Spiritualität in Berlin – die erste Zusammenkunft: Ein erster Erfolg

Welche Spiritualität braucht Berlin?

Das Gespräch über „Spiritualität in Berlin“ im Radialsystem, AGORA, am Mittwoch, den 14. September 2011, war sehr gut besucht: Mehr 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren dabei. Wir werden auf diese Veranstaltung noch ausführlicher zurückkommen und ankündigen, in welcher Form dieser offene Austausch von Menschen unterschiedlicher Spiritualität und von verschiedenen „spirituellen Basisinitiativen“ fortgesetzt wird.

Ursula Richard, Autorin des Buches „Stille in der Stadt“, und eine Initiatorin des Treffens, plädierte dafür, dass wir in Berlin mehr Orte der Stille brauchen. Ohne Stille kann es keine innere Sammlung und damit keine spirituelle Entwicklung geben. In der gemeinsam erlebten Stille können sich unterschiedliche Menschen näher kommen. Auf das neue Buch der Verlegerin Ursula Richard haben wir auf dieser website schon empfehlend hingewiesen.

In- Sun Kim, Leiterin des interrreligiösen Hospizes Berlin, betonte: Mitgefühl ist die Basis für eine allen Menschen zugewandte Spiritualität. Dieses Mitgefühl kann eingeübt, gelernt, gepflegt werden. Ohne Mitgefühl kann es keine Kultur in der Stadt geben. Frau Kim Sie forderte erneut, dass die vielen Menschen aus asiatischen Kulturen ein eigenes großes „Haus des Abschieds“ brauchen. Die Trauerriten der meisten Asiaten verlangen nach längeren Totenwachen, nach großen Räumen, in denen sich Freunde und Angehörige der Verstorbenen treffen können. Sponsoren für ein „interreligiöses Abschiedshaus“ werden dringend gesucht. Wer sich dafür einsetzt, fördert ein Modell – Projekt! Frau Kim erinnerte daran, dass die etwa 100 ehrenamtlichen Mitarbeiter des Hospizes selbst viel über Leben und Sterben und Tod gelernt haben. “Hospizausbildung” kann eine Schule des Abschieds sein…

Dr. Wilfried Reuter vom Lotus Vihara Zentrum in Berlin-Mitte (Neue Blumenstr. 5) zeigte, dass von der Basis aus in Privatinitiative ein wichtiges und wegweisendes Meditationszentrum aufgebaut werden konnte, ein Haus, das vielen Menschen auch Lebensorientierung in Krisenzeiten bietet. Dr. Reuter, Frauenarzt in Kreuzberg, forderte die Gründung eines Krankenhaus in buddhistischem Geist.

Christian Modehn vom Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon meinte, dass eigentlich jeder Mensch als „Wesen der Vernunft, also des Geistes“, bereits seine eigene, ganz persönliche Spiritualität immer schon lebt und praktiziert; oft hat der einzelne darüber noch kein deutliches Wissen. Diese immer schn gelebte eigene Spiritualität kritisch zu befragen, ist die entscheidende Aufgabe. Aber es gibt auch eine Form der Ermunterung zur eigenen Spiritualität, die das Leben begleitet und orientiert. Denn jeder hat seinen oft noch ungewussten Mittelpunkt im Leben, dem alles Interesse gilt, alle „Opfer“ gebracht werden, wenn etwa in der Kultur, Film Musik, Kunst, „Unbedingtes“ erlebt wird. Christian Modehn wies darauf hin, dass Spiritualität heute ein „Marktbegriff“ geworden ist, damit wird – oft von selbst ernannten Meistern – viel Geld verdient. Nicht überall, wo Spiritualität drauf steht, ist auch wirklich Geistvolles, kritisch Inspirierendes und Belebendes, also wirkliche Spirituaität, drin.

Viele Teilnehmer wünschten, dass diese offenen Debatten ohne konfessionelle Bindung und ohne dogmatische Voraussetzungen weitergeführt werden soll.
Berlin ist eine spirituelle Stadt (nicht mehr eine kirchenfromme und in dem Sinne auch keine religiöse Stadt), aber der Geist, spiritus auf Lateinisch, ist da, er belebt die Vernunft und …. auch das Herz.

Wenn die Menschenrechte mobil machen

Wenn die Menschenrechte mobil machen
Copyright: Christian Modehn

-Eine Kurzfassung dieses Beitrags erschien in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 26.8.2011-

