Europa ohne Religionen. Zu einem neuen Europa-Atlas, hg. u.a. von der Böll-Stiftung

Europa ohne Religionen?

Zum neuen Europa Atlas, hg. von der Heinrich Böll Stiftung u.a.

Von Christian Modehn

Pünktlich zum „Europatag der Europäischen Union“ am 9. Mai 2014 ist ein interessanter „Europa-Atlas“ erschienen mit kurzen, prägnanten Informationen zum weiten Spektrum des Kontinents: Es  werden in 20 Kapiteln u.a. Informationen geboten zur Euro-Krise, zur zunehmenden Bedeutung der Europa-Gegner. Auch die Außen- und Sicherheitspolitik fehlt natürlich nicht, genauso wenig die (immer anschaulichen) Informationen zum Thema Frauen, Asyl, Energie, usw. Selbst der Eurovision-Song-Contest wird in eigenem Kapitel kritisch untersucht! Dabei freuen wir uns über den “Sieg” von Conchita Wurst aus Österreich im Eurovision Song Contest 2014, vor allem, weil dadurch erneut weitere Einsichten zur schönen Vielfalt sexueller Orientierungen angestoßen werden. Wir finden es zudem erstaunlich und überraschend, dass Conchita Wurst die meisten Stimmen aus den katholischen (!?) Ländern Italien, Spanien und Irland erhielt.

Trotzdem: Wir fragen uns im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“: Wenn schon dieses merkwürdige Massenspektakel der globalen Unterhaltungsindustrie kritisch in dem Europa Atlas besprochen wird, vielleicht verstecken sich da tatsächlich auch spirituelle Dimensionen: Warum fehlt aber jegliche Information zu einem sehr viel wichtigeren europäischen Thema, das uns besonders interessiert: Wenn schon nichts dokumentiert wird über die Rolle der Philosophie und des Philosophie-Unterrichts in den verschiedenen europäischen Ländern: Warum kann man im Ernst darauf verzichten, wenigstens einige grundlegende Informationen zum Wandel der Bedeutung von Religionen in Europa zu bieten? Wir halten, offen gesagt, diesen Mangel an Informationen über den „Zustand“ der Kirchen, Religionen und Weltanschauungen in Europa für schlimm in einer ambitionierten Publikation.

Nur ein aktuelles Beispiel, das zeigt, wie das Thema Religionen in Europa voller Überraschungen steckt: Gerade jetzt erscheint (Anfang Mai 2014) in Italien eine große Studie über den „religiösen Analphabetismus in Italien“ (so der Titel aus dem Verlag il Mulino, Bologna)  in dem angeblich so „tief katholischen“ Land. Prof. Alberto Melloni und sein Team bringen alle Vorurteile ins Wanken, über die angebliche Vorbild Funktion des italienischen Katholizismus, etwa wenn ihre Umfragen zeigen: Jeder Fünfte Italiener ist überzeugt, dass Jesus von Nazareth selbst die Bibel verfasst hat, nur einer von hundert Italienern kann die Zehn Gebote vollständig aufzählen: Nebenbei: Ist diese Unkenntnis  der Zehn Gebote Wirkung oder Ursache für die heftige Bedeutung der Mafia und der Korruption in dem angeblich ur-katholischen Land. Die elementare Kenntnis des Christentums ist in Italien mangelhaft, trotz (oder wegen?) der allgegenwärtigen Bilder von Pater Pio und dem Heiligen Franz von Assisi oder der Heiligen Rita usw…

Schon dieses Beispiel zeigt, welche spannenden Themen dem Europa Atlas entgehen, wenn er das Thema Religionen in Europa ausblendet und vielleicht uneingestanden so tut, als wäre das Thema Religionen eigentlich für aufgeklärte Leute hierzulande nicht mehr relevant. Das Gegenteil ist der Fall!

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ hat unsere Kritik der Böll Stiftung, die u.a. für den sonst ja empfehlenswerten Europa Atlas mit- verantwortlich ist,  mitgeteilt. Wir erhielten darauf hin diese Antwort, die wir vollständig dokumentieren:

„Ihre Frage zum Thema Religionen ist berechtigt. Der Atlas ist auf 20 Themenseiten beschränkt, so dass wir priorisieren und leider auf viele relevante und wichtige Themen verzichten mussten. Unsere Priorität lag im Hinblick auf die Europawahl auf der Frage, was Solidarität in Europa bedeutet und wie die EU in ausgesuchten Feldern Politik gestaltet. Dabei ging es uns vor allem um Europa als Friedensprojekt und Solidargemeinschaft. Mit dem Europa-Atlas wollen wir Kenntnisse vermitteln und Zusammenhänge verdeutlichen, wollen Europa anschaulich machen, vor allem aber wollen wir motivieren, sich für dieses historische Projekt zu engagieren.

Ich hoffe, sie haben Verständnis für diese Auswahl.

Beste Grüße, Christine Pütz

Heinrich-Böll-Stiftung e.V.

Dr. Christine Pütz, Referat Europäische Union/Nordamerika| Referentin Europäische Union“

Wir danken für die Antwort, auch wenn wir sie nicht „verstehen“, hoffen aber auf einen weiteren, neuen Atlas, der sich kritisch mit den Religionen (und Atheismen usw.) in Europa befasst. Eine utopische Hoffnung? Vielleicht. In Frankreich jedenfalls hat man den Mut zu solchen Publikationen…Deutschland verpasst da Wichtiges!

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ wird jedenfalls mit seinen eher bescheidenen (auch in finanzieller Hinsicht als private Basisinitiative) versuchen, immer wieder und weiter über Religionen (und Philosophien) in Europa zu berichten. In Kürze folgt eine ausführliche Besprechung von „Rapporto sull’analfabetismo religioso in Italia“ (2014) A cura di Alberto Melloni, Il Molino, Bologna 2014.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der oben genannte Europa-Atlas und die darin enthaltenen Grafiken stehen zum Download zur Verfügung: www.boell.de/europa-atlas

Er liegt zudem der Freitagausgabe der taz (9. Mai 2014) und der Maiausgabevon Le Monde diplomatique (10. Mai) bei.

Recht und Moral. Einige Thesen zum Salon am 25. 4. 2014

Recht und Moral

Einige These, einige Fragen anlässlich des religionsphilosophischen Salons am 25. 4. 2014.

Von Christian Modehn

1. Recht und Moral sind zwei verschiedene Bereiche. Sie sind verschieden und eigenständig.

Aber sind sie immer getrennt oder gibt es Verbindungen? Dieser Frage wollen wir nachgehen. Tatsache ist:  Wenn in Demokratien Recht gesprochen wird, sollen ausschließlich die Gesetze beachtet werden. Die Moral der Richter sollte da keine Rolle spielen, auch sollte es keine Rücksichtnahme geben  auf herrschende Moralvorstellungen, etwa durch Religionsgemeinschaften verbreitet.

2. Unter Moral könnte man in einem weiten Sinne die “Welt der Werte” meinen, die in einer Kultur dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft angeboten werden und die auch verinnerlicht werden, an die man sich hält in einer oft unbewussten Selbstverständlichkeit. Diese Welt der Überzeugungen, „Moral“, gibt es heute immer nur im Plural. Unser Thema muss im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft besprochen werden; da gibt es unterschiedliche religiöse Überzeugungen, etwa zu Fragen: Was ist Leben, was ist der Wert des Menschen usw.

Dazu bringen die religiösen Repräsentanten ihre religiösen Lehren vor, dabei handelt es sich um religiöse Interpretationen des Lebens aus vergangenen Zeiten. Diese Texte entstammen aus Kulturen mit einem vor – modernen Welt – und Menschenbild, sie können nicht ohne weiteres direkt als Weisungen in die Moderne hineingezogen und als automatisch gültig angesehen werden.

Ergänzung am 6. 5. 2014: In dem Zusammenhang weisen wir auf einen Beitrag hin, den Sabine Hark, Prof. für Soziologie an der TU Berlin, am 6. Mai 2014 in “Der Tagesspiegel” veröffentlicht hat: Zum Thema der immer noch heftigen Homophobie sogar in dem angeblich “aufgeklärten” Deutschland. Zur Lektüre dieses wichtigen Beitrags klicken Sie hier. Leider kommt in unserer Sicht die homophobe Propaganda weitester Kreise der christlichen Kirchen und anderen Religionen nicht ausreichend in dem Beitrag zum Ausdruck. Dass es eine explizit und uneingeschränkt “homofreundliche” und homosexuelles Lieben und Leben uneingeschränkt akzeptierende christliche Kirche gibt, die Remonstraten, darauf wurde mehrfach auf unserer zweiten website (klicken Sie hier)  hingewiesen.

3. Die unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Moralvorstellungen heute brauchen für ein friedliches und demokratisches Zusammenleben in der pluralistischen Gesellschaft sozusagen zu ihrem eigenen Schutz und um eines menschlichen Lebens willen rechtliche Regelungen. Im Recht und in den Gesetzen wird vom Staat unter Strafandrohnung die Befolgung bestimmter Gesetze verlangt. Moralauffassungen können natürlich nicht unter Strafe eingeklagt und befohlen werden. Beispiel: Ich muss nicht nett und freundlich sein zu bestimmten Menschen und Nachbarn, das gebietet mir meine Freiheit der Moral. Aber ich muss im Notfall aus rechtlichen Gründen helfen; ob mir diese Hilfe gefällt oder nicht. Ich muss sozusagen diese Hilfe äußerlich, auch ohne innere Anteilnahme, leisten. Das ist die Welt des Rechts. Sie kann allerdings bei bestimmten Menschen so absolut hoch bewertet und dauernd praktiziert werden, dass alle menschlichen Beziehungen, auch unter Nachbarn, nur noch unter der Kategorie von Gesetz und Recht und Prozessordung betrachtet werden. Jegliche geistige Lebendigkeit, jeglicher Sinn für Gemeinschaft,  geht dann – bei einem ausschließlichen Respekt vor den formalen und rigide angewendeten Gesetzen – verloren.

4. Deutlich ist jedenfalls: Auch die Gesetze (Beispiel Gebot der Hilfeleistung) enthalten implizit eine gewisse Moralvorstellung, einen bescheidenen Inbegriff an Humanität. Per Gesetz wird also doch eine bestimmte minimale Moralvorstellung eingeklagt und unter Strafe gefordert, die eigentlich alle Menschen einer demokratischen Gesellschaft teilen können und sollen. Hier sehen wir doch unseres Erachtens, dass eine absolute und abstrakte Trennung von Recht und Moral nicht existieren kann.

5. Zu Erinnerung: Die Gesetze werden in demokratischen Gesellschaften durch Beratungen im Parlament geschaffen, dabei gelten Mehrheiten. Dabei gilt es auch, die massive werbende Arbeit der Lobbygruppen zu beachten. Diese müssten öffentlich kontrolliert werden. Es gilt wohl auch zu beachten, dass in den Parlamenten Europas, auch Deutschlands, ganz überwiegend Menschen aus den oberen Klassen vertreten sind, Beamte, Juristen usw., die fraglos auch ihre eigenen (ökonomischen) Interessen in Gesetze fassen wollen. Arbeitslose und Hartz IV Empfänger sind etwa im Bundestag nicht sehr zahlreich vertreten, mit anderen Worten: Unseres Wissen gar nicht!  Aus dieser Konstellation geht hervor: Selbst die demokratisch beschlossenen Gesetze führen doch zur Vermutung, dass da gewisse Standpunkte gewisser Gruppen sich durchsetzen wollen.

Ein Beispiel, aktuell pubiziert in “Der Tagesspiegel” vom 28. April 2014, Seite 14.  Dort berichtet  in einem Interviuew der Direktor des Deutschen Mieterbunds, Lukas Siebenkotten, zu der Frage, ob noch (?) die Vermieter “ordentlich zuschlagen , bevor die Mietpeisbremse (angeblich) kommt: “Paragraph 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes untersagt Mieten, die 20 Prozent oder mehr über der ortsüblichen Vergleichmiete liegen. In der Praxis (aber) wird das nicht geahndet. Frage: Warum nicht? “Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Mieter, der sich auf diesen Paragraphen beruft, selber (!!) nachweisen muss, dass er gezwungen war, das =unmoralische Angebot= des Vermieters anzunehme., weil er keine andere Wohnung finden konnte. In Großstädten ist so ein Nachweis aber unmöglich, es gibt doch immer irgendwo eine andere, billigere Wohnung… Dabei müßte man einfach die Beweislast umdrehen und hätte dann ein wirksames Mittel gegen Mietwucher”.   Aber solch ein Gesetz besteht nicht, hingegen das Gesetz des Bundesgerichtshofes, das man als kritischer Bürger eher und mindestens mit einem großen Nein kommentieren sollte…

Dieses kleine Beispiel zeigt nur, wie schwer es kritischen Bürgern heute fallen kann, in so genannten Demokratien den Staat rundherum und im ganzen oder gar immer zu respektieren. Aber mit diesen mehrheitlich beschlossenen demokratischen Gesetzen muss sich die Masse der Bürger eben erst einmal abfinden, muss sie notgedrungen akzeptieren. Selbst wenn es einigen Bürgern zurecht etwa überhaupt nicht gefällt, dass es nicht per Gesetz endlich bessere und in dem Sinne menschlichere, sagen wir ruhig „gerechtere“ Gesetze etwa zum Umweltschutz oder zur so genannten Entwicklungspolitik gibt. Da ist dann die manchmal äußerst mühsame Öffentlichkeitsarbeit und der praktische Einsatz von NGOs gefordert. Sie können die Gesellschaft und langfristig auch die Rechtsordnung verbessern. Man denke etwa an den Kampf ökologischer Basisgruppen und die Tatsache, dass nach jahrzehntelangen Kämpfen doch einige wenige bessere Gesetze durchgesetzt werden konnten.

Diese Kritik an einem so genannten demokratischen Staat, der offenkundig die Bürgerrechte nicht als obersten Wert ansieht, siehe die ganze Hilflosigkeit der herrschenden politischen Klasse Deutschlands am Beispiel des NSA Skandals, muss noch viel stärker besprochen werden. “Atemberaubend ist das Desinteresse unserer Regierenden (an diesem Thema)”, schreibt etwa Christian Schlüter zu recht in der “Berliner Zeitung” vom 3. Mai 2014, Seite 4. Es gibt einfach von staatlicher Seite keine umfassende Aufklärung, keine umfassende Stärkung des Datenschutzes, ein digitales Urheberrecht gibt es nicht…. usw… Christian Schlüter schreibt:”Deshalb der Appell an alle Nutzer des Internets: Wehrt euch!”   Die entscheidende Frage ist nur: Wie kann sich der Bürger wehren gegen einen Staat, der seine elementaren Pflichten zum Schutz der Bürgerrechte versäumt? Gibt es darüber (“Wehrt euch”) eine philosophische Debatte??  Appelle allein sind ja noch keine Philosophie, geschweige denn Politik…

6. Andererseits: Bis zum Beweis der “Rechtlosigkeit” eines Gesetzes bzw. seiner “Immoralität” müssen sich in einem demokratischen Staat auch diejenigen an die Gesetze halten, die eigentlich diese Gesetze nicht befürworten. Beispiel: Abtreibungsgesetze. Oder das Gesetz der Homo- Ehen Verträge, wenn es auch gerade da Widerstände gibt, etwa konservativer Bürgermeister in Frankreich.

7. Es gibt auch kein Zurück hinter moralische UND gesetzliche Standards: Die Wiedereinführung der Todesstrafe ist in Westeuropa ausgeschlossen oder die Folter als mögliches Instrument der Wahrheitsfindung in Strafprozessen. Es gibt also, das zeigt dieses Beispiel, einen gewissen Fortschritt im Bewusstsein hinsichtlich der Würde und Freiheit des Menschen (gegen Folter, gegen Todesstrage usw.). Damit wird erneut deutlich: Noch enmal: Das moralische Bewusstsein wirkt sich auf die Gesetzgebung aus, das sieht man etwa an der Entwicklung, die dann zur gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei führten: Zuerst hielten einige Christen (in England) Sklaverei für eine Sünde, dann setzte sich diese Überzeugung durch und fand in Gesetzen einen Ausdruck.

8. Bei der Kritik an bestehenden Gesetzen werden Kriterien geltend gemacht, die logischerweise außerhalb der Gesetze liegen und auch Kriterien, die noch einmal oberhalb der jeweiligen einzelnen, historisch geprägten Moralvorstellungen liegen. Gesetze und Moralvorstellungen können noch einmal von einer höheren Warte der Vernunft kritisiert und verbessert werden. Es gibt also noch einmal etwas Höheres als Recht und Moral. Es ist die sich kritisch reflektierende Vernunft, die da aktiv wird. Ein zeitloses und ewiges und in ewiger gleicher Weise formuliertes Naturrecht kommt da nicht in Frage. Wer dafür plädiert, verschleiert nur bestimmte Machtansprüche. Man könnte modern eher an die sich immer weiter entwickelnden Vorstellungen der Menschenrechte denken.

9. Gesetze, so heißt es, regeln allein das äußere Zusammenleben, also die äußere, friedliche Gestalt einer Gesellschaft. Aber aus welchen Motiven und mit welcher inneren Abwehr ich vielleicht diesem Gesetz folge, interessiert den Gesetzgeber nicht.  Hauptsache ist, alle folgen äußerlich dem Gesetz und entsprechen damit dem Gesetz. Was die Menschen sich bei der praktizierten Gesetzes”treue” (innerlich)denken, ist dem Staat egal. Das äußere Tun allein zählt. Und so sollte es bleiben.

Man könnte diese Veräußerlichung des bloß formalen rechten und richtigen Tuns für problematisch halten. Denn wenn denn dieses Modell des Denkens und Handelns auch auf den Bereich des alltäglichen Lebens insgesamt, also auch der Moral, übergreift und Mentalitäten bestimmt: Und wenn man etwa in einem tugendhaften Handeln, um es mal klassisch auszudrücken, nur so tut, also nach außen hin den puren Eindruck erweckt, tugendhaft zu handeln, dann gibt es im ethischen Sinne eben Probleme in der Einschäzung dieses Handelns. Kant solches bloß veräußerlichte ethische Handeln abgelehnt. Andererseits ist es ein großer Gewinn, der bleiben muss, dass der Staat selbstverständlich nicht die Gesinnung prüft!!

10. Diese Gesinnung kann man auch gar nicht definitiv prüfen, der einzelne kann immer sich der Lüge bedienen in seinen Antworten zur Gesinnungsprüfung. Das offenbart auch den ganzen Wahnsinn der von der Inquisition geforderten öffentlichen Glaubensbekenntisse. Wer die Bekenntnisse korrekt nachspricht, ist nicht automatisch rechtgläubig. Die katholische Kirche setzt bis heute auf diese „Treue-Bekenntnisse“ etwa umstrittener Theologen. Wer Orthodoxes sagt, ist orthodox, denkt man dann in den für Kirchengesetze zuständigen Behörden im Vatikan und anderswo. Diese Ürpfung ist – inzwischen auch durch Umfragen empirisch erwiesener Maßen – falsch und “erfolglos”.

11. Die Gesetze eines demokratischen Staates, werden sie denn befolgt, befördern einen bestimmten demokratischen Geist, so dass von einer bloßen formalen Befolgung der Gesetze keine Rede sein sollte. Es gibt einen bestimmten Geist der Gesetze.

Bloß: Wie, wer und was  bringt man die Menschen dazu, diese Gesetze zu befolgen?  Die Religionen können dabei nicht hilfreich sein (weil sie ja selbst, wie der Katholizismus, eine undemokratische Organisation sind.) Kann es einen allen gemeinsame demokratische Gesinnung sein, eine Art weltliche Spiritualität, wie sie etwa von einigen Vertretern der “laicité” in Frankreich auch heute vertreten wird? Kann es der “Geist der Menschenrechte” sein?

12. Solange ein demokratisch beschlossenes Gesetz besteht, darf ich niemanden schädigen durch Rufmord, der sich an diese Gesetze hält. Etwa im Falle Edathys: Wer bestimmte problematische, aber per Gesetz erlaubte Bilder betrachtet, macht nichts Verbotenes; er darf also nicht mit den Mitteln meiner Moral vorweg und vorschnell abgeurteilt werden, das wäre Rufmord. Man tut also nichts Strafbares, wenn man sich innerhalb des Rahmens des gesetzlich Erlaubten bewegt. Es ist für den Einzelnen oft schwer zu verhindern, dass die eigene Moralvorstellung den Blick auf das gesetzlich Erlaubte verdunkelt.

13. Wir müssen also acht geben, wenn unsere persönlichen Moralvorstellungen die gesellschaftliche (und legale) Praxis bestimmter Menschen verurteilen. Es gilt immer das geltende Recht zu achten. Katholische Krankenhäuser haben Frauen in Not zu behandeln, und, etwa im Falle von Vergewaltigung auch Schwangerschaftsabbruch zu leisten, selbst wenn die katholischen Krankenhäuser, Ärzte, das moralisch nicht wollen.

14. Die besonders Frommen auch im christlichen Bereich haben besondere Mühe, sich mit den in einer Demokratie entstandenen Gesetzen abzufinden. Das Schlechtmachen der heute in einigen europäischen und amerikanischen Staaten doch noch bestehenden Demokratie gehört etwa auch zu den zentralen Polemiken der katholischen Kirche. Stichwort: Das seit Johannes Paul II. wiederholte Wort von der „Diktatur des Relativismus“ der westlichen Demokratie.  Dieser Papst hat bekanntlich die kommunistische Gewaltherrschaft und die moderne liberale Demokratie als Übel auf eine Stufe der Ablehnung gestellt. Ab dem 27.4. 2014 gilt er offiziell als heilig und weltweites Vorbild! Wir dürfen gespannt sein, wie diese päpstlichen und nun heiligen Statements sich auswirken, etwa in Afrika, wo es gegenwärtig selbst in christlich geprägten Diktaturen eine totale Abweisung der Menschenrechte gibt (siehe etwa die Verfolgung homosexueller Menschen in Uganda, Nigeria usw.) Wir wagen die These: Solange die katholische Kirche als religiöse Institution und damit zusammenhängend der Staat Vatikan als Staat des “Heiligen Stuhls” nicht die Menschenrechte an die oberste Stelle setzen noch vor aller dogmatischen Lehre und kirchlicher Moral, solange wird es in den katholisch geprägten Ländern, etwa Lateinamerikas, keine wirkliche praktische Respektierung der Würde eines jeden Menschen geben. Dann werden sich die Oligarchen und die Herrschenden immer damit herausreden können: “Auch der Papst, auch der Vatikan, setzen doch die Menschenrechte gar nicht an die oberste und erste Stelle des Respekts!” So ist es nur verständlich, dass die reiche Schicht Brasiliens es akzeptiert und ohne weiteres auch hinnimmt, dass heute 8 bis 10 Millionen KINDER in Brasiliens Städten aus der Straße leben (Siehe Berliner Zeitung, 3. Mai 2014, Seite 8).

In den USA, so berichtet Prof. Claus Leggewie, gab es wahren Terror auf Abtreibungskliniken vonseiten der so genannten Moral Majority. Es gab dort auch die Christian Identity Movement, die alles Staatliche im Sinne Christi regeln will, weil Christus alsbald als Richter auf der Erde erscheint. Viele fundamentalistische Christen dort halten Abtreibung für Genozid, man glaubt, sich in einem gerechten Bürgerkrieg zu befinden und deshalb auch den moralischen Feind töten zu dürfen.  Die Gesamtzahl der Anhänger wird auf ca. Viertelmillion gezählt. Die USA haben einen Feind, so meinen sie, der sich in den Gesetzen breit macht: Muslims, Juden, Feministen, Homosexuelle. Beispiele aus anderen Religionen, etwa in Kreisen eines sich fundamentalistisch präsentierenden Islam, sind bekannt.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Selbstbestimmung: Die Grundbewegung des geistigen Lebens

Selbstbestimmung: Die Grundbewegung des geistigen Lebens

Einige Hinweise anlässlich eines Gesprächs im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 28.3. 2014.

Von Christian Modehn

Der Begriff Selbstbestimmung (bzw. Autonomie) gehört zwar nicht zur gängigen Alltagssprache heute. Aber er ist als Leitidee unthematisch, oft ungewusst und wenig umgrenzt, präzisiert, jedoch im menschlichen Leben, im Denken und Handeln, allgegenwärtig. Ein einfaches Beispiel: Beginnt Selbstbestimmung nicht schon mit der Entscheidung, an dieser Veranstaltung an diesem Abend teilzunehmen und damit andere Veranstaltungen auszuschließen, also zu lassen, indem man sie nicht für so bedeutend oder wertvoll für das eigene Leben einschätzt? Dahinter  steht unthematisch die Erkenntnis: Dieses und jenes Thema interessiert mich eigentlich, es bringt mich möglicherweise weiter in meinem Fragen und in meiner Suche nach sinnvollem Leben. Es kann mich vielleicht zu einer weiteren Autonomie führen.

Selbstbestimmung geschieht ständig, wir wollen für uns selbst und möglichst aus uns selbst unser „Gesetz“ uns geben für dieses unser Leben.

Selbstbestimmung in diesem inneren Sinne als Praxis der eigenen geistigen Verfügung auch die Grundlage für alle Kraft der politischen und sozialen Bewegungen, die Selbstbestimmung und Autonomie als Zustand, als  Ziel erkämpfen, etwa die Frauenbewegungen oder die Kämpfe um Anerkennung und Respekt für homosexuelles Leben und Lieben bis zu den Völkern, die – etwa am Ende der offiziellen Kolonialzeit – um ihre Selbstbestimmung ringen.

Das ist der Sinn des gemeinsamen und des einsamen Philosophierens: Schauen und kritisch betrachten, was wir „immer schon“ leben und denken. Dann kann dieses Lebendige deutlicher, d.h. begrifflich klarer, gesehen werden. Dabei kommt man nie an ein Ende, weil wir stets unserem eigenen Dasein eine neue Gestalt, eine neue Form und einen neuen Sinninhalt geben, die dann wieder zu neuen Erkenntnissen führen usw. Alles dieses Handeln steht aber immer unter dem bleibenden Anspruch, ein wahres Verstehen meiner Selbst zu vollziehen.

Unmittelbar zum Thema: Der Berliner Philosoph

Volker Gerhard sagt ganz klar: „Selbstbestimmung, Autonomie, bezeichnet die Fähigkeit, nach eigener Einsicht zu handeln“. Und damit wird deutlich: Dieses Thema beschreibt das zentrale Ziel menschlichen Lebens: Ich will ich selbst sein in einer Gemeinschaft Gleichberechtigter, die auch jeweils sie selbst sind und sein können.

Es geht also um die Selbstgestaltung und Regulierung des eigenen,  individuellen Lebens. Autonomie als Lebensziel wird so zu einem Elementarbegriff der menschlichen Kultur. Diese Ziel wird im Laufe des Lebens erweitert, ergänzt, korrigiert.

In der Moderne wird die Idee der Autonomie, die aktive Selbstgesetzgebung und damit die Bestimmung meines Lebens durch mich selbst, also Selbstbestimmung, zum obersten Wert im Leben, dem es nachzustreben gilt. Selbst Menschen, die die Selbstbestimmung anderer bekämpfen und zu vernichten trachten, argumentieren für sich selbst in ihrem Tun noch mit dem Anspruch, darin sich selbst bestimmen zu dürfen. Selbstbestimmung ist also meines Erachtens das, was Philosophen transzendental notwendig nennen. D.h. Selbstbestimmung ist ein Begriff, den man noch braucht und beansprucht, selbst dann, wenn man ihn verneint. Nur ein anderes Beispiel zur weiteren Illustration: Das gilt etwa für die größten Lügner, die noch in der Lüge beanspruchen, die Wahrheit zu sagen. Lügner kommen nicht ohne den Anspruch der formellen Wahrheit aus, dieser Anspruch ist in unserem Geist also „unabwerfbar“ angelegt.

Selbstbestimmung ist also im Blick auf unsere menschliche geistige Verfassung vom Menschen selbst als Idee gar nicht mehr zu beseitigen, Selbstbestimmung ist sozusagen selbst noch in der Leugnung eine notwendige Idee.

Um weiteres Profil zu gewinnen:

Wir müssen an der Stelle an Kant erinnern. An seinen Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift von 1784: Da wird der persönliche Schritt in ein aufgeklärtes Leben, das zu einem autonomen Leben führt, vom Mut des einzelnen abhängig gemacht. Da geht der Philosoph Kant also ins Psychologische über, eine interessante Perspektive! Im „Eisler Kant Lexikon“ heißt es u.a.: Mut ist die Fassung des Gemüts, die Gefahr mit Überlegung zu übernehmen”…. Der Mut kann auch durch Vernunft erweckt und so wahre Tapferkeit sein (“moralischer Mut”); er bildet als solcher das Wesen der Tugend.

In der Berlinischen Monatsschrift von 1784 schreibt Kant: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“. Ohne Mut kein eigenes, aufgeklärtes Leben, ohne Aufklärung keine Autonomie und Selbstbestimmtheit.

Nur am Rande noch erwähnt: Volker Gerhardt weist in seinem Lexikonbeitrag „Selbstbestimmung“ (Enzyklopädie der Philosophie, Meiner Vl.,  Band III)  darauf hin, dass Selbstbestimmung schon in der griechischen Antike gedacht wurde. Das Thema, der Topos ist damals ansatzweise da. Schon bei Platon: „Die Bürger sollen die Eigengebietenden sein: „aut- epiaktikoi“. Im Leben des Sokrates wird deutlich: Es gibt die Möglichkeit der Herrschaft über sich selbst mit dem Ziel der Selbstgenügsamkeit. Schließlich Aristoteles: „Man muss wissen, wer man selbst ist, wenn man handeln will“. Dann wird an Pico de la Mirandola erinnert, (a.a.O. S.241): Er denkt an die biblische Schöpfung durch Gott; in einem Mythos lässt er Gott zum Menschen sagen: „Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich (also Gott) überlassen habe, selbst bestimmen“. D.h.: Der Mensch soll sich von sich aus selbst  frei zu der von ihm selbst gewonnen Form ausbilden.

Wie komme ich zur Selbstbestimmung? Da muss auf das zentrale geistige Phänomen hingewiesen werden: Es gibt eine Art Aufruf zur Selbstbestimmung in mir, sie geschieht in der Prüfung dessen, was mir gesagt wird oder vorgeschriebenen wird mit meinen tatsächlichen Wahrheitsbewusstsein.

Zwei Fragerichtungen sind da wichtig:

Ist das mir von außen Vorgeschriebene vernünftig, ist es Ausdruck des Willens aller, etwa in einem Staat, oder ist es Ausdruck diktatorischer Willkür.

Und wenn ich mein persönliches „Anliegen“ betrachte, das Lebensziel, das ich mir gesetzt habe: Ist es wirklich mein eigenes Anliegen, das ich da verfolge, oder habe ich Sprüche der Gesellschaft, der Werbung, schon soweit übernommen, dass ich diese Fremdbestimmung gar nicht mehr merke.

– Im Prozess der Findung von Selbstbestimmung gerate ich in eine tiefe Fragebewegung hinein, werde in mich selbst geführt, mich kritisch zu betrachten.

– Autonomie und Selbstbestimmung gelebt sind sichtbarer Ausdruck menschlicher Freiheit, und sie sind das Ziel menschlicher Freiheit. In der Autonomie, geleistet durch aktive Selbstbestimmung, will ich das Glück, das gelingende Leben, leben.

– Es gibt kein subjektiv geleistete Streben nach Autonomie vom existentiellen „Nullpunkt“ aus: Ich bin immer schon in eine Kultur z.B. hineingesetzt, hineingestellt, in eine bestimmte Sprache, in eine Gesellschaft usw…Der individuelle Spielraum ist zwar da, aber es ist immer ein begrenzter Spielraum. Diesen begrenzten Lebensspielraum sollen wir gestalten nach unseren eigenen Vorstellungen, damit wir es selbst sind, die unser begrenztes Leben leben und gelebt haben und dadurch in Selbstachtung existieren können.

– Tatsache ist aber auch, dass alles autonome Handeln des Subjekts stets auch von einem Lassen geprägt ist, darauf hat Martin Seel ausführlich hingewiesen. Indem ich mich für A entscheide, kann ich eben nicht B oder C tun, d.h. ich muss B und C lassen, beiseite lassen. Alles Tun, also auch alle aktive Selbstbestimmung, ist immer auch lassen.

– Bei Kant ist wichtig die Verbindung von Autonomie und Moralität: Autonomie kann nie nur MEINE Autonomie sein. Es gibt nur die gemeinsame und allgemeine und deswegen vernünftige Autonomie. Es gibt einen Maßstab für das, was gemeinsame Autonomie werden kann. Das Kriterium ist sicher der Kategorischer Imperativ. Also, verkürzt, die Frage: Kann meine Maxime allgemeines Gesetz werden? Auf Autonomie insistieren hat nichts mit einem Kult der Individualität als abgekapselter Gestalt des Ich zu tun, hat nichts mit egozentrischer Fixierung und Glorifizierung zu tun. Autonom können immer nur letztlich alle sein in einer Gesellschaft, einem Staat, einer Kirche.

– Autonomie braucht Gesetze: Das ist wohl der Fehlschluss der sogen. Autonomen heute, die offenbar ihre eigenen Gesetze absolut nehmen und die Gesetze anderer, so problematisch sie im einzelnen auch sein mögen, bekämpfen mit Gewalt. Der wahrhaft autonome Mensch schafft sich in einem langem Prozess der Verständigung mit anderen Gesetze, die immer weiter natürlich ausgebaut und korrigiert werden müssen im Sinne Autonomie für alle in Gerechtigkeit.

– Diese Gesetze können nur in einem demokratischen und nicht einem diktatorischen Staat entstehen, (an dem Unterschied beider Staatsformen müssen wir festhalten, selbst wenn Demokratie ewig verbesserlich bleibt, so ist doch etwa der qualitative Unterschied zwischen den Staat Nordkorea und Schweden oder Holland evident).

– In den Gesetzen finde ich eine Grenze meiner Selbstbestimmung in Bezug auf die legitime Selbstbestimmung der anderen. Wenn etwas gesetzlich erlaubt ist, wird man niemanden existentiell kaputt machen können und dürfen, der sich innerhalb des Erlaubten bewegt. Da darf man nicht die eigene Moralität mit den allgemeinen Gesetzen verbinden.

– In den Gesetzen muss den moralischen Vorstellungen unterschiedlicher Menschen entsprochen werden. Gesetze sind nie ohne Moral, aber sie dürfen nie nur einer bestimmten Moral einer Partei oder einer Religion entsprechen. In den Gesetzen der Demokratie finden sich wenigstens auf kleinem,  gemeinsamen Nenner verschiedene Moralitäten wieder.

– Zum tiefen Verständnis von Autonomie gehört aber wohl auch die  „passive Hinnahme“ von etwas, das nicht meiner eigenen unmittelbaren (selbstbestimmenden) Aktivität entspringt. Beispiel: Der künstlerische Prozess: Dem Künstler geht kein anderer zur Hand. Es „geschieht“ mit ihm etwas im schöpferischen Prozess. Da fallen dem Künstler Einsichten zu. Im schöpferischen Prozess ist der Künstler nicht mehr Herr seiner selbst. Aber seine Werke können dann doch besprochen und beurteilt werden, etwa als Kitsch oder Fälschung entlarvt werden.

– Das passive Berührtsein von einem geschenkten Ereignis/einer Einsicht kann auch im Erleben der Kunst geschehen. Es gibt die Momente der Gabe, des Beschenktseins von etwas und mit etwas, das ich nicht aus mir gemacht habe.  Kunst ist etwas, das ins Mysterium des Lebens hineinreicht. Das reicht auch an den Geniebegriff heran. Ein „klassisches“ Genie ist nie autonom, nie Herr seiner selbst.  Kant sagte: Das Genie ist ein eigentümlicher Geist. Der Künstler weiß letztlich nicht ganz genau, was er schöpferisch vollzieht..

– Es gibt hier auch die Beziehung zur Religion: „Vom Kunstwerk wird man ergriffen“, sagt Schiller.

– Von der Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit wird man ergriffen. Aber muss danach darüber sprechen und kritischen Fragen standhalten. Bekennen allein genügt nicht.

Andererseits: Wenn ich mich dann religiös, konfessionell usw.  explizit binde, dann darf mein elementares menschliches Bedürfnis nach  Autonomie nicht außer acht gelassen werden. Insofern gilt: In einer Gesellschaft autonomer Menschen muss auch die Religion freiheitlich und eben nicht der Selbstbestimmung zuwider sein. Kant spricht ausdrücklich von vernünftiger Religion in seiner Aufklärungsschrift und natürlich auch in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“.

– Unsere Vernunft tritt auch der verfassten Religion kritisch gegenüber und prüft: Fördert sie meine Autonomie oder nicht?

Danach entscheiden wir unsere Zustimmung zu dieser Religion, zumindest heute, in Zeiten, wo Religionsfreiheit in einigen Staaten als Recht existiert und nicht bloß proklamiert wird.

– Wenn die Erfahrung autonomen Handelns grundlegend ist für das geistig-leibliche Dasein des Menschen, wenn es ohne diese Erfahrung von elementarer Autonomie nichts gibt im Leben als Freiheit- und Menschsein ist Freiheit: Dann zehrt alles geistige Leben von dieser Kraft der inneren Autonomie. Man darf wohl soweit denken und sagen: Darin zeigt sich etwas Heiliges, zu Ehrendes, zu Pflegendes um seiner selbst willen. Hans Joas schreibt: „Für Durkheim ist der Glaube an die Autonomie der Vernunft des Individuums das Dogma des Sakralitätssystems des Individuums“ (Hans Joas, Sakralität der Person, Suhrkamp Verlag, 2011, S 95).

– Worauf die Debatte über Autonomie hinausläuft: Es gibt eine Erfahrung von Evidenz, also der unbezweifelten Gewissheit, dass wir immer schon Autonomie als höchsten Wert wollen, dass wir Selbstbestimmung für uns und alle Menschen wollen.

Es gibt etwa Studien amerikanischer Historiker, wie etwa Lynn Hunt, die zeigt: Wie unter den freieren Bürgern etwa im 18. Jh. ein Widerwille entstand, Folter zu sehen, Folterer zu schätzen. Es ist dann für diese Menschen nicht länger evident, dass, wie kulturell behauptet, Folter normal und gut ist. Es entwickelt sich eine evidente Abscheu, die in der Überzeugung gipfelt: Auch die Gefolterten haben ein Anrecht auf Selbstbestimmung. Da sollten wir wohl Menschenwürde sagen!

– Wir gelangen also durch die Reflexion auf die Selbstbestimmung bzw. Autonomie zum Begriff der universalen Menschenwürde eines jeden.  Das ist eine Idee, die es festzuhalten gilt, auch wenn so vieles faktisch auch heute in einem Zeitalter, das Aufklärung sucht, dagegen spricht. Diese Hochschätzung der Autonomie verbindet Menschen aller Konfessionen und Atheismen. Dieser Glaube an die allem voraus liegende Autonomie als Sakralität der Person ist sozusagen die Basis- Religion der Menschheit. Das sah Emile Durkheim so. Wir Menschen stehen also vor aller konfessionellen Spaltung auch in einem Raum gemeinsamer Autonomie/Sakralität der Person.

Copyright: Christian Modehn, Berlin. Religionsphilosophischer Salon.  29.3. 2014

 

 

 

 

 

Über den Hedonismus. Wenn die Lust zur Vernunft kommt

NDR Glaubenssachen am 2. März 2014

Wenn die Lust zur Vernunft kommt

Die Aktualität des Hedonismus

Von Christian Modehn

Das Layout dieses Beitrags entspricht dem für Hörfunkproduktionen üblichen Format.

 

1. SPR.:

Philosophische Schulen der Antike erleben heute eine Renaissance: Wer die Belastungen des Alters voller Gleichmut ertragen will, sucht sich gern Inspirationen bei Seneca und Marc Aurel, den Stoikern. Freunde des geduldigen Dialogs folgen den Weisungen des Sokrates, des Meisters treffender Fragen. Und wer sich dem Vergnügen des Nachtlebens hingibt, hat keine Scheu, sich in aller Offenheit zum Hedonismus zu bekennen. Für diese Menschen ist die Hedonè, wie die alten Griechen sagten, also Genuss, Lust und Vergnügen der Lebensinhalt.

2. SPR.:

In Berlin schwärmen nicht nur Touristen von den „Tempeln der Lust“. Sie denken dabei nicht etwa an die altbekannten Orte der Ausschweifung, die Bordelle. Sie meinen die großen Music–Clubs, die am Freitagabend öffnen und erst wieder montags bei Tagesanbruch schließen. Diese Tempel sind alles andere als erbauliche Orte zum gemütlichen Verweilen. Einst waren in den riesigen Hallen Heizkraftwerke untergebracht, Mauern aus grauem Beton und nackte Eisenträger haben einen eigenen, leicht morbiden Charme.

1. SPR.:

Die Massen, die dort Einlass suchen, sind auf die Gnade der Türsteher angewiesen. Aber hat man einmal das Heiligtum betreten, ist beinahe alles erlaubt: Dem exzessiven Tanzen bei dröhnender House – Music widmet man sich halbnackt. Der gestylte Körper soll schließlich bewundert werden. Hochprozentiger Alkohol fließt in Strömen und auch andere Drogen werden nicht verschmäht. Für sexuelle Kontakte mit Zufallsbekanntschaften stehen halbwegs abgedunkelte Räume zur Verfügung.

2.SPR.:

Die Besucher dieser Stätten der Lust haben sich einen philosophischen Schutzpatron erwählt: Epikur ist ihr Lehrmeister; ihm wollen sie folgen, wenn sie für etliche Stunden am Wochenende dem Alltag entfliehen und nichts anderes im Sinn haben als die Hedoné, die Lebenslust.

1. SPR.:

Aber war Epikur tatsächlich ein Epikuräer, also ein Freund des Vergnügens, gar ein Lüstling? War der Philosoph, der vor 2.400 Jahren lebte, eine Art antiker Partygänger, ein hemmungsloser Genussmensch, ganz den üppigen Speisen ergeben und dem edlen Wein?

2. SPR.:

Tatsächlich, Epikur liebte die Lebensfreude über alles, auch den Genuss, selbstverständlich auch die Lust. Aber er hatte sich dabei doch den Sinn für feine Nuancen bewahrt. Denn er wollte lustvoll leben, ohne dabei auf den Verstand zu verzichten. Deswegen ist sein Denken heute noch inspirierend und hilfreich.

1. SPR.:

Im Jahr 341 vor Christus wurde Epikur auf der Insel Samos geboren; schon als Jugendlicher begann er, Philosophie zu studieren. 306 ließ er sich in Athen nieder und sammelte dort eine große Gemeinschaft von Schülerinnen und Schülern. Sie bevorzugten als Treffpunkt einen großen Garten, schön wie ein Park angelegt, auch für den Gemüseanbau blieb ausreichend Platz. Inmitten der Natur wollten die Freunde der Weisheit, die Philo-Sophen, einzig der Frage nachgehen: Was ist eigentlich das wahre Leben, was ist der rechte Gebrauch der Lust?

2. SPR.:

Als Epikur mit 70 Jahren starb, hinterließ er über 300 umfangreiche Werke. Die meisten Texte blieben nur als Fragmente erhalten. Aber die noch vorliegenden Werke zeigen die Vielfalt seiner Interessen, auch eine umfassende Lehre über das Wesen der Natur hat er entwickelt. Heute werden seine Hinweise zur Lebenslust besonders geschätzt.

3. SPR.:

Wir nennen die Lust das Prinzip und das höchste Ziel eines glückseligen Lebens. Meine Schüler, Ihr sollt darum in eurem Leben die Hedoné, die Annehmlichkeit, die Lust suchen! Kostet die Süße des Lebens aus. Ich weiß nicht, was ich mir als das Gute vorstellen soll, wenn ich die Lust des Geschmackes, die Lust der Liebe, die Lust des Ohres beiseite lasse, ferner die angenehmen Bewegungen, die durch den Anblick einer Gestalt erzeugt werden, und was sonst noch für Lustempfindungen im gesamten Menschen durch irgendein Sinnesorgan entstehen.

1. SPR.:

Aber wie jeder Philosoph muss dann auch Epikur den Sinn für die Unterscheidung der Geister wecken. Von blinder Begeisterung für die Lust hielt er nichts. So will er zwar nicht als Spielverderber auftreten oder als verbitterter Moralapostel. Aber er kann die entscheidenden Fragen nicht unterdrücken:

3. SPR.:

Wie kann ich als Mensch eigentlich richtig genießen? Welche Lust bereichert wirklich mein Leben?

1. SPR.:

Epikur plädiert also für einen kritischen Umgang mit der Lust, er möchte den Genuss kultivieren und zeigen: Wer genießt, erfreut sich nicht am hastigen Trinken eines Glases Wassers oder am eiligen Herunterschlingen einer Scheibe Brot irgendwo auf der Straße oder bei der Arbeit. Genuss ist vielmehr ein Zustand, Genuss meint die Dauer des Wohlbefindens. Also etwa das angenehme Gefühl, bei großer Hitze den Durst mit einem Glas frischen Wassers gestillt zu haben und dabei zu entspannen. Nicht der sexuelle Akt als solcher ist schon der ganze Genuss, genauso wichtig ist die viel länger anhaltende Freude an der erotischen Begegnung mit einem anderen Menschen. Dieses Gefühl des Wohlseins spendet Lebensenergie, macht Mut, den oft so grauen und grausamen Alltag zu gestalten. Lust als das dauerhafte Wohlbefinden lebt in der Erinnerung  weiter und stärkt die Sehnsucht nach einem heilsamen Zustand. Epikur betont:

3. SPR.:

Wenn wir also behaupten, dass die Lust das höchste Ziel sei, dann meinen wir nicht die Gelüste der Zügellosen und die Schlemmereien, sondern die Freiheit von Körperschmerz und Verwirrung des Geistes.

1. SPR.:

Wie andere Philosophen der klassischen Zeit in Athen oder Rom, etwa die Stoiker, versteht sich auch Epikur als Therapeut, der die Beschwerden von Leib und Seele mit vernünftigen Argumenten kurieren will.

2 .SPR.:

Man stelle sich einmal vor, Epikur würde heute leben und hätte den großen Film „The Wolf of Wallstreet“ mit Leonardo diCaprio in der Hauptrolle gesehen. Die Geschichte eines Brokers, der im Geld förmlich ersäuft. Denn er und seine Kumpanen steigern ihre Besessenheit, über alles Geld der Welt zu verfügen, ins Maßlose und Irrsinnige. Dabei werden sie völlig enthemmt, ihr Handeln folgt nur noch dem Motto: Zuviel ist nie genug. Das Ende des Brokers ist erbärmlich.

1. SPR.:

Epikur würde wohl sagen: Schade, Mister Wolf und ihr anderen Herren der Wallstreet; leider habt ihr niemals von meiner Lehre gehört, die ich so zusammenfasse:

3. SPR.:

Nicht Saufereien und Orgien am laufenden Band, nicht der ständige Genuss von Knaben und Frauen, auch nicht der Genuss von wertvollen Speisen und Fischen auf einer luxuriösen Tafel sind das lustvolle Leben! Vielmehr entsteht lustvolles Leben im nüchternen Nachdenken über jene irrigen Meinungen, die in der Seele die Verwirrung verursachen.

2. SPR.:

Ohne die Tugend der Klugheit mit ihrem kritischen Abwägen kommt auch das lustbetonte Leben nicht aus. Welcher Genuss nimmt mir meine körperlichen Schmerzen und meine seelischen Beschwerden? Und welcher Genuss überspielt bestenfalls diese Leiden kurzfristig und stachelt mich dann wieder an, erneut denselben Genuss zu suchen … um dann doch wieder erneut zu leiden?  Aus diesem traurigen Kreislauf gibt es nur ein Entkommen, betont Epikur:

3. SPR.:

Entscheidend für ein lustvolles Leben ist, die Vielfalt unserer Bedürfnisse zu unterscheiden: Es gibt Bedürfnisse, auf die niemand verzichten kann, weil sie natürlich und notwendig sind, wie zum Beispiel das einfache Essen und die elementaren Getränke, etwa das Wasser. Auch die Erotik gehört dazu. Mit Vorsicht sollte man sich hingegen Bedürfnissen hingeben, die zwar natürlich, aber nicht notwendig sind, wie etwa der Genuss von Wein oder der Vielzahl von Leckerbissen. Und meiden sollte man eher Bedürfnisse, die weder natürlich noch notwendig sind, also etwa Ruhm zu erwerben und mit großem Reichtum ausgestattet zu werden. Um würdig als Mensch zu leben, muss man nicht von überflüssigem Luxus umgeben sein.

1. SPR.:

Einfachheit und Genuss passen also bestens zusammen. Epikur und seine Freunde konnten sich an den frischen Kräutern und dem Gemüse aus dem eigenen Garten erfreuen, Fisch und Fleisch aßen sie nur selten. Hingegen fanden sie Zeit, für die wunderbaren Gaben der Natur zu danken. Sie ist für Epikur die ewige Quelle sprudelnden Lebens.

3. SPR..
Dank sei der seligen Natur, dass sie es uns erlaubt, das Notwendige leicht zu beschaffen. Dieses Notwendige kann schon unsere Lustgefühle wecken, etwa die Freude am frischen Brot und dem Käse, dem leichten Wein: Da wird der Leib befriedigt und die Seele ist zufrieden. Es geschieht die Mäßigung der Gier und das Gleichgewicht der Gefühle wird spürbar.

2. SPR.:

Epikur, der Philosoph der maßvollen Lust, wird heute auch als Meister des alternativen, bescheidenen Lebens gepriesen. Der französische Philosoph Michel Onfray hat als leidenschaftlicher Verteidiger einer hedonistischen Lebenshaltung diese Lehren Epikurs neu entdeckt. In einem Interview mit der Zeitschrift „Philosophie Magazine“ sagte Onfray kürzlich:

3. SPR.:

Ich halte eine Art Lobrede auf die Askese im Geistes Epikurs. Und die besteht im Wesentlichen darin, nur die elementaren Dinge wichtig zu nehmen. Wenn man ein Dach über dem Kopf hat, etwas zum Essen und sich zu wärmen, braucht man dann wirklich mehr?

1. SPR.:

Ja, der Mensch braucht doch noch etwas mehr, betont Epikur, nämlich die Freundschaft. Erst unter Freundinnen und Freunden wird ein bescheidenes Leben zu einem lustvollen Leben. Den großen Gemüse-Garten zu hegen und zu pflegen, macht ja  nur Sinn, wenn die Ernte gemeinsam verspeist wird. Lebenslust stellt sich erst ein, wenn man mit lieben Menschen gemeinsam den Wein genießen kann, und dabei ins Philosophieren kommt. Die Freundschaft gibt dem Leben mit all seinem Kummer erst Sinn, schärft Epikur ein:

3. SPR.:

Man hat eher darauf zu achten, mit wem man esse und trinke, als was man esse und trinke. Denn ohne Freunde beim Essen ist das Leben nichts als eine Abfütterung, wie bei einem Löwen oder Wolf.

2. SPR.:

Dieses bescheidene, aber lustvolle Leben in Gemeinschaft macht Sinn, meint der Philosoph. In solchen Stunden geistvollen Zusammenseins kann die Seele geheilt werden, weil man sich im Gespräch gemeinsam von falschen Vorstellungen befreit, etwa: Immer mehr zu Besitzen und zu Haben sei das Wichtigste im  Leben. Hingegen, so Epikur, komme es doch einzig auf die Unerschütterlichkeit und Gelassenheit an, die Ataraxía, wie die Griechen sagten:

3. SPR.:

Haben wir die Gelassenheit erreicht, legt sich der Sturm für unsere Seele. Diese Ataraxia, diese Ruhe der Seele ist vergleichbar der Ruhe auf dem Meer, wenn kein bedrohlicher Wind aufkommt.

1.SPR.:

Epikur entspricht ganz dem Geist der antiken Philosophie, wenn er sich auch als Therapeut versteht, er will die tief sitzenden Ängste bearbeiten, vor allem die Furcht vor dem eigenen Tod. Sie kann zu einem zerstörerischen, alle Lebenslust erstickenden Gefühl werden:

3. SPR.:

Der Schmerz der Seele, die Todesangst, ist heftiger und andauernder als der leibliche Schmerz.

2. SPR.:

Wer lustvoll leben will, muss auch die Todesangst bewältigen, heißt eine der Grundüberzeugungen Epikurs:

3. SPR.:

Wir sollten erkennen: Der Tod betrifft uns letztlich überhaupt nicht. Denn solange wir leben, ist der Tod nicht da. Wenn der Tod aber einmal da ist, sind wir als Menschen auch nicht mehr da. Der Tod betrifft also weder die Lebenden noch die Verstorbenen.

1. SPR.:

Epikurs Vorschlag klingt rigoros: Kümmert euch also nicht um euren Tod. Beachtet ihn nicht! Solange ihr lebt, seid ihr ja nicht tot.

2. SPR.:

Diese Lehre klingt sehr einfach. Aber sie hat ihre Grenzen. Denn ich bin ja immer auch mit dem Tod lieber Menschen konfrontiert. Der Abschied von ihnen fällt mir schwer. Was wird aus ihnen nach dem Tod, diese Fragen sind doch nicht zu leugnen. Was wird aus mir, wenn ich einmal tot bin. Trotz dieser Einschränkungen hat Epikurs Philosophie der vernünftigen Lust in der Antike eine enorme Aufmerksamkeit gefunden. Er galt als der Lebemeister schlechthin. Der Philosoph Charles Werner betont:

3. SPR.:

In der Zeit voller Wirren in der Antike hat die Philosophie Epikurs unzähligen Seelen Ruhe und Frieden gebracht.

2. SPR.:

Epikur und seine Freunde waren eher von einem positiven Menschenbild geprägt, sie waren so optimistisch zu meinen, der Mensch können das rechte Maß im Umgang mit seinen Leidenschaft und der Lust selbst finden.

1. SPR.:

Die Kirchen haben Epikur nie so recht respektiert, geschweige denn akzeptiert. Christliche Theologen konnten das Thema Lust und Genuss nicht unbefangen wie Epikur allein nach den Grundsätzen der Vernunft besprechen. Große Kirchenlehrer, wie Tertullian oder Augustinus im 4. Jahrhundert, waren überzeugt, dass seit dem Sündenfall von Adam und Eva im Paradies jeder Mensch völlig außerstande ist, sinnvoll genießen zu können. Lust und Genuss konnten nur zu einem lasterhaften, einem sündigen Leben führen.

2. SPR.:

Schon der erste christliche Theologe, der Apostel Paulus, lehrte: Lust, gerade auch sexuelle Lust, sollte besser erst gar nicht erst entstehen. Keuschheit und Ehelosigkeit galten ihm als höhere Werte. Lustbetonte Liebe durfte selbst in der Ehe nicht sein. Später konnte die katholische Kirche Begierden und Freuden der Erotik nur akzeptieren, wenn sie ausdrücklich die Zeugung von Kindern intendierten. Viele Christen wurden nun zwischen menschlicher Lust und kirchlichen Vorschriften förmlich hin und her gerissen und in unsägliche Seelenqual gestürzt. Sie ließen sich einreden, Lust, Freude, Vergnügen gehörten nicht zur guten Schöpfung Gottes!

1. SPR.:

Die tiefe Kluft zwischen einer epikuräischen Zustimmung zur Lust und einer christlichen Abwehr ist nur selten überbrückt worden. Erst im 15. Jahrhundert wagt es der katholische Philosoph und Mitarbeiter am päpstlichen Hof, Lorenzo Valla, die Lehre Epikurs auch den Christen ausdrücklich zu empfehlen. Valla verfasste die Schrift „Über das wahre und das falsche Gute“. Darin wird die Lust als eine erstrebenswerte Gabe Gottes dargestellt und den Christen zur Praxis nahe gelegt. Eine Ungeheuerlichkeit damals! Der evangelische Theologe Jörg Lauster hat auf diesen weithin vergessenen Theologen der Renaissance Zeit aufmerksam gemacht:

3. SPR.:

Die Lust ist im Sinne Vallas eine das Leben steigernde Kraft und darum ein wertvolles Ziel der Lebensführung, z.B: Auch der Genuss der Speisen und die Sexualität tragen zum Gelingen des Lebens bei.

1. SPR.:

Aber wie sein Meister Epikur musste der Theologe Valla dann doch eine Einschränkung machen:

3. SPR.:

Die Menschen müssen auch bei der Lust abwägen, was gut ist,  und dabei auch auf die Erfüllung mancher sinnlicher Lust zugunsten geistigen Genusses verzichten.

2. SPR.:

Insgesamt sind aber Lorenzo Vallas Überlegungen eine absolute Ausnahme, sie sind ein herausragendes Denkmal der christlich – humanistischen Renaissance-Philosophie geworden. Bescheidene Ansätze für eine positiv gestimmte Theologie der Lust finden sich erst im 20. Jahrhundert. Einer der wenigen Theologen, die die Lust im christlichen Leben aufwerten wollen, ist der Protestant Manfred Jossutis, Professor emeritus an der Universität Göttingen. In seinem Plädoyer für die Lebenslust steht sein Lob der Sexualität an erster Stelle:

3. SPR.:

Alle Menschen sind auch Produkte von Begehren und Lust. Zur persönlichen Annahme des geschenkten Lebens gehört deshalb nicht nur die Bejahung der eigenen Körperlichkeit, sondern auch die Bejahung jenes unheimlichen Aktes, in dem die eigene Existenz grundgelegt ist. Sexuelle Praxis ist immer auch ein Akt der Lebensbejahung.

1. SPR.:

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit! Aber in kirchlichen Kreisen muss das noch immer betont werden, etwa, wenn man an die offizielle Warnungen vor dem Gebrauch von Kondomen denkt. Auf katholischer Seite hat der französische Bischof Jacques Gaillot ausdrücklich gefordert, die Lust doch bitte als selbstverständliche Tugend des christlichen Lebens zu respektieren. Der Bischof von Evreux hatte den Mut, im Jahr 1989 seine Überzeugung in dem genannten Herren Magazin Lui (sprich Lüí) )zu verbreiten:

3. SPR.:

Lust gehört zu uns Menschen und zum Leben. Lust ist nicht zu verurteilen, sondern sie ist uns von Gott geschenkt. Nur sollte man bei dem Vergnügen immer die Achtung vor der eigenen Person bewahren und auch die anderen Menschen respektieren. Im übrigen aber ängstigt mich der internationale Waffenhandel mehr als die Freizügigkeit der Sitten in der Lust.

1. SPR.:

Über diese Worte war der Vatikan alles andere als erfreut. Jacques Gaillot wurde 1995 als Diözesanbischof abgesetzt. Ihm wurde das längst untergegangene Wüstenbistum Partenia irgendwo in einer algerischen Einöde übergeben. Der Verteidiger der Lust wurde in die Wüste geschickt!

2.SPR.:

So wenden sich auch religiöse Menschen, die ein gleichermaßen lustvolles wie vernünftiges Leben führen wollen, doch eher an die Philosophie. Als guten  Ratgeber erleben sie dabei den Philosophen Michel de Montaigne, er war Katholik und Humanist. Aber er liebte es nicht, etikettiert und eingeordnet zu werde: Er wollte nichts anderes sein als ein allseitig interessierter Mensch. Er hat in seinen bis heute viel gelesenen Essais geschrieben:

3. SPR.:

Man sollte den Lüsten weder nachlaufen noch vor ihnen wegrennen. Man sollte sie willkommenheißen. Ich nehme sie sogar mit etwas breiteren Armen auf als üblich. Gerade jetzt, wo ich alt bin sage ich: Wir sollten feste zugreifen, sobald sich eine günstige Gelegenheit der Lust bietet. Überlassen wir die täglichen Diätempfehlungen den Ärzten und den Kalendermachern.

1. SPR.:

Montaigne liebte die Lust und den Genuss zu einer Zeit, die von blutigen Religionskriegen bestimmt war. Angst und Verzweiflung waren im 16. Jahrhundert stärker als Lebensfreude und Zuversicht. Montaigne nannte seine Epoche verderbt und hirnlos, barbarisch und ungeheuerlich. Aber er sah darin keinen Grund, sich dieser allgemeinen Stimmung von Hass und Niedertracht zu beugen. So bleibt sein Grundsatz der Philosophie der Lust bis heute inspirierend:

3. SPR.:

Ich halte nichts von einem missmutigen und mürrischen Geist, der über die Freuden des Lebens hinweg schleicht und bei den Widerwärtigkeiten verharrt. Mein Grundsatz ist: Ich liebe das Leben und hege und pflege es so, wie Gott es uns ja gegeben hat.

2. SPR.:

Und damit man ihn ja nicht zu fromm versteht, fügt Montaigne hinzu:

3. SPR::

Fern liegt mir der Wunsch, das Leben möchte des Bedürfnisses nach Essen und Trinken enthoben sein.

COPYRIGHT: Christian Modehn Berlin

 

 

 

 

 

 

 

Gelassenheit. Ein Hinweis auf Epikur und Meister Eckart

Die Kriterien EPIKURS für ein Leben in der Gelassenheit, ataraxia. Und ein Hinweis zu Meister Eckart.

Zum Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am Freitag, den 14. Februar 2014, in der Galerie Fantom.

Einige TeilnehmerInnen baten darum, noch einmal einige Thesen zum Salon nachlesen zu können….

 

Epikur war kein „Epikuräer“ im Sinne von  „Genießer“ und „Lüstling“.

Er wollte als Philosoph die Heilung der Seele bewirken. Das entspricht ganz der allgemeinen Zielsetzung des Philosophierens in der Antike.

Die Heilung als Ruhe der Seele gelingt nur, wenn sich der Mensch seiner Lust stellt und unterscheiden lernt im Umgang mit seiner Lust.

Entscheidend für ein lustvolles Leben ist, die Vielfalt der Bedürfnisse zu unterscheiden:

– Es gibt Bedürfnisse, auf die niemand verzichten kann, weil sie natürlich und notwendig sind, wie zum Beispiel das einfache Essen und die elementaren Getränke, etwa das Wasser. Auch die Erotik gehört – zumindest in unserem Verständnis – dazu.

– Mit Vorsicht sollte man sich hingegen Bedürfnissen hingeben, die zwar natürlich, aber nicht notwendig sind, wie etwa der Genuss von Wein oder der Vielzahl von Leckerbissen.

– Und meiden sollte man Lust – Bedürfnisse, die weder natürlich noch notwendig sind, also etwa Ruhm zu erwerben und mit großem Reichtum ausgestattet zu werden. Um würdig als Mensch zu leben, muss man nicht von überflüssigem Luxus umgeben sein.

„An alle Begierden muss man folgende Fragen richten: Was wird mir widerfahren, wenn das Ziel der Begierde erreicht ist? Und was, wenn das Ziel der Begierde nicht erreicht ist“ (aus der so gen. Vatikanischen Spruchsammmlung des Epikur, Nr. 71).

„Es kommt darauf an so zu leben, dass man weder am Körper Schmerzen noch an der Seele Unruhe spürt“ (Brief an Menoikeus)

Epikur plädiert für das einfache  Leben. „Wenn man sich an die einfachen und nicht aufwendigen Lebensweisen gewöhnt, dann macht das einen vollständig gesund, und es macht den Menschen unbesorgt“. (Brief an Menoikeus).

Am wichtigsten ist die Freundschaft, auch als Ort, Gelassenheit einzuüben.

Die Gemeinschaft: „Man hat darauf zu achten, mit wem man esse und trinke, als was man esse und trinke. Denn ohne Freunde beim Essen ist das Leben nichts als eine Abfütterung, wie bei einem Löwen oder Wolf“.

– Gelassenheit heißt: Keine Angst vor dem Tod zu haben:

„Wir sollten erkennen: Der Tod betrifft uns letztlich überhaupt nicht. Denn solange wir leben, ist der Tod nicht da. Wenn der Tod aber einmal da ist, sind wir als Menschen auch nicht mehr da. Der Tod betrifft also weder die Lebenden noch die Verstorbenen“.

Die „unphilosophische Seele“ krankt an falschen Vorstellungen.

Die philosophische Seele kann selbst den Weg zur Gelassenheit verstanden als Atarxia finden.

Copyright: Christian Modehn

 

Thesen zur Lehre von der Gelassenheit, Meister Eckart.

Über diese Thesen und weitere Erkenntnisse des Philosophen Meister Eckart werden wir später in einem Salon ausführlich sprechen.

Die Gelassenheit ist der Zustand, in dem der Mensch nach mühevoller Arbeit an sich selbst alles gelassen hat und vertrieben hat, was ihn von dem wahren Gott trennt. Der gelassene Mensch ist dann der Neugeborene, der Gerechte.

Der Eckart Spezialist, Prof. Kurt Flasch, empfiehlt als Leitlinie des Verstehens:

„Es ist die Vernunft, die Mensch und Gott vereint, nicht ein Gefühl, der Glaube oder eine Vision“ (Kurt Flasch, „Meister Eckart“ , Beck Verlag 2009, Seite 50).

Der Seelenfunken liegt verdeckt unter den Schichten der Selbstsucht und dem Ich.

Es gilt, die den Seelengrund verdeckenden Schichten abzutragen. (Quint, Meister Eckart, 1969, S. 28.)  „Klebe nicht an selbst gefälligen Werken“.

„Steig auf dem Weg der Abgeschiedenheit und der Gelassenheit hinab in die Tiefen deines eigenen Seinsgrundes, indem du die sterilen Hüllen und Schalen deines kleinen Ich durchbrichst“, so S. 48.

„In der Einigung mit der Gotteskraft erfährst du die mächtigen Antriebe zu einem wesentlichen Wirken“, ebd.

Es geht um die Überwindung des „Scheinseins“  (des alltäglichen, unreflektierten Lebens) hin zum wesentlichen Sein.

 

Das Innewerden des göttlichen Funkens in mir ist jedem Menschen möglich. Es ist der Zustand der Wiedergeburt, des neuen Menschen nach dem Tod des alten Menschen. Es ist das Innewerden der Erlösung.

Das Leben des gelassenen Menschen führt zu einem Leben, das aus dem Ewigen, dem Göttlichen, dem Einen, heraus handelt. Es ist eine neue Gesinnung, die den Gelassenen auszeichnet. „Dass man Ruhe habe IM mühevollen Leben, das ist das Allerbeste“, so Meister Eckart, (zit. in Quint, s 41.) Werde, der du bist. Auch dies ein Grundsatz Eckarts. Mensch werde wesentlich, so Quint, S. 48.

Das gelingt nur in dem Wissen: Alles Sein dieser Welt ist getragen vom göttlichen Urgrund und ist aufgehoben im unendlichen göttlichen Urgrund.  (Quint S. 50).

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

 

 

Johann Gottlieb Fichte: Vor 200 Jahren gestorben

Wir erinnern gern an Johann Gottlieb Fichte, anläßlich seines 200. Todestages. Und wir haben den Eindruck, dass Fichtes Denken noch längst nicht “angekommen” ist in der Gegenwart. Darum zwei Hinweise:

Dabei interessieren uns von der religionsphilosophischen Fragestellung Hinweise, die der Philosoph Kurt Flasch in seinem wichtigen Buch “Meister Eckart, Philosoph des Christentums” (2010) gegeben hat. Im 13. Kapitel seines Buches erinnert Kurt Flasch an die Bedeutung des Johannes-Evangeliums im Denken Fichtes (S. 199f), vor allem in dem Buch “Anweisung zum seligen Leben” (1806). Fichte sieht im Johannes-Evangelium einen fundamentalen Text, der neue Horizonte eröffnet für ein Selbstverständnis des Menschen. Fichte sieht – darin eins mit dem Autor des Johannes-Evangeliums – den Menschen als Wesen, das sich vor jedem verdinglichenden Selbstverständnis bewahren muss. Und da gibt es die Brücke zu Meister Eckart. Kurt Flasch schreibt:”Ich behaupte nicht, Fichte biete den Schlüssel zu Meister Eckart, aber es ist kein Nachteil, über sein Konzept von Mensch und Geist nachzudenken, bevor man über Eckart zu sprechen beginnt” (S. 200). Ausdrücklich warnt Kurt Flasch davor, den Menschen, das Ich, als eine Art “Seelending” zu denken, “dem Denken und Wollen anhaften”(ebd.). Gerade davor warnt aber auch Fichte in seinem Buch.

Dringend empfehlen wir auch die Lektüre des Buches “Der ganze Fichte” von Peter L. Oesterreich und Hartmut Traub. Das Buch ist (2007) im Kohlhammer Verlag in Stuttgart erschienen,es hat 366 Seiten.
Schon früher hatten wir im “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” auf Fichte aufmerksam gemacht. Zur Lektüre dieses “Impulses” klicken Sie bitte hier.

Das Buch “Der ganze Fichte” ist wichtig, weil
– es versucht, die transzendentalphilosophischen Wissenschaftslehren mit den “populären” Philosophischen Schriften Fichtes zu vermitteln.
– es darauf hinweist, dass Fichte an einer “Philosophie der Philosophie” interessiert war und dabei auch die “Person des Gelehrten” als Ort dieses Philosophierens einführte.
– auch bislang eher unbekannte Eigenheiten Fichtes deutlich macht, etwa sein Interesse an Rhetorik,ja selbst an Predigt.
– weil es zeigt, wie sich Fichte gegen – konfessionalistische – Dogmatismen und Ideologien wehrte.
– weil es zeigt, dass die Wissenschaftslehre von 1804 wohl als der Mittelpunkt des Fichteschen Denkens anzusehen ist.
– weil es an die enge, kritische Verbindung mit Friedrich Heinrich Jacobi erinnert.
– weil es daran erinnert, dass Fichte leider eine Gesamtidee seiner Philosophie nicht mehr selbst darstellen konnte…
Diese Beispiele zeigen, dass auch für anfänglich Interessierte das Buch lesenswert ist.

Eine Philosophie der Philosophie. Rücklick auf einen Salonabend am 16.1.2014 als Vorblick

Eine Philosophie der Philosophie:
Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für das Leben
Ein „Religionsphilosophischer Salon“ am 16.1.2014.
Ein Rückblick als Vorblick
Von Christian Modehn

Das Thema unseres Salons ist: „Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für das Leben“. Dabei sind im Titel die Beziehungen zu einem Text Friedrich Nietzsches nicht zu übersehen: Er sprach von „Historie“ anstatt von Philosophie. Diese Nietzsche „Inspiration“ im Titel haben wir (noch) nicht weiter vertieft.
Besonders wichtig erscheinen uns dabei die Beiträge des „praktischen Philosophen“ Michael Braun, Berlin, der wieder einmal bei uns war. Seine Fragen, Ideen, Vorschläge wurden wieder als inspirierend wahrgenommen!
Einige Aspekte (eher aus der Sicht des Autors dieser Hinweise) wollen wir „festhalten“ für weiteres Nachdenken und Debatieren:
Das Thema „Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für das Leben“ gehört zu einer Frage nach der „Philosophie der Philosophie“. Sie wird nicht allzu oft erörtert, bestenfalls in eher populären Büchern „Was ist Philosophie?“ Es geht um ein philosophisches Begreifen des Philosophierens und der vom Philosophieren her geprägten (akademischen, universitären) Philosophie. Sie findet ihren Ausdruck in philosophischen Publikationen.
Es gab schon ein philosophisches Verstehen der Philosophiegeschichte, etwa Hegel ist da an prominenter Stelle zu nennen. Seine „Geschichte der Philosophie“ berücksichtigt das damals zugängliche „Material“. In der Auseinandersetzung mit den Schriften vergangener und lebender Philosophen entsteht dann für Hegel eine Philosophie der Philosophiegeschichte. Entscheidendes Stichwort ist dabei die Interpretationslinie: In der Geschichte des philosophischen Denkens drückt sich das zunehmend immer deutlicher verstehende Bewusstsein der Freiheit aus.
Deutlich wurde in unseren Gesprächen: Nur philosophisch lässt sich angemessen verstehen, was Philosophie ist. Wenn etwa ein Historiker von außen auf das philosophische Geschehen schaut, etwa auf die Institutionen, Publikationen, Biographien usw., sieht er die Außenseite des Philosophierens. Sobald man aber inhaltlich „einsteigt“ und kritisiert und debattiert, ist das bereits eine philosophische Leistung, und keine Sache mehr des außen betrachtenden Historikers.
Wichtig ist, sich beim Einstige in das Thema auf die vier Begriffe des Titels zu besinnen:
Philosophie sollte man in die beiden sprachlichen Elemente auflösen, um mehr zu sehen: „Philia“ meint eine freundschaftliche Haltung, vielleicht sogar eine liebende Faszination gegenüber der „Sophia,“ der Weisheit. Es geht also in der Philo-sophia um die sich selbst klar werdende, auch kritische Liebesbeziehung zur Sophia. Weisheit ist nicht mit Wissenschaft identisch, Weisheit ist umfassender auf das ganze Leben bezogen, hat einen stark praktischen Akzent, im Sinne von Lebensgestaltung und Lebensklugheit. Sophia im griechischen Philosophieren steht oft auch dem Logos nahe. Philosophie ist dann eine Liebe zum Logos, zum Sinn, zur Sprache, zum Dialog, zur Vernunft. Logos ist ein weiter Begriff, der auch ins Religiöse hineinreicht: Der Logos wird Mensch, noch schärfer im Johannes Evangelium formuliert: Er wird sinnliches (erotisches, sterbliches) Fleisch, greifbar als einzelne Person. In unserer „philosophischen Weihnachtsfeier“ am 27. 12. 2013 sprachen wir darüber.
Diese Liebe zur Weisheit, das wurde in Salon deutlich herausgestellt, ist jedem Menschen als Menschen möglich. D.h. Philosophieren ist grundsätzlich Sache aller Menschen. Auch wenn nicht jeder den Schritt (den Sprung?) wagt und vollzieht, sich auf das eigene Nach-Denken einzulassen. Vielleicht sind es Krisen und Erschütterungen, die den einzelnen ins eigene kritische grundsätzliche Nachdenken als Liebe zur (Lebens) Weisheit führen.
Zum Begriff Leben in unserem Titel: Wir sind überzeugt: Es gibt eine Gestalt des alltäglichen Daseinsvollzugs, in der in einer gewissen Selbstverständlichkeit gelebt („vor sich hin gelebt“) wird in einer scheinbar unerschütterlichen Selbstverständlichkeit, wo bestimmte Normen und Gebräuche selbstverständlich angenommen und oft auch praktisch respektiert werden. Viele Menschen haben schlicht keine Zeit, aus diesem alltäglichen Leben ohne große Erschütterungen im Denken herauszutreten.
Obwohl, philosophisch betrachtet, gerade in diesem alltäglichen Leben immer schon das Philosophieren lebendig ist und also Philosophie geschieht: Etwa in den banalen oder wichtigeren Entscheidungen wird angesichts mehrerer Möglichkeit eine Möglichkeit für das eigene Leben gewählt, etwa, weil diese eine Möglichkeit dem noch unbewussten eigenen Lebensentwurf am meisten entspricht.
D.h. auch in dem noch nicht vollständig selbst bewussten Leben des Alltags findet bereits Philosophie statt. Nur weil das so ist, kann dann überhaupt eine intensivere, kritisch fragende selbstbewusste Philosophie im eigenen Leben sich ereignen.
Vor diesem Übergang aus dem nur bewussten in ein selbstbewusstes Leben haben viele Menschen Angst. Sie weigern sich, in diese (offene) „Bewegung“ des Nachdenkens einzutreten, denn er stört, wenn nicht zerstört manche alltäglichen Gewissheiten. Etwa die Überzeugungen: „Mein Leben ist vollkommen richtig. So bin ich, so bleib ich“.

Diese Angst vor der Unsicherheit kann dann mit dem Begriff des Nachteils der Philosophie umschrieben werden. Dieser Nachteil, dieser dunkle, störende Schatten, wird nur in der Position ausgesprochen der Verklammerung an einen alltäglichen, noch nicht voll ausgebildeten selbst-bewussten Lebensentwurf. Wer einmal in die Philosophie eingetreten ist, kann in ihr keinen störenden Nachteil sehen, er wird sich mit der Ungewissheit denkerisch auseinandersetzen, mit der Frage: Warum hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit und wie verhalten sich die vielen subjektiven Wahrheiten zu der Frage: Gibt es eine für alle jetzt lebenden Menschen gültige Wahrheit? Gibt es allen gemeinsame Überzeugungen (etwa „Gewalt und Grausamkeit soll unter keinen Umständen sein“, „dauerhafter Schmerz sollte nicht sein“, das „Hungersterben so vieler Ausgebeuteter“ sollte nicht sein usw.).
Als „Nachteil“ kann Philosophie erlebt werden, wenn sich der einzelne Denker ganz an einen bestimmten Philosophen klammert, von ihm nicht los kommt, ihn verehrt usw. Doch dies liegt dann wohl nicht an „der“ Philosophie, sondern an dem einzelnen, sich fixierenden Denker.
Auch die Vielfalt der Philosophien (es gibt ja nie „die“ Philosophie, wenn, dann nur in Diktaturen, die eine einzige Philosophie staatstragend wollen, dann aber handelt es sich um Ideologie).
Alle die vielen Philosophien haben aber doch wiederum gemeinsam, dass sie eben „Liebe zur Weisheit“ sein wollen, deswegen nennen sie sich ja „Philosophie“. Zur Philosophie der Philosophie in dem Sinne gehört also die Erkenntnis, dass es viele Philosophien „wesensmäßig“ geben muss: Denn jeder hat etwa seine eigene, subjektive Ausgangssituation im Denken. Philosophie als notwendig im Plural ist also kein Nachteil.

Damit sind wir schon beim Nutzen der Philosophie:
Philosophie ist tatsächlich nützlich im Sinne der praktischen Hilfe, sagen wir ruhig der Lebenshilfe. Philosophieren ist keine Spielerei, sie ist kein Luxus gelangweilter Seelen, keine hoch bezahlte Beschäftigung von Universitätsprofessoren, kein Hobby von Leuten, die schon mal alles probiert haben usw… Philosophie ist eminent mit dem Dasein und den Lebensfragen selbst verbunden. Und man sollte philosophische Texte immer in dieser praktischen Herkunft aus der Fraglichkeit des Daseins lesen, auch wenn sie manchmal unnötigerweise hoch kompliziert geschrieben sind, weil Philosophen offenbar nicht unbedingt gute Stilisten sein wollen/können.
Daraus wird aber nicht geschlossen: dass Philosophierende solche Menschen verachten, die den Sprung ins eigene Denken nicht (noch nicht) konsequent gewagt haben.
Philosophie nützt insofern, als sie den Menschen in einen wachen Zustand führt. Philosophie ist waches Leben, ein Leben im Licht der Vernunft, die es – ein anderes Thema – trotz aller möglichen Verbundenheiten des Denkens im Naturgeschehen gibt… Erwachen zur Philosophie als dem selbstbewussten Leben wäre eigentlich ein schöner Titel. Da ist dann Philosophie nicht mehr eine bloße formale Klärung der Exaktheit von Begriffsverwendungen, keine bloße Logik, sondern eine Lebensform. Philosophie als Lebensform, als „Schule“, das ist ein Projekt, an dem alle Interesse haben, die etwa auf der Linie von Pierre Hadot im Geiste antiker Philosophie weiter denken und weiter leben wollen. Von Hadot sind Philosophen wie Michel Foucault oder Wilhelm Schmid grundlegende inspiriert.

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Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin