahrung der wahren Unendlichkeit inmitten des (Schreckens des) Endlichen kann man ein Aufleuchten von Transzendenz nennen.
Insofern ist der neue Film von Roy Andersson „Von der Unendlichkeit“ nicht nur ein philosophischer, sondern ein leiser Film schwacher religiöser Sehnsucht.
Aber diese Sehnsucht nach dem Unendlichen ist nicht ein Spleen, schon gar nicht ein Wahn, diese Sehnsucht ist vielmehr selbst „geistgewirkt“, sie weckt eine begründete Hoffnung, nicht in der Endlichkeit zu versinken.

12.
Das ist der praktische Sinn, wenn Hegel auf die wahre Unendlichkeit hinweist: Die unwahre, also die bloß horizontale und immer endliche Unendlichkeit bleibt ja bestehen, und sie muss zum Beispiel als Gestalt der endlosen Forschung bestehen bleiben.

Aber erst wenn auch die wahre Unendlichkeit erkannt und bewusst erlebt wird, auch als die innere Ermöglichung der endlosen, horizontalen Unendlichkeit, findet der menschliche Geist seine Erfüllung. Man möchte sagen seine seelische Harmonie und lebendige Beruhigung, ja auch dies: seinen Frieden, trotz aller Katastrophen, die nun einmal in den vielen Endlichkeiten auftreten.

Ein Zitat von Jean-Luc Nancy:Wir sind unendlich. Unendlich sein heißt nicht, unendlich lange zu leben. Es heißt, dass es etwas in uns gibt, was nicht von der Zeit abhängig ist. Etwas, das über die Zeiten trägt, das uns nicht auf unsere kurze Lebenszeit reduzieren lässt“. (Aus einem Gespräch, das Michael Magercord mit Jean-Luc Nancy geführt hat).

Es lohnt sich, beim zweiten oder dritten Mal des Betrachtens dieses Film von Roy Andersson LINK (wikipedia) eigens und genau auf die wunderbare Musik zu achten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin