Kardinal Woelki, Köln: Wie reaktionär ist seine Theologie?

Ein Hinweis von Christian Modehn: Über den Führer der konservativen Bischöfe in Deutschland

Leider muss sich Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie immer wieder mit institutionellen Machtkämpfen innerhalb der römisch-katholischen Kirche befassen. Wir würden gern sehr viel wichtigere Themen der Menschen in dieser zerrissenen Welt diskutieren…. Aber: „Die Herren dieser Kirche drehen allmählich wirklich wieder einmal durch“, sagt mein amerikanischer Freund treffend, in ihrem Wahn, die rechte und einzig wahre Interpretation der Lehre des armen Jesus von Nazareth in ihrem Sinne durchzuboxen. Stichwort: „Synodaler Prozess in Deutschland“. Und diese Herren rauben dabei die Lebenszeit vielen Menschen, vor allem den noch vorhandenen Katholiken in Europa. Indem sie diese Leute dazu zwingen, sich mit der klerikalen Ideologie zu befassen. Als gäbe es nicht sehr viel dringendere Themen als etwa dieses total ausdiskutierte Thema des priesterlichen Pflichtzölibats. Von der so gen. „Homo – Ehe“ ganz zu schweigen, eigentlich ja auch relevant für die vielen homosexuellen Priester und ihre Freunde… Aber die Katholiken brauchen eben ihre eigene Ablenkung vom Wesentlichen, sie brauchen ihren Masochismus. Vielleicht sogar ihre erwünschte Ablenkung von Gott und dem armen Jesus von Nazareth und seiner Botschaft…indem man übereifrig und erhitzt von der Kirche redet und nichts anderes mehr kennt. Was für eine Schande!

Einige LeserInnen dieser website haben mich einmal mehr nach Kardinal Rainer Maria Woelki in Köln gefragt: Welche Theologie er denn so vertritt, wollten sie wissen. Dieser Führer der sehr Konservativen…
Ich kann dabei nur, aber doch erhellend gültig, auf einige ältere, grundlegende Texte verweisen, vor allem auf Woelkis Doktorarbeit an der Opus Dei Universität in Rom mit dem hübschen, ultra allgemeinen Titel „Die Pfarrei“. Ich habe damals darauf hingewiesen, dass man nicht Opus Dei Mitglied sein muss, um wie diese Geheimorganisation zu denken, wie im Falle Woelkis. Was vielleicht, wer weiß, so stimmen mag. Mitglied ist Woelki laut eigener Behauptung nicht, aber… Einer seiner Weihbischöfe (Ansgar Puff) stammt aus dem ebenso reaktionären Club der Neokatechumenalen…

Diese Texte können also für Interessierte zum Thema Rainer Maria Woelki, Kardinal zu Köln, wichtig sein; zu Woelki, der nebenbei, wie sei Vorgänger Meisner mindestens 11.500 Euro monatlich verdient.

Über die Ökumene mit Kardinal Woelki

Mit Woelki ins Getto:

Zu Woelkis theologischer Doktorarbeit an der Opus Dei-Universität in Rom, mit besonderer Berücksichtgung der totalen Ignoranz Woelkis für den großen modernen Theologen Karl Rahner.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der 1. September 1939: Katholiken und der Zweite Weltkrieg

Einige Hinweise zur Rolle der katholischen Kirche vor dem Krieg , während des Krieges und danach…
Von Christian Modehn

1.
Die Erinnerung, das Gedenken, das Forschen und Fragen anlässlich des 1. September 1939 kann sich überhaupt nicht punktuell nur auf das Datum allein beziehen. Es gilt, die lange Vorkriegsgeschichte zu beachten (wann beginnt sie?) und den Krieg selbst als Tat der Deutschen, vor allem der deutschen Nationalsozialisten und ihres verbrecherischen Führers Adolf Hitler bis zur Nachkriegszeit. Also zur restaurativen Entwicklung in der BRD unter der CDU/CSU und zur Entwicklung des „Sozialismus“ in der DDR.

2. Eine knappe Zusammenfassung zum Thema als grundlegende Orientierung:
Der Katholizismus in Europa war bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts national und nationalistisch geprägt. Es war eher normal, um nur bei dem Bild zu bleiben, dass ein katholischer Franzose einen katholischen Deutschen an der Front erschoss. Die Bindung an das beiden gemeinsame Evangelium (Bergpredigt) war nicht mehr als ein subjektiver Spruch; viel bedeutungsloser als die Bindung an die Nation. Das galt schon im 1. Weltkrieg. Eine gemeinsame pazifistische europäische katholische Haltung war undenkbar. Ist sie heute denkbar? Wo sind die anti-nationalistischen katholischen Organisationen in Deutschland, Polen, Frankreich, Irland usw.?

3.
Der Katholizismus als durch und durch autoritär gestaltetes und autoritär von meist alten Herren geführtes Kirchensystem (ohne jede Form demokratischer Mit-Bestimmung, man spricht von vatikanischer „Wahlmonarchie“) stand den autoritären faschistischen Systemen a priori nahe. Man fühlte ähnlich, was Zuverlässigkeit, Ordnung, Unterordnung, Gehorsam angeht… Dies gilt zumal, wenn die faschistischen Führer irgendwas Religiöses oder gar Pro-Katholisches von sich gaben. Und etwa den Bestand der katholischen Privatschulen zu sichern versprachen.
Der Faschismus, vor allem auch die Herrschaft Hitlers, wurde katholischerseits gegenüber dem Sozialismus und Kommunismus (auch in der Sowjetunion) als das geringere Übel behandelt. Der Faschismus, auch Hitler, so glaubten die obersten Kleriker und die ihm hörigen katholischen Massen, seien sogar ein gutes, geeignetes Mittel, den allergrößten Todfeind der Katholiken, den Kommunismus, zu besiegen. Der Kommunismus galt als Konkurrenz zum Katholizismus, als eine irdische Ersatzreligion, die die Erlösung der Menschen hier auf Erden bewirken will. Dass diese Faschisten Juden verfolgten und ermordeten, wurde letztlich billigend in Kauf genommen und vielleicht noch stillschweigend mit uralten christlich-antisemitischen Vorurteilen begründet. Es war katholischerseits offenbar nicht möglich, gleichzeitig den Faschismus wie den Bolschewismus (Stalin) zu verurteilen und zur bekämpfen. Dann hätte die Kirche demokratisch werden müssen und die Menschenrechte respektieren müssen. Aber nein, der Katholizismus blieb und bleibt autorität. Und begründet die Ablehnung einer demokratisch gestalteten katholischen Kirche sogar noch heute mit dem angeblichen Willen Gottes: Ein Gott, der für seine eigene Organisation im 20. und 21. Jahrhundert keine Demokratie will, ist schon ein komischer Gott.

4.
Ein Aspekt, aber sicher kein marginales Thema, ist Bedeutung der Päpste in dieser Zeit, ferner die Rolle, die die deutschen Bischöfe vor dem 2. Weltkrieg und im 2. Weltkrieg spielten in ihrer Beziehung zum Hitler Regime. Und dann die schwache katholische Basis, die sich etwa im „Friedensbund deutscher Katholiken“ sammelte.
Zu den genannten Themen, umfassend wie sie sind, können hier nur Hinweise gegeben werden. Sozusagen Impulse und Forschungsmöglichkeiten.

5.
Es sollte viel stärker die Bedeutung von Papst Benedikt XV. (1914-1922) beachtet werden und zwar im Blick auf seinen verbalen Pazifismus. Dieser Papst sollte hinsichtlich seines Friedensengagements viel mehr beachtet werden. Aber das blieb wirkungslos: Pater Franzismus Stratmann hat darauf hingewiesen: „Von einer begeisterten Gefolgschaft der Mehrzahl der Katholiken hinter ihrem obersten Hirten (Benedikt XV.) kann keine Rede sein“. (In: „Hermes Handlexikon: Die Friedensbewegung“. ECO Taschenbuch, 1983, S. 219).

6.
Über die Rolle Papst Pius XII. im Umgang mit den Faschisten Italiens, mit dem Hitler-Regime und der Juden-Ausrottung ist vieles geschrieben worden. Es gibt wohl einen Trend in der historischen Forschung, der das sehr zögerliche Verhalten des Papstes Pius XII. gegenüber dem Schutz der Juden aufzeigen. Ob mehr Klarheit nach der nun endlich angekündigten Öffnung der vatikanischen Archive in dieser Frage möglich wird, ist natürlich offen: Welche Dokumente sind noch vorhanden, welche können unabhängige Historiker lesen etc.? Einige interessante Aspekte bietet mein Beitrag auf dieser Website. Hier klicken.

7.
Über das Verhalten der deutschen Bischöfe 1939 und zum Hitler Regime hat jetzt der kürzlich verstorbene Theologe und Kirchenhistoriker Prof. Heinrich Missalla (Essen) einen „offenen Brief“ an die heutigen Bischöfe in Deutschland verfasst. Missalla war ein Spezialist für diese Fragen, was er schreibt in dieser Kürze, ist für die allermeisten Kirchenführer damals eine politische und moralische Katastrophe. Nur ein kleiner Auszug aus dem wichtigen Beitrag Missallas:
„Nach dem Überfall auf Polen übernahm der Bischof von Münster von Galen die offizielle Version vom Angriff der feindlichen Mächte auf das friedliebende Deutschland; unsere Soldaten erkämpften „einen Frieden der Freiheit und Gerechtigkeit für unser Volk“. Für Bischof Machens von Hildesheim wurde der Krieg „gegen das Recht des deutschen Volkes auf seine Freiheit“ geführt. Bischof Berning von Osnabrück ließ die Gläubigen „beten, daß Gott uns den Sieg verleihe“. Vier Tage nach dem Angriff auf die Sowjetunion wussten und lehrten die deutschen Bischöfe, dass die Soldaten mit ihrer Pflichterfüllung „nicht nur dem Vaterland dient(en)“, sondern sie wagten sogar zu behaupten, dass sie damit „auch dem heiligen Willen Gottes folgt(en)“. Der Bischof von Münster nannte den Krieg jetzt einen „neuen Kreuzzug“, in dem „der Soldatentod des gläubigen Christen in Wert und Würde ganz nahe dem Martertod um des Glaubens willen (steht,) der dem Blutzeugen Christi sogleich den Eintrittin die ewige Seligkeit öffnet.“ (Quelle: Heinrich Missalla_ Brief_an DBK_80 Jahre Kriegsbeginn pdf.)_

8.
Die katholische Friedensbewegung in Deutschland war in der Weimarer Republik sehr schwach: Es war der Friedensbund der deutschen Katholiken, (FDK), repräsentiert vor allem von dem Dominikanerpater Franziskus Stratmann (1883-1971). Der Friedensbund hatte 45.000 Mitglieder (Zit. in Hermes Handlexikon a.a.O, S 221). Die Tragik war, dass diese katholische Friedensorganisation fast ausschließlich an die katholische Zentrumspartei gebunden war, die ja auch einen schwachen demokratischen-republikanischen Flügel hatte (J. Wirth z.B.). Es gab auch Versuche, den FDK an die einzige pazifistische Partei, die „Christlich-Soziale Reichspartei“ (CSRP), zu binden, aber das brachte keinen Durchbruch hinsichtlich der Massenwirkung des FDK. Unter dem starken antipazifistischen Druck der CDU/CSU löste sich der „Friedensbund der deutschen Katholiken“ 1951 auf. Es folgte die katholische Organisation PAX CHRISTI, die sich zunächst als Gemeinschaft derer betrachtete, die für den Frieden betet oder individuelle freundschaftliche Verbindungen etwa zwischen Deutschen und Franzose förderte.

9.
An Pater Stratmann sollten sich Katholiken dieser Tage besonders erinnern: Er war als Theologe und Publizist hochbegabt, er wandte sich gegen die damalige theologische Ideologie, der Krieg sei eine Folge der Erbsünde und Ausdruck menschlicher Unvollkommenheit. Dagegen betonte er die vernünftige Erkenntnis: Irgendeine greifbare, friedenspolitische Bedeutung muss die Erlösung durch Jesus Christus doch wohl haben. 1933 wurde Stratmann verhaftet, er konnte über Rom in die Niederlande fliehen, wo er sich in Klöstern versteckte. Stratmann war u.a für den gewaltfreien Widerstand gegen den verbrecherischen Staat, er forderte einen starken Völkerbund (vgl. den kurzen Hinweis im genannten „Hermes Handlexikon, Die Friedensbewegung, S. 378).
Zu den Gründungsmitgliedern des FDK gehörte uch der katholische Pfarrer Max Josef Metzger, LINK auch mit dem Internationalen Versöhnungsbund war er eng verbunden. Er verfasste eine Denkschrift zur Friedenspolitik, wurde daraufhin von Freisler, Chef des Volksgerichtshofes, als „Pestbeule“ bezeichnet, die man „ausmerzen“ muss: Am 17.4 1944 wurde er im Gefängnis in der Stadt Brandenburg enthauptet. Was mag er wohl von den anpasslerischen und „Mitläufer-Bischöfen in Deutschland gedacht haben, er, der mit gefesselten Händen ein halbes Jahr im Gefängnis noch gequält wurde….

10.
Heute ist das Thema Friedenspolitik, Abrüstung, Kritik am Waffenexport alles andere als ein Hauptthema des deutschen oder des europäischen Katholizismus. So dringend und absolut wichtig die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs durch Priester auch ist: Diese Beschäftigung und die mit den üblichen Kircheninterna (Zölibat, Aufhebung der Gemeinden zugunsten der monumentalen Groß-Pfarreien usw.) bindet die ohnehin schwächer werdende Energie des Katholizismus.
Politische Gestaltung der Gesellschaft und der Welt im ganzen im Sinne der universalen Menschenrechte ist NICHT Mittelpunkt katholischen Denkens und katholischer Arbeit. Denn diese würde zur Kritik an den sich oft noch christlich nennenden Parteien führen, zu neuen auch außerkirchlichen Bündnispartnern, würde zur Distanz gegenüber dem Staat führen … und die Einbindung der Kirche in das kapitalistische System freilegen. Aber davor haben die Bischöfe Angst. Und so ist der deutsche Katholizismus auch 80 Jahre nach Kriegsbeginn keine Avantgarde des Friedens, der Abrüstung, der Gerechtigkeit unter den Völkern. Das alles überlässt man kleinen Sonderorganisationen wie Pax Christi oder den Hilfswerken, die vor allem eins wollen: Spenden sammeln. Und so ein ruhiges Gewissen beschaffen…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

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Literaturhinweise und Empfehlungen:
IN KOOPERATION MIT DEM ÖKUMENISCHEN INSTITUT FÜR FRIEDENSTHEOLOGIE:

1. DIE SEELEN RÜSTEN – Zur Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge.
Herausgegeben von Rainer Schmid, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke und Peter Bürger. (edition pace 8.) Norderstedt 2019.
[ISBN: 9783749468041; Seitenzahl: 456; zahlreiche farbige Abbildungen; Preis 15,99 Euro].

2. Im Sold der Schlächter – Texte zur Militärseelsorge im Hitlerkrieg.
Herausgegeben von Rainer Schmid, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke & Peter Bürger.
(edition pace 6). Norderstedt 2019.
[ISBN 9783748101727; Seitenzahl: 440; fünfzehn farbige Abbildungen; Preis 14,99 Euro]
https://www.bod.de/buchshop/im-sold-der-schlaechter-9783748101727
(Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis oben links abrufbar)
Mit einer Direktbestellung bei BoD fördern Sie die Friedensbibliothek der edition pace; das Werk ist auch überall vor Ort im Buchhandel bestellbar.
BUCHVORSTELLUNG IM NETZ:
https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/012393.html

Jahrzehntelang wurden die Abgründe der staatskirchlichen Kriegsbeihilfe 1939-1945 verschleiert. Die vorliegende Dokumentation erschließt Forschungsbeiträge, Quellentexte, Interviews und Kommentare zur Militärseelsorge der beiden großen Kirchen in Hitlers Vernichtungsfeldzug. Die Richtlinien (24.5.1942) fielen denkbar eindeutig aus: “Die Feldseelsorge ist eine dienstliche Einrichtung der Wehrmacht. […] Der siegreiche Ausgang des nationalsozialistischen Freiheitskampfes entscheidet die Zukunft der deutschen Volksgemeinschaft und damit jedes einzelnen Deutschen. Die Wehrmachtseelsorge hat dieser Tatsache eindeutig Rechnung zu tragen.” Durch die Vermittlung eines neuen Forschungsstandes wird deutlich, wie bereitwillig evangelische wie römisch-katholische Militärseelsorge dieser Vorgabe zur Kollaboration beim Völkermord Folge geleistet haben. Nach Kriegsende warfen auch Soldaten den Militärgeistlichen vor, sie hätten als gutbezahlte Offiziere “im Solde derer gestanden, die uns zur Schlachtbank geführt haben”.
Dieses Buch enthält Beiträge von Christian Arndt, Holger Banse, Dieter Beese, Peter Bürger, Matthias-W. Engelke, Ulrich Finckh, Ulrike Heitmüller, Hartwig Hohnsbein, Herbert Koch, Dietrich Kuessner, Antonia Leugers, Heinrich Missalla, Kristian Stemmler, Erika Richter, Dieter Riesenberger und Martin Röw.
Herausgegeben in Kooperation mit dem Ökumenischen Institut für Friedenstheologie

3. „Gewaltfrei leben“
John Dear: Gewaltfrei leben. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler, herausgegeben von Thomas Nauerth (editionpace 7) Norderstedt 2019. ISBN 9783749451791; Seitenzahl: 192; Preis: 8,90 €.
Ohne Portozuschlag direkt bestellbar bei BoD:
https://www.bod.de/buchshop/gewaltfrei-leben-john-dear-9783749451791

Nach dem Sammelband „Ein Mensch des Friedens und der Gewaltfreiheit werden“ (2018) liegt jetzt auch der das Buch “The Nonviolent Life” des US-amerikanischen Friedenstheologen und gewaltfreiem Aktivisten John Dear unter dem Titel „Gewaltfrei leben“ dank der Übersetzerin Ingrid von Heiseler als deutschsprachige Ausgabe vor.
“Machen wir die aktive Gewaltfreiheit zu unserem Lebensstil.” Dazu rief Papst Franziskus 2017 in der Botschaft zum Weltfriedenstag auf. Vom “Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens” spricht der Ökumenische Rat der Kirchen. John Dear übersetzt diese Aufrufe und Appelle in einen dreifachen persönlichen Weg, den jeder und jede zu gehen vermag; er spricht von einer spirituellen Lebensreise, auf der drei Dinge zu lernen sind: Gewaltfreiheit im Umgang mit sich selbst; Gewaltfreiheit im Umgang mit allen Mitmenschen und Gewaltfreiheit leben, indem wir uns der globalen Basisbewegung der Gewaltfreiheit anschließen. “Um Menschen der Gewaltfreiheit zu sein, müssen wir alle drei Dimensionen gleichzeitig praktizieren, denn nur in dem Fall können wir Gewaltfreiheit authentisch ausüben“.
Mit großer Eindringlichkeit, großem Pathos und in unbeirrbarer Hoffnung wirbt Dear für diesen dreifachen Weg: “Das können wir tun. Wir können ein gewaltfreies Leben führen. Wir können Gottes Gabe des Friedens in uns, unter uns und in der Welt willkommen heißen. Wir haben mehr Macht, als wir denken. Wir alle haben die Macht des Gottes des Friedens in uns, wenn wir an diesem Glauben festhalten und ihm gemäß zu handeln wagen. Wir können den Frieden zu unserer Heimat machen und dazu beitragen, dass die Erde für alle in eine Heimat des Friedens verwandelt wird.”
Das Buch ist erwachsen aus Besinnungs- und Einkehrtagen, die John Dear als katholischer Priester und ehemaliger Jesuit, in den letzten Jahren zahlreich gegeben hat. Von daher hat es nicht den Anspruch, ein wissenschaftliches theologisches Werk zu sein. Das kommt der Lesbarkeit sehr zugute. Gleichwohl können nicht nur einfache Christenmenschen, sondern wohl auch Theologen einiges von diesem Buch lernen. Denn es ist ein tief religiöses, ein spirituelles und zugleich ein eminent politisches Buch, das mit einem Gebet eröffnet und abgeschlossen wird. Die Politik wird aber nicht auf der Ebene der Mächtigen gesucht, sondern sie wird im täglichen Einsatz für eine gerechtere und gewaltfreiere Welt, im täglichen Widerstand gegen die herrschenden Mächte gesucht und gefunden. John Dear ist überzeugt, dass wir dabei auch Gott selbst neu entdecken: „Wenn wir Gott in dieser Arbeit für den Frieden entdecken, vertiefen wir unsere spirituellen Wurzeln und finden neue Kraft, Gnade und Hoffnung, unser Leben lang für Gerechtigkeit und Abrüstung zu kämpfen.“
John Dear hat Leser und Leserinnen vor Augen, die nicht alleine lesen. Nach jedem Buchteil finden sich „Fragen als Anstoß für persönliche Überlegungen und für Gespräche in Kleingruppen“. Insofern ist dieses Buch gut geeignet auch für Gemeinden und Gemeinschaften, die sich, wie das in Deutschland heißt, „auf den Weg zu einer Kirche des gerechten Friedens“ begeben haben.
https://www.bod.de/buchshop/gewaltfrei-leben-john-dear-9783749451791

Diese Buchhinweise sind von peter bürger
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Katholische Akademien: Orte des freien Austauschs oder nur noch Hüter von Evangelium und katholischer Tradition?

Über die Krise einer etablierten Institution: Wird sie die Freiheit hochschätzen lernen?
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Katholische Akademien gehören, wie der Name sagt, zu einem besonderen „Segment“ der Gesellschaft, sie ziehen schon im Titel gewissermaßen enge Grenzen. Unvorstellbar, welche Lebendigkeit eine katholisch inspirierte, (katholisch im Sinne von „für alle“) Akademie hätte, wenn sie sich etwa „Forum für Sinnfragen“ oder „Agora der Religionen“ nennen und dies auch praktisch einlösen würde. Diese neuen Titel für einen neuen, einen reformierten Geist würden darüber hinaus dem Stand gegenwärtiger theologischer, philosophischer und religionswissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechen und sicher auch eine andere Clientele interessieren. Wer hingegen „Innerkirchliches“ erfahren will oder die offizielle Sicht der Bibelinterpretation kennen möchte, kann in den Gemeinden informiert werden.
2.
Eine historisch-kritische Analyse des Titels „Katholische Akademie“ wäre reizvoll, er wurde schon einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in Zeiten des „Wiederaufbaus“, erfunden. Reizvoll auch, wenn man ihn mit dem Begriff der Akademie im Sinne Platons und der späteren Rezeption in der Renaissance konfrontieren würde.
3.
Nun findet in der nur für Abonnenten der Wochenzeitung „Die Zeit“ zugänglichen Wochenzeitung „Christ und Welt“ eine Diskussion statt über die Frage: Welche Rolle spielen eigentlich die 23 in Deutschland vertretenen, im Titel, wie gesagt, auf Identität und Kirchlichkeit abhebenden „Katholischen Akademien“? Sind sie in der Krise, sind sie vielleicht doch kreativ und provokativ? So wird zu recht, von Patrick Schwartz, dem geschäftsführenden Redakteur der ZEIT, in einem Beitrag gefragt.
4.
Diese Debatte ist kein marginales Sonderthema. Sondern es bewegt doch viele, die sich mit dem geistigen Leben und der Kommunikation von Menschen unterschiedlicher Lebenswelten in der Großstadt, etwa in Hamburg oder Berlin, befassen. Und dringend Orte des vorbehaltlosen, offenen intellektuellen Austauschs, des Dialogs, wichtig finden. Dass nicht nur ich diese großen (katholischen) Akademien mit den fast immer üblichen Frontal-Vorträgen vor einem Publikum von 50 bis 100 Personen für überholt halte, hinsichtlich des Lernerfolges oder wichtiger noch der Kommunikation aller, ist ein anderes Thema. Es wäre wohl sinnvoller, die Teilnehmer lesen zwei Seiten eines Statements vorher zuhause und treten dann ins Gespräch mit dem „Spezialisten“. Aber nein: Da setzen sich hingegen mehrheitlich ältere Herrschaften in einen großen Saal und lauschen eine gute Stunde dem manchmal nicht leicht nachvollziehbaren Vortrag und dürfen dann zum Schluss einige Fragen an den Referenten stellen: Das ist Erwachsenenbildung auf dem Stand von 1960. Und dies in der üblichen hierarchischen Sitzordnung: Die zu Belehrenden schauen nach vorn auf den Herrn, die Dame, den Lehrer. Warum nicht ein egalitäre Kreis-Runde? Erst bei einem Glase Wein „danach“ lernt man sich etwas kennen und spricht miteinander. Dieses Miteinander war ja eine Grundidee der Akademie Platons.
5.
Ich meine: Viele kleine philosophisch – theologische Salons über die Stadt verstreut, wären für die Kommunikation in den so oft zu recht beschriebenen „anonymen“ Lebensverhältnissen der Großstadt hilfreicher und wichtiger. Diese vielen Gespächs-Salons, selbstverständlich außerhalb der Kirchengemeinden organisiert, könnten in Kunstgalerien, Bibliotheken, Cafés ein Zuhause finden und ein weites, auch junges Publikum interessieren.
6.
Aber die Kirche setzt nun immer noch auf repräsentative Macht, die sich in großen Gebäuden äußert, die dann im Unterhalt so teuer werden, dass man die Räume permanent an wohlhabende Kreise aus Politik und Wirtschaft vermieten muss. Es gibt tatsächlich im deutschsprachigen Raum 26 Katholische Akademien, von den jeweils eine in Italien, Österreich und der Schweiz sich befindet.

Ich sehe in den Beiträgen von „Christ und Welt“ zum Thema Katholische Akademien keine exakten Informationen: Wie viele Teilnehmer hat etwa pro Jahr hat die Katholische Akademie in Berlin oder Hamburg? Was lässt sich über den Altersdurchschnitt der TeilnehmerInnen sagen? Wie viele „junge Leute“, zwischen 25 und 40, nehmen an den Veranstaltungen teil? Macht man entsprechende Umfragen unter den TeilnehmerInnen? Und vor allem: Wie hoch ist der Etat einer katholischen Akademie, etwa in Berlin. Wie viel Geld kommt vom Staat? Darüber gibt die jährliche Finanzstatistik des Erzbistums Berlin explizit keine Auskunft, was der Pressereferent des Erzbistums bestätigt und auf Nachfrage darauf verweist, diese Akademie sei ein „e.V“. Wer finanziert also diese katholische Akademie? Und wie hoch ist der Jahresetat? Und vor allem: Ist die Differenz zwischen finanziellem „Input“ und auf Teilnehmer bezogenem Output ökonomisch und moralisch vertretbar?
7.
In der Ausgabe von „Christ und Welt“ vom 25.Juli 2019 stellen die Direktoren der Katholischen Akademien in Hamburg und Berlin ihre theologischen Grundlagen, ihr Konzept, vor. Während Stephan Loos, der Hamburger Akademie Direktor, voller Elan und Mut für die offenen „Spielräume“ eintritt, die diese Akademie lebt bis hin zum „kritischen Dialog“ auch über Themen, die für die Kirchenführung unbequem sein könnten: Er nennt das Beispiel der Homosexuellen in der katholischen Kirche, er spricht explizit von einer „Schmerzgrenze“, meint wohl auch die Abweisung etwa von Segnungen homosexueller Paare/Ehepaare. Tiere, Handys und Autos werden bekanntlich katholischerseits feierlich von Priestern öffentlich gesegnet. Das bringt mehr Freude im populären kleinbürgerlichen Milieu als die Segnung von “Homo-Ehen”. Es ist für einen Protestanten ein erfreuliches Signal, wenn Stephan Loos der „Freiheit den Vorrang“ gibt in seiner Arbeit.
8.
Ganz anders empfinde ich als – vom Studium her – katholischer Theologe und Journalist die Ausführungen des Berliner Akademiedirektors Joachim Hake. Er hat nach dem Übergang seiner Gattin Susanna Schmidt ins CDU geleitete Bildungsministerium (Schavan-Connection) sozusagen in familiärer Fortsetzung im Jahr 2007 die Leitung der Berliner Akademie übernommen. Aber diese „Kontinuität“ ist ein anderes schon früher diskutiertes Thema.
Mein Gesamteindruck des Beitrags von Joachim Hake Beitrag in „Christ und Welt“ ist: Katholische Akademien sind für ihn „keine Kanzeln für Vordenker“, haben also nicht den Ehrgeiz, Neues, Kritisches, Provokatives zu sagen. Freiheit zuerst, wie sein aufgeschlossener Hamburger Kollege sagt, ist bei Hake also nicht so zentral. Hingegen bei ihm immer wieder der Hinweis auf das Katholische, „die Kirche“ (also die Amtskirche), die Tradition. Das Wort Ökumene habe ich in seinem Beitrag nicht gelesen, auch zum interreligiösen Dialog keine Hinweise, geschweige denn von einem Hinweis auf Veranstaltungen mit und für die „Unkirchlichen“, die bekanntlich in Berlin 60 % der Bevölkerung darstellen.
Hake spricht kryptisch von Ambiguitätstoleranz, also wohl von der Überzeugung, dass so eindeutig klar die Lehren der Kirche und ihrer Tradition doch nicht sind. Er will also „Ambilvalenzen und Widersprüche“ bloß aushalten. Bloß welche Widersprüche genau? Etwa dass das Zölibatsgesetz existiert, aber dass sich so wenige daran halten können und wollen? Mit anderen Worten: Hake will sich nicht positionieren. Er will das Image (gibt es noch ein gutes?) der Amtskirche pflegen. Diese vorgebliche Neutralität dient aber letzlich immer dem Erhalt der bestehenden Herrschaftsstrukturen, das gilt allgemein, aber auch für die Kirche.
9.
Man sehe sich deswegen einmal das Programm der Katholischen Akademie in Berlin an. Das kontrastreich andere, bessere Programm in Hamburg oder im „Haus am Dom“ in Franfurt am Main, sollte man selbst im Internet aufrufen.

Ich will nur erinnern: Im Berliner Programm für den Rest des Jahres 2019 stehen Kirchenführungen in Berlin und Leipzig zahlenmäßig im Mittelpunkt. Ich frage mich als gebürtiger Berliner, der einst, noch als Katholik, alle diese doch eher schlichten Kirchengebäude besucht hat: Was ist denn an diesen Kirchenbauten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts oder Beginn des 20. Jahrhunderts so bemerkenswert, etwa an der eher an einen Kitschpalast erinnernden St. Ludwigskirche. Interessanterweise findet in der katholischen Akademie allen Ernstes eine Tagung statt über den “Kirchbau im faschistischen Italien”. Ob Innenminister Minister Salvini, der von vielen, sicher richtig, als Faschist eingeschätzt wird, dabei sein wird, ist wohl noch unklar. Dann aber bitte auch gleich auf europäischer Ebene fortfahren und etwa die Kirchenbauten des faschistischen Generalissimo Franco, auch sein von ihm und für ihnbestimmtes Kirchen-Mausoleum, studieren. Also, im Ernst, Architektur des Faschismus in den kommenden Monaten in der katholischen Akademie Berlin. Nichts aber auch gar nichts ist bis heute (27.7.2019) zur Ökologie angekündigt… Kann ja noch kommen, wenn sich die Katholische Akademie mit den jungen Leuten in Berlin und Brandenburg von „Fridays for future“ solidarisiert und diese in ihre Räume einlädt. Davon habe ich kürzlich geträumt: Alte Katholken treffen sehr lebendige, besorgte Jugendliche! War aber ein Traum.

Auch über die St. Hedwigskathedrale in Berlin wurde 2019 diskutiert, aber nicht über den leider gescheiterten Widerstand gegen diesen sinnlosen und umstrittenen Umbau, der 60 Millionen Euro, auch von Steuermitteln, verschlingen wird. Nein, die Tagung handelte von der Gestalt der Kathedrale im 19. Jahrhundert.Wie aktuell.
Man könnte das alles lang und breit belegen: Über die großen drängenden Themen der Menschen in Berlin wird nicht oder kaum gesprochen: Über das Wohnen und Mieten; über den zunehmenden Rechtradikalismus oder über die weithin gescheiterte und etwas gelungene Integration der Flüchtlinge in Berlin, nichts über das aktuelle Europa, das zusieht, wie aufgrund eigener Politik, von C- Parteien auch betrieben, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Ich finde es bezeichnend, dass die katholische Akademie Berlin im Umfeld der Wahlen zum Europa Parlament nicht etwa eine Tagung über die aktuellen Bemühungen der Kirchen in Brüssel machte oder wichtiger noch über die rechtsradikale ultra-katholische Position der PIS Regierung in Polen oder über das Schweigen der Bischöfe Ungarns zur rassistischen Politik des Herrn Orban… Nein, nichts davon: Man macht in Berlin, als würde man auf dem Monte Cassino leben, zur Europa-Wahl eine Tagung über den Schutzpatron Europas, den Heiligen Benedikt und seinen Orden. Nebenbei: Über Afrika, Lateinamerika und Asien, selbst über die dortigen Kirchen dort, finden fast gar keine Veranstaltungen stattt.
Diese katholische Akademie in der (tatsächlichen) WELTSTADT Berlin igelt sich förmlich ein, mit der Pflege des altvertrauten Milieus. Man macht also brav Tagungen über Fontane oder Thomas Mann, bedenkt die Aktualität ungarischer Melancholie-Forschung oder die Ewigkeit im Alltag, sowie die Höllenfurcht im Islam. So tatsächlich die Themen der Katholischen Akademie in Berlin in den letzten Monaten. Traditionalistischer, also bewusstes Ignorieren dessen, was den Menschen auf den Fingern oder in der Seele brennt, kann man sich das kaum denken. Ich warte förmlich, dies als sanfte Ironie, auf eine Tagung über den heiligen Papst Pius X. oder die Aktualität der Seherkinder von Fatima.
Eigentlich hätte selbst diese zahlenmäßig kleine, immer aber ängstliche und theologisch ohnehin phantasielose katholische Kirche in Berlin etwas Besseres verdient als diese Akademie, um der Stadt, der Menschen willen. Warum macht man nicht eine gemeinsame christliche Akademie? Warum noch dieser Konfessionalismus?
Dieser enge Geist ist erstickend. Auch deswegen treten Jahr für Jahr Katholiken in Berlin aus dieser letztlich traditionalistischen Kirche aus.
10.
Eine katholische Akademie, die nicht Partei ergreift für die aktuellen Fragen der Menschen in Berlin und darüber hinaus, wird zum Hort des Esoterischen. Sie ist letztlich belanglos. Und überlebt langfristig nur, wenn sie ihre Räumlichkeit „fremd vermietet“. So können wenigstens die guten Gehälter der Angestellten bezahlt werden…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Den Zölibat abschaffen. Hubert Wolf schreibt 16 Thesen über den Zölibat: Die sexuelle Liebe und die Ehe sind verboten.

Das neue Buch von Hubert Wolf „Zölibat. 16 Thesen“

Ein Hinweis von Christian Modehn. Dieser Text fiel etwas länger aus, weil auf grundsätzliche, aber kaum diskutierte Probleme hingewiesen werden musste.

Und dem Text ist ein Motto vorangestellt, von Christian Pfeiffer, Kriminologe, der den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands untersuchen sollte, aber wegen eines Konflikts mit den alles bestimmenden Bischöfen seine Arbeit beendete. Er sagt:
Das Verbieten von Sexualität (für Priester) ist ein Grundfehler und hat massiv zum Missbrauch beigetragen. Die ständige Lüge von der Enthaltsamkeit vergiftet die Kirche von innen her”. (Die ZEIT, 17.4.2019, Seite 48).Und weiter: “Nirgends wurde bislang nur ansatzweise eine solch hohe Quote mutmaßlicher Täter erreicht wie Priestern”. (ebd.).

Wie schon oft gesagt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie muss sich auch mit dem realen Zustand der Religionen und Kirchen heute befassen, um zu erkennen, zu welchen Verirrungen auch Religionen/Kirchen neigen. Das Zölibatsgesetz für Priester in der römischen Kirche ist dafür ein heftiges Beispiel. Es ist ein Symbol für Herrschaft des Klerus, Engstirnigkeit und vor allem: Bindung an ein Weltbild, das spätestens mit der Aufklärung überwunden wurde.

Über das Zölibatsgesetz für den römisch-katholischen Klerus und die Ordensleute dieser Kirche sind nach meinem theologischen Gefühl mindestens 100 Bücher in den letzten 50 Jahren erschienen. Wenn diese Bücher dem Anspruch kritischer Wissenschaft verpflichtet sind, heißt ihr eindeutiges Urteil: Das Zölibatsgesetz ist kein „ewiges“ Dogma der Kirche. Es könnte deswegen im Grunde sofort aufgehoben werden, durch einen Papst, der noch Mut hat und Verantwortung für die Zukunft dieser Kirche kennt. Und keine Angst hat vor den Cliquen der Kardinäle, der offiziellen, aber nicht immer auch faktischen Zölibatsfreunde, die den Vatikan beherrschen.
Aber die Abschaffung des Zölibates geschieht nicht, obwohl Umfragen zeigen: Die so genannten Laien wollen gern mehrheitlich verheiratete Priester in ihren Gemeinden erleben. Warum wird dieses Zölibatsgesetz nicht rigoros und sofort abgeschafft? Weil für den zölibatären Klerus als den Herrschern über diese Kirche der Zölibat als eine angebliche „Wesenseigenschaft“ ihrer Kirche erscheint. Und weil diese Herren selbst vom Zölibat als ihrer angeblich herausragenden Lebensform gegenüber dem Plebs, dem Volk Gottes, also den Laien, profitieren. Auch finanziell, und vom Lebensstil her. Sie haben eine extravagante Sonderrolle und profitierten, mindestens bis jetzt, etwa von der eigenen Rechtssprechung der Kirche, die sie, bis vor kurzem noch, von staatlicher Bestrafung im Falle von sexuellem Missbrauch befreite. Als „ehrwürdige Patres und hochwürdige Pfarrer“, mit demütigem Knicks ängstlich verehrt, und als Eminenzen und Exzellenzen mit dem Kuss des Ringes, dem so genannten „anulus (!) pontificalis“, förmlich ins Himmlische gehoben.

Der bekannte und vielfach prämierte Kirchenhistoriker Hubert Wolf, katholischer Priester und auch Mitglied im offiziellen „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“, (ZdK), ist Professor an der theologischen Fakultät der Universität Münster, er legt jetzt in 16 Thesen noch einmal auf knappen 190 Seiten die alte Erkenntnis dar: Das Zölibatsgesetz könnte abgeschafft werden. Es ist nicht teil der „göttlichen Offenbarung“ Jesu Christi, sondern Menschenwerk, d.h. für diese Kirche eben immer: Kleruswerk. Dieses Gesetz stört nicht nur die weitere Entwicklung der Gemeinden, die immer mehr mit dem Mangel an zölibatär lebendem Klerus konfrontiert sind, sondern vor allem: Weil das Zölibatsgesetz für die betreffenden Priester meistens wie ein zwanghaftes Korsett wirkt, das eine normale seelische Entwicklung der Betroffenen meistens verhindert.
Vieles, was Hubert Wolf schreibt, ist also bekannt und wie gesagt, tausendmal ergebnislos gegenüber der allmächtigen Zentralgewalt im Vatikan vorgebracht worden. Wichtig ist in Hubert Wolfs Studie die umfangreiche historische Dokumentation zum Thema, auch dadurch wird das Buch besonders lesenswert. Tatsache ist: Selbst einzelne Bischöfe sind offiziell gegen das Zölibatsgesetz, aber dieses ihr „mutige“ Geplaudere ist wirkungslos. Sollten sie doch selbst heiraten und mit gutem Beispiel vorangehen. Macht aber niemand dieser „Mutigen“, die finanzielle großartige Versorgung ist wichtiger als die theologische Ereknntnis…

Der Reiz dieses Buches sind, wie gesagt, die vielen historischen Details zum Thema: Treffend für heute zitiert der Autor den einflussreichen Kurien Kardinal Lazzaro Opizio Pallavicini aus dem Jahre 1783: „Wenn man den Geistlichen die Ehe gestattet, so ist die römisch-päpstliche Hierarchie zerstört, das Ansehen und die Hoheit des römischen Bischofs verloren; denn verheiratete Geistliche werden durch das Band mit Weibern und Kindern an den Staat gefesselt, hören auf, Anhänger des römischen Stuhls zu sein“ (S. 146).
Hubert Wolf sagt es mit seinen treffllichen Worten: “Der Zölibat ermögliche die Sozialkontrolle, und die Priester könnten von den Bischöfen „wie Figuren auf dem kirchlichen Schachbrett“ hin und her geschoben werden“ (ebd.).
Interessant ist auch, dass noch im 19. Jahrhundert Priester, die homosexuelle Handlungen begangen hatten oder sexuellen Missbrauch an Kindern, Knaben, getan hatten, in so genannte kirchliche „Korrektionshäuser“ verbracht wurden, auch „Demeritenhäuser“ genannt, also so genannte „Priestergefängnisse“ der Kirche, so wurden sie vor der Justiz des Staates entzogen (S. 129).
Die 16 Thesen gegen das Zölibatsgesetz sind klar formuliert und einleuchtend, sie könnten Pflichtlektüre in allen Gemeindekreisen und Priesterkonferenzen werden. Der Verlag oder der Autor sollten so großzügig sein und jedem deutschsprachigen Bischof das Buch zusenden.
Meine Kritik: Ich hätte mir noch ein paar weitere Thesen gewünscht:
Etwas ausführlicher zu den „Priesterkindern“ (und den Priester-Freundinnen), die ihr Leben lang unter der Verschwiegenheit gelitten haben, weil sie kaum öffentlich bekennen konnten: „Mein Vater ist ein Pater“ oder: „Mein „Mann steht sonntags am Altar“. Man hätte sich nur umsehen müssen, etwa unter den Krankenhausseelsorgern der siebziger Jahre: Da waren doch viele Väter als Patres tätig. Selbst der berühmte Jesuit Rupert Lay, einst Philosophie Professor an der Hochschule Sankt Georgen und anerkannter Autor zahlreicher theologischer und philosophischer Studien, hat 1996 in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ gestanden, einen Sohn, Rupert Dietrich, zu haben, „mein Mündel“, wie der Jesuit sagte. Pater Rupert Lay ist bis heute Mitglied des Jesuitenordens, er wohnt aber „wonders“, wie die Website des Ignatiushauses der Jesuiten in Frankfurt am Main lapidar mitteilt. Es ist also möglich, als Priester zu zeugen und trotzdem Priester und Mitglied einer Ordensgemeinschaft zu bleiben. Das ist doch eine erstaunliche Liberalität…Wie es auch viele Witwer, ehemalige Priester, gibt, die nun nach dem Tod der Gattin wieder als Priester arbeiten dürfen. Die Phase ihrer „sexuellen Verunreinigung durch den Verkehr mit Frauen und den Samenerguß”, ist ja nun wohl vorbei, um einmal die klassische Begrifflichkeit der Kirche zu zitieren, über die auch Hubert Wolf kritisch schreibt.
Inzwischen haben sich die französischen Bischöfe im Juni 2019 zum ersten Mal mit „Priesterkindern“ ganz offiziell getroffen. Deren Organisation hat etwa 70 Mitglieder, aber die Anzahl der Betroffenen liegt bei mindestens 1000. Die katholische Tageszeitung La Croix und France Culture berichteten darüber. In Deutschland hätte sich doch wenigstens die Nachfrage gelohnt, wie viele tausend Euros Alimente die Bistümer und Ordensgemeinschaften jährlich zahlten oder zahlen.
Ich hätte mir mehr empirische Belege gewünscht: Etwa zur Tatsache, dass, nach etlichen Berichten von Theologen in Lateinamerika, behauptet wird. Die (Welt)Priester seien de facto verheiratet. Prima, denke ich. Und die Gemeinden sind wohl glücklich! Über den Begriff und die tatsächliche Bedeutung der “Haushälterin” von Pfarrern wäre auch historisch – kritisch nachzudenken. In München wurde etwa in den siebziger Jahren ein bekannter “Stadtpfarrer”, der Jahre lang mit seiner Freundin im Pfarrhaus bekanntermaßen zusammenlebte (und nebenbei noch eine Haushälterin hatte), sogar noch mit dem Titel “Dekan” und “Geistlicher Rat” ausgezeichnet. Welche Anerkennung!

Noch einmal zum Buch selbst: Ich hätte mir mehr also tatsächlich empirische Belege gewünscht, auch für das seelische Leiden der zölibatären Priester, etwa im Rahmen einer Alkoholerkrankung, die etwa den Klerus in Polen heftig betrifft.
Ich hätte mir mehr Informationen gewünscht, wie durch die Krankheit AIDS viele hundert Priester in Europa und den USA gestorben sind. Die Zeitung „The Star“ in Kansas City hatte z.B. im Januar 2000 berichtet, dass „hunderte katholischer Priester in den USA in aller Stille“, so wörtlich, „an AIDS gestorben sind“. „Hohe Würdenträger der amerikanischen Katholiken bestritten die Ergebnisse nicht. Es zeige, dass Priester auch nur Menschen sind, deute allerdings auf schwere Versäumnisse bei der Sexualerziehung der Priester hin, hieß es“. Wenn Priester aber auch „nur Menschen sind“, warum verbietet man ihnen dann die Sexualität, und im Falle von AIDS, die selbstverständliche Verwendung von Kondomen. Wie viele Priestet könnten noch leben, hätten sie Kondome verwenden wollen und dürfen…

Selbst wenn in absehbarer Zeit das Zölibatsgesetz aufgehoben wird: Wie geht man dann mit den Priestern um, die nicht heiraten wollen, sich also nicht mit einer Frau verheiraten wollen? Einige wenige werden sicher als besonders begabte Zölibatäre gelten können. Aber die anderen: Sie werden, zumal die jüngeren Priester, als homosexuell gelten, was nach neuesten Schätzungen sicher zutrifft: Mehr als 50 Prozent des jüngeren Klerus sind homosexuell. Wird der Vatikan ihnen auch die Homo-Ehe erlauben? Das wäre ja großartig, ist aber eher ein Thema etwa fürs Jahr 2200.