Von einer Welle der Gewalt wurden einige Städte Englands erschüttert. Junge Leute ließen sich in maßloser Wut zu zerstörerischem Hass hinreißen. Unter den Randalierern sind zweifellos viele Kriminelle, sie werden bestraft. Auch Jugendliche aus „gutem Haus“ haben besinnungslos geplündert und geklaut. „Aber dieser Aufstand war auch ein sozialer Aufstand“, sagt der Sozialarbeiter Konstantin Argeitis. Er kennt die „Szene“ in den „Problemvierteln“ von Manchester genau. „Wir holen uns zurück, was man uns genommen hat“, hört er immer wieder. „Die Krawalle sind eine direkte Folge der neoliberalen Regierung Camerons“, betont auch der in London lehrende Soziologe Richard Sennett, „viele soziale Leistungen für junge Leute wurden gestrichen. Und die Ursachen liegen für mich darin, dass diese Regierung die Zivilgesellschaft und die zivilen Institutionen zerstört hat“.
Die Demokratie muss grundlegend verändert, wenn nicht neu begründet werden: In allen Teilen Europas werden diese Stimmen laut. In Spanien z.B. agieren viele tausend „Indignados“,„Empörte“, ohne Gewalt, aber voller Energie: Sie versammeln sich seit 4 Monaten ständig zu öffentlichen Debatten auf den großen Plätzen. Mitte Juni demonstrierten Hunderttausende in Madrid gegen die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union mit der Forderung: „Es kommt auf die Achtung der Grundrechte an, auf Wohnung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Beteiligung für jeden. Wir fordern eine freie Entwicklung der Persönlichkeit“. In Athen, Lissabon und Paris solidarisieren sich Tausende, eine neue politische Bewegung außerhalb der etablierten Parteien entsteht. Diese Aktivisten beziehen ihre Power aus einem eher abstrakt formulierten Dokument, der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948. In Artikel 22 heißt es: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit … in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind“.
Diese abstrakten Formulierungen inspirieren heute zu der Frage: Warum soll es nicht in absehbarer Zeit das Menschenrecht auf demokratische Kontrolle der Finanzmärkte geben mit der Einführung eine Finanztransaktionssteuer? Neue Menschenrechte können prinzipiell „entdeckt“ und formuliert werden. Immer schon wurden Menschenrechte „geboren“, wenn Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Für den Philosophen Francois Jullien (Paris) sind der „basale Aufschrei“ und der „Protest gegen das Untragbare“ entscheidend. Es waren die Schrecken der Nazi – Barbarei und des Weltkrieges, die zur Menschenrechtserklärung der UNO 1948 führten. Seitdem gilt absolut: Jeder Mensch hat eine unverletzbare Würde, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Alle Wesen, die Menschenantlitz tragen, sind Menschen.
Im 18. Jahrhundert waren es die Bürger und der niedere Klerus, die nicht länger die maßlosen Privilegien der Könige und den Hunger der Bevölkerung hinnehmen wollten. Aus einer Protest -Bewegung entstand die Französische Revolution. Und aus demselben Geist wurde im August 1789, gut einen Monat nach dem „Sturm auf die Bastille“, die damals sensationelle „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ verabschiedet. Ausdrücklich wurde – zeitlos gültig – betont, „dass die Unkenntnis und die Missachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen für die öffentlichen Missstände und die Verderbtheit der Regierungen sind“. Die neue politische Ordnung muss respektieren, dass jeder Mensch als Mensch unantastbare Rechte hat: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“ (Artikel 1). Das Zeitung „Journal de la Ville“ (Paris) schrieb wenige Tage nach dieser „Déclaration“: „Zum ersten Mal erlebt die Welt, wie ein aufgeklärtes Volk die Gedankenarbeit eines ganzen Jahrhunderts in die Menschenrechtserklärung hineinschreibt und in seinen Beratungen fünfzig Jahre Philosophie mit der Forderung Freiheit für alle zusammenfasst“.
Tatsächlich haben Philosophen der englischen und französischen Aufklärung (Hobbes, Locke, Rousseau, Diderot) mit ihrer Kritik an der gesetzlosen Unordnung des Absolutismus die Idee der Menschenrechte in der öffentlichen Debatte gefördert. Sie hatten Vorbilder, vor allem die Philosophen der Stoa: “Niemand ist vornehmer als andere“, schreibt Seneca (1 bis 65 n.Chr.), und er betont: „Dies sei eine klare Vernunfterkenntis“. Denn alle Menschen haben als Menschen an der „vernünftigen Weltseele“ (dem Ursprung) teil; deswegen haben alle auch gleiche Würde und gleiche Rechte. Darum wehren sich Stoiker auch gegen die Sklaverei. Die Philosophie der Menschenrechte hat durch Immanuel Kant (1724 – 1804) ihre grundlegende Prägung erhalten: Für ihn ist es unbestreitbare Erkenntnis der Vernunft, dass jeder Menschen als Zweck für sich selbst anzusehen sei. Deswegen, und nicht wegen religiöser Überzeugungen, hat jeder Mensch absoluten Wert: Kein Mensch darf bloß als Mittel für egoistische Ziele anderer behandelt werden.
Tatsache ist, dass bis heute „die Menschenrechte“ bestenfalls als ein schönes, aber realpolitisch irrelevantes Dokument angesehen werden. Wenn Staaten Mitglieder UNO werden – fast alle sind es – dann erkennen sie zwar automatisch deren Menschenrechtserklärung an. Aber Amnesty International weist darauf hin, dass es heute in fast allen Staaten schlimme Menschen­rechts­ver­letz­ungen gibt. Und die UNO muss meist hilflos zusehen. In Straßburg kümmert sich immerhin der „Europäische Gerichtshof für Menschenrechte“ um den Schutz dieses höchsten Gutes.
Etliche Philosophen (wie die Expertin Katharina Ceming) empfinden es in dieser Situation als höchst befremdlich, wenn Philosophen, wie Richard Rorty (1931 – 2007) als „Kulturrelativisten“ die rigorose Allgemeingültigkeit der Menschenrechte in Frage stellen. Rorty möchte die Menschenrechte aus dem Mitgefühl mit anderen Kulturen praktisch begründen und nur aus dem Einzelfall entwickeln. „Wir sollten unsere Menschenrechtskultur nicht als Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen demonstrieren“, meint er: Nur so könnten europäische Besserwisserei und kultureller Imperialismus verhindert werden. Keine Frage: Westliche Politiker haben ihre eigene Machtpolitik z.B. gegenüber der „Dritten Welt“ mit dem Eintreten für die Menschenrechte kaschiert. Der Kampf gegen die Sandinisten in Nikaragua oder gegen Präsident Allende wurde so begründet, tatsächlich aber waren Antikommunismus und ökonomischer Dominanz entscheidend.
Aber darf der politische Missbrauch zur Relativierung der absolut zu schützenden Würde eines jeden Menschen führen? „Die Alternative zum viel geschmähten kulturellen Imperialismus der Menschenrechte entpuppt sich als Kultur- Rassismus, der das Existenzrecht eines Lebens vom kulturellen Kontext abhängen lässt“, betont Katharina Ceming.
Staaten, die heute strikt die absolute Gültigkeit der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 zurückweisen, kennen Menschenrechts – Traditionen. China beruft sich auf den „Lehrer der Harmonie“ (d.h. der Gehorsamshaltung und Unterwürfigkeit) Konfuzius. Aber das Regime übersieht gern, dass Konfuzius´ Meisterschüler, der hochgeschätzte Menzius bzw. Mengzi ( 370 bis 290 v.Chr.), in seinen Lehrgesprächen betont: „Jeder Mensch hat eine ihm angeborene Würde in sich selbst. Diese Würde wurde jedem Menschen vom „Himmel“ verliehen. Deswegen kann ein Machthaber sie weder gewähren noch nehmen. Jede Herrschaft ist daran gebunden“.
Auch in muslimisch geprägten Kulturen ist die Idee des Respekts vor jedem Menschen verbreitet, wenn auch der Koran nicht als Quelle für moderne Menschenrechte herangezogen werden kann. Immerhin, es gibt eine muslimische Hochschätzung der universal gültigen „Goldenen Regel“, die da heißt: „Tu den anderen nur das an, was dir selbst angetan werden soll“. In einer Sammlung von Hadithen (Interpretationen zu Mohammed) aus dem 13. Jahrhundert heißt es: „Keiner ist gläubiger Muslim, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht“. Abu Hurayra, ein Gefährte Mohammeds, sagte: „Wünsche den anderen Menschen, was du dir selbst wünschst. Dann erst wirst du ein wahrer Muslim“.
Die meisten „Aufständischen“ in Tunis und Kairo im Januar 2011 ließen sich nicht von religiösen Traditionen inspirieren: „Wir wollen Demokratie“, berichtet der weltbekannte syrische Philosoph Sadiq al Azm. „So denkt die junge Generation dort, es ist die bürgerliche Selbstbehauptung gegen die Macht der Regime“. Sadiq al Azm spricht im Blick auf Nordafrika von „einer Transformation der religiösen Haltung“, es geht – endlich – um Selbstbestimmung, also ansatzweise um Menschenrechte.
Dabei weiß er genau, wie umstritten diese Ansätze sind. Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1990 wurde noch nicht revidiert. Diesem Dokument zufolge können die Rechte und Freiheiten des einzelnen nicht universell gelten, sie sind vielmehr der Scharia unterworfen.
Religiöse Kategorien begrenzen die Geltung der Menschrechte: Dies ist auch die Rechtsauffassung der katholischen Kirche. Wie im Islam wird die „Würde des Menschen“ einzig von Gott hergeleitet. Ohne einen ausdrücklichen Gottes Bezug kann es keine Menschenrechte geben, darin stimmen islamische und römische Texte überein. Gleichlautend wird die Überzeugung verbreitet, „der Mensch könne ohne die Offenbarung Gottes nicht den besten Weg des Lebens beschreiten“. Diese Lehre kann aber nur Menschen überzeugen, die bereits an Gott glauben. In ihrer inneren Verfasstheit haben die universalen Menschenrechte nicht das letzte Wort. Der „Codex“, das offizielle Gesetzbuch von 1983, bietet viele Beispiele. Wenn Gläubige von der zuständigen Autorität vor Gericht gezogen werden, haben sie auch „Anrecht auf ein Urteil, das nach Recht und Billigkeit gefällt wird“, so § 221, 3. Von Verteidigung und unabhängigen Richtern ist keine Rede. Denn „der kirchlichen Autorität steht es zu, die Ausübung der Rechte, die den Gläubigen eigen sind, zu regeln“, § 223, 2. Der Begriff „Demokratie“ kommt im offiziellen Katechismus von 1993 nicht vor. Demokratie und Menschenrechte sind Produkte der Vernunft. Aber der menschlichen Erkenntnis misstraut die Kirche entschieden. Führung und Gehorsam sollen gelten, nicht Autonomie und Freiheit. Es ist bekannt, dass die Päpste unmittelbar nach der amerikanischen und der französischen Menschenrechtserklärung, also ab 1791, in langen Hasstiraden diese „schlimmsten Übel“ verurteilten. Erst mit dem 2. Vatikanischen Konzil wurde diese Polemik aufgegeben Aber nun behauptet die Kirche, an der Bildung der Menschenrechte beteiligt gewesen zu sein… Wenn heute Laien und Priester politisch zugunsten der Menschenrechte eintreten, etwa in Lateinamerika und Afrika, bleibt bei aller Anerkennung ihres Engagements die Frage: Wie können sie die Menschenrechte als politisch absolut richtig und gottgewollt vertreten, wenn sie in der eigenen Kirche nicht gelten? Wie kann die Kirche ernsthaft behaupten, die Menschenrechte hätten nichts mit der angeblich göttlichen Ordnung der Kirche zu tun? Wie viel Machtideologie ist da immer noch lebendig? Wie lange nehmen Katholiken diese Situation hin?
Die universalen Menschenrechte, als lebendiger Prozess verstanden, werden erst dann weltweit praktisch von sehr vielen Menschen respektiert werden, wenn politische Willkürregime verschwinden und religiöse Führer die Grenzen ihrer Kompetenz anerkennen. Aber: Das Wichtigste ist getan! Die Menschenrechtserklärung der UNO wird niemand mehr aus den Herzen der Menschen vertreiben können.

Zur religiösen Praxis der Muslime in Frankreich

Fast jeder zweite Muslim in Frankreich ist „gläubig und praktizierend“

Anlässlich des Ramadan in diesem Jahr, der vom 1. bis zum 30. August dauert, hat die Tageszeitung LA CROIX, Paris, in ihrer Ausgabe vom 1. August, in einem ausführlichen Dossier die Ergebnisse einer Studie über die religiöse Praxis der Muslime in Frankreich veröffentlicht. Weil wir in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon seit vielen Jahren regen Anteil nehmen an der religiösen Situation und der Geschichte der Religionen und Philosophien in Frankreich (nicht zuletzt dokumentiert durch die ca. 60 Halb – Stunden -Sendungen „Gott in Frankreich“ von Christian Modehn im Saarländischen Rundfunk von 1989 bis 2006), wollen wir einige zentrale Aspekte festhalten:
Weil es in Frankreich aufgrund der Trennung von Staat und Religionen keine exakten Religionsstatistiken gibt, nennen die wissenschaftlich glaubwürdigen Schätzungen 2,1 Millionen Muslime im Alter zwischen 18 und 50 Jahren. Das Forschungsinstitut IFOP nennt 3,5 Millionen Muslime insgesamt (d.h. ca. 5,8 % der Gesamtbevölkerung). In einigen Départements wie Val – de- Marne oder Val – de – Oise liegt deren Anteil bei ca. 10 %.
Das Institut IFOP hat für LA CROIX festgestellt, dass 71 % der Muslime während des ganzen Monats die Fastengebote einhalten wollen. Im Jahr 1989 hatte man die letzte entsprechende Umfrage vorgenommen, so wird jetzt deutlich: Die religiöse Praxis unter den Muslims hat heute zugenommen. 41 % der Befragten nennen sich heute „praktizierende und gläubige Muslims“, 1989 waren es 34 %. Während 1989 nur 16 % die Moschee am Freitag besuchten, sind es heute 25 %. Heute gibt es etwa 2000 Moscheen und „Kult – Orte“ (oft eher sehr bescheidene ehemalige Garagen z.B.). Allerdings, so schreibt der Soziologe Franck Frégosi in seinem Buch „L Islam dans la laicité“, Ed. Pluriel. „Heute ist man dabei, mit dem Islam in den Kellergewölben aufzuhören“. So wird etwa in Strasbourg jetzt eine neue große und würdige Moschee eingeweiht. La Croix berichtet: „Die Zunahme im Besuch der Moschee ist besonders bemerkenswert bei den jungen Leuten. Es sind fast ausschließlich Männer, die freitags an den Gottesdiensten dort teilnehmen“.
Auch die berufliche Qualifizierung der Muslime wurde untersucht. 33 % der Befragten sind Arbeiter. Leitende Angestellte und Freiberufler nur 6,7 %.
Interessant ist auch das parteipolitische Interesse: Nur bei 21 % der Muslime ist Nicolas Sarkozy der politische Favorit, während es unter den praktizierenden Katholiken immerhin 55 % sind, bei den nicht praktizierenden Katholiken dann noch einmal 44 Prozent. Daran sieht man, wie beliebt Sarkozy noch immer bei Katholiken ist. 23 % der Nichtglaubenden und Atheisten stimmen für Sarkozy.
Wir möchten noch darauf hinweisen, dass die eigentlich eher finanziell arme katholische Kirche Frankreichs sich ein eigenes für das ganze Land bestimmte „Sekretariat für die Beziehungen zum Islam“ leistet. Von dort aus werden z. B. Gespräche und Tagungen organisiert über “Islam und Christentum”. So etwas gibt es in Deutschland bei einer Kirche mit einem Etat von vielen tausend Millionen Euro nicht. In Frankreich ist im Augenblick der Buchautor Pater Christophe Roucou der Leiter dieser Arbeitsstelle; er gehört zur theologisch progressiven Gemeinschaft „Mission de France“, einer Gemeinschaft von „Arbeiterpriestern“. Er hat als Leiter seines Sekretariates erklärt: „ En France, comme citoyens et comme catholiques, nous avons la responsabilité de permettre que les musulmans puissent vivre leur foi dans le contexte républicain et laïque. Et comme chrétiens, il nous faut toujours faire le premier pas.“ “In Frankreich haben wir als Bürger und als Katholiken die Verantwortung, den Muslims zu erlauben, ihren Glauben im republikanischen und im „laique“ (schwer zu übersetzen: also auf Trennung von Kirche und Staat bedachten Status) Kontext zu leben. Und als Christen müssen wir immer den ersten Schritt tun“.
copyright: christian modehn berlin.

“Museum des Widerstandes” in Santo Domingo eröffnet

Endlich gibt es in Santo Domingo, der Hauptstadt dee Dominikanischen Republik, ein Museum des Widerstandes. Es sollte auch in alle “Touristen” – Führungen einbezogen werden.
Es hat eine interessante und vielseitige website: www.museodelaresistencia.org/ es bietet viele Informationen, man wird neugierig sein, wie andere “Widerstandsmuseen” weltweit mit dieser Gedenkstätte an die Diktatur Trujillos, ermordet am 30. Mai 1961, zusammenarbeiten werden.
In unserer website www.religionsphilosophischer-salon.de gibt es einen ausführlichen Beitrag über die unsägliche Rolle der katholischen Kirchenführung während der Diktatur, bis zum Jahr 1960…

Lehrmeinungen nicht vergötzen

Das „philosophische Wort zur Woche“
Lehrmeinungen nicht vergötzen

Wir wurden gebeten, in den „philosophischen Worten, Meditationen, zur Woche“ auch explizit religionsphilosophische bzw. durchaus auch (von der Vernunft begleitete !) spirituelle Texte anzubieten.
Dem Wunsch kommen wir gern nach.
Diesmal bieten wir in ein paar Zeilen einen Impuls von Thich Nhat Hanh, den hoch geschätzten Zen – Meister, geboren in Vietnam, jetzt vor allem in Frankreich („Plum Village“), den man eigentlich in unseren Kreisen nicht mehr vorzustellen braucht.
Er bezieht sich dabei auf die Regeln seines Mönchsordens (dessen Name =Einssein= ist) und schreibt unter dem Titel „Loslassen und Einssein“:
Die erste Regel des Ordens heißt:
„Schaffe dir keine Götzen in Form von Lehrmeinungen, Theorien oder Ideologien, einschließlich der buddhistischen, und hänge diesen nicht an. Buddhistische Denksysteme sind Hilfsmittel zur Orientierung und keine absoluten Wahrheiten“.
Dann bietet Thich Nhat Hanh eine Deutung dieser Regel, darin heißt es u.a.:
„Das Anhaften an Meinungen kann uns daran hindern, zu einem höheren oder tieferen Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen. Der Buddhismus drängt uns dazu, unser eigenes Wissen zu transzendieren, um auf den Pfad der Erleuchtung weiter zu gelangen. Alle Ansichten werden als Hindernisse zur wahren Einsicht betrachtet…
Der Buddha lehrte, dass an einer Ansicht festzuhalten und sie als absolute Wahrheit zu nehmen gleichbedeutend damit sei, den eigenen Prozess des Untersuchens und der Erleuchtung zu beenden. Das fanatische Anhaften an einer Weltanschauung verhindert nicht nur das eigene Lernen, sondern es kann zu blutigen Konflikten führen. Religiöse oder ideologische Kriege sind das Ergebnis von Fanatismus und Engherzigkeit…”
In der zweiten Regel heißt es:
„Die Wahrheit ist nur im Leben und nicht in vorgeformtem Wissen zu finden. Sei bereit, das ganze Leben hindurch zu lernen und die Wirklichkeit in dir selbst und in der Welt unablässig zu beobachten“.

Mein Hinweis:
Es ist klar, dass dieser Text sich nicht ausschließlich auf Mönche bezieht, sondern für alle Menschen gilt, die ein Leben ohne „Anhaftungen“ suchen. Interessant wäre eine Debatte über die Nähe dieses buddhistischen Denkens zu einer skeptischen philosophischen Lebenshaltung. Lebenshaltung ist ja bekanntlich mehr als skeptische Philosophie im engeren Sinne… Kommt man damit zur Erleuchtung? Das wäre eine spannende Frage. Erleuchtung ist ja bisher kein Begriff europäischer Philosophie… Wie stark empfinden die Leser den Kontrast dieses Textes von Thich Nhat Hanh zu christlichen Dogmatismen? Wie sehr ist dogmatisch geprägter Glaube von Anhaftungen geprägt? Könnte man sich einen Papst denken, der diese Worte Thich Nhat Hanhs unterschreibt?

Thich Nhat Hanh, „Lächle deinem eigenen Herzen zu“.
Herder Verlag, 1995, s 126 ff.

Für einen “europäischen Islam”. Ein neues Buch

Für einen Euro – Islam
Benjamin Idriz, Penzberg, macht weit reichende Vorschläge

„Grüß Gott, Herr Imam“ ist der Titel eines Buches von Benjamin Idriz, er ist Imam im bayerischen Penzberg. Und er gehört, wie der Titel nahe legt, für viele seiner Mitbürger offenbar längst ganz selbstverständlich zur bayerischen Heimat. Denn der Gott, den der Imam „grüßen“ soll, ist von dem Gott wohl gar nicht so verschieden, den die anderen, die christlichen Bayern, ebenfalls mit derselben populären Formel „grüßen“ sollen. Der Imam würde wohl sagen, es ist derselbe Gott, den Juden, Christen und Muslime – unter verschiedenen Namen – verehren. Benjamon Idriz hat sich mit seinem überaus anregenden Buch viel vorgenommen: Er will seine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern mit allem Nachdruck darauf hinweisen: Sie sollten hier in Deutschland und überhaupt in Europa einen modernen, demokratischen, einen europäischen Islam aufbauen. Benjamin Idriz, er stammt aus Mazedonien, hat in Damaskus studiert und ist seit 1995 in Penzberg, möchte „das eigentliche Wesen des Islam“ herausarbeiten. Dafür hat er Vorbilder unter Islam – Gelehrten aus Bosnien. Der reformierte, der moderne Islam kann nur in den Blick geraten, wenn auch der menschlichen Vernunft die entscheidende Bedeutung zugesprochen in der Erkenntnis dessen, was der Koran wirklich meint. „Der Mensch ist das würdigste Geschöpf Gottes, daher sind seine Vernunft, Freiheit und Würde, sein Glaube und sein Leben unanstastbar“ (S. 17). „Alle Propheten (also auch die jüdischen und christlichen CM.) sind gleichgestellt, denn sie haben eine gemeinsame Botschaft… Alle Menschen sind auf Erden vor dem Recht gleich….Aggression und Usurpation sind Vergehen“ (S. 18)… „Der Friede ist heilig, der Krieg ist zu verabscheuen“ ) S. 19. Solche grundlegenden humanistischen Anschauungen eines aufgeklärten europäischen Islam kann man seitenweise in dem Buch lesen. Besonders wichtig erscheint mir das Kapitel, das Benjamin Idriz mit “Das Porträt der idealen muslimischen Persönlichkeit in Bezug auf Integration“ überschrieben hat. Abschließend heißt es in dem Kapitel: „Sie (die ideale muslimische Persönlichkeit) unterzieht ihr Religionsverständnis einer Prüfung durch die Vernunft und hält dadurch Abstand von extremen Haltungen“. (S 31).
Treffender wäre es wohl gewesen zu schreiben, „diese Person missbilligt und verurteilt extreme Haltungen“.
In jedem Fall verdient das ausdrückliche Bemühen, einen, so wörtlich, „europäischen Islam“ aufzubauen, hohe Anerkennung. Man würde sich beinahe wünschen, dass dieses Buch gratis in allen Moscheen in Deutschland, aber auch in allen Kirchen, Synagogen und religiösen Zentren gratis verteilt würde. Die in dem Buch genannte Liste der Freunde und Unterstützer des Penzberger Projekts und damit auch seines Initiators ist lang, sie umfasst Bischöfe und Bürgermeister, auch den CSU Politiker und Vorsitzenden des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Alois Glück. Merkwürdig, dass die Vorwürfe des bayerischen Innenministers („verkappter Radikaler“) vom Sommer 2010 gegenüber der Penzberger Moschee in dem Buch nicht ausführlich behandelt und erwidert werden. Benjamin Idriz leidet offenbar darunter, wie stark heute noch im alltäglichen Islam, auch in Europa, die „eigentlich“ universalen Werte des Korans und die Werte des Humanismus überlagert werden durch volkstümliche (arabische, türkische usw.) Traditionen, die kulturell zu verstehen sind, aber eigentlich mit dem Islam nichts zu tun haben (das gilt etwa für die Rolle der Frauen in der unreflektierten islamischen Alltagspraxis). Als oberstes Gebot gilt darum für den Penzberger Imam die Bildung.
Vielleicht kann von Penzberg aus tatsächlich eine umfassende Reformbewegung des Islam gefördert werden, vielleicht schließen sich mehr Imame dieser vom humanistischen Geist geprägten Islam – Theologie an. Merkwürdig bleibt, warum dieses globale Projekt eines „humanistischen, vernünftigen und kritischen Islam“ auf Europa beschränkt bleiben soll. Man würde sich dringend wünschen, dass diese globale Islam -Reformation auch die islamische (und politische) Praxis in den Ländern Arabiens usw. erreicht. Es geht doch um viel mehr, als bloß um einen reformierten Euro – Islam. COPYRIGHT: Christian Modehn.

Benjamin Idriz, „Grüss Gott, Herr Imam!“. Eine Religion ist angekommen. Diederichs Verlag München, 2010,223 Seiten, 16,99 Euro.

Wegweiser in ein glückliches Leben: Die “goldene Regel”

Der „Religionsphilosophische Salon“ bietet auch Anregungen zur Lebensorientierung. Eine ethische Weisung, überkonfessionell und in zahlreichen Philosophien vertreten, ist die „Goldene Regel“.

Wegweiser in ein glückliches Leben
Die „goldene Regel“
Von Christian Modehn

In einem philosophischen Gesprächskreis forderte kürzlich der Moderator die Teilnehmer auf, einen wichtigen Weisheitsspruch zu nennen, der ihnen Orientierung im Leben bietet. Vorher hatte man ausführlich über Grundsätze der Ethik diskutiert: Wann ist unser Handeln gut? Wie lässt sich das Böse überwinden? Anstelle abstrakter Spekulationen sollten nun unmittelbar Probleme des Alltags besprochen werden. Tatsächlich waren mehrere Teilnehmer bereit, ihre persönliche „Maxime“, ihre „Lebensregel“, mitzuteilen:
„Es kommt immer anders, als man denkt“, sagte ein Student der Biologie. Eine Dame mittleren Alters, sehr schlank und etwas verhärmt, meinte mit sanfter Stimme: „Lerne leiden ohne zu klagen“. Nicht ohne Stolz verwies ein älterer Herr, ein pensionierter Beamter, auf seinen Grundsatz: „Willst du gelten, mach dich selten“. Ein Lehrer entgegnete mit ironischem Unterton: „Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmer mehr“.
Die meisten Teilnehmer mussten schmunzeln: Sie hatten erlebt, wie unbescheiden „ihr“ Pensionär sich oft verhielt in seinem offenkundigen Bedürfnis viel „zu gelten“. Kein Wunder also, dass sich das Gespräch auf die „Lebensregel“ konzentrierte:
„Willst du gelten, mach dich selten“.
Aber mit welcher Berechtigung können wir eine Lebensweisheit hoch schätzen, die Ehre, Ansehen und öffentlichen Respekt in den Mittelpunkt stellt, fragte der Leiter des philosophischen Kreises:
„Welchen persönlichen Gewinn haben wir, wenn wir als etwas Besonderes „gelten“ oder gar verehrt werden? Ist der Preis dafür nicht zu hoch: Um sich „selten“ zu machen, darf man gerade nicht umgänglich und kommunikativ sein. Verträgt sich diese Lebensweisheit überhaupt mit dem Grundsatz, dass jeder Mensch am besten „in gleicher Augenhöhe“ seinen Mitmenschen begegnen sollte?“
Dieser Erkenntnis konnten die meisten in der Runde nur zustimmen. Sie wussten nun: Maximen und Weisheitssprüche müssen immer kritisch betrachtet werden. Wer persönlichen Grundsätzen folgt, die in sich nicht stimmig sind, macht sich das Leben nur schwer. Darauf haben schon die frühen philosophischen Weisheitslehrer aufmerksam gemacht; zum Beispiel der chinesische Denker Konfuzius. Er lebte in der Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Als Erzieher und Lehrer der Moral überprüfte er auch die gängigen Lebensregeln und Weisheitssprüche seiner Zeit. Mit dem Meisterdenker Lao Tse hat er sich auseinandergesetzt, von ihm ist der Grundsatz überliefert:
„Wer weiß, der spricht nicht“.
Lao Tse bezog sich dabei auf das Wissen vom Ursprung der Welt und auf den Sinn des menschlichen Lebens. Und darüber soll der Wissende nicht sprechen? Konfuzius wollte dieser „weisen Empfehlung“ nicht folgen. Er hat gesprochen und gelehrt, seine Weisheitsregeln sollten die Menschen verbreiten, weil sie das „gute, das gelungene Leben“ fördern:
„Der edle Mensch unterstützt in den anderen Menschen das Schöne. Der gemeine Mensch das Unschöne.
Der edle Mensch vernachlässigt nicht seinen Nächsten.
Wer einen Wohnort wählt, achte auf den Geist der Humanität, der dort herrscht“.
Aber diese „Maximen“ waren für Konfuzius noch zu anschaulich, zu konkret. Er wollte alle Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen zu gutem Handeln inspirieren. Deswegen, so meinte er, könne nur eine allgemein formulierte, eine grundsätzliche Maxime wirklich helfen. Schließlich entdeckte Konfuzius eine Formel, die bis heute weltweit bekannt ist:
„Was man mir nicht antun soll, das will auch ich anderen Menschen nicht zufügen“.
Wie auch immer Konfuzius diese Formel drehte und wendete, er war überzeugt: Wenn sich Menschen an diese Regel halten, kann das Zusammenleben respektvoller und friedlicher aussehen, im privaten Umfeld der Familien wie auch in der gesetzlichen Ordnung eines Staates. Diese Regel fordert den einzelnen auf, in seiner Situation genau überlegen: Welche Konsequenzen hat mein Tun für die anderen? Verletze ich sie mit meinem Handeln? Schränke ich meine Mitmenschen ein, beraube ich sie ihrer menschlichen Würde?
Die Suche nach einer allgemeinen Richtschnur ethischen Handelns hat seitdem die Menschen fasziniert. Davon begeistert war zum Beispiel der englische Arzt und Psychiater Thomas Sydenham im 17. Jahrhundert, einer der berühmtesten Mediziner seiner Zeit. Er wird der „englische Hippokrates“ genannt, für sich selbst hatte er eine Maxime formuliert:
„Niemand ist anders von mir als Arzt behandelt worden, als ich behandelt sein möchte, wenn ich dieselbe Krankheit bekäme“.
Heute wären viele Patienten vielleicht froh, wenn sich ihre Ärzte an diese Form der Goldenen Regel hielten… Im 18. Jahrhundert wollten Schriftsteller und Philosophen mit Aphorismen oder klugen Lebensregeln die Menschen aufklären, zu einem „guten, einem wahrhaft menschlichen Leben ermuntern. In den Mittelpunkt stellten sie einen Spruch, der seitdem weltweit „Goldene Regel“ genannt wird. In einer populären Formulierung fand sie weltweit Verbreitung:
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“.
Dieser Spruch mag ein wenig schlicht erscheinen, wie ein gut gemeinter pädagogischer Ratschlag für Kinder und Jugendliche. Philosophen und Historiker aber haben diesen Spruch ausdrücklich „golden“, also von höchstem Wert genannt, weil sie wussten: Diese Lebensweisheit steht im Mittelpunkt der Ethik aller großen Religionen. In der indischen Versdichtung Mahabharata, geschrieben im 4. oder 3. Jahrhundert vor Christus, wird die weite spirituelle Welt des Hinduismus in diesem einzigen Spruch zusammengefasst:
„Man tue niemals einem anderen Menschen das an, was man selbst als verletzend erlebt“.
Auch buddhistische Traditionen haben später die „Goldene Regel“ als Inspiration und Wegweisung für alle Menschen hoch bewertet:
„Was für mich eine unangenehme Sache ist, das ist auch für den anderen eine unangenehme Sache. Wie könnte ich das einem anderen aufladen?“
Fast zur gleichen Zeit wurde im Alten Orient, vor allem im Gebiet des heutigen Irak und seiner Nachbarschaft, ein ähnlicher Weisheitsspruch verbreitet:
„Was dir selbst übel erscheint, das tue auch deinen Mitmenschen nicht an. Tu keinem Böses an, damit niemand einen Anlass sieht, auch dir Böses anzutun“.
Historiker haben nachgewiesen, dass diese nahezu gleich lautenden ethischen Prinzipien unabhängig von einander in verschiedenen Teilen der Welt entstanden sind. Eine erstaunliche Tatsache. Denn offenbar ist die Goldene Regel tief in die menschlichen Vernunft, in die Vernunft aller Menschen, „eingeschrieben“. Philosophen erinnern daran, dass ähnliche Weisungen auch von den großen Denkern des klassischen Griechenland, etwa von Aristoteles, formuliert wurden.
Im Judentum gilt Rabbi Hillel, ein Zeitgenosse Jesu von Nazareth, als der bedeutendste Verteidiger der goldenen Regel, er hat sein Volk auf den Spruch verpflichten wollen:
„Was dir nicht lieb ist, das tue nicht auch deinem Nächsten. Das ist das ganze jüdische Gesetz. Alles andere ist nur Erläuterung dieses Satzes“.
Die goldene Regel stellt das angeblich so selbstverständlich erscheinende Vergeltungsprinzip in Frage. Sie hat das Ziel, den ewig wiederkehrenden Gedanken an Rache zu überwinden, sie will den Zirkel von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen. Aufforderungen zu Mord und Totschlag haben angesichts der goldenen Regeln keine ethische Berechtigung mehr. Der Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sollte deswegen aus dem Gedächtnis der Menschheit gelöscht werden. An diesem Thema arbeitet seit Jahren die Theologin und Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong aus London, sie hat die goldene Regel neu formuliert:
„Unter allen Umständen sollen die Menschen den Schmerz anderer Menschen verhindern“.
In diesen Worten, meint Karen Armstrong, kämen auch die ethischen Weisungen des Neuen Testaments zum Ausdruck. Jesus von Nazareth hat seine eigene „Goldene Regel“ bezeichnender weise nicht in negativ abwehrenden oder warnenden Worten, sondern in positiven, ermunternden Formulierungen vorgetragen.
„Ich sage euch: So wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen“.
Diese Weisung gilt in der Bibel – Wissenschaft als unmittelbares Jesuswort, es entstammt der sogenannten „Logienquelle Q“. Die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten von fast gleich lautenden Formulierungen Jesu. Die Goldene Regel und das Evangelium Jesu von Nazareth sind also aufs engste verbunden. In einer hoch geschätzten frühchristlichen Schrift, der Didaché, aus dem Jahr 150 heißt es:
„Alles, von dem du nicht willst, dass es dir geschieht, das füg auch einem anderen nicht zu“.
Später findet man ähnliche Formulierungen in der muslimischen Tradition. Auch wenn Mohammed selbst keine „eigene“ Goldene Regel formuliert hat, nach dem Tod des Propheten wurden weitere „Überlieferungen“ von ihm verbreitet, die so genannten Haddithe. In einer Sammlung dieser Verse aus dem 13. Jahrhundert heißt es:
„Keiner ist gläubiger Muslim, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht“.
Heutige Islamwissenschaftler erinnern auch gern an einen Spruch, den Abu Hurayra, ein Gefährte Mohammeds, überliefert hat:
„Wünsche den anderen Menschen, was du dir selbst wünschst. Dann erst wirst du ein wahrer Muslim“.
Je populärer die Goldene Regel in aller Welt wurde, desto mehr lassen sich Menschen auch zu zynischen oder polemischen Äußerungen hinreißen. Mit Beispielen aus dem Alltagsleben wollen sich besonders kritisch wähnende Geister über diesen universalen ethischen Grundsatz lustig machen. Sie behaupten zum Beispiel:
„Die Goldene Regel kann gar nicht universell gelten. Die viel geschmähten Politessen etwa müssen Strafzettel wegen falschen Parkens ausstellen, obwohl sie selbst als Privatperson einen Strafzettel ja niemals erhalten möchten. Fügen die Politessen da nicht anderen Menschen negativ – belastende Dinge zu, die sie selbst nicht erleiden wollen? Widerspricht dieses Verhalten nicht der Goldenen Regel?“
Was dem ersten Eindruck nach plausibel klingt und noch manchen Lacher erzeugt, hat jedoch keine Gültigkeit. Denn das falsche Parken ist ein Verstoß gegen geltendes Recht, dem ist auch eine Politesse unterworfen, wenn sie selbst einmal falsch parken sollte. Mit dem Ausstellen von Strafzetteln widerspricht sie nicht der Gültigkeit der Goldenen Regel. Dieses Beispiel ist so lächerlich nicht, weil es daran erinnert: Grundsätzlich muss jede individuelle Lebensregel, jede Maxime, einer kritischen Prüfung unterworfen werden muss. Wenn ich z.B. meine individuelle Maxime ganz hoch schätze: Möglichst wenig zu verreisen, sondern immer zu hause zu bleiben. Kann dann meine Maxime bedeuten, dass ich auch anderen empfehle, nicht zu verreisen, bloß weil ich das Reisen ablehne? Welchen Grund habe ich denn, mein Desinteresse an Reisen anderen vorschreiben zu wollen? So wird hier deutlich: Nicht jede persönliche Vorliebe kann ich unter Berufung auf die Goldene Regel anderen „antun“ oder „aufdrücken“. Der Philosoph Immanuel Kant hat für solche Fälle einen „Prüfstein“ formuliert, als er – sinngemäß – sagte:
„Überlege genau, ob deine individuelle Maxime wirklich auch allgemeines Gesetz für alle werden kann“.
Direkt auf die goldene Regel bezogen, könnte die Einsicht des großen Denkers aus Königsberg heißen:
„Behaupte niemals, dass deine persönliche Maxime oder Lebensweisheit automatisch der Goldenen Regel entspricht. Die Übereinstimmung muss genau geprüft werden“.
Die Goldene Regel hat heute ein gediegenes philosophisches Fundament. Und das hat ihre Akzeptanz weltweit nur gefördert. Historiker, Religionswissenschaftler und Philosophen weisen darauf hin, dass z.B. In New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art „multi – religiöse Kirche“ gegründet wurde. Sie nannte sich „Die Goldene Regel Bruderschaft“ und wollte die unterschiedlichen Religionen aus dem Nebeneinander, vor allem aber der feindlichen Abgrenzung herausführen. Friedliche Kooperation sollte beginnen. Zu den Unterstützern gehörten hochrangige Politiker der USA, Schriftsteller, Philosophen und Theologen. Das Projekt wurde aber in der Öffentlichkeit schnell als utopisch diskreditiert, resigniert zogen sich die Initiatoren zurück. Von Erfolg gekrönt ist hingegen die Grundsatzerklärung des „Weltparlamentes der Religionen“: Es hatte sich 1893 in Chicago als Ort interreligiösen Dialogs etabliert. Immer wieder wurden Treffen organisiert, vor kurzem tagte dieses spirituelle „Weltparlament“ mit Vertretern aller Religionen in Melbourne, Australien. Auch hier wurde die Goldene Regel wieder als Maßstab mitmenschlichen Verhaltens empfohlen. Der ökumenische Theologe Hans Küng hat sich von diesem Geist universaler Menschlichkeit inspirieren lassen und vor 20 Jahren sein Programm für ein „Projekt Weltethos“ vorgelegt. Hans Küng schreibt:
„Wir brauchen in dieser globalisierten Welt auch eine minimale Übereinstimmung in grundlegenden Werten, Normen und Haltungen. Dieses Ethos soll lebensbejahend für alle sein. Dabei spielt die Goldene Regel eine entscheidende Rolle. Aber sie soll nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Nationen und Religionen gelten“.
Hans Küng versteht die Goldene Regel als einen elementaren Ausdruck für die universale Menschlichkeit; sie stellt nicht den Wert der vielen verschiedenen Kulturen und Religionen in Frage. Aber sie bietet einen „ethischen Minimalkonsens“ für die ganze Menschheit. Aus dieser universalen ethischen Basisregel hat Hans Küng vier weitere konkrete Imperative abgeleitet:
„Die Goldenen Regel schließt die Überzeugung ein: Jeder Mensch wünscht zu leben. Deswegen dürfen wir nicht morden. Niemand will sein gerecht erworbenes Eigentum verlieren, deswegen dürfen wir nicht stehlen. Niemand will betrügerisch behandelt und mit unwahren Informationen bedient werden, deswegen dürfen wir nicht lügen. Niemand will nur wie eine Sache in Erotik und Sexualität benutzt werden. Deswegen ist Sexualität menschlich zu gestalten, z.B. durch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen“.
Aber auch diese „Lebensregeln“ sollten niemals wie eine Art mechanischer Gebrauchsanweisung für den Umgang mit anderen Menschen angewandt werden. Die Goldene Regel wird missverstanden, wenn sie nur als banale Aufforderung gilt, in äußerlicher Korrektheit und ohne innere Anteilnahme mit anderen Menschen zusammen zu leben, also z. B. nur zu schauen: Füge ich Schmerzen zu? Entscheidend ist vielmehr: Die Goldene Regel lenkt mein Nachdenken auch auf mich selbst: Sie führt mich zu der Frage: Welches Leiden finde ich selbst denn unerträglich, welche Umgangsformen will ich vonseiten anderer Menschen niemals erleben? In welcher Weise möchte ich von anderen Leuten respektiert werden? Erst wenn ich genau weiß, wie ich selbst nicht behandelt werden möchte und dann auch positiv beschreiben kann, wie ich wahrhaft leben will, kann ich mich anderen zuwenden. Die Goldene Regel ist also eine Aufforderung, in sich selbst zu schauen, „zu reflektieren“, wie die Philosophen sagen. In diesem Zusammenhang werden alte Weisheitssprüche aus dem Pali Kanon, den Lehrreden des Buddha, neu entdeckt:
„Wie ich bin, so sind auch diese;
Wie diese sind, so bin auch ich.
Wenn so dem anderen er sich gleichsetzt,
Mag er nicht töten oder töten lassen“.
Für Buddha kommt es entschieden darauf an, die Goldene Regel als Ausdruck von Spiritualität wahrzunehmen, als Impuls, Mitgefühl und Mitleid zu entwickeln. In einer anderen Lehrrede heißt es:
„Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen,
Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst“.
Buddhas tiefes Verstehen der Goldenen Regel, in dieser gleichzeitigen Hochschätzung des anderen Menschen wie auch der eigenen Person, gilt heute weltweit als ethischer Maßstab, und zwar nicht, weil Buddha, der „Erleuchtete“ da gesprochen hat, sondern weil Buddha nur allgemein Vernünftiges und sehr Menschliches gesagt hat. Diese Goldene Regel wird so zur universalen „Formel“ für eine allgemeine, eine humanistische Ethik, betont die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong:
„Die Goldene Regel verlangt, dass wir uns als einzelne nicht für etwas Besonderes halten, sondern uns stets zu anderen Menschen in Beziehung setzen“.
Das Leben der Mitmenschen nicht nur an sich „heranlassen“, sondern versuchen, mit ihnen zu fühlen, sich in ihre Welt hinein zu versetzen, zu verstehen, warum sie anders sind als ich: Damit beginnt das Mitgefühl, die Empathie, der ethische Kern der Goldenen Regel. Geradezu schlicht erscheint deswegen heute der viel zitierte Spruch des Preußenkönig Friedrich des Großen, des „Alten Fritz“:
„Jeder soll nach seiner Facon selig werden“.
In Zeiten konfessioneller Feindseligkeiten formuliert, hat dieser Spruch vielleicht dafür gesorgt, dass die Menschen einander nicht töten, sondern „tolerieren“, also ertragen. Das Schweigen der Waffen ist ja bekanntlich schon viel. Aber eine tiefere Lebensphilosophie, eine Aufforderung zum Mitgefühl oder gar zur Versöhnung, ist diesem Spruch nicht zu entnehmen. Da sind die Einsichten des Psychotherapeuten und Philosophen Erich Fromm schon hilfreicher; er wurde weltweit bekannt durch sein Buch „Die Kunst des Liebens“. Fromm hat eine weit reichende Lebens – Philosophie der Goldenen Regel entwickelt:
„In unseren Beziehungen mit anderen Menschen tun wir ihnen immer etwas an, Gutes oder Böses. Entscheidend ist die Erkenntnis: In beiden Fällen wirkt sich unser Handeln auch auf uns selbst aus. Was wir anderen tun, das tun wir uns selbst an. Wenn wir z.B. voller Aggression die lebendigen geistigen Kräfte in einem anderen Menschen zerstören, wenn wir ihm etwa aufgrund seelischer Verletzungen Hoffnung und Zuversicht rauben, dann schlägt solches Tun auf uns selbst zurück. Wir meinen dann schließlich selbst, dass geistige und seelische Kräfte, Hoffnung und Zuversicht, keine Bedeutung haben. Niemand bleibt unverletzt, wenn er andere verletzt“.
Die Goldene Regel, in ihrer tiefen Bedeutung ausgeleuchtet, wird so zu einem Plädoyer für eine bessere Gesellschaft. Darin dürfen die anderen Menschen niemals bloß als Objekte oder Mittel für meine eigenen Interessen eingesetzt werden. Auch darauf hat Erich Fromm hingewiesen:
„Man folgt einem Missverständnis, wenn man die Goldene Regel nur als Aufforderung zu einem fairen Verhalten in Wirtschaftsbeziehungen versteht. Fairness bedeutet nur, auf Betrug und Tricks beim Austausch von Gebrauchsgütern zu verzichten. Fairness heißt in der heutigen Gesellschaft: „Ich gebe dir nur so viel, wie du mir auch gibst“, dies ist die Grundlage kapitalistischer Ökonomie. Die Goldene Regel hingegen verlangt mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Korrektheit. Sie verlangt Mitgefühl, ja, durchaus Liebe, und zwar Liebe den anderen gegenüber wie auch mir selbst gegenüber“.
Die Goldene Regel lehrt das Lieben, das Wertvollste, zu dem Menschen in der Lage sind. Deswegen wird sie zu einer Art Wegweisung ins menschliche Glück. Erfüllung und Zufriedenheit stellen sich nicht automatisch mit materiellem Erfolg oder ökonomischem Wohlstand ein. Aber auf dieses Ziel hin orientieren sich viele ihr Leben lang. Wer Glück nur als zukünftigen Zustand, als Utopie des „Irgendwann – Einmal“ begreift und wie einen unwahrscheinlichen Millionen Gewinn im Lotto erwartet, verliert die Lebensfreude. Er lebt nicht mehr im Jetzt, in der Gegenwart, ist einfach nicht mehr „da“, sondern mental in die Ferne gerückt. Aber Leben ist einem breiten Strom philosophischen Denkens entsprechend einfach Freude am Dasein, am geistvollen Lebendigsein mit anderen zusammen und auch für mich selbst, betont der Philosoph Otfried Höffe: „Wer voller Sehnsucht das Glück in ferner Zukunft erwartet, ist vor immer neuen Enttäuschungen nicht gefeit. Er verfällt in Resignation und denkt: Der glückliche Mensch sei im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Hingegen liegt das Glück im gelungenen Lebensvollzug, es verwirklicht in jedem Augenblick des Lebens“.
„In jedem Augenblick“ des alltäglichen Lebens werde ich vor die Frage gestellt: Wie entscheide ich mich? Was will ich mit anderen Menschen erleben? Worin sehe ich meinen Lebenssinn? Die Goldene Regel bietet dann in ihrer elementaren Einfachheit die notwendige Orientierung und Hilfe. Vielleicht sollte man sie gelegentlich wie ein Mantra laut vor sich her sagen… Wenn sie sich im Geist eingeprägt hat, meldet sie sich sanft, aber im Gewissen durchaus hörbar mit den verführerischen Worten: Folge meiner Weisung. Denn sie ist vernünftig.

Copyright: Religionsphilosophischer –Salon. Christian Modehn 2010.