Buchmesse und Niederlande: Religion und Literatur in Holland. Ein Beitrag von Prof. Johan Goud

Die Buchmesse in Frankfurt am Main hat in diesem Jahr die Literatur in den Niederlanden und in Flandern gewissermaßen zum Schwerpunkt gewählt. Was Religionen und Kirchen betrifft, haben die Niederlande nicht gerade den Ruf, ausgesprochen kirchengebunden und gläubig zu sein. Statistisch gesehen gilt Holland als eines der am meisten säkularisierten Länder Europas, wenn man das denn statistisch überhaupt erfassen kann. Wer schaut schon die Seele der Menschen?  Die religiöse Frage hat sich aber in ihrer ganzen Vielfalt nur verlagert, etwa auch in die Literatur und die Poesie. Ein Beitrag der Zeitschrift PUBLIK-FORUM bietet eine gute Übersicht zur Pluralität des Religiösen in der heutigen niederländischen Literatur. Autor ist Prof. em. Johan Goud, Den Haag, Theologe, Philosoph und Pastor der Remonstranten-Kirche. Den Beitrag können Sie in PUBLIK-FORUM lesen, wenn Sie hier klicken.

Zu Publik-Forum: www.publik-forum.de

Leibniz – ein Denker für die Gegenwart? Ein religionsphilosophischer SALON zum Welttag der Philosophie

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin im November 2016 wollen wir uns auf einige wichtige Aspekte des universal gebildeten Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz kritisch einlassen. Die Veranstaltung findet am FREITAG, 18. November 2916 um 19 Uhr in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Herzliche Einladung. Weitere Infos folgen.

Von Luther (fast) nichts gelernt: Zum “Reformationsgedenken” 2016-2017

Von Luther (fast) gar nichts gelernt.

Ein Hinweis von Christian Modehn, erneut publiziert als Meditation zum Ostersonntag 2017

1983, anlässlich des 500. Geburtstages von Martin Luther, hatte ich u.a. einen Dokumentarfilm fürs ERSTE (SFB) realisiert mit dem Titel „Wir haben von Luther gelernt“. Den Titel hatte ich vorgeschlagen. Mit dem „Wir“ waren die Katholiken im allgemeinen gemeint.

Das Zweite Vatikanische Konzil war damals erst knapp 20 Jahre vergangen und es herrschte in weiten Kreisen der europäischen katholischen Theologie eine Art Aufbruchsstimmung. Die meisten waren enthusiastisch, freuten sich, dass die Messen nun (wie bei Luther) in der jeweiligen Landessprache gehalten wurden. Dabei vergaß man, dass die Texte der deutschen Messe zum Teil wortwörtlich aus dem Lateinischen übersetzt wurden und auch auf Deutsch kein größeres Verständnis weckten. Man freute sich aber, dass 300 Jahre nach der Aufklärungsphilosophie die Katholische Kirche sich bequemte, auch die Religionsfreiheit anzuerkennen. Man freute sich auch, dass sich der Papst in Zukunft etwas beraten lassen wollte. Vom wem? Von anderen Klerikern. Man freute sich, dass es Synoden in den Bistümern gab: In den Synoden durften Laien zwar mit großem Engagement endlos debattieren und einiges beschließen: Aber die Beschlüsse galten nichts, sie mussten vom Klerus, von Rom usw., genehmigt werden. Und genehmigt wurde kein Reformvorschlag, etwa zum Priesteramt der Frauen. Höchstens, dass die Kerzen zur Fronleichnamsprozession auch die Farbe gelb haben dürfen. Es wurden „Kirche von unten“ – Gruppen gebildet, die aber niemals eine anerkannte Position etwa der Mitbestimmung bekamen. Insgesamt aber gab es eine allgemeine (sich nicht selbst kritisch reflektierende) Mentalität, eine Art Glaube, dass der Katholizismus sich reformiert habe und „modern“ werde. Also auch von den reformatorischen Grundideen Luthers gelernt habe.

Ich selbst bin dieser allgemeinen euphorisch gestimmten Haltung gefolgt. Hans Küngs Bücher hatten Massenauflagen erreicht, viele Enthusiasten glaubten dummerweise, es werde alsbald einen Hans-Küng-Katholizismus geben, also einen vernünftigen, modernen, kritischen. Inzwischen hatten sich reaktionäre Kräfte im Katholizismus gesammelt, nicht nur um Erzbischof Lefèbvre, sondern auch im Opus Dei, bei den Neokatechumenalen usw., die die Traditionen lieben und alles andere als einen modernen Katholizismus wollen. An diese Kreise, die so treu klerikal sind, hält sich Rom mit großer Vorliebe. Diese Kreise haben auch Geld. … und viele junge Priester.

Zurück zu 1983: Viele enthusiastische Katholiken ließen sich in die Irre der blinden Euphorie führen. Bald merkten sie, dass Rom eben doch Rom bleibt, und der Katholizismus nur ein paar Äußerlichkeiten verändert, schweren Herzens. Denn Veränderungen sind immer auch Machtverzicht des allmächtigen Klerus.

Nur einige Beispiele, die zeigen: „Wir (Katholiken) haben von Luther nichts gelernt und wollen es auch nicht“. Wobei sich das Lernen von Luther auch auf die von ihm inspirierte Kirche bezieht.

Die Liste ist lang und wird hier nur unvollständig präsentiert:

– Die Zölibatsverpflichtung für Priester besteht trotz der richtigen Erkenntnisse Luthers nach wie vor im Katholizismus.

– Die (Männer) Orden (Luther war Augustiner) haben ihre alte klerikale Struktur ungebrochen bewahrt. Deswegen sind sie in Europa heute so wenig einladend für junge Leute, dass die Orden und Klöster bald verschwinden.

– Die oberste Entscheidung in der Kirche liegt nach wie vor ALLEIN beim Papst und beim Klerus. Es gibt keine synodale Struktur, wenigstens Ansätze für eine synodale demokratische Struktur im Katholizismus. Alle Synoden, an denen auch einige wenige zuverlässige Laien teilnehmen dürfen, gewähren diesen kein Stimmrecht.

– Laien sind immer noch das gehorsame Fußvolk, das dem Klerus folgen soll. Manche freuen sich, großartige Rebellen zu sein, weil es als konfessionsverschiedenes Ehepaar eben bei einem unbekannten Priester die Kommunion empfängt…

– Es gibt immer im Jahr 2016 bei Papst Franziskus, dem “Progressiven?” die Praxis und Theologie des Ablasses.

– Es wird immer noch eine Heiligenverehrung gefördert, die magische Elemente wie zu Zeiten Luthers hat: Etwa die Verehrung von Knochen(resten) angeblich heiliger Menschen. Man nennt das Reliquienkulte, wie kürzlich noch im Petersdom, als die Knochen des heiligen Scharlatans Padre Pio zur Verehrung ausgestellt wurden.

– Es wird katholischerseits immer noch geglaubt, die Heiligen im Himmel seien Fürsprecher für uns hier auf Erden. Diesem (Aber) Glauben kann man ja folgen, aber was ist dann noch der Unterschied zur Esoterik, die die Katholische Kirche bekanntlich verdammt.

– Mit der freien theologischen Forschung hapert es immer noch: Theologen etwa an staatlichen Universitäten in Deutschland, finanziert von Steuergeldern, werden nur mit Zustimmung der Bischöfe berufen. Was wäre, wenn Politologen an der Universität vom Außenministerium berufen würden usw.

– Das Papsttum tritt immer noch in dieser doppelten Gestalt auf. Einerseits geistliches Oberhaupt; andererseits Staatschef des Staates Vatikan, mit allen diplomatischen Rechten und Privilegien. Der Nuntius ist der Kontrolleur des Papstes in den Staaten. Der Staat Vatikan hat seine Banken, seine Mafia usw. Alles das ist endlich etwas bekannter geworden. Was ist der Unterschied zum Rom, das Luther kannte? Wer stellt diese Frage?

– Laien haben keinerlei Mitentscheidungsrecht für die sie unmittelbar bewegenden Fragen, etwa die heute übliche und rasante Zusammenlegung von Pfarreien aufgrund des Priestermangels. Geld genug ist ja in Deutschland bekanntlich bei den Milliarden-Etats da. Nur weil zölibatäre Priester fehlen, werden Pfarreien zusammengelegt. Der Klerus bestimmt allein. Und Laien müssen auf gewisse pastorale Nähe und Dienste verzichten, falls denn Priester überhaupt noch als Seelsorger angesprochen werden können. Diese Zusammenlegung von Pfarrgemeinden einzig und allein deswegen, weil es so wenige zölibatäre Priester gibt, ist wohl einer der größten katholischen Skandale heute überhaupt. Denn nicht im entferntesten wird daran gedacht, Laien die Verantwortung für die Sonntagsgottesdienste und die Sonntagsmesse zu geben. So würden alle Gemeinden lebendig bleiben und Nähe und Nachbarschaft bestände weiter. Wenn der Klerus vom „allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“ noch gelegentlich spricht, dann sind das leere Worte, die keine praktische Bedeutung haben.

Ich breche hier die Liste der Beispiele ab, die zeigen, dass der Katholizismus bis heute tatsächlich und nachweisbar fast nichts von Luther gelernt hat.

Mir tut es im nach hinein leid, dass ich mit dem Filmtitel von 1983 aus heutiger Sicht eine falsche Fährte gelegt habe. Heute müsste man einen Film mit dem Titel machen: „Wir haben von Luthers praktisch gar nichts gelernt“. Und der Klerus will es auch nicht, müsste man treffender weise dazusetzen. Das heißt ja nicht, dass es da und dort einige vernünftige Kleriker gibt, die das System durchschauen und Änderungen. Aber sie haben keinen Mut, dies öffentlich zu sagen!

Das gilt, trotz aller öffentlichen Ökumene, all der Begegnungen und Dispute, die alle das Ergebnis haben: „Noch ist die Zeit nicht reif für eine Kircheneinheit oder einer Einheit in Verschiedenheit“. Immer wieder ist zu hören: „Wir müssen weiter beten“. Die Frage. Wie lange darf man beten, wenn sich trotz heftigen (?) Betens keine Ergebnisse zeigen?

Aber kann Luther umfassender Lehrmeister der Ökumene“ heute sein? Das ist die andere Seite des Themas. Er kann es sicher nicht im umfassenden Sinne sein. Zu viele „Schattenseiten“ und Denk-Fehler Luthers sind mittlerweile allgemeines Wissen geworden: Etwa Luthers (damals sicher weithin übliche) Form der Verachtung der Juden; vor allem Luthers Ablehnung der positiven Leistungen der Philosophie; damit zusammenhängend: Seine Zurückweisung des Humanismus. Sowie, sicher zentral, sein Fixiertsein auf einzelne Traditionen, etwa im Neuen Testament: Da besonders auf den Paulus des Römerbriefes und Galaterbriefes. Mit den verheerenden Konsequenzen, die zur unsinnigen und noch immer gültigen Opfertheologie führten („Gott lässt seinen Sohn Christus sich abschlachten für die Rettung der Welt“) und auch die nicht akzeptablen Ansätze der Prädestinationslehre, die dann von Calvin noch ins Extreme gefasst wurde.

Also, so furchtbar Vieles gibt es nun von Luther (und Calvin) auch nicht zu lernen, nicht nur für Katholiken, sondern für alle spirituell interessierten Menschen. Und es verwundert, aus der philosophischen und christlich – humanistischen Ecke betrachtet, die die unsere ist, mit welcher Bravour dann doch noch ab dem 31. 10. 2016 ein Jahr lang eben Luther in allen nur denkbaren Variationen gefeiert werden soll.

Das ist die entscheidende Frage: Wird es aus der Kraft dieser so intensiven (und teuren) Formen des Erinnerns eine dringend erforderliche neue Reformation geben, eine solche, die die Menschheit heute tatsächliche und wirksame Schritte tun lässt zur Beendigung des Mordens in den Kriegen weltweit, zur Einschränkung des Waffenhandels, zur Beendigung eines blind – wütenden totalen und kaum noch zu kontrollierenden Kapitalismus? Vor allem: Wird man mit Luther und der neuen Reformation auch den Wahn des neuen Nationalismus beseitigen können? Wird es eine Gesellschaft geben, die den anderen, den Fremden, voll respektiert und schätzt? Werden das die Kirchen etwa in Deutschland leisten können, diese kreative Leistung vollbringen, die Mut erfordert, in den Auseinandersetzungen mit den Regierungen standfest zu bleiben und nicht weich zu werden angesichts der vielen Privilegien, die diese deutsche Gesetzgebung immer noch finanziell den Kirchen bietet?

Die wichtigste neue Reformation ab 31.10 2016 wäre wohl das mutige Beiseitelegen vieler dogmatischer Traditionen, die nur noch als Last des Vergangen mitgeschleppt werden, an die aber kein vernünftiger Christ mehr sich halten will: Von der Opfertheologie war die Rede, sie versteht kein Mensch mehr, der ein irgendwie vernünftiges Gottesbild hat; von der Zurückweisung der alten Erbsündelehre müsste die Rede sein; von dem Credo, das immer noch so viele unverständliche Floskeln enthält, etwa „der Heilige Geist geht vom Vater und vom Sohn aus“, und dieser „sei gezeugt, aber nicht geschaffen“ usw…Kurz und gut: Die neue Reformation wäre theologisch gesehen eine Übernahme zentraler Erkenntnisse der liberalen Theologie. Aber darauf zu hoffen, dass diese Leistung geschieht, diese Reduzierung der Berges von uralten und veraltetem Dogmen-Wissens auf eine einfache (jesuanische) Weisheit: Darauf hoffen wohl nur sehr wenige (liberale) Theologen und Religionsphilosophen.

Nachtrag am 26. 11. 2016: Wie es mit der Unmöglichkeit für grundlegende Reformen in der römischen Kirche, selbst unter Papst Franziskus, aussieht, dokumentiert Julius Müller-Meiningen in “Christ und Welt” vom 24. 11. 2016 auf Seite 2. Nur ein zentrales Zitat, das eigentlich auch im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 wenig Hoffnungen macht auf größere katholische Reformen: “Die Kritiker des Papstes Franziskus haben schon längst ein Ziel erreicht: Sie haben seinen Spieraum begrenzt. Innerkirchlich dreht sich die Diskussion auch drei Jahre nach der ersten Vatikan-Umfrage zum Thema Ehe und Familie immer noch um die Zulassung von wiederverheiratet Geschiedenen zu den Sakramenten…”  “Dogmatische Verbissenheit alter Kardinäle”, “rigide Engstirnigkeit im Vatikan”, “Leben der Kleriker dort wie auf einem anderen Planeten”: Diese Worte hört man, wenn man sich unter “Vatikanologen”, also journalistischen Vatikan-Spezialisten, umhört. Nello Scavo, Journalist bei der katholischen Tageszeitung Avvenire, hat 2015 in Italien (Edizione Piemme Spa, Milano) ein Buch publiziert, das 2016 in Paris (im katholischen Verlag Bayard) unter dem Titel “Les ennemis du Pape. Ceux qui veulent le reduire au silence. Ceux qui veukent le discrediter. Ceux qui veulent sa mort”, auf Deutsch: “Die Feinde des Papstes. Die ihn zum Schweigen bringen wollen. Die ihn diskreditieren wollen. Die seinen Tod wollen”. Auf Seite 376 nennt Nello Scavo den us-amerikanischen Kardinal Raymond Leo Burke mit den drohenden Worten:”Ich werde dem Papst widerstehen im Fall der Öffnung zugunsten der Wiederverheiratet-Geschiedenen und der Gays. Ich kann gar nicht anders handeln”. Und der reaktionäre Kardinal Burke hat jetzt, im November 2016, gehandelt. Zusammen mit den greisen Kardinälen Meisner und Brandmüller hat er die rechte katholische Lehre des päpstlichen Schreibens “Amoris laetitia” öffentlich in Zweifel gezogen. Wird Papst Franziskus allmählich von einigen seiner Kardinäle zum Ketzer erklärt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Stille und Spiritualität Erfahrungen in leeren Kirchen. Eine Ra­dio­sen­dung.

Stille und Spiritualität: Erfahrungen in leeren Kirchen
Von Christian Modehn

Die Sendung lief auf NDR Kultur am Sonntag, dem 02. Oktober 2016, von 08:40 bis 09:00 Uhr.

Zum Hintergrund: Der Besuch leerer Kirchen, also außerhalb der Gottesdienst-Zeiten, hat seinen eigenen Reiz. Nicht nur, um unser Interesse an Kunst und Architektur zu befriedigen. Das stille Verweilen in Kirchen “ohne viel Betrieb” kann eine Form der inneren Sammlung werden. Gerade in den Dörfern, etwa Brandenburgs und Mecklenburgs, sind bis in den Herbst viele alte kleine Dorfkirchen auch während der Woche geöffnet. Sie sind oft der einzige “Schmuck” in den Dörfern, die oft verlassen wirken, wenn nicht gelegentlich wie ausgestorben. Wegen der Kirchen machen die durchfahrenden Reisenden öfter mal einen “Kirchen-stopp”. Der spirituelle Geist kann in den renovierten, oft auch nur “halb-fertigen” Kirchen geweckt werden. Darauf macht der Text aufmerksam, die Sendung ist über den NDR Glaubenssachen auch noch zu hören. Für Philosophen und Theologen stellt sich die Frage: Werden diese ruhigen Räume, diese Orte von Religion, Geschichte, Kultur und Politik (man denke an die Verwüstungen in Kriegen, an die Nazi-Zeit, an die Vernachlässigung vieler Kirchbauten in der DDR-Zeit usw.) heute umfassend genutzt? Als Orte dann nicht nur der privaten Stille, sondern auch der angeleiteten Meditation, des Gesprächs, der Initiativen, der interreligiösen Begegnung, der philosophischen Debatte? Die entscheidende Frage ist: Hat die Kirche etwas daraus gelernt, dass sich in den gelegentlichen Sonntagsgottesdiensten in den Dorfkirchen um 10 Uhr sonntags (oder manchmal um 14 Uhr) nur höchstens 10 Personen versammeln? Wie können neue religiöse Feiern in alten Kirchen so gestaltet werden, dass die Menschen, auch die Atheisten, gerne mitfeiern, mitdenken, mitsprechen? Diese Frage ist meines Erachtens bis jetzt weithin ohne Antwort. Die Kirchen “fahren” (oder besser “humpeln” ?) lieber auf den uralten Gleisen alter Liturgien weiter, Neues macht Arbeit. Das Ergebnis dieser altgewohnten Veranstaltungen ist ihnen offenbar egal. Irgendeiner wird dann in 10 Jahren auch in den renovierten Dorfkirchen das Licht ausmachen. Und was ist dann?   Christian Modehn

Der Pressetext als Hinweis auf die Sendung:

Bei jedem Wind und Wetter sind sie spannungsgeladene Räume: Kirchen, Kathedralen und Kapellen. Sie inspirieren auch außerhalb der Gottesdienste, wenn man allein in ihnen verweilt, still sitzt oder andächtig umhergeht. Man nimmt die Vielfalt der Bilder oder die Pracht der Fenster intensiv wahr. In der schlichten Dorfkirche genauso wie in einem gotischen Dom. Diese Räume sprechen in der Stille, aber geben keine definitiven Antworten. Sie stellen Fragen, weisen ins Weite, öffnen den Geist.

 

 

Thomas Müntzer: Der Theologe, der eine materiell erfahrbare Erlösung fordert.

Die Erlösung, das Heil, das der christliche Glaube bringen soll, ist nicht nur spiritueller Trost. Sondern auch materiell erfahrbare Realität der Geltung der universell geltenden Menschenrechte.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

Einige LeserInnen haben gefragt: Was ist denn, kurz gesagt, das Besondere, das Unterscheidende, der Theologie des Reformators Thomas Müntzer gegenüber dem anderen “großen” Reformator Martin Luther?

2.

Thomas Müntzer will politisch, gesellschaftlich und “leiblich”, also ganzheitlich, aber in dieser Ganzheit auch seelisch, für die Menschen, für die Armen zumal, Erlösung auch „materiell“ erfahrbar machen: Dass Müntzer die Bibelverse nicht im Sinne der heutigen historisch-kritischen Bibelwissenschaft deutet, ist klar, wie auch Luther noch nicht auf der Höhe kritischer Bibelforschung dachte bzw. denken konnte. Insofern waren beide in gewisser Hinsicht „Fundamentalisten“ und befangen in spätmittelalterlichen apokalyptischen Vorstellungen.

3.

Zu Müntzers Profil: Wegen dieses ganzheitlichen, materiell erfahrbaren Erlösungs-Verständnisses wird Thomas Müntzer auch von lateinamerikanischen Theologen der Befreiung gut verstanden. Eine Vorstellung von „Erlösung in Christus“, die sich nur in einer Form des neuen, seelischen und dann auch therapeutisch geheilten Bewusstseins abspielt und nur innerlich, nur seelisch allein wahrgenommen wird, trifft überhaupt nicht die Fülle der biblischen Botschaft. Das Schlechtreden des „Materiellen“ und gesellschaftlich „Erfahrbaren“ (also angeblich „Linken“) durch die Kirchenführungen ist nichts als die Angst vor politischen (und kirchlichen) Umwälzungen. Seelische Heilung ist nur in Gleichzeitigkeit mit der Verbesserung politischer Verhältnisse möglich.

4.

Luther sah vor allem die innere Verfassung der Seele, das Gerechtfertigtsein, das als inneres Hoffen und Bangen das Primäre ist. Die Veränderung der Gesellschaft und der Staaten in Richtung Gerechtigkeit war nicht sein Thema. Dies überließ er den Fürsten. Und die handelten … gewalttätig. Also noch unerlöst!

5.

Thomas Müntzer hätte die Reformation zu einem ganzheitlichen Ereignis gestalten können im oben beschriebenen Sinn. Aber Luther und sein „Club“ ließen das nicht zu. So radikalisierte sich Müntzer bis hin zur (eigentlich abzulehnenden)  Gewalt…Dabei ist klar: Alle tötende Gewalt ging von den Fürsten, den Herren, als Erst-Ursache aus!

Aber war Luther so friedlich in seiner Theologie, die den Fürsten das Regieren überließ?

6.

Das ist in unserer Sicht geradezu tragisch: Luther hat eine halbierte Reformation befördert. Er wollte nur die neue Seele, nicht aber eine neue Gesellschaft, die von der neuen („gerechtfertigten“) Seele gleichzeitig gestaltet wird. Luther hat von daher bis heute den Weg gewiesen zu einer Kirche und Theologie der „schönen Innerlichkeit“, die auch noch im ungerechtesten System geistlich leben kann, ohne überhaupt auf den Gedanken des Widerstands oder etwa des Tyrannenmordes zu kommen. Dass diese Entwicklung in der katholischen Kirche – bei der anderen Kirchenverfassung – ähnlich verlief, ist klar. Man denke daran, wie schwach der katholische Protest gegen die Sklaverei war; wie stark die Nähe von Bischöfen und Päpsten zum Faschismus  war usw… Die Abhängigkeit der Herren der Kirchen von den Herren in Politik und Ökonomie bis heute ist evident. Und dieses Thema wird von einer Theologie kaum bearbeitet, die sich an den deutschen Fakultäten als staatstragend etabliert hat…

7.

Insofern ist es ein großer Makel, auch eine bewusste Kalkulation Luthers, seinen ursprünglichen Mitreformator Thomas Müntzer schlecht gemacht, verworfen und sozusagen zum Töten durch die Herrscher ausdrücklich (historisch belegt) freigegeben zu haben. Luther der Machtmensch – wird darüber 2017 gesprochen werden? Ich vermute nicht. Wäre ja auch blamabel, wo man schon den Antisemiten Luther eingestehen muss…

7.

Der größte Makel Luthers aber ist für uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon seine polemische und wahnhafte Ablehnung der wirkmächtigen menschlichen Vernunft, die auch in den theologischen Debatten die Vorherrschaft hätte behalten sollen. Die Verteufelung der Philosophie und des Humanismus durch Luther ist eine bleibende Anklage gegen ihn, von der auch heute wenig gesprochen wird. So bedeutend Luthers reformatorische Tat  auch bleibt, also sein Widerstand gegen die korrupte katholische Kirche damals: Ein umfassend-denkwürdiger „Held“ oder ein großer umfassender Denker, auch des Sozialen und vor allem des Humanismus, war er überhaupt nicht.

Nachtrag am 21.3.2025: Sehr konstruktiv ist die heftige Kritik an Luther durch den Philosophiehistoriker und Philosophen Kurt Flasch, etwa in seiner großen Studie “Das philosophische Denken im Mottelalter” (Reclam 2020, S. 685 ff). Darin wird auf die geistige Begrenztheit Luthers hingewiesen, die vor allem Erasmus in aller Deutlichkeit sah, er konnte sich aber nicht gegen Luther durchsetzen. Kurt Flasch: “Luther hob die Schwäche unserer Vernunft hervor, um einen dem blinden Glauben ,`Fideismus` genannt, verpflichteten Irrationalismus zu empfehlen”  (S. 689).

8.

Den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon beschäftigt ein anderes Thema noch viel mehr: Vielleicht sollte man 2017 und beim Kirchentag von anderen Themen und aktuellen Problemen viel mehr sprechen, etwa von der Überwindung der Gewalt überall, dem Rassismus, im Kernland Luthers, also im heutigen Sachsen und Sachsen-Anhalt. Es gibt sehr viel Dringenderes für Christen und andere spirituelle Menschen, als jetzt so extrem oft über Luther zu reden und alle möglichen Orte Luthers als Pilgerstätten auszubauen und anzupreisen.

Umfassende Menschlichkeit muss heute zuallererst gefördert werden. Danach dann auch eine vernünftige Religion, also eine von der kritischen Vernunft gereinigte Religion, die auch die soziale Veränderung/Verbesserung als Kern der Religion selbst anerkennt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Das Kulturradio des MDR hat zu Beginn des Jahres 2017 darauf hingewiesen, wie marginal der Theologe Thomas Müntzer in dem allgemeinen Reformationsgedenken 2017 vertreten ist … und dazu eine interessante Diskussion gesendet, klicken Sie hier.

Mutter Teresa, die Heilige mit dem Burn-Out!

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 27.8.2016

Eine Ergänzung am 1.9.2016: Die folgende Kritik an Mutter Teresa erscheint mir selbst noch viel zu milde, wenn man die Studien von Geneviève Chénard (2013) (“Les côtés ténébreux de Mère Teresa”) berücksichtigt oder die älteren Arbeiten von Christopher Hitchens oder die Hinweise des indischen Schriftstellers Aroup Chatterjee. Unser Beitrag bleibt dennoch lesenwert, weil er auf die seelischen Leiden der Mutter Teresa hinweist, die 50 Jahre dauerten und nicht “bearbeitet” wurden…

Am 4. September 2016 hat Papst Franziskus auf dem Petersplatz die katholische Ordensfrau Mutter Teresa (geb. 1910 in Skopje, gestorben 1997 in Kalkutta) heilig gesprochen. Nach katholischer Lehre ist sie nun nicht nur göttlich bestätigtes Vorbild für alle Katholiken. Sondern auch, „zur Ehre der Altäre erhoben“, wie die offizielle Lehre betont, ist Mutter Teresa für die bittenden Menschen, die sich an sie „wenden“, so etwas wie eine Art Beistand „an Gottes Thron“. Über dieses immer noch gültige römisch-katholische Denkbild ließe sich ausführlicher diskutieren im Jahr der Erinnerung an die Reformation…   Mutter Teresa ist weltweit eine allseits bekannte Ikone der Barmherzigkeit. Und man freut sich natürlich, dass in dieser heutigen Welt der brutalsten Macht, diese Frau so viel Zustimmung findet. Und man freut sich doch auch, dass sie als Beispiel der Hilfsbereitschaft hoch gelobt wird. Sie ist als Heilige in jedem Fall viel sympathischer als etwa der heilige Gründer des internationalen Geheimclubs Opus Dei, Josemaria Escriva oder der fromme Scharlatan, der heilige Pater Pio in Süditalien.

Dennoch werden sich manche Leser, kritische Leser, fragen: Kann diese Nonne tatsächlich Vorbild sein, “heiliges Vorbild”, wie die katholische Presse jetzt ständig behauptet? Kann Mutter Teresa Vorbild sein in ihrer strikten Betonung einer Leidens”mystik”, von der Martin Kämpchen in der Jesuiten-Zeitschrift “Stimmen der Zeit” (2010) berichtete: “Daraus hat sich im Orden (Mutter Teresas) eine Leidensmystik entwickelt, in deren Mittelpunkt der gekreuzigte Christus steht. Wie Christus soll der Patient (in den Häusern Mutter Teresas) seine Leiden eher ertragen, anstatt zu versuchen, sie zu mildern”.

Mutter Teresa wird etwa in hinduistischen Kreisen Indiens als die „Mother“ wie eine Göttin verehrt und in der Kirche erinnern viele Darstellungen (Mutter Teresa mit sterbendem Kind usw.) an Marien-Darstellungen, etwa an die Pietà. Gibt es nun, katholisch gesprochen, gleich zweimal „die Mutter Gottes“? Noch einmal soll der Spezialist für indische Religionen und Spiritualitäten Martin Kämpchen zitiert werden: “Im christlichen Symbolbereich nähert sie (Mutter Teresa) sich der Madonna mit dem weiten Schutzmantel an, unter dem alle Platz finden; im Hinduismus sind es die Muttergottheiten Durga und Kali, die gerade in Kalkutta besonders verehrt werden. Mutter Teresas Resolutheit läßt an die Dämonen tötende Durga denken, ihre Barmherzigkeit verbindet sich mit der gütig-milden, schenkenden Neigung von Kali”. Die Frage ist, wie stark im hinduistischen Indien heute auf die Heiligsprechung Mutter Teresas reagiert wird: Ist sie vielleicht eine gemeinsame katholisch-hinduistische Heilige, wenn nicht “Mutter-Gottheit”? Wäre dieses interreligiöse “Mischung” der Heiligen dem Vatikan sympathisch und der “Lehre” entsprechend? Wird Papst Franziskus eine “multireligiöse Heilige” nun etablieren?

Für ihn ist eine heilige Mutter Teresa die stärkste Stütze für seine theologische Lieblingsidee, die Barmherzigkeit unter allen Umständen zu fördern. Universale Barmherzigkeit ist, hier nur nebenbei gesagt, etwas anderes als universale Gerechtigkeit. Es ist eine alte Erkenntnis, dass der Arme, dem Barmherzigkeit erwiesen wird (ein Stück Brot etwa als Geschenk erhält), zunächst dankbar ist; aber immer wieder nach der viel dringenderen Gerechtigkeit schreit. Ist Gerechtigkeit für alle primär? Gewiss doch! Auch dies ist ein anderes Thema.

Es ist keine Frage, dass Mutter Teresa und die von ihr gegründeten Ordensgemeinschaften viel Gutes getan haben und tun. Eben Barmherzigkeit zeigen, so, wie sie Barmherzigkeit verstehen: Die Ordensleute leben als Arme und den Armen, was  in Indien für Ordensleute in ihren nicht gerade erbärmlichen Klöstern so selbstverständlich nicht ist. Und die Schwestern und Brüder Mutter Teresia kümmern sich um die Ärmsten, die Sterbenden, und bieten ihnen eine Art erste Hilfe an, sie kümmern sich auch um Obdachlose in Europa oder Leprakranke in Afrika. Das verdient Respekt. Keinen respekt verdient die allgemeine Abweisung von theologischer Reflexion oder die Zurückweisung, den Verbleib der  vielen Spenden freizulegen, die diese armen Nonnen erhalten…

In jedem Fall werden nach dem 4. September 2016 noch mehr (katholische) Lobeshymnen auf die „Mutter“, die Nonne Teresa, gesprochen werden. Bei einem solchen Jubelfest, das einmal mehr die Strahlkraft des Katholizismus anzeigen soll, sind kritische Fragen natürlich für die Veranstalter deplaziert, um der umfassenderen Wahrheit willen jedoch wohl notwendig. Die Veranstalter von Heiligsprechungen ließen sich durch kritische Fragen allerdings nie stören. Und kritische Studien zur “Mutter” werden a priori abgewiesen, stammen sie doch, so meint man, von Feinden der Religion…Den “Medien” gar, wie etliche Prälaten sagen. Wie manche Schemata im Denken sich doch so durchsetzen bis in neue politische Gruppierungen hinein.

Trotzdem,  in aller Kürze einige zentrale Tatsachen, die einer weiteren wissenschaftlichen Vertiefung bedürfen: Wird es eines Tages auch umfassend-kritische Studien über Mutter Teresa und ihren Orden geben und nicht nur die üblichen Heiligengeschichten? Wir fürchten bei den Verhältnissen: Eher nicht.

Tatsache ist: Mutter Teresa hat von theologischen Reflexionen niemals viel gehalten. Sie wollte nur fromm sein. Und dieses Modell einer theologiefernen Frömmigkeit hat sie ihren Ordenschwestern und Ordensbrüdern übermittelt, bis heute.

Mutter Teresa hat nie viel von medizinischen oder sozialwissenschaftlichen Kompetenzen für ihre Hilfszentren gehalten (von entsprechenden Studien für die Nonnen ganz zu schweigen).

Mutter Teresa hat angesichts des Elends der vielen Millionen Armen nicht von den gesellschaftlichen und politischen Ursachen der Armut gesprochen.

Mutter Teresa wollte nur persönlich helfen, eben nur „Barmherzigkeit” praktizieren. In persönlicher Hilfsbereitschaft sah sie als die Lösung der Probleme, nicht in politischer Aufklärung und politischer Arbeit.

Mutter Teresa hat, der Frömmigkeit des frühen 20. Jahrhunderts entsprechend, viel von Aufopferung, von persönlichem Selbstverzicht, gesprochen und diese Haltung auch total, möchte man sagen, gelebt.

Diese Selbstaufopferung als Selbstverzicht, als Verzicht auf die immer auch nötige Selbstliebe, ist wohl auch die Ursache für ihre lange dauernde tiefe seelische Erschütterung, man könnte sagen: seelische Krankheit (Depression).

Seit 2007 liegen die Tagebücher Mutter Teresa, post mortem, veröffentlicht vor. Ganz eindeutig ist: Mutter Teresa lebte über viele Jahre in tiefer spiritueller „Dunkelheit“, wie ihre Interpreten zugeben. Der Indien-Spezialist und Kenner der indischen Spiritualitäten, Martin Kämpchen, schreibt in der Jesuiten-Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ (2010): „Die Lektüre (der Tagebücher CM) belehrte mich, dass diese Dunkelheit die Ordensfrau Mutter Teresa tatsächlich fast 50 Jahre lang begleitet hat“.

Das heißt: Mutter Teresa lebte 50 Jahre, privat für sich allein, nur ihren Beichtvätern bekannt, in einem seelischen Zustand, den sie Gottesferne, ja Gottlosigkeit und Dunkelheit nannte. Ein etwas längeres Zitat: Schon am 3.9.1959 (!) notiert sie. „In meiner Seele fühle ich, dass Gott mich nicht will, dass Gott nicht wirklich existiert (Jesus, bitte vergib mir meine Gotteslästerungen – es wurde mir gesagt, ich soll alles aufschreiben). Diese Dunkelheit, die mich von allen Seiten umgibt – wofür arbeite ich? Wenn es keinen Gott gibt – wenn es keine Seele gibt, dann Jesus bist du nicht wahr. Der Himmel, welche Leere… Ich verausgabe mich selbst, doch ich bin mehr als überzeugt davon, dass das Werk nicht mein ist…Doch ich habe keinen Glauben, ich glaube nicht“ (in: Mutter Teresa, Komm sei mein Licht, Pattloch Verag, 2007, Seite 228 f). Diese Äußerungen Mutter Teresa werden von den vielen wohlwollenden Interpreten (es ist ja schwer, bei dieser heiligen Ikone, nicht rundum wohlwollend zu sein) als “dunkle Nacht” gedeutet. Damit wird Mutter Teresa eingereiht in die große mystische Tradition einer Theresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz, auch sie sprachen ja in ihren wertvollen Büchern poetisch von ihren dunklen Nächten. Ob diese Verbindung zu den Mystikern des 16. Jahrhunderts so treffend ist, bloß weil auch Mutter Teresa ihren Zustand „dunkle Nacht“ nannte, ist fraglich. So wird Mutter Teresa jedenfalls “hoch gedeutet” und, so möchte man meinen, es wird übersehen, dass sie wahrscheinlich doch ein Burn Out, wie wir heute sagen, permanent erlebte, wenn sie nicht auch unter der Krankheit Depression litt. Das wäre selbstverständlich nicht schlimm, und es wäre für eine reife Gesellschaft auch nicht schlimm, dies öffentlich einzugestehen. Eine Krankheit ist keine Schande. Aber wenigstens den ständigen Burn Out öffentlich einzugestehen, passt der Kirche nicht; sie will ein bestimmtes Image von Mutter Teresa verbreiten. Und vor allem: Offenbar hat Mutter Teresa in all den langen Jahres ihres Burn Out bzw. ihrer Depression keine psychotherapeutische Hilfe bekommen. Psychotherapie (als “Erfindung von Sigmund Freud möglicherweise in katholischen Kreisen unbeliebt) stand offenbar außer Reichweite der Nonne Mutter Teresa. Sie wollte und musste wohl auch unter allen Umständen VORBILD sein, als eine Heilige wurde sie schon zu Lebzeiten bewertet und hoch “gespielt” möchte man sagen: Zudem: Wer unbedingt Vorbild sein will, sein muss, weil es übergeordenete Autoritäten wünschen, der bzw. die kommt schnell in psychische Verkrampfungen…

So wurde in katholischen Kreisen auch nicht über die Ursachen ihres 50 Jahre dauernden seelischen Leidens gesprochen. Auf Seite 228 in dem genannten Buch, erst post mortem pubiziert !, stehen, wie gesagt schon 1959 geschrieben, die entscheidenden Sätze Mutter Teresas: „Ich verausgabe mich…“ Und dann die Bitte, das Gebet, dass sie die ihr schon zu Lebzeiten zugewiesene Rolle der leibhaftigen Heiligen auch weiterhin erfülle: „Jesus, lass nicht zu, dass meine Seele getäuscht wird – UND LASS MICH NIEMANDEN TÄUSCHEN“.

Das heißt: Mutter Teresa wusste, dass sie auch bei ihren vielen internationalen Auftritten, bei Katholikentagen und bei den Reden zur Annahme des Friedensnobelpreises (1979), eigentlich die Leute „täuschen“ könne. Sie wusste: Ich sage öffentlich nicht das, was mein Inneres in der Tiefe wirklich bewegt. Sie sprach auch niemals über ihre möglicherweise politische Ahnung zu der himmelschreienden Ungerechtigkeit. Man darf nicht vergessen, Mutter Teresa war ja keine „dumme“ Nonne, sondern zuerst als Lehrerin und Nonne in einem vom Geist der Jesuiten geprägten Schulorden (“Loretto Schwestern”) tätig. Es gilt die Vermutung, dass Mutter Teresa als „Helferin der Sterbenden“ die unpolitische Rolle einer „Barmherzigen“ spielen musste. Solch ein “Heiligentyp”, eine absolut hilfsbereite Frau, wurde einfach in der katholischen Szene gebraucht. Wenn sie denn öffentlich “politisch wurde”, dann niemals als Kritikerin der Ursachen von Elend und Not. Etwa in Oslo, bei der Annahme des Friedensnobelpreises, sprach sie ausschließlich (!) und ständig von ihrer Kritik an der Praxis der Abtreibung in den bösen liberalen Gesellschaften. Darin folgte sie direkt ihrem großen Gönner, dem ebenfalls nun heiligen Papst Johannes Paul II. aus Polen. Und den Impulsen der Pro-Life-Bewegungen. Eine der wenigen kritischen Studien über Mutter Teresa hat der Theologe Werner Fischer verfasst, DTV 1985, jetzt, bezeichnenderweise, nur noch antiquarisch zu haben. Fischer weist darauf hin: Mutter Teresa ist Symbol für die „Inferiorität der Frauen in der Kirche (S. 177), sie war das „Ausstellungsstück konservativer Positionen“ , sie verbreitete in der Öffentlichkeit die These „Abtreibung ist schlimmer als Krieg“ (S.175). Auf das Festbankett zu ihren Ehren in Oslo 1979 verzichtete sie mit der Begründung “Ich bin nichts“! Und viele fanden diese Worte so heilig mäßig überragend und so prächtig-bewundernswert, weil sie nicht wussten: Diese Frau kann sich selbst eigentlich gar nicht lieben, sie kann sich nicht feiern lassen… Wenn sie sich öffentlich feiern ließ, dann nur als der selbst-vergessene und selbst-lose „Engel der Sterbehäuser von Kalkutta“.

Die Frage ist, ob auf diese seelische Befindlichkeit (also auch Krankheit) Mutter Teresas bei der Heiligsprechung hingewiesen wird. Dann gäbe es eine Chance, auch über die Selbstliebe als wesentlicher Form christlichen Lebens und vor allem: seelischer Gesundheit zu sprechen. Hat nicht Jesus gefordert, man solle „den Nächsten lieben WIE SICH selbst“ (Das würde ja bedeuten: Wer sich selbst nicht liebt, kann auch den anderen nicht lieben…)

Wenn Mutter Teresa hingegen als Vorbild katholischen Lebens, auch des Ordenslebens, heute hingestellt wird: Dann sagt man direkt: Leute, die sich total aufopfern, auf sich SELBST verzichten, sind heilig; Menschen, die auf Selbstliebe verzichten, sind heilig. Katholiken, die nur barmherzig und dabei total unpolitisch sind, die werden heilig. Wenn dies die Botschaft am 4. 9. 2016 wäre, dann wäre das ein großes theologisches und psychologisches Problem, vorsichtig formuiert.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

 

Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie. Abschiedsvorlesung von Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Am 13. Juli 2016  hat Professor Wilhelm Gräb seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin gehalten; er war dort Professor für Praktische Theologie von 1999 bis 2016. Seine theologischen Interessen gehen weit über ein vermeintlich enges Feld praktischer Theologie hinaus. Nicht nur als Schleiermacher-Spezialist hat er einen guten Ruf. Vor allem aber versteht er sich als Erneuerer der liberalen Theologie: Sie ist eine zeitgenössische Form religiösen Denkens, die alle enge Dogmatik überwindet und sich auch als Kultur-Hermeneutik versteht.

Den LeserInnen dieser website (man denke an die zahlreichen Interviews mit ihm) und auch den Teilnehmern der religionsphilosophischen  Salons in Berlin ist Wilhelm Gräb gut bekannt und ein geschätzter Gesprächspartner, der religiöse Dimensionen entdeckt und beschreibt inmitten des Lebens. Wir freuen uns, dass Prof. Gräb seine Abschiedsvorlesung schon heute zugänglich macht.

Das copyright liegt bei Prof. Wilhelm Gräb.

Wilhelm Gräb:

Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie

Abschiedsvorlesung am 13.7.16

Die Theologie ist als Ganze, in allen ihren Disziplinen, der Lösung einer praktischen, ins Leben greifenden Aufgabe zugeordnet. Das hat ihr Friedrich Schleiermacher, mein Gewährsmann auch heute Abend, ins Stammbuch geschrieben. Deshalb will ich als Praktischer Theologe etwas zum Ganzen der Theologie und ihrem Lebensbezug sagen.

Und darum geht es mir, zu sagen, warum es sich lohnt, die Theologie zu betreiben, oder etwas bescheidener formuliert, mir selbst wichtig war und immer noch ist. Deutlich machen möchte ich, dass und wie die Theologie es mit grundlegenden Lebensfragen zu tun hat, mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und was das Ganze überhaupt soll. Eine akademische Frage ist das ja gerade nicht. Vielleicht wird sie deshalb von der Theologie, die darauf bedacht ist, und auch bedacht sein muss, in den Raum der Wissenschaft zu gehören, in der Regel nicht direkt gestellt, geschweige denn bearbeitet. Die Sinnfrage gehört jedoch zu unserem bewussten Leben und sie berührt dort, wo sie aufs Ganze geht, immer auch die religiöse Dimension humaner Selbst- und Weltdeutung. Das macht sie zu einem vorrangigen Thema einer auf unser Leben bezogenen Theologie. Die Antworten, die die Menschen auf diese Frage geben, sowie die Reflexion auf die Bedingungen, die sie in unserem Lebensvollzug hervortreten lassen, machen sie sehr wohl zu einer zentralen Frage auch der wissenschaftlichen Theologie. Die Sinnfrage verweist darüber hinaus auf eine kulturelle Präsenz des Religiösen, die weit über die Kirchen und Religionen und die durch sie regulierten religiösen Zugehörigkeitsverhältnisse hinausgeht.

Ich werde so vorgehen, dass ich in einem ersten Abschnitt am Beispiel der neuerlich belebten Debatte um eine „Öffentliche Theologie“ zeige, wie die Theologie tatsächlich auf breiter Front Fragestellungen aufnimmt, die ins Leben greifen und in ihrer nicht bloß kirchlichen, sondern gesellschaftlichen Relevanz erkennbar sind. Solchem Verlangen steht freilich bislang zumeist ein kirchlich-doktrinal verengtes Verständnis der Theologie und auch ein fortgesetztes Denken in der säkularen Unterscheidung von Kirche und Welt entgegen. Der Kritik der säkularen Unterscheidung bzw. der Aufforderung zur Wahrnehmung der Präsenz des Religiösen in der Lebenswelt gilt dann mein 2. Abschnitt. In einem 3. Abschnitt zeige ich am theologischen Reformationsgedenken, wie schwer die Theologie sich eben damit tut, die Präsenz der Religion im heutigen Leben wahrzunehmen. Man will zwar die Gegenwartsbedeutung der Grundeinsichten der Reformation aufzeigen, indem man den Bezug zu heutigen „Lebensfragen“ herstellt, verkennt aber die religiöse Dynamik, die darin steckt, dass in der modernen Kultur diese Lebensfragen zu radikalen, auf Ganze gehenden Sinnfragen werden. Im 4. Teil versuche ich dann abschließend zu skizzieren, wie eine Theologie für mich aussieht, die ihre Aufgabe in der Lebenssinndeutung erkennt. Es wird der Typ einer Theologie vorgestellt, die man immer noch oder wieder eine liberale Theologie nennen sollte.

 

  1. Öffentliche Theologie

Neuerdings macht eine „Öffentliche Theologie“, auch international, eine „Public Theology“, von sich reden. Sie markiert in einem signifikant noch einmal erhöhten Ton den Anspruch der Theologie, Richtungsweisendes in den großen, die gesellschaftlichen Debatten bewegenden Lebensfragen zu sagen zu haben. Unverkennbar ist das Bestreben, die Theologie als ein Kultur, Politik und Gesellschaft adressierendes Unternehmen vorstellig zu machen.

Doch wie unglücklich sie dabei bislang vorgeht, dafür liefert der Beitrag des Ratsvorsitzenden der EKD, Heinrich Bedford- Strohm, im jüngsten Heft der in protestantischen Kreisen recht weit verbreiteten Monatsschrift „Zeitzeichen“ ein eindrückliches Beispiel (1). Die öffentliche Theologie stellt er, unter Berufung auf Bonhoeffer, als eine Theologie vor, die beansprucht, auf der Basis einer durchs kirchliche Bekenntnis affirmierten Glaubensüberzeugung, der „Welt“ Richtungsweisendes zu sagen habe. Die „Welt“, das ist die pluralistische Gesellschaft. Sie steht für die Öffentlichkeit, an die die Theologie sich mit ihren Stellungnahmen richtet. Diese Öffentlichkeit wird ihres Pluralismus zum Trotz als eine säkulare Welt, der die Kirche wächteramtlich gegenübersteht, aufgefasst. Weder wird der gesellschaftliche Pluralismus als ein auch religiöser angesprochen, noch gar der ungeheuren Brisanz, die die Religionsthematik gerade neuerdings in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gewonnen hat, Erwähnung getan. Vom Christentum bzw. dem Protestantismus und deren kultureller Präsenz, von deren Einfluss auf die existentiellen, ethischen und politischen Entscheidungsfragen der Gesellschaft, ist ebenfalls nicht die Rede. Stattdessen wird ein steil dogmatisch gefasster christlicher Glaube in Ansatz gebracht. Er ist die Sache der Kirche und ihres Sendungsauftrags an die „Welt“. Im Grunde formuliert die Kirche durch ihre Amtsträger jene Verlautbarungen, mit denen sich dann die „Öffentliche Theologie“ an die als säkular titulierte Gesellschaft und ihre Entscheidungsträger wendet, in prophetischem Gestus natürlich. Ob sie dabei Dietrich Bonhoeffer wirklich auf ihrer Seite hat, möchte ich, bei allem anderen, das mir diese Art „Öffentlicher Theologie“ problematisch macht, bezweifeln. Ich erinnere dazu hier jetzt nur an die Kritik, die Bonhoeffer an dem von ihm selbst so titulierten „Offenbarungspositivismus“ Karl Barths geübt hat, mit dem Hinweis: „An der Stelle der Religion steht nun die Kirche – das ist an sich biblisch -, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich gestellt und sich selbst überlassen, das ist der Fehler“ (2).

Das ist der Fehler. Es ist der Fehler nicht nur der sog. „Öffentlichen Theologie“. Es ist der Fehler aller die säkulare Unterscheidung von Kirche und Welt diastatisch erweiternden Theologie. Es ist der Fehler aller die hoch ambivalente Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft übersehenden bzw. nicht Ernst nehmenden Theologie. Denn eine solche Theologie wird immer mit kirchlich-statuarischen Vorgaben operieren, von dogmatischen Setzungen her denken und mit all dem dann eine ihr verständnislos gegenüber stehende „Öffentlichkeit“ traktieren.

Um nicht missverstanden zu werden, ich habe wahrlich nichts gegen das Bemühen der Theologie, eine öffentliche Theologie sein zu wollen. Im Gegenteil. Aber dieses Bemühen müsste von der Öffentlichkeit des religiösen Bewusstseins am Ort der Individuen ausgehen. Sie müsste sich von einem Religionsdenken her entwickelt, das die religiöse Dimension als zuge-hörig zur Kultur der Gesellschaft, ja zum Leben jedes einzelnen begreift. Sie musste die Religion verstehen als eine zwar ambivalente, aber gerade deshalb besonders ernst zu nehmende „Angelegenheit des Menschen” (3) wie das der Berliner Aufklärungstheologe Johann Spalding gemacht hat. Schon mit dem Titel seiner Schrift von 1797, „Die Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ wollte Spalding darauf hinweisen, dass die Religion etwas jeden Menschen Angehendes ist. Wenn vom Christentum die Rede ist, so Spalding, möge von etwas die Rede sein, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.” (4)

Von Spalding stammt auch die für damalige Verhältnisse ungeheuer publikumswirksame Schrift mit dem Titel „Die Bestimmung des Menschen” (5) (1748). Darin hob der Berliner Aufklärungstheologe und Prediger an St. Nikolai hervor, dass dem Menschen nicht von einer höheren göttlichen oder weltlichen Instanz gesagt ist, weshalb er auf der Welt sei und wie er zu leben habe. Der Mensch müsse sich vielmehr selbst über seine Bestimmung Klarheit verschaffen, da er dazu fähig sei, sich im Denken über seine Stellung in der Welt und den Sinn seines Lebens zu orientieren.

Spaldings Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen nahmen die Gestalt einer Selbstbetrachtung an. Zu einem Leben, das aus der Kraft zur Selbstbestimmung geführt wird, ist der Mensch bestimmt. Die Gefahr, sich selbst zu verfehlen ist immer gegeben. Vorzuwerfen habe ich mir, meinte Spalding, aber nur dann etwas, „wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.” (6)

Menschen zu solcher Selbstüberlegung und zu einer aus ihr erwachsenden Selbstbestimmung zu befähigen, wird bei Spalding zur genuinen Aufgabe kirchlicher Predigt und Seelsorge. Die Kirche und ihre Religionslehrer, wie er die Pfarrer nannte, haben den Menschen nicht von oben herab zu sagen, was sie glauben sollen und wie sie zu leben haben, sondern sie zu einem eigenen religiösen und moralischen Urteil zu befähigen. Das ist nachzulesen in Spaldings Praktische Theologie, die ebenfalls einen trefflichen Titel trägt: „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ (1. Aufl. 1772 – 3. Aufl. 1791). (7)

2014 richtete unsere Theologische Fakultät einen Festakt aus, anlässlich des 300. Geburtsta-ges von Johan Spalding. Er fand in St. Nikolai, seiner einstigen Wirkungsstätte, statt. Ich ließ es mir damals, da ich als Prodekan ein Grußwort zu sagen hatte, nicht nehmen, der heutigen Berliner Kirche noch nachträglich dazu zu gratulieren, seinerzeit eines ihrer wichtigsten Ämter mit einem solchen fei denkenden Theologen besetzt zu haben.

 

  1. Kritik der säkularen Unterscheidung

Die offenbarungstheologisch motivierte Unterscheidung von Kirche und Welt unterläuft den Öffentlichkeitsanspruch der sog. „Öffentlichen Theologie“. Die Theologie auf Lebensfragen zu beziehen, die alle angehen, dem steht aber auch die in der Theologie immer noch anhaltende Bereitschaft entgegen, dem Säkularisierungsnarrativ zu folgen.

Die Säkularisierung wird zwar nicht mehr unbedingt mit dem fortschreitenden Verfall der Religion gleichgesetzt. Sehr wohl aber wird immer noch so von ihr erzählt, dass dabei eine bereichsspezifische Eingrenzung der Religion und damit auch dessen, wofür Theologie Zuständigkeit beanspruchen kann, vollzogen wird. Die Religion wird zu einer Angelegenheit der Religiösen, der Kirchen und Religionsgemeinschaften, erklärt. Die Theologie hat dann dort, wo die Gläubigen sich versammeln und ihren arkanen Übungen nachgehen, ihren Ausgangspunkt zu nehmen. Vom kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor wurde das „säkulare Zeitalter“ (8), das auch noch das unsrige sein soll, ausgerufen. Die zweifelhafte Wiederkehr der Religion wurde von Jürgen Habermas in die Rede von der „postsäkularen Gesellschaft“ (9) eingebracht. Beide verstehen die Religion als etwas, das man haben oder nicht haben kann. Sie ist eine Lebensoption unter anderen. Die säkular Vernünftigen brauchen sie nicht, jedenfalls nicht für sich selbst. Auf diese Gemeinsamkeit der beiden religionskulturdiagnostischen Positionen, will ich etwas eingehen, wie dann auch auf das, wodurch sie sich unterscheiden.

Eine postsäkulare Gesellschaft ist für Habermas eine solche, „die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft ein-stellt“ (10). Sie sieht sich zu einer unter Umständen positiv zu wertenden Wahrnehmung des Fortbestehens religiöser Gemeinschaften, mit dem sie nicht gerechnet hatte, veranlasst. Sie verlangt die Bereitschaft zur Verständigung von beiden Seiten, den religiösen wie den säkularen Bürgern. Sie verlangt von der säkularen Seite sogar, anzuerkennen, dass die Religion dem „Interesse“ entgegenkommen könne, „im eigenen Haus (dem, in dem die Säkularen wohnen, W.G.) der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“ (11). Das alles ändert jedoch nichts daran, dass auch in postsäkularen Gesellschaften die Religion eine Angelegenheit der, aus welchen Gründen auch immer, frommen Leute bleibt. Die religiösen Gemeinschaften mögen demnach fortbestehen, und wenn es hart auf hart kommt, auch die Säkularen an knapp werdende Sinnressourcen anschließen. Dafür gebührt ihnen die wohlwollende Duldung der ansonsten den demokratisch aufgeklärten Commensense“ (12) verwaltenden „säkularen Seite“ (13). Die säkulare Vernunft ist aus Gründen, deren sie in ihren eigenen Grenzen ansichtig werden könnte, eines Ausgriffs auf die religiöse Unbedingtheits- und Ganzheitsdimension von Sinn jedoch nicht bedürftig. Letztlich bleibt die Fähigkeit, ohne Religion auszukommen, ein Vorzug, den demokratische Gesellschaften, soweit es nur geht, zur Warnung des inneren Friedens nutzen sollten.

Auch Charles Taylor konstatiert die säkulare Entzauberung der Welt angesichts der die Moderne in allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen, besonders natürlich in Wissenschaft und Technik vorantreibenden Rationalität. Er beobachtet allerdings ebenso das Aufleben „neuer Formen des Religiösen“ (14). Sie konnten und können aber nicht verhindern, dass wir in ein „säkulares Zeitalter“ eingetreten sind. Dieses ist dadurch markiert, dass dem Leben der Menschen die selbstverständliche Grundierung in einer alles bestimmenden göttlichen Wirklichkeit verloren gegangen ist. Die große Mehrheit der Menschen hat, so meint Taylor, den Glauben an Gott verloren und aufgehört, die Religion zu praktizieren. Der religiöse Glaube ist zu einer Option neben anderen geworden ist. Überraschender Weise ist der Glaube für Taylor jedoch genau diejenige Option, die es ermöglicht, sein Leben in einer von Vertrauen und Hoffnungskraft getragenen Sinnerfüllungserwartung zu führen.

Was veranlasst Taylor dennoch dazu, ein ganzes Zeitalter, dasjenige, das wir als das unsere anzusehen haben, als ein säkulares anzusehen, unaufhaltsam dem Verfall der Religion und des Glaubens ausgesetzt? Ich meine, es liegt bei ihm ein Verständnis vom Glauben vor, das diesen an doktrinäre Vorgaben und deren kulturelle eingespielte Übernahme bindet. Die reflexive Selbstthematisierung des Glaubens hingegen, wodurch er als ein von den Glaubenden selbst vollzogener Akt der Sinndeutung zu stehen käme, gilt ihm bereits als Abfall vom Glauben. In der Sehnsucht nach „Fülle“, in jenem „Gefühl der Fülle“ (15), die er in den „neuen Formen des Religiösen“ ausmacht, kann er keinen rechten Glauben erkennen.

Von einem säkularen Zeitalter, das Taylor mit der Reformation beginnen und das er bis auf uns Heutige sich erstrecken lässt redet Taylor am Ende vielleicht doch nur deshalb, weil er feststellen muss, dass immer mehr Menschen den traditionellen Kirchenglauben nicht teilen, die theistischen Vorstellungen vom Göttlichen nicht mitmachen, und sich den Verpflichtungsansprüchen religiöser Institutionen entziehen.

In vormodernen Zeiten, in denen die Menschen nach Taylors Vorstellung noch glaubensstark in einer verzauberten Welt lebten, waren es die religiösen wie die weltlichen Autoritäten, die mit den Pflichten fürs Leben, die sie auferlegten, diesem gewissermaßen auch den Richtungssinn vorgaben. Sie vermittelten den Menschen das Gefühl, einen Platz im Leben zu haben und gebraucht zu werden. Es war die gottgefügte Ordnung, die das Leben der Individuen bestimmte und ihm seinen Sinn gab.

Doch diese Zeiten sind vorbei, zumindest bei uns und unseren Nachbarn: Heute muss jeder einzelne selbst seine Beziehung zum Leben finden und festlegen. Deshalb kann nun aber auch der religiöse Glaube nicht mehr die Form einer praktischen Anerkennung kirchlich vorgegebener Glaubenslehren und kirchlich verordneter Lebensformen annehmen. Die neuen Formen des Religiösen, die Charles Taylor würdigt, obwohl er in ihnen einen Ausdruck der entzauberten Welt der Moderne meint sehen zu müssen, zeigen sich in der Neuformatierung von Lebensstilen, von denen man sich Selbstfindung und eine gesteigerte Sinnerfahrung verspricht. Es gewinnt die gelebte Religion überhaupt jene Auffassung von sich selbst, wonach sie auf der Selbst- und Sinndeutungskompetenz der Individuen aufbaut. Die Teilnahme an der Kirche richtet sich dann ebenfalls nicht mehr nach deren Glaubens- und Verhaltenserwartungen, sondern ergibt sich aus Gelegenheiten, die sich in die Beziehungsmuster und Netzwerke der lebensweltlich vermittelten religiösen Kommunikation einweben.

In den Netzen der Lebenswelt findet religiöse Sinnkommunikation statt, aber nur für die, die Augen haben, zu sehen. Erlauben Sie mir dazu hier noch einen Hinweis aus der empirischen Kirchen- und Religionsforschung. Die jüngste, von der EKD veranlasste Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft, dokumentiert in ihrem Auswertungsband viele Interpretationen der vorliegenden Daten (16). Die meisten kommen angesichts des stetig anhaltenden Mitgliederverlustes, den die evangelische wie ja auch die katholische Kirche zu verzeichnen haben, zu dem Ergebnis, dass die abnehmende Kirchenbindung auch eine Abnahme des Interesses an religiösen Fragen zur Folge habe. Sie folgenden immer noch der Säkularisierungsthese. Es wurde im Rahmen der 5. KMU aber auch eine Netzwerkerhebung durchgeführt. Sie war von der Praktischen Theologin Birgit Weyel angeregt worden, und wurde von ihrem Team dann auch ausgewertet (17).

Diese Netzwerkerhebung betrachtete die Kirchenmitglieder, in welchem engeren oder distanzierteren Verhältnis sie zur Kirche auch stehen mögen, als Akteure ihrer Selbstdeutung. Und die Auswertung der Daten kann plausibel zeigen, dass die Menschen im Nahbereich der ihnen vertrauten Sozialbeziehungen das zentrale Thema der Religion genau mit dem Gespräch über den Sinn des Lebens immer wieder aufnehmen.

Es ging hier erstmals in das Forschungsdesign einer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung die religionstheoretisch höchst folgenreiche Überlegung ein, dass Menschen die von ihnen selbst im religiösen Bezug verstandene Sinnfrage in ihre lebensweltlichen Kommunikationen einbeziehen, auch wenn sie sie oft genug im Hintergrund der Aufmerksamkeit zu belassen. Es besteht ja auch im gewöhnlichen Gang des Lebens nicht ständig die Veranlassung, sich mit der aufs Ganze gehenden und damit ins Religiöse ausgreifenden Sinnfrage zu beschäftigen. Dennoch könnte es sein, dass die religionsempirische Forschung ihr bislang zu wenig nachgegangen ist, beziehungsweise, was schwerer wiegt, die Sinnfrage selbst missverstanden hat. Es könnte sein, dass man über die Sinnfrage genau deshalb in kirchen- und religionssoziologischen Untersuchungen leicht hinweggegangen ist, weil man meinte, sie sei theologisch unerheblich oder, auch das hat es gegeben, theologisch illegitim.

So sehr es die Aufgabe einer aufgeklärten Theologie ist, verständlich zu machen, dass und wie die gelebte Religion sich in Gestalt der Lebenssinnfrage artikuliert, ist es die Aufgabe einer theologisch aufgeklärten empirischen Religionsforschung, für die aus dem gelebten Leben kommenden religiösen Sinndeutungsaktivitäten die Augen zu öffnen. Genau darauf zielte die in der 5. KMU eingegangene Netzwerkerhebung.

Der netzwerktheoretische Ansatz der 5. KMU bietet somit bedeutsame Ansatzpunkte, um das Vorkommen religiöser Kommunikation weit hinaus über die Beteiligung am gemeindlichen Leben, die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst und die ausdrückliche Zustimmung zu den kirchlichen Bekenntnissätzen zu betrachten. In ihren kirchentheoretischen Konsequenzen setzt sie damit ein Gegengewicht zu einer solchen Auffassung von Kirche und Gemeinde, die diese primär als Institutionen christlicher Verkündigung und Lehre begreift. Die religions- und kirchentheoretisch wichtigste Innovation wäre genau die, dass die Kirchenmitglieder als eigenständige, souveräne Akteure ihrer religiösen Selbstdeutung aufgefasst werden.

Kirche und Gemeinde sind für die Kirchenmitglieder, – ich füge hinzu, für alle anderen erst recht – insbesondere dann bedeutsam, wenn sie an die in der Lebens- und Alltagswelt aufkommenden und dort von den Individuen auch selbsttätig artikulierten Lebenssinnfragen anschließen. Dass das gelingt, dazu bräuchte es dann aber auch eine Theologie, die die Lebenssinnfragen bei der Auslegung der biblischen, kirchlichen und theologischen Überlieferung im Blick behält.

 3.Wenn nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, welche Frage ist es dann? Ein Blick auf den EKD-Grundlagentext zum Reformationsjubiläum

Dass wir mit den „Grundeinsichten der Reformation“ heute nur dann etwas für uns selbst Grundlegendes anfangen können, wenn wir unsere eigenen „Lebensfragen“ an sie richten, das konstatiert sogar der jetzt schon in der 4. Auflage erschienene, auch im Internet abrufbaren Grundlagentext der EKD zum Reformationsjubiläum. Er trägt den Titel „Rechtfertigung und Freiheit“(18).

Dieser Text hat erklärtermaßen das Bestreben, die theologischen Grundeinsichten der Reformation in ihrer Relevanz für unsere Gegenwart herausstellen. Doch worin sollte sie liegen? Luther bewegte, so wird gesagt, die Frage nach dem gnädigen Gott. Unsere Frage ist das nicht mehr. Das wird erstaunlich schnell zugegeben. Welche Frage ist es dann? Dazu findet sich in dem ganzen Text dann nichts. Warum aber sollen wir uns mit den Grundeinsichten der Reformation beschäftigen, gar sie als große Errungenschaft feiern, wenn wir sowohl die Frage nicht mehr verstehen, aus der sie hervorgegangen waren, aber auch keine eigenen Fragen haben, die wir in ihrem Licht bearbeiten könnten?

Die heute die Menschen religiös bewegende Frage wird nicht nur nicht gefunden. Sie wird in diesem Text gar nicht gesucht. Es scheint zwar ein Gespür für die historische Distanz durch, die uns von den Denk- und Glaubenswelten der Reformation trennt. Wenigstens in Andeutungen werden wir darauf hingewiesen, dass es die im Rahmen der spätmittelalterlichen Bußtheologie nicht zu bewältigende Gerichtsangst war, die die Menschen auf die reformatorische Botschaft von der dem Glaubenden zuteil werdenden göttlichen Gnade hören ließ (19). Wie ist das heute. Auch wir haben Ängste. Aber nicht mehr vor dem zornigen Gott.

„Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, so heißt es rundweg, sind von der Art, dass sie „nicht so sehr von Ängsten vor einer Hölle nach dem Tode geprägt sind, sondern eher die Hölle auf Erden fürchten, die Menschen nur allzu häufig füreinander sind (Jean Paul Sartre).“(20)

Auch jetzt wäre vielleicht noch eine Gelegenheit gewesen, die religiöse Tiefendimension dieser modernen Höllenangst auszuloten. Doch stattdessen bescheidet dieser Text sich dabei, „die Erfahrung der Rechtfertigung innerhalb der Kirchen neu zu plausibilisieren“ (21). Was Rechtfertigung heute bedeutet, möchte er an den im kirchlichen Kontext „häufiger verwendeten“ „Begriffen“ wie „Liebe“, „Anerkennung“, „Vergebung“ und „Freiheit“ klären (22) Nur, was dabei herauskommt ist alles andere als ein uns heute angehendes Verständnis göttlicher Rechtfertigung. Die aufgeführten Rechtfertigungserfahrungen sind vielmehr alle von der Art, dass sie im zwischen-menschlichen Bereich unserer Sozialitätsbeziehungen spielen. Die können wir uns gegenseitig verschaffen, dazu brauchen wir keinen Gott.

Im Grunde hat bereits auch wieder das Eingeständnis, wonach wir in einer säkularen, „entchristlichten“Welt leben, das der Grundlagentext der EKD zum Reformationsjubiläum in seiner Eröffnung doch tatsächlich meint machen zu müssen, das ganze Unternehmen einer Vergegenwärtigung der Grundeinsichten der Reformation im Ansatz torpediert. Es gelingt ihm auch aufgrund der leichtfertigen Übernahme der Säkularisierungsthese nicht, das „religiöse Ereignis“ (23), das die Reformation, seinen eigenen Worten nach, einst war, in seiner religiösen Gegenwartsbedeutung verständlich zu machen.

Sofern man meint eingestehen zu müssen, dass die heutigen Menschen die Frage nach dem „gnädigen Gott“ nicht mehr stellen (24), müsste man eben danach Ausschau halten, wie sich das Religiöse in der heutigen Kultur aufbaut. Zum Beispiel, wie es etwa Paul Tillich in einem Vortrag von 1929 getan hat: „Welches ist die (religiöse) Frage des modernen Menschen?“, so setzte er ein, um dann zu sagen: „Es ist nicht die Frage des antiken Menschen, auch des spätantiken der christlichen Zeit – die Frage nach der Erlösung. Es ist nicht die Frage des griechisch-russischen Menschen – die Frage nach dem Leben, das den Tod überwindet. Es ist nicht die Frage des Mittelalters nach der höheren Natur, in der diese Natur aufgehoben und vollendet ist. Es ist nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, die der Protestantismus stellte, sondern es ist die Frage nach dem Sinn.“ (25). Und, fährt Tillich fort: „Nun ist das nicht so gemeint, als ob diese Fragen alle gegeneinander stünden. In der Frage nach dem Sinn des Seins, die der moderne Mensch stellt, sind irgendwie die anderen Fragen enthalten, wie umgekehrt in jeder der anderen Fragen die Frage nach dem Sinn irgendwie enthalten ist.“ (26)

Wir können dem bei Tillich jetzt nicht weiter nachgehen. Tillich jedenfalls versuchte mit der Sinnfrage die Frage auszumachen, auf die hin die christliche Erlösungsbotschaft vom modernen Menschen als eine ihn angehende Botschaft müsste gehört werden können.

  4.Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, wie ist das nun zu verstehen?

Gewiss nicht so, dass die Theologie von oben herab, gar als Sprachrohr der Kirche, über den Sinn des Lebens zu belehren hätte. Die Sinnfrage ist nicht von der Art, dass sie sich im doktrinalen Stil verhandeln ließe. Was es heißt, an der Fülle des Lebens teil zu gewinnen oder das Gefühl ertragen zu müssen, dass das Leben jeden Inhalt verloren und keine Bedeutung mehr für mich hat, kann nur so dargestellt werden, dass die Innenperspektive der dies so und nicht anders Erlebenden eingenommen wird. Man muss Erzählungen von diesen Erfahrungen anfertigen und versuchen, dies so zu tun, dass sie exemplarischen Charakter gewinnen. Dann werden sie für andere nachvollziehbar und erlauben den Rückschluss auf selbst Erlebtes.

Nun ist die Theologie selbst keine Erzählung. Die Theologie kann aber zu der Auffassung vom narrativen Charakter des Religiösen verhelfen. Dann erhebt sie keinen mit Glaubenssätzen verbundenen propositionalen Wissensanspruch. Sie befähigt vielmehr insbesondere die im Kirchendienst professionell Tätigen zu religiöser Deutungs- und Kommunikationskompetenz. Dazu gehört, dass sie zur Einsicht in die narrative Verfasstheit von Lebenssinn anhält und zu einem ebenso verantwortungsvollen wie kritischen Umgang mit den zumeist bereits narrativ verfassten Sinnreflexionen der biblischen, kirchlichen und kulturellen Überlieferungen befähigt. Die Sinn-deutungspotentiale der Tradition können zu Orientierungsinstrumenten in der je individuellen Selbstdeutung werden. Die Theologie beansprucht damit nicht, die Lebenssinndeutung selbst übernehmen zu können. Sie gibt keine direkten Antworten auf die Sinnfrage, sondern versucht Menschen, die in den Erfahrungen ihres Lebens vor diese Frage geraten, zu helfen, besser mit ihr umgehen zu können.

Dazu gehört selbstverständlich die historisch-kritische Interpretationsarbeit an den biblischen und kirchlich-theologischen Überlieferungen. Gerade die historisch-kritische Arbeit der Theologie macht ja den Charakter der religiösen Texte und Symbole als narrativer Orientierungsinstrumente bewusst. Sie zeigt, um ein prominentes Beispiel zu bringen, dass die Schöpfungserzählung auf den ersten Seiten der Bibel nicht einen mit der Evolutionstheorie in unauflösliche Widersprüche verwickelnden Tatsachenbericht gibt. Sie ist ein narratives Deutungsmuster, wonach wir in ein evolutionäres Natur- und Geschichtsgeschehen einbezogen sind, für dessen guten Fortgang, seine Bewahrung und Erhaltung wir zugleich eine besondere Verantwortung tragen. Diese Erzählung macht der Deutung des Sinns unseres eigenen Daseins eine starke Vorgabe. Sie stellt ermutigende Motive bereit, darauf zu vertrauen, dass wir in unserer Liebe zum Leben dessen gewiss sein können, auf keinen Fall vergeblich zu leben. Nur weil es in religiösen Texten um solche aufs Ganze gehenden Sinndeutungen geht, erklären sich ja auch die heftigen Weltanschauungskonflikte, in die ihre historisch-kritischen Bearbeitung und ihr symbolisches Verständnis bis heute immer wieder hineinführen. Umso wichtiger ist es deshalb, erkennbar zu machen, dass das historisch-kritische und symbolische Verständnis der biblischen Texte sie gerade nicht ihrer Sinn stiften Kraft berauben muss. Im Gegenteil, sie erweitern den Raum möglicher Interpretationen, in die wir uns existentiell selbst einbezogen finden können. Neue Lesarten biblischer Texte wie dann der grundlegenden Symbole des Christentums schaffen neue Motivationen für unseren Lebensglauben stärkenden, neue Impulse, die zur Hoffnung ermutigen und zur Liebe antreibenden .

Wir finden das ganze Spektrum menschlicher Gefühle und Handlungen in der Bibel ausgedrückt. Das Buch Hiob konfrontiert uns sogar mit einer Erzählung, in der zugleich ein theologischer Streit darüber ausgefochten wir, wie die Existenz Gottes mit dem sinnlosen Leiden soll vereinbar sein können. Wer dem Gespräch Hiobs mit seinen Freunden folgt, kann durchaus zu der Einsicht finden, dass es auch Situationen im Leben gibt, die nicht nach neuen Sinnerzählungen verlangen, sondern in denen es zu akzeptieren gilt, dass der Sinn nicht da ist, dass er sich entzieht. Doch gerade dann wird ja die Frage mächtig, ob er nicht doch auch in der Erfahrung des Nicht-Sinns noch da ist, in Gestalt der Klage und Anklage, in der Hoffnung auf Überwindung, in der Rebelli-on gegen Gott.

Versteht man die biblischen Texte in ihrer symbolischen Ausdrucksfunktion, dann tritt hervor, weshalb sie für religiöse Kommunikations- und Bildungsprozesse unverzichtbar sind. Ihre Geschichten gewinnen exemplarischen Charakter. Sie reichern individuelle Erfahrung mit allgemeiner Bedeutung an, die andere Menschen in anderen, aber vielleicht doch vergleichbaren Situationen ebenfalls auf sich beziehen können. Sie formten und formen unzählig viele christliche Erzählgemeinschaften. Sie sind die Basis der kirchlichen Verkündigung in allen ihren Formen und damit der durch diese sich kontinuierenden christlich-religiösen Deutungskultur.

Die text- und symbolhermeneutische Arbeit, die jede Theologie an den biblischen, kirchlichen und theologie-geschichtlichen Überlieferungen vornimmt, muss sich heute allerdings religions- und kulturhermeneutisch enorm erweitern. Die Geschichten, Utopien und Fiktionen, die die narrativen und symbolischen Orientierungsinstrumente für die Deutung des Sinns im je eigenen Leben bereitstellen, finden viele in Kunst und Literatur, keineswegs nur dann, wenn diese biblische Stoffe verarbeitet – was sie allerdings nach wie vor häufig tun. Die Literatur und der Film, die bildende Kunst, das Theater und die Musik, sie alle treten längst auch für den Glauben an das Leben ein. Ihre Werke, Inszenierungen und Aufführungen legen unsere elementaren Lebenssinnfragen frei. Sie bewahren ebenso vor vorschnellen, leichtfertigen und allzu formelhaften Antworten. Es ist heute vielleicht gerade die Kunst, die durch die Verstörungen, die sie provoziert, auch die Skepsis aufnimmt, die wir Heutigen gegen die ins Metaphysische ausgreifenden Antworten auf die Sinnfrage entwickelt haben. So kommen die Literatur und die Dichtung, der Film und das Theater dem Aufbau des Religiösen in heutigen Lebenswelten auf die Spur und tragen selbst zu diesem bei. Sie tun dies im spielerisch-kreativen Ausprobieren verfremdender Perspektiven auf das Leben. Sie tun dies, indem sie uns auf Distanz zu uns selbst bringen, einen anderen Blick einnehmen lassen, ja überhaupt uns darauf aufmerksam werden lassen, dass die Wirklichkeit unseren standortgebundenen Blick auf sie immer einschließt. Kunst und Literatur brechen verengte Sinnhorizonte auf, stellen andere Möglichkeiten einer Ausrichtung des Lebens vor, versetzen in Gefühle und bringen auf Gedanken, die das eigene Leben fremd und in seiner abgrundtiefen Sinnbedürftigkeit oft erst spürbar machen. Die Literatur, der Film, die Kunst, sie befriedigen nicht unsere Sinnbedürfnisse. Sie halten eher, so muss man wohl sagen, die Wunde des Sinns offen. Deshalb sind sie es aber auch, die den religiösen Diskurs recht eigentlich heute öffentlich führen. Und eine Theologische Fakultät, die einen Master „Religion and Culture“ anbietet, zeigt damit, dass sie das gemerkt hat.

Dennoch dürfte die Abschwächung der Differenz zwischen der Bibel und anderer großer Litera-tur, dann zwischen Religion, Kunst und Kultur, dürfte schließlich die grundlegende Zuordnung der Theologie zu den Sinndeutungsbedürfnissen der Menschen theologisch immer noch problematisch erscheinen. Hat die Theologie nicht mit Gott und seiner Selbstoffenbarung zu beginnen oder, wenn schon nicht zu beginnen, doch wenigstens dort anzukommen? Erlauben Sie mir, dass ich auf diesen Einwand gegen Ende dieser Vorlesung mit den Sätzen aus dem theologischen Traktat zur Aktualität der mit Karl Barth reformulierten paulinischen Rechtfertigungslehre von Martin Walser (27) antworte.

„Als ich den Roman Muttersohn veröffentlichte, in dem es um Glauben geht, Glauben als eine menschliche Fähigkeit, da wurde das öfter mehr oder weniger freundlich mit meinem Alter in Zusammenhang gebracht. So, als sei ich jetzt halt so weit. Ich meine aber, Religion sei eine Ausdrucksart wie andere, wie Literatur, Musik, Malerei. Ich lese Religion als Literatur. Dass Texte, die für uns >>nur<< noch zur Religion gehören, Dichtung sind, um es im Betriebsdeutsch zu sagen: große Dichtung, da kann man doch noch meinen. Die Psalmen. Das Buch Hiob. Das Weihnachtsevangelium. Usw. usw. Andere lassen mich wissen: Religion, das war einmal. Es ist eine her unglückliche Entwicklung, dass Religion etwas geworden ist, was nicht mehr ohne Kirchliches gedacht wird. Wer sich heute fast instinktiv erhaben fühlt über alles Religiöse, weiß vielleicht nicht, was er verloren hat. Polemisch gesagt: Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei. Sachlich gesagt: verarmt zum Rechthaben.“ (28) Und etwas weiter unten: „Wenn hier jemand abschaltet, weil es Gott für ihn nicht gibt, also die Frage, ob Gott gerecht sei, für ihn ein Nullproblem ist, zu dem sage ich vorläufig: Lesen wir’s als Roman. Madam Bovary und Iwan Karamasow gibt es auch nicht, und trotzdem wiegen und wägen wir in unserem Inneren, was sie tun und sagen und warum sie es tun und sagen.“ (29) …„Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazu sagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es.“ (30)

Der Ahnung bedarf es, der Ahnung, dass Gott fehlt und wie er fehlt oder eben auch der Ahnung, dass und wozu wir Gott nötig zu haben meinen.

Aber, diese Frage setzte ich jetzt hinzu, ist die Ahnung, dass Gott fehlt und wir ihn brauchen, nicht in allen da? Ist diese Ahnung nicht da, genau in dem merkwürdigen Sinnvertrauen, aus dem unser Lebensmut kommt?

Trotz der beängstigenden Ungewissheiten, trotz des Ungeheuren, von dem wir wissen, dass es uns treffen kann und treffen wird, glauben wir doch an das Leben. Trotz der Misserfolge und Enttäuschungen, trotz Leid, Krankheit und Tod, lieben wir doch das Leben. Trotz der bedrohlichen Nebenfolgen, die wir mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und den unser Leben erleichternden und verlängernden Erfolgen der Technik verbunden wissen, hoffen wir auf und arbeiten wir für ein besseres Leben. Was trägt unser Lebenssinnvertrauen? Woher kommt dieser unversiegliche Lebensmut?

Sobald wir Antworten auf diese Fragen entwickeln, treten wir in die Arbeit der Theologie als Lebenssinndeutung ein. Dann wird unsere Rede von Gott zum Verweis auf den unbedingten Grund des Sinns, aus dem heraus wir unser Leben führen. Dann versuchen wir zu verstehen, dass und wie Gott der unbedingte Grund unseres Sinnvertrauens sein kann, auch dann noch, wenn wir ihn in den sinnverwirrenden Grenzerfahrungen unseres Lebens am dringendsten brauchen, aber doch das Gefühl uns erdrückt, dass Gott uns verlassen hat.

Nimmt die Theologie, ebenso, oder noch dringlicher und tiefer greifend, wie Literatur und Kunst, der Film und das Theater, die Fragen auf, die als aufs Ganze gehende Sinnfragen uns mitten im Leben entstehen, dann braucht sie heute um ihren Lebensbezug überhaupt nicht besorgt zu sein. Dann wird ihr auch keiner mehr vorwerfen, dass sie es in erster Linie mit selbst gemachten akademischen Fragen zu tun habe.

Dann setzt sie es sich aber auch nicht in erster Linie zum Ziel, auf der Basis von Schrift und Bekenntnis über Gott und den rechten Glauben an ihn zu belehren. Dann will sie vielmehr plausibel machen, dass die die Gottesahnung wachrufende Sinnfrage die Angelegenheit jedes Menschen ist. Dann sieht sie ihre Aufgabe darin, Menschen in religiöser Hinsicht, „ein Leben in semantischer Autonomie“ (31) zu ermöglichen, ein Ausdruck mit dem Michael Hampe (32) die lebenspraktische Absicht einer nicht-doktrinalen Philosophie beschrieben hat. In religiöser Hinsicht wäre dies, wie in allen Hinsichten, die uns wirklich angehen, ein Leben, das zur eigenen Deutung des Sinngrundes, von dem es sich getragen weiß, bereit und fähig ist. Dennoch gelingt autonome Sinndeutungsarbeit keinem beim einsamen Brüten über der Nasenspitze. Sie braucht den Austausch mit anderen. Sie braucht Räume der Begegnung. Zu solchen können auch Kirche und Gemeinde werden.

Eine nicht-doktrinale, eine liberale Theologie akzeptiert jedoch die Vielfalt der religiösen bzw. lebensphilosophisch sich artikulierenden Sinndeutungsperspektiven und Glaubensstandpunkte. Sie achtet zudem den Standpunkt, keinen sich religiöser Sprache bedienenden Bekenntnisstand-punkt einnehmen zu wollen. Sie will, dass diese Vielfalt sichtbar wird, weil sie sich von der Auseinandersetzung mit anderen Glaubensstandpunkten eine Klärung und damit auch Stärkung der je eigenen Überzeugungsgewissheit verspricht. Die Wahrheitsfrage klammert sie dabei nicht aus. Sie beansprucht nur nicht, diese von höherer Warte aus zu entscheiden. Eine liberale Theologie setzt darauf, dass sich allen, die wahrhaftig nach dem Grund der ihr Leben tragenden Sinngewissheit suchen, irgendwann und irgendwo auch die Wahrheit zeigen wird.

Quellenangaben:

1 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Fromm und politisch. Warum die evangelische Kirche die Öffentliche Theologie braucht, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 7 / 2016, 8-11.

2 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (hrg. Von Eberhard Bethge), München / Hamburg 2. Aufl. 1965, 137.

3 Johann Spalding, Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Berlin 1797, 41806.

4 A.a.O. 3.

5 Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hrsg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Seitenangaben im Folgenden nach der Originalpaginierung).

6 a..a.O. 4.

7 Johann Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, Kritische Ausgabe, hrg. V. Albrecht Beutel, I,3, Tübingen 2002.

8 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009; A Secular Age (Cambridge: Harvard University Press, 2007).

9 Cf. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001), Frankfurt am Main 2001, 9-34; dersb., Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012.

10 Glauben und Wissen, a.a.O. 13.

11 A.a.O., 29.

12 A.a.O. 21.

13 A.a.O. 22.

14 Vgl. Charles Taylor, Varieties of Religion Today: William James Revisited (Institute for Human Sciences Vienna Lecture) (Cambridge: Harvard University Press, 2003).

15 Vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O. 18.

16 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm/Volker Jung (Hrsg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisie-rung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015

17 Christian Stegbauer/Franz Grubauer/Brigit Weyel: Gemeinde in netzwerkanalytischer Perspektive. Drei Bei-spielauswertungen, in: Bedford-Strohm/Jung, a.a.O., 400–434.

18 Vgl. Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 4. Auflage, Gütersloh 2015.

19 A.a.O., 28.

20 A.a.O., 28f.

21 A.a.O., 29.

22 Ebd.

23 A.a.O., 11.

24 A.a.O., 14.

25 Paul Tillich, Nichtkirchliche Religionen (1929), in: Dersb., GW V, 13-31, 22.

26 A.a.O. 22f.

27 Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012.

28 A.a.O. 32f.

29 A.a.O. 35.

30 A.a.O. 32.

31 A.a.O. 423.

32 Vgl. Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Berlin 2014, 74.