Noch viel wichtiger ist das theologische Argument, ob man diese Gestalt der Priester, ob zölibatär oder nicht, überhaupt für eine christliche Gemeinde braucht. Priester bleiben immer in diesem Denken “Mittlerwesen” zwischen Gott und den Menschen. Sie sind die angeblich einzig kompetenten Mittler, die Brot und Wein auf “wunderbare Weise” in den Leib und das Blut Christi verwandeln. Das zeichnet sie aus, ob zölibatür oder nicht. Aber ist diese merkwürdige, vernünftig kaum noch vermittelbare Funktion des “Irdisches in Göttliches wandelnden Priesters” theologisch und biblisch notwendig? Nur wenn man in diesen Kategorien denkt, bleibt auch die Eucharistiefeier, wie ständig vom Klerus und seinen Dienern eingehämmert, “absoluter Mittelpunkt der Gemeinde”. Man macht die Eucharistiefeier absolut wichtig, um an der absoluten Bedeutung des Priesters festhalten zu können. Darüber sollte doch mal diskutiert werden!
Sollten nicht heute dringend anstelle der ewig gleichen Gestalt der Messe (überall die gleiche, z.T.langweilige Form in unverständlicher Floskel-Sprache des Mittelalters) neue Formen der religiösen Zusammenkunft, “Gottesdienst”, praktiziert werden: Gespräche ohne hierarchische Führung, Meditationen, Austausch, Musik, Tanz, Lektüre der Bibel und anderer humaner (religiöser) Texte… und eben auch manchmal das Teilen von Brot und Wein als Ausdruck dafür, dass Menschen vom Teilen wesentlich leben. Welch eine politische Deutlichkeit würde davon ausgehen. Diese Fixierung auf die absolute Bedeutung der “wandelnden” Eucharistie stärkt nur die Rolle des Priesters, ob zölibatär oder nicht. Diese Fixierung auf die herausragende Rolle des Priesters verhindert das wirkich gelebte allgemeine Priestertum aller Glaubenden und aller Menschen. Leiter der Gottesdienste können prinzipiell alle werden, eine gewisse theologische Kompetenz und psychologische Bildung vorausgesetzt. Da würde Kreativität wieder in die christlichen Gemeinden einziehen und viele würden sich angesprochen fühlen, weil es in diesen Feiern tatsächlich um ihr Leben geht und nicht um die Teilnahme, das Absolvieren, an einer fernen Floskelsprache, die entstanden ist, weil man wortwörtlich aus dem Lateinischen die Gebete und Sprüche in die jeweilige Landessprache übersetzt hat.

Früher hatte doch mal ein kluger Theologe den richtigen Satz formuliert: „Salus animarum suprema lex“, d.h. „Das Heil der Seelen, der Menschen, ist das oberste Gebot für die Kirche“.
Angesichts des fortbestehenden Zölibatsgesetzes wird dieses oberste Gesetz der Kirche von den Herrschern dieser Kirche absolut missachtet. Dies eine Schande zu nennen, sollte normal sein unter Theologen, die das Prädikat kritisch noch für sich gelten lassen. Mit anderen Worten: Wenn hoffentlich alsbald eine 2. Auflage des Buches des Priesters und Theologen Hubert Wolf erscheint, wünsche ich mir noch mehr kritische und angesichts des nun offenkundigen Zölibats-Gesetz-Unsinns (Wahns) noch mehr Deutlichkeit. Es gilt einen Wahn zu kritisieren, von einer Krankheit zu befreien…
Die Welt hat, nebenbei gesagt, ganz andere Probleme…

PS.
1. Man muss kein Eugen-Drewermann-Fan sein, aber erstaunlich ist: Hubert Wolf zitiert und bearbeitet nicht die große Drewermann Studie „Kleriker. Psychogramm eines Ideals“ (1989). Diese Nichtbeachtung Drewermanns ist ein Fehler meines Erachtens.
2. Viele Reaktionäre sagen: „Aber das Zölibatsgesetz wird doch freiwillig übernommen“. Dem Anschein nach stimmt das. Aber: Wer tatsächlich Priester werden will als wirkliche Berufung, MUSS das Gesetz übernehmen. Es gibt keinen anderen Weg. Dies ist eine Einschränkung des Menschenrechts der freien Berufswahl.

Hubert Wolf, „Zölibat. 16 Thesen“, 190 Seiten. C.H.Beck Verlag München. 2019. 14,95 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Volksreligionen kritisieren: Über David Hume anläßlich seines Todestages am 25.8.1776

David Hume und die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
David Hume, schreibt der Philosoph Friedo Ricken, „ist der heute in der angelsächsischen Philosophie wahrscheinlich einflussreichste Klassiker der Religionskritik“ (F. Ricken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, 2003, S. 233). In Deutschland, so mein Eindruck, hat der schottische Philosoph David Hume (7.5. 1711 – 25.8.1776) keine allgemeine Bekanntheit oder Würdigung in „breiteren Kreisen“ gefunden. Vielleicht findet er neue Aufmerksamkeit, weil wieder stärker die Arbeiten seines Freundes Adam Smith, Philosoph und Ökonom, beachtet werden. Bestenfalls kennt man heute Hume als Vertreter des „Empirismus“, der gegen die Metaphysik alles Erkennen auf den Bereich des sinnlich Erfahrbaren begrenzte; einmal abgesehen davon, dass Hume auch als Historiker sowie als Botschaftssekretär in Paris (1763 bis 1765) und Gast der dortigen Salons von Holbach und Diderot zu würdigen ist.
2.
Nebenbei: Gegen die Metaphysik zu rebellieren ist ein hervorstechendes Kennzeichen angelsächsischer Philosophen, Das Erleben der realen Macht der Kirche und ihrer Dogmenwelten war sicher ein dauernder Impuls für den empiristisch denkenden Philosophen David Hume. Kant hat sich mit der Erkenntnistheorie Humes kritisch auseinandergesetzt.
3.
Religionsphilosophisch besonders wichtig sind die beiden Werke „Dialoge über natürliche Religion“ (posthum, 1779) und „Die Naturgeschichte der Religion“ (1757). Die „Dialoge“ sind ein kontroverser theologischer Disput (nach dem Vorbild Ciceros „de natura Deorum“).
Wenn man „Die Naturgeschichte der Religion“ in den Mittelpunkt stellt, dann fällt auf, wie Hume die philosophische Deutung der Religion von der geschichtlichen Entwicklung religiöser Praxis abhängig macht. Weil die Menschen Furcht und Angst in einer bedrohlichen Welt hatten, entstanden Religionen, so meint er, und zwar zuerst in den Gestalten des Polytheismus. Der Monotheismus ist für Hume eine spätere Erscheinung. Auch Religionswissenschaftler haben sich mit dieser historisch wohl zutreffenden Deutung befasst.
Philosophisch bzw. sogar auch theologisch ist in dem Buch das Kapitel über „Aberglaube und Schwärmerei“ besonders interessant, das Buch enthält auch Kapitel über die „Unsterblichkeit der Seele“ und den „Selbstmord“.
3.
Einige Erkenntnisse aus dem Aufsatz „Aberglaube und Schwärmerei“ sind nach wie aktuell. Polytheismus ist für Hume vor allem Aberglaube. Bemerkenswert ist, dass Hume meint, auch diesen Glauben habe „der göttliche Werkmeister seinem Werk (also den Menschen) eingeprägt“. Denn, so meint er, eine „unsichtbare, intelligente Macht gibt es in der Welt“: Diese intelligente Macht ist also auch die Ursache für Aberglaube/Polytheismus, aber auch die Ursache für den Monotheismus. Und auch für den von Hume geschätzten, allein philosophisch erzeugten „Vernunftglauben“. Er nennt diesen auch „natürliche Religion“, die unabhängig von jeder Offenbarung gedacht werden kann.
Es gibt also für Hume einen volkstümlichen Theismus (Monotheismus) UND darüber hinaus einen wertvolleren, philosophisch reflektierten Theismus der Vernunftreligion. Diese Vernunftreligion sieht in den Ereignissen der Natur eben nicht göttliche Kräfte am Wirken; sie erklärt vielmehr alles ohne einen Wunderbegriff, also allein aus natürlichen Ursachen: Deswegen werden philosophisch reflektierte Anhänger der Vernunftreligion verachtet, und vom Volk und der Kirche als Ungläubige behandelt.
4.
Den populären, also unreflektierten Theismus hält Hume sogar für gefährlicher als den alten Polytheismus. Er nennt die Fehlformen des von absoluter Wahrheit besessenen Theismus: Intoleranz, Gewalt, Menschenopfer. Den Polytheismus deutet Hume dann doch vergleichsweise eher positiv: Er führe zu Mut und Freiheitsliebe. Ob das historisch gesehen korrekt ist, bleibt sehr die Frage. Auch heutige Philosophen wie Odo Marquard haben Lobeshymnen auf den Polytheismus angestimmt. Und rechte bzw. rechtsextreme Ideologen geben sich gern als Freunde des Polytheismus und Feinde des angeblich nur intoleranten Monotheismus aus, wie etwa Ideologen der Nouvelle Droite in Frankreich. Insofern wirken jedenfalls die ziemlich pauschalen Polytheismus-Thesen Humes bis heute weiter.
5.
Hume meint: Nur eine kleine Gruppe von Menschen wird sich jemals aus den Verirrungen der populären monotheistischen Religionen befreien können. Es ist die Philosophie als Skepsis, die die verirrten Menschen aus der heillosen Populärreligion befreien kann; etwa dann, wenn sich Menschen in ihrem religiösen Wahn gar nicht an Gott binden, sondern an Zwischenwesen, also Heilige, die sie als Schutzgottheiten (also dann doch wieder in polytheistischer Haltung) verehren.
Die Kritik der theistischen Volksreligion (auch und gerade innerhalb des Christentums und der Kirchen) ist sicher ein Thema, das im Zusammenhang von Hume weiter diskutiert werden sollte. Es sollte also der immer noch stark vorhandene populäre Glaube an Wunder diskutiert werden, also über die Meinung, Gott könne Naturgesetze für einzelne besonders Fromme wunderbar durchbrechen. Und als könnte „die Gottesmutter und Jungfrau Maria“ vom Himmel herabschweben und in zu Menschen sprechen, wie in Fatima oder Lourdes immer noch geglaubt wird.
6.
Und dann wäre zu erörtern, ob philosophisches Welt- und Selbstverstehen jemals ohne das eine und einzige vertretbare Wunder auskommen kann, das sich in dem Erstaunen äußert: „Dass überhaupt etwas ist und nicht nichts“. Dieses ist wohl das einzige Wunder, das Gültigkeit hat. Alle anderen so genannten Wunder sind bestimmte Formen des Volksglaubens, auf die aber viele Menschen einfach nicht verzichten können und wollen, weil sie meinen, in dem Volksglauben bzw. Aberglauben inneren Halt zu finden. Ob man diese die Betroffenen von dieser subjektiven Überzeugung des volkstümlichen Glaubens argumentativ befreien kann und dann auch befreien sollte, ist eine offene Frage. Wahrscheinlich haben sogar die kritischsten Anhänger eines Vernunftglaubens noch einen Restbestand an Volksglauben in sich, und sei es die Beschäftigung mit Astrologie oder Homöopathie usw.
7.
Was Vernunftglauben heute aktuell und neu formuliert bedeuten kann, ist eine aktuelle Herausforderung der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Den alten Vorwurf des „trockenen und abstrakten Begriffssystems“ wird der neue Vernunftglaube überwinden müssen. Der neue Vernunftglaube könnte angesichts des Niedergangs der konfessionellen Kirchen in Europa eine neue Ökumene religiöser und explizit christlicher Menschen erzeugen; dieser Vernunftglaube würde die auch sich stets weiter entwickelnden Menschenrechte in seinen „Grundbestand“ aufnehmen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Paradies Glaube – Zum Film von Ulrich Seidl

Einige theologische und philosophische Hinweise zu einem wichtigen Film von Ulrich Seidl
Von Christian Modehn.

Am 14. Juli 2019 wurde im Ersten um 0.30 Uhr noch einmal der Film “Paradies Glaube” von Ulrich Seidl gesendet. Wer den Film nicht gesehen hat oder noch anderweitig sehen will: Hier ein theologischer Kommentar zu dem wichtigen Film, verfasst schon 2012, aber immer noch aktuell … und gültig.
Mit der Verirrungen eines fundamentalistischen, d.h. unkritisch gelebten christlichen Glaubens müssen sich religionsphilosophisch Interessierte intensiv befassen, man denke -etwa 2012 – auch an die Ausstellung der Leiche des umstrittenen Paters Pio (er hatte angeblich die Wundmale Jesu an seinen Händen) im Petersdom.

Über den 2. Teil der Trilogie „Liebe – Glaube – Hoffnung“  des österreichischen Filmemachers Ulrich Seidl ist viel geschrieben worden. Leider hat man den Film “Paradies Glaube” oft den schwächsten der drei Filme genannt. Das mag auf das Gesamtwerk Seidls bezogen eigens geprüft werden wie auch auf die Regieleistung in diesem Film selbst.

Der Religionsphilosophische Salon ist jedoch der Meinung, dass der Film sehr wichtig und sehr inspirierend ist, weil er keineswegs nur eine marginale oder gar nur konstruierte, sozusagen imaginäre katholische (Film) Welt zeigt. „Paradies Glaube“ ist alles andere als eine unterhaltsame Satire. Maria Hofstätter spielt als aufdringlich missionarisch werbende und total katholischer Frömmigkeit hingegebene Anna Maria keineswegs eine „religiöse Irrläuferin“ einer monströsen und unwirklichen Glaubenshaltung. Für sie ist ihre extreme Form katholischer Frömmigkeit, mit einer Art erotischen Bindung an das Kreuz und den Corpus des toten Christus,  wichtiger als die liebevolle Verbindung mit ihrem schwer kranken Ehemann. Religiöser Glaube ist wichtiger als Menschlichkeit: Man möchte sagen, das ist ein typisches Krankheitssyndrom, bis heute in unterschiedlichen fundamentalistischen Kreisen verbreitet: In den so genannten Sekten wie in evangelikalen Gruppen oder katholischen neo-katechumenalen Gemeinschaften usw.

Anna Maria ist in Wien förmlich getrieben von dem Gedanken, eine Marienstatue in die Wohnungen ihrer Meinung nach besonders ungläubiger Menschen zu bringen. Sie drängt den Menschen diese in Dutzendware produzierte Marien- Figur förmlich auf. Denn sie ist überzeugt: Mit dieser Maria kommen Rettung, Heil und Erlösung in das Leben dieser – ihrer Meinung  nach – gescheiterten Menschen, oft sind es „Ausländer“.

Das greifbare Heil, sozusagen die materielle Gestalt der Erlösung,  in die Häuser tragen: Diese Praxis ist in der katholischen Volksfrömmigkeit durchaus üblich, sie beginnt bei der jährlichen Wohnungssegnung, geht über die Pflege privater Hausaltäre bis zum Brauch der  „Herbergssuche“ von (Kitsch) Figuren Marias und Josefs in der Adventszeit. Da verweilen diese Figuren einen Tag oder eine Woche in einer Familie. Das Abirren einer Frömmigkeit, die die Ikone für die dargestellte Heilige selbst nimmt, wird in dem Film deutlich gezeigt. Man sehe sich aber auch in Marienwallfahrtsorten (Lourdes, Fatima, La Salette usw) um, wie dort die Darstellungen (!) Marias selbst höchste Verehrung genießen; die Berührung heiliger Objekte (etwa der schon fast abgeküsste Zeh der Petrus – Statue im Petersdom) gehört auch dazu. Anna Maria küsst mit Vorliebe Christus Bilder oder das Kreuz, in einer deutlich erotisch anmutenden Haltung.

Es ist im Katholizismus immer noch üblich, Reliquien auf Wanderschaft zu schicken: Man denke etwa an die Weltreisen der Reliquien der heiligen Theresia vom Kinde Jesu, die von Lisieux aus rund um den Globus geschickt wurden in den letzten Jahren. Man denke an die Leiche Pater Pios Anfang Februar 2016 ausgestellt im Petersdom…Warum? Damit die Reliquien als solche ihre heilsame, wundertätige Wirkung „vor Ort“ ausüben können. Man denke weiter an die Flut von Pater Pio Bildern in allen Autos, Kneipen und Wohnungen Italiens: Dieser angeblich stigmatisierte, aber schon von Pius XII. unter dem Verdacht der Scharlatanerie kritisch begutachtete Kapuzinerpater ist sozusagen als Ikone das leibhaftige Heil in den Wohnungen usw.

Kurz: Anna Marias Verhalten ist zwar filmisch zugespitzt, aber durchaus verwurzelt im katholischen Milieu.  In der privaten Gebetsrunde ihrer Vereinigung zu Ehren des Herzens Jesu wird gebetet und geschworen, dass Österreich wieder katholisch werde. Was das heißen mag, wird an Anna Marias Verhalten gegenüber ihrem (schwerkranken) muslimischen Ehemann deutlich: Von den geringsten Spuren der Toleranz und des Mitgefühls ist nichts zu spüren. Von einem Respekt vor dem muslmischen Glauben ihres Mannes kann keine Rede sein. Sie hat etwa im Wohnzimmer das Bild aus Mekka verdeckt und verhangen. Mekka passt nicht zu Christus und Maria, denkt sie.

Anna Marias Gebetsrunden werden tatsächlich in weiten offiziell – katholischen Kreisen praktiziert; es gilt doch, die „Neuevangelisierung Europas“ voranzubringen, wie es Benedikt XVI. so sehnlich wünschte. Bezeichnenderweise werden ja auch ganze Städte und Länder wieder Maria oder einem Heiligen geweiht. Was Anna Maria in ihrer Gruppe betend vollzieht, ist also üblich.

Bei den “missionarischen Hausbesuchen” mit der Gipsmadonna im Köfferchen fällt auf, wie ausschließlich Anna auf die helfende Wirkung des Gebetes allein setzt. Da spielt der Wunderglaube an die Allmacht des Gebets eine entscheidende Rolle; aber das hat Anna Maria in der Kirche so gelernt, so wird sie in der offiziellen Lehre vertreten! Angesichts menschlicher Probleme vermag Anna Maria allein mit frommen Sprüchen und Floskeln zu reagieren, auch das ist ja nicht nur ein Hinweis, wie stark die religiöse Indoktrination alle menschliche Reflexion, von kritischer Reflexion ganz zu schweigen, töten kann.

Im Umgang mit ihrem schwerkranken muslimischen Mann (auch er ist sicher nicht Inbegriff der Liberalität) sieht man zudem, wie sogar die Gefühle der Menschlichkeit ignoriert werden aufgrund katholischer Indoktrination. Als ihr muslimischer Mann fragend und protestierend in die Gebetsrunde seiner Frau hineingerät, spricht man nicht etwa mit ihm. Sondern man betet gemeinsam, sozusagen um den Teufel fernzuhalten, das apostolische Glaubensbekenntnis.

Anna Maria ist eine Frau, die einzig nur aus der katholischen Religion lebt; schon zum Frühstück hört sie das durchaus in Wien real existierende katholische Radio Maria, entsprechende Werbung schmückt auch ihr Auto. Und die Sprüche, wie „Kein Tag ohne Gebet“, mit denen Anna Maria eines ihrer Zimmer tapeziert hat, gibt es in dieser Form und in diesem Format tatsächlich. Sie sind in vielen österreichischen oder bayerischen Kirchen etwa am Eingang oder Ausgang oder auf Infotafeln zu finden. (Radio Maria Österreich: http://www.radiomaria.at/index.php?nID=254)

Es muss also nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Frömmigkeit Anna Marias durchaus eine gewisse Breitenwirkung hat und in Österreich, Süddeutschland oder in den romanischen Ländern zum Alltag an der Basis etlicher Pfarreien gehört. Dort gibt es die zahlreichen neuen geistlichen Gemeinschaften mit ihren entsprechenden Verlagen, die derartige Frömmigkeit praktizieren und empfehlen, ohne dass ein Bischof einschreitet. Das ultra konservative “Radio Maryja” in Polen, mit ihrem Leiter, dem Redemptoristen Pater Rydzik, ist selbst den ohnehin konservativen polnischen Bischöfen zu extrem. Aber sie schaffen es nicht, und auch die Päpste schaffen es auch nicht, dieses aufhetzende antisemitische katholische Programm zu verbieten. Daran sieht man, die Hierarchie will das „tief fromme“ Volk nicht verprellen. Viele Wähler der jetzt herrschenden, autoritären PIS-Partei sind Freunde von Radio Maryja.

Der Film „Paradies Glaube“ zeigt sehr früh schon, wie Anna Maria sich vor dem Kruzifix -sündenbewusst – auspeitscht und später auch mit einer Art „Geißel – Gürtel“ ausstattet. Dieses „fromme Sichauspeitschen“ hat bekanntlich Tradition in einer der mächtigsten katholischen Organisationen mit ca.80.000 Mitgliedern, dem Opus Dei; Anna Maria befindet sich in solcher Sühne  – Aktion sozusagen in offizieller, in „bester Gesellschaft“.

Überhaupt der Sühnegedanke: Anna Maria ist besessen davon, für die Sünder anderer (und auch die eigenen Versagen) Sühne zu leisten, also durch eigene religiös anstrengende Praxis Gott zu versöhnen und zu beschwichtigen. Über das naive Gottesbild eines solchen Verhaltens wäre eigens zu sprechen. Bei Anna Maria heißt Sühneleisten auch das schmerzhafte Herumrutschen auf den Knien in der eigenen Wohnung, um den ganzen Rosenkranz zu beten, immerhin sind das 50 laut gesprochene Ave Maria. Im Katechismus wird ausdrücklich das Sühnegebet empfohlen. In Kirchen vieler deutscher Großstädte finden immer noch Sühne – Gebetsnächte statt, oft veranstaltet von der Gemeinschaft des „Neokatechumenalen Weges“ (Informationen über diese überaus einflussreiche, weltweit agierende, offiziell anerkannte Bewegung: http://www.relinfo.ch/nk/info.html#suende ). Es sind viele dieser so genannten neuen geistlichen Gemeinschaften, die extreme Formen der Frömmigkeit praktizieren…

Die Reinheit ist oberstes Gebot für Anna Maria: Nicht nur das über – korrekte Putzen des Hauses wird gezeigt, auch ihre Abscheu vor “schmutziger”, praktizierter Sexualität wird deutlich: Nachdem sie überraschenderweise nachts Sex im Park beobachtet (!) hat, fühlt sie sich sofort gedrängt, sich gründlich in der Badewanne zu säubern. Sexuelle Lust ist für sie apriori  schmutzig, das hat man sie ja auch so gelehrt. Aber selbst mit ihrem Mann lehnt sie Sex ab, hingegen holt sie sich nachts ihr allzu geliebtes Kruzifix ins Bett… Diese künstlerisch sehr konsequente und deswegen wichtge Szene wurde übrigens von der katholischen, ultrakonservativen italienischen Bewegung NO 194 (siehe: http://no194.org/) zum Anlass genommen, den Regisseur wegen Blasphemie anzuklagen.

Der Film „Paradies Glaube“ zeigt nicht, wie SPIEGEL – Online  meinte,  „religiöses Hinterwäldlertum, das vielleicht folkloristische Züge besitzt, der gegenwärtigen Glaubensdoktrin wohl kaum entspricht“. Tatsächlich dokumentiert Ulrich Seidl eine Haltung, die weite Verbreitung hat im heutigen Katholizismus. Verurteilen wird man die vielen Menschen, die so sind wie Anna Maria, natürlich nicht. Aber man wird sich fragen, wie in Europa die theologische Bildung eigentlich greift angesichts dieser religiösen Praxis, die eher einem Wahn gleicht.  Wem Jahre lang eingeredet wird und es auch innig glaubt, außerhalb der katholischen Kirche gebe es kein  Heil, der greift schnell zu seinem Köfferchen mit der Madonna, um die Welt zu retten, „heil zu machen“. Dass alles Gnade ist, wie Paulus sagt, also von Gott abhängt, ist bei diesem Aktionismus vergessen.

Copyright: Christian Modehn.

 

 

 

 

“Nicht religiös”: Tendenz steigend sogar in der arabischen Welt

Eine Umfrage von BBC und der Princeton University

Ein Hinweis von Christian Modehn

Wer sich in den arabischen Staaten sozusagen „innerlich“ vom islamischen Glauben und den dort gelehrten Dogmen löst, hat dann als „Nicht-Religiöser“ noch keine entsprechende weltanschauliche Gemeinschaft zur Verfügung. In den arabischen Staaten ist die ganze Kultur immer noch von islamischen Gesetzen und islamischem Brauch bestimmt und offenes Bekenntnis zum Atheismus nicht „willkommen“, milde gesagt.

Aber immer mehr Menschen in arabischen Staaten bezeichnen sich selbst als „nicht-religiös“: Und das mit steigender Tendenz. Nannten sich im Jahr 2013 nur 8 % der Befragten „nicht-religiös“, so sind es im Frühjahr 2019 bereits 13 % der Bevölkerung, bei Menschen unter 30 Jahren ist der Anteil 18 %.

Diese interessante Entwicklung des religiösen Bewusstseins in arabischen Staaten hat bisher in Deutschland meines Erachtens noch nicht die entsprechende Aufmerksamkeit gefunden. Sie berühren einen bislang unsichtbaren, aber offenbar stetigen Wandel der Mentalitäten in muslimisch bestimmten Staaten.

Die umfangreichen Studien und Interviews zu dem Thema hat „BBC News Arabic“ zusammen mit dem „Arab Barometer“ (mit Sitz an der Princeton University) realisiert: Mehr als 25.000 Menschen wurden in 10 arabischen Staaten interviewt (Algerien, Tunesien, Marokko, Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon, Libyen, Sudan und Yemen sowie in den „Palästinensischen Gebieten“). Saudi-Arabien und die Emirate haben diese Interviews nicht zugelassen.

Es gibt große Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung des Bekenntnisses „nicht-religiös“ in den einzelnen Ländern: Am stärksten sind die „Nicht-religiösen“ in Tunesien, mehr als 30 Prozent der Befragten bekennen sich als nicht-religiös. Liegt das an der gewissen demokratischen Entwicklung in Tunesien, möchte man denken. Hingegen ist der Anteil der Nicht-Religiösen auch sehr stark (25 %) in Libyen, das nun wahrlich alles andere als demokratische Ansätze vorzuweisen hat. Hat dort der Zusammenbruch der alten Herrschafts-Ordnung den Abschied von der alten Religion mit befördert? Sehr gering ist der Anteil der Nichtreligiösen in Yemen. Ist die dort offenbar starke Bindung an Gott sozusagen der letzte geistige Rettungsanker in einem von Brutalität, Mord und Totschlag geprägten Land?

Freilich: Wer sich in arabischen Staaten als „nicht-religiös“ bezeichnet, bleibt eingebunden (und sicher auch noch abhängig) von der traditionellen islamisch geprägten Kultur, der tief sitzenden Lebensphilosophie, den Gebräuchen und Sitten. Darum ist es kaum erstaunlich, dass noch immer die offen gelebte Homosexualität mehr Ablehnung findet als der „Ehrenmord“.

Bei allen Nuancen: Die Mentalitäten und damit langfristig auch die geltenden Normen für Gesellschaft und Staaten ändern sich, zwar ganz langsam, aber der Wandel des Denkens ist nicht zu übersehen. Die religiösen Autoritäten im Islam sind sehr oft auch alte Männer, die der Lebenswelt der Jüngeren sehr fern stehen, sie sprechen deren Sprache nicht, das religiöse System, eng verbunden mit den Mächtigen, verliert an Reputation.

Wenn man auf die europäische Geschichte etwa seit der Aufklärung schaut, ist klar und deutlich: Demokratie und Menschenrechte wurden erst dann in den Staaten bestimmend und geltend, als die Kirchen und die christliche Religion schwächer wurden. Diese Erfahrung werden wohl auch arabischen Staaten machen, hoffentlich, sage ich.
Und ich würde mir wünschen, dass auch dort vernünftige, kritische und liberale Formen der muslimischen Religion sich durchsetzen, eng verbunden mit den Menschenrechten, so, wie es ja auch in Europa einige vernünftige, liberale protestantische Kreise und Kirchen im Zuge der Aufklärung gab und gibt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin