Barcelona – Dialog der Religionen

Dialog der Religion in Barcelona

In Katalonien sorgt die Regierung dafür, dass sich alle Religionen frei entfalten können – wenn sie die Staatsgewalt anerkennen
Von Christian Modehn

– angesichts des Besuches des Papstes in Barcelona am 8. 11.2010 dürfte dieser Beitrag von Interesse sein-
Katalonien mit der Hauptstadt Barcelona ist eine besonders ehrgeizige Region in Spanien: Ökonomisch in guter Verfassung, fördert die Landesregierung nicht nur kulturelle Innovationen im Bereich von Literatur und Theater. Sie will auch die Religionen fördern und dafür sorgen, dass sich alle Konfessionen frei und gleichberechtigt entfalten können. Aus diesem Grund hat die sozialistische Regierung vor acht Jahren – einmalig in Europa – das staatliche Büro für religiöse Angelegenheiten geschaffen. Es wird von der Philosophin Montserrat Coll geleitet, die der linken Partei ERC nahesteht. Die ERC setzt sich für einen eigenständigen katalonischen Staat ein.

In Katalonien sind 13 verschiedene Religionen vertreten, darunter Buddhisten und Hindus, Juden und Sikhs, Baha’i und Taoisten sowie einige evangelische und orthodoxe Kirchen. Der Anteil der einst dominierenden Katholiken nimmt kontinuierlich ab. Jeder zehnte Einwohner Barcelonas nennt sich »Atheist«. Bei den lateinamerikanischen Immigranten werden die evangelischen, zum Teil pfingstlerischen Freikirchen immer beliebter.

Alle diese Gemeinschaften will das Amt für religiöse Angelegenheiten beraten und unterstützen, etwa wenn sie Bauland für ihre Kirchen und Tempel benötigen oder Hilfe bei sozialen Projekten erforderlich ist. Doch diese Unterstützung erfolgt nur unter klaren Bedingungen: »In Katalonien haben alle Religionen die Trennung von Politik und Glaube anzuerkennen. Religiöse Vorschriften dürfen niemals staatliches Gesetz werden«, sagt Montserrat Coll.

Diese Forderung ist vor allem auf die muslimischen Gemeinden gemünzt: Die Scharia darf keine Gültigkeit haben. »Allerdings kann sich jeder und jede so kleiden, wie es der eigenen religiösen Tradition entspricht, unter der Bedingung, dass dabei nicht die Freiheit anderer beeinträchtigt wird.« Radikale Tendenzen sollen dadurch unterlaufen werden, dass der Staat sich um die Ausbildung Katalanisch sprechender Imame kümmert. »Die Religionen sollen ihre eigenen Werte einbringen, sie müssen aber das bürgerliche Zusammenleben respektieren und für die Integration ihrer Gläubigen in unserem Land sorgen. Das bedeutet für uns Laizität des Staates«, sagt die 56-jährige Politikerin, die sich selbst als progressive Katholikin bezeichnet.

Erst kürzlich organisierte das Amt für religiöse Angelegenheiten »Tage der offenen Tür« in etwa 100 muslimischen Gebetshäusern. Im Mai 2005 wurde das Katolanische Parlament der Religionen einberufen: 800 Vertreter aller Konfessionen kamen zusammen. Einmal mehr musste die katalonische Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass oft noch verfeindete Religionen durchaus auch partnerschaftlich miteinander umgehen können. Ohne staatlichen Einsatz wäre das nicht möglich gewesen. »Die Tatsache, dass es dieses staatliche Amt für Religionsfragen gibt, ist ein klares Zeichen dafür, dass die sozialistische katalonische Regierung die Notwendigkeit und Bedeutung von Religion in der sogenannten postsäkularen Gesellschaft anerkennt«, meint der deutsch-katalonische Philosoph Alexander Fidora aus Barcelona. »Ich sehe darin eine Chance: Es wird Druck auf die religiösen Gemeinschaften ausgeübt, im politischen Diskurs die eigenen Positionen und religiösen Überzeugungen für alle verständlich darzustellen.«

Da die meisten Religionen ökonomisch und personell zu schwach sind, um auf breiter Ebene den interreligiösen Dialog organisieren zu können, müssen auch konfessionell neutrale Gruppen aktiv werden: So bemüht sich zum Beispiel Unesco CAT (CAT steht für Katalonien) seit 1999 um eine Überwindung des Konfessionalismus und Fundamentalismus an der Basis. »Unsere Vereinigung will durch den interreligiösen Dialog für den sozialen Frieden sorgen. Dabei werden wir von der Landesregierung finanziell unterstützt. Unsere Mitglieder gehören verschiedenen Religionen an«, berichtet der Geschäftsführer des Vereins, der Religionswissenschaftler Francesc Torradeflot. »Evangelische Pfarrer sind dabei und Rabbiner, katholische Priester und Laien sowie buddhistische Mönche. Selbst die Muslime machen mit. Und auch Organisationen der Atheisten nehmen am Dialog teil, es haben sich schon Freundschaften zwischen Atheisten und Christen in unserem Verein gebildet.«

Über diese Erfahrungen wird in der Zeitschrift Dialogal berichtet. Sie wird von Unesco CAT herausgegeben und vom Amt für religiöse Angelegenheit finanziert. Dialogal vertieft aus religionswissenschaftlicher Perspektive die Kenntnisse über die Weltreligionen, berichtet über religiös bedingte Konflikte weltweit, aber auch über interreligiöse Gesprächskreise in den Haftanstalten Kataloniens oder über wissenschaftliche Diskussionen im Kloster Montserrat bei Barcelona.

Am wichtigsten ist die Vereinsarbeit in den Neubauvierteln am Rande der großen Städte. Dort kümmern sich Teams von Pädagogen, Religionswissenschaftlern und Psychologen um den sozialen Frieden. Sie schalten sich ein, wenn es Konflikte gibt, wenn sich arabisch geprägte Jugendliche mit Spaniern prügeln. »Unsere Mediatoren gehen in die sogenannten schwierigen Wohnviertel und besuchen alle religiösen Gruppen des Stadtteils«, berichtet Francesc Torradeflot. Sie arbeiten mit der Stadtverwaltung und den verschiedenen religiösen Gemeinden zusammen.

Inzwischen gibt es ein weltweites Netzwerk »religionswissenschaftlicher Mediatoren in Krisengebieten«. Die Teams der Friedensstifter in Barcelona plädieren dafür, in allen Schulen den Religionskunde-Unterricht einzuführen, der über alle Religionen objektiv informiert. Wer nur den konfessionellen Unterricht erlebe, sei dem religiösen Pluralismus nicht gewachsen, heißt es. Die katalonische Regierung steht dem Projekt sehr positiv gegenüber. Doch die katholischen Bischöfe sind strikt dagegen. Sie berufen sich auf das Konkordat mit dem Vatikan, in dem der konfessionelle Religionsunterricht in Verantwortung der Kirche festgeschrieben ist.

Doch der interreligiöse Dialog kommt auch in der katholischen Kirche voran: Der Kardinal von Barcelona, Luis Martinez Sistach, empfing kürzlich eine Gruppe von Muslimen. Wenige Tage später nahm er sich Zeit, mit dem Dalai Lama zu sprechen. Beide betonten: »Der Dialog kann den Geist eines jeden Gesprächspartners reinigen sowie zum Mitleid mit den Ausgegrenzten führen.«

Eine “multireligiöse Kirche”

Größer als der Gott Calvins
Eine holländische Pfarrerin gründet eine interreligiöse Gemeinde für »Patchwork-Religiöse« und Menschen auf der Suche

Von Christian Modehn, ein Beitrag für PUBLIK FORUM am 27. August 2010.

Ich bin Christ, praktiziere Zen-Meditation und schätze die buddhistische Spiritualität. Mein Freund ist liberaler Jude, aber auch eng verbunden mit der muslimischen Sufi-Tradition.« Solche Bekenntnisse hört man jetzt immer öfter. Wenn Menschen nicht mehr einer Religionsgemeinschaft folgen, sondern verschiedene spirituelle Traditionen zu einer neuen Einheit verbinden, spricht man von »Patchwork-Religiosität«. Ob dabei dann wirklich Patchwork, zu Deutsch: Flickwerk, entsteht oder eine harmonische Neuschöpfung, hängt von der religiösen Sensibilität der Person ab.

»Genau diesen Menschen will ich ein Angebot der Vertiefung und Begegnung machen«, sagt die holländische Theologin Joan Elkerbout. »Ich lade sie ein, eine Gemeinde zu bilden.« Die 40-Jährige hat selbst erfahren, dass der protestantische Glaube ihrer Familie nicht genügte, um entscheidende Lebensfragen zu beantworten. »Welche meditative Praxis haben denn zum Beispiel Protestanten?«, fragt die Pfarrerstochter. »Und ist Gott, das Geheimnis des Lebens, nicht größer als der Gott Calvins?«

Zunächst hat Joan Elkerbout Sozialarbeit studiert. Sie gründete ein erfolgreiches Beratungszentrum zur Abwehr aggressiven Verhaltens in Schule und Familie. Aber dann zog es sie doch zurück zu ihrem ursprünglichen Interesse an der Religion: In den USA lernte sie im Rahmen des Interfaith Movement die Mystiker der großen Religionen kennen. Die Bewegung für den interreligiösen Dialog unterhält dort inzwischen eine Reihe von Meditationszentren, Treffpunkten und Ausbildungsstätten. Dort wird auch ein neuer Typ von Pfarrerinnen und Pfarrern ausgebildet: Die Studierenden werden mit den großen Religionen vertraut gemacht und lernen, Gottesdienste mit Elementen aus verschiedenen Traditionen zu feiern. Die künftigen Pfarrer werden unterwiesen, neue Riten zu gestalten mit Menschen unterschiedlicher Spiritualität.

Im vergangenen Jahr wurde auch Joan Elkerbout zur »Interfaith«-Pfarrerin ordiniert. »Das war für mich ein wunderbares Ereignis: Die große neugotische Riverside Church in New York war überfüllt, dort haben auch Martin Luther King und Nelson Mandela schon gepredigt.« Die Feier ihrer Ordination wurde von Vertretern aller großen Weltreligionen begleitet. Auch die afrikanischen Religionen waren dabei, niemand sollte ausgeschlossen sein: »Denn uns geht es darum, das Gemeinsame und Verbindende aller spirituellen Traditionen freizulegen und zu fördern.«

Ihrer holländischen Gemeinschaft hat Joan Elkerbout den Namen Renais-Sense-Movement gegeben – ein anspruchsvoller Titel. Es geht um eine Art Wiedergeburt der Toleranz, um eine religiöse »Renaissance«. »Sense« steht für die Suche nach einem neuen Sinn der vielen Weisheitstraditionen. In ihren Gottesdiensten trägt Elkerbout Texte aus verschiedenen heiligen Schriften vor. »Dann schweigen und meditieren wir gemeinsam. Wir haben Rituale mit Licht und in der Natur, wir bieten sakralen Tanz. Es geht einzig darum, dem gemeinsamen Lebensgrund nahe zu kommen, den viele Gott nennen.«

Als einen ihrer Inspiratoren nennt Elkerbout den katholischen Mönch Wayne Teasdale (1945-2004). Er war nicht nur mit dem Philosophen Ken Wilber gut bekannt, sondern auch mit dem verstorbenen Benediktinerpater Bede Griffith, der viele Jahre in einem Ashram in Indien lebte, ganz dem Dialog mit den Hindus hingegeben. »Teasdale, der auch mit dem Dalai Lama befreundet war und sich für das Parlament der Weltreligionen eingesetzt hat, lehrte uns, dass die Zukunft der Menschheit im Dialog liegt, nicht im Konfessionalismus.«

Das neuartige Angebot einer multireligiösen Gemeinde ist auch eine ganz eigene Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung in Holland. Über die Hälfte der Menschen dort gehört keiner Kirche an, gibt sich aber in Umfragen »als spirituell interessiert« zu erkennen. »Friede beginnt damit, sich auch der Weltanschauung des anderen zu öffnen, von ihm zu lernen«, sagt Elkerbout. »Nur so wird Fremdheit überwunden. Die Basis erleben wir schon jetzt in der Gemeinde: Sie heißt nicht Lehre und Dogma, sondern Mitgefühl und Liebe.«

Die ersten Gottesdienste der neuen interreligiösen Gemeinschaft fanden in den Kirchen der freisinnigen Protestanten, der Remonstranten, statt. Je stärker aber die Bewegung wächst, umso dringender werden wohl eigene »Tempel«. Die interreligiöse Gemeinde könnte ein wichtiges Angebot in einer Gesellschaft werden, die rechtslastigen Politikern und erklärten Muslim-Feinden wie Geert Wilders immer stärkeren Raum gibt. Das Klima von Hass und Vorurteil zu überwinden ist eine dringende Aufgabe, der sich die großen Kirchen Hollands bisher nicht gestellt haben.

Kontakt: www.renaissensemovement.nl

“Mit sich selbst zu Rate gehen”: Philosophische Praxis

„Mit sich selbst zu Rate gehen“: Philosophische Praxis

Philosophie ist niemals nur eine Sache der Universitäten (oder, wie in Frankreich, der Schulen) gewesen. Aber erst in den letzten 30 – 40 Jahren lebt das Philosophieren und damit die Philosophie wieder deutlicher an der „Basis“. Diesen wichtigen Prozess begleiten und unterstützen vor allem philosophische Praktiker. Der Religionsphilosophische Salon bietet ein Interview mit Dr. Thomas Polednitschek, er ist philosophischer Praktiker in Münster. Im August 2010 hat er an der „10. Internationalen Konferenz Philosophischer Praktiker“ teilgenommen.

Welches Thema stand diesmal im Mittelpunkt?

Im Mittelpunkt der diesjährigen Konferenz im niederländischen Leusden stand das Thema “Erfahrung”. Philosophische Praktiker aus verschiedenen europäischen Ländern, aus den USA, aus Lateinamerika, Afrika und aus Korea diskutierten dieses Thema in zahlreichen angebotenen “Workshops”. Interessant z. B. der Workshop eines Praktikers aus Botswana, der junge Offiziersanwärter in der Armee “hinter” allem Gehorsam gegenüber der Befehlsgewalt mit seiner Arbeit zu autonom denkenden und selbstverantwortlich handelnden militärischen Führungskräften ausbilden will.

In welcher Weise wurden dabei unterschiedliche (internationale) Themen und Formen der “praktisch-philosophischen Arbeit” deutlich? Gibt es sozusagen “regionale Unterschiede”?

Ja, meiner Beobachtung nach gibt es diese Unterschiede durchaus, und zwar — oberflächlich betrachtet – zwischen einer mehr oder minder pragmatisch ausgerichteten anglo-amerikanischen Tradition und der kontinental-europäischen Denktradition. Für mich hat sich aber auf der Konferenz der Unterschied anders dargestellt, nämlich auf der einen Seite die Praktiker , die nur die “Denkwürdigkeit” der Praxis akzeptieren, nicht aber die praktische Relevanz der Theorie und auf der anderen Seite die Praktiker, die auf der Dialektik von Theorie und Praxis, von Denken und Erfahrung bestehen. Das ging nicht ohne Spannungen ab.

Sind Philosophische Praktiker “nur” in eigenen philosophischen Praxen tätig?

Nein, Philosophische Praktiker sind nicht nur in eigener Praxis, sondern z.B. auch mit Seminaren zu ethischen Fragestellungen im Wirtschaftsleben oder im Bildungssektor tätig. Dazu gehört z.B. in meiner Praxis die Seminarreihe” Was uns zu freien Menschen macht”. Hier werden “Schlüsselfiguren” unserer okzidentalen Denktradition auf ihr Freiheitsverständnis hin befragt. Es ist ja heute alles andere als von vornherein immer schon ausgemacht, wovon wir sprechen, wenn von der “Freiheit” die Rede ist.

Ist die Hauptaufgabe philosophischer Praxis die “Lebensberatung”?

Nein, die Hauptaufgabe Philosophischer Praxis ist nicht die Lebensberatung! Denn — entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis – muss man sagen: Die Sache der Philosophischen Praxis ist nicht die Praxis der philosophischen Beratung, sondern die Sache der Philosophischen Praxis ist die Philosophie, zu der Philosophische Praxis mit ihrer Praxis des Philosophierens einen ganz neuen und eigenen Beitrag leistet! Philosophische Praxis hat nichts mit philosophischer Beratung zu tun, sondern mit der Praxis des Philosophierens, die es ihren Gästen oder Besuchern möglich macht, mit sich selbst zu Rate zu gehen. Die “Praxis des Philosophierens” und das dialogische Denken im Gespräch zwischen dem Praktiker und seinem Gast sind die zwei Seiten der einen Medaille.

Worin sehen Sie als philosophischer Praktiker die Bedeutung der Philosophie für die Lebensgestaltung des einzelnen?

“Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneide.” (Nietzsche). Die Bedeutung der Philosophie für die Lebensgestaltung des einzelnen sehe ich in einem philosophischen Denken, das “ins Leben eingreift” (Safranski). Eben ein solches Denken will die Praxis des Philosophierens in einer Philosophischen Praxis sein, denn Philosophische Praxis ist an einem Denken interessiert, das Menschen vitaler und wacher macht.

Weitere Informationen zue Philosophischen Praxis von Thomas Polednitschek:

http://www.pppolednitschek.de

Christen und Muslime gemeinsam auf Wallfahrt

Christen und Muslime gemeinsam auf Wallfahrt

Können Christen und Muslime gemeinsam in Westeuropa eine Wallfahrt unternehmen? Können Sie sich gemeinsam an einem Ort versammeln und dann einen christlichen Gottesdienst feiern und danach gemeinsam einer Lesung aus dem Koran folgen? Das ist keine rhetorische Frage: In der Bretagne, Frankreich, im Ort Vieux – Marché an den Cotes d Armor treffen sich schon seit 56 Jahren Menschen, die konfessionell zwar getrennt, aber doch in der grundlegenden Frage nach dem EINEN Gott gemeinsame Überzeugungen haben: Christen und Muslime. Immer an einem Juli Wochenende kommen einige hundert Pilger aus beiden Religionen zusammen. Äußerer Anlass ist die Erinnerung an 7 junge Männer, die im 3. Jahrhundert in Ephesus lebten. Während der Christenverfolgung wurden sie bei lebendigem Leib eingemauert, aber sie überlebten, so berichtet die Legende. Davon waren Christen wie Muslime später gleichermaßen beeindruckt. Muslime sehen im Überleben der Frommen einen Beweis für die Allmacht Allahs. In einer Sure des Koran werden die 7 Männer erwähnt. Das Wallfahrtsgeschehen verlagerte sich von Ephesus in die Bretagne…
In den letzten Jahren hat sich die Wallfahrt nach Vieux Marché zu einem Treffpunkt für Menschen entwickelt, die in christlich – muslimischen Mischehen leben. Hier können sie sich austauschen, gemeinsam feiern und an Konferenzen und interreligiösen Treffen teilnehmen. „Ein religiöses Ereignis zu haben, das uns gemeinsam ist, entspricht völlig unserem Wunsch, als christlich- muslimisches Paar eine gemeinsame spirituelle Basis zu haben“, berichtet Saida in der Tageszeitung La Croix, Paris, vom 22. 7. 2010. Inzwischen gibt es auch eine christlich – muslimische Wallfahrt nach Chartres. Frankreich scheint in der Hinsicht ohnehin etwas weiter entwickelt zu sein als Deutschland: Dort gibt es in zahlreichen Städten Gesprächskreise „Groupes de foyers islamo-chrétiens” (GFIC). Das Verhältnis zwischen beiden Religionen scheint dort etwas entspannter zu sein. Ich kann mich z.B. erinnern, wie ein Muslim kürzlich sein Abendgebet in einer Seitenkapelle der prächtigen Kirche Saint Sulpice in Paris ungestört gestalten konnte. Ob es wohl jemals in Deutschland gelingt, dass eine der leerstehenden Kirchen den Muslimen übergeben wird als Moschee? Ob es wohl jemals in Deutschland gelingt, dass eine der vielen leerstehenden Kirchen als Treffpunkte für Christen und Muslime gestaltet werden, vielleicht mit einem Wallfahrtsgeschehen oder gemeinsamen Konferenzen usw.? Warum ist die Last der christlichen dogmatischen Traditionen so groß, dass Christen nicht den ersten Schritt auf die Muslime hin tun können? Lieber werden Kirchen abgerissen oder verkauft als dass sie Muslims angeboten werden oder neue Konzepte interreligiöser Arbeit probiert werden. Diese geringe Kreativität, diesen geringen Mut, aufseiten der Kirchenführungen, empfinden viele Menschen einfach unerträglich. Einzige mir bekannte Ausnahme: Die Moschee in der Rozengracht in Amsterdam, nahe dem Anne Frank Haus, war früher eine Kirche…
PS: Ich habe übrigens in meinem Buch „Religion in Frankreich“, Güterlsloh, 1993, auf S. 137 f. als einer der ersten in Deutschland überhaupt auf diese gemeinsame Wallfahrt in der Bretagne hingewiesen. Das Buch „Religion in Frankreich“ ist noch antiquarisch zu haben.

Humanistischer Islam. Menschenrechte sind wichtiger als die religiösen Gesetze

Für einen humanistischen Islam
Wenn Menschenrechte wichtiger sind als Gottes Gebote

Von Christian Modehn
Diesem Beitrag liegt eine Ra­dio­sen­dung für den NDR zugrunde.

„Ich habe persönlich nichts gegen den Koran. Ich bin damit aufgewachsen. Ich hab wohl etwas dagegen, dass man mit diesem Buch oder im Namen dieses Buches Menschen unterdrückt“.
Hamed Abdel – Samad weiß genau, wovon er spricht: 1972 in einem Dorf in Ägypten geboren, lernte er schon als Kind große Teile des Korans auswendig, eine Ehrensache für den Sohn eines Imams. Aber „Allah, der Barmherzige“, stand dem Knaben nicht bei, als Männer über ihn herfielen und vergewaltigen. Anzeige zu erstatten war unmöglich in einer Kultur, die jegliches Sprechen über Sexualität als ein Tabu betrachtet. Der Alltag war von Gewalt bestimmt: Der Hausvater durfte die „eigenwillige“ Mutter verprügeln und die Kinder „selbstverständlich“ auch. Mädchen mussten die Genitalverstümmelung über sich ergehen lassen, weil die Gebote des Korans es angeblich so verlangten. Erst in Europa hat sich Abdel – Samad aus der religiösen Unterdrückung befreien können. „Mein Abschied vom Himmel“ heißt sein neues Buch. Es ist ein Plädoyer für einen aufgeklärten, einen menschenfreundlichen Islam:
„Keine Kultur kann sich entwickeln, ohne sich anderen Kulturen gegenüber zu öffnen. So ging es allen Kulturen der Moderne, sie mussten sich dem Westen öffnen. Und nicht nur die Instrumente der Moderne, sondern auch den Geist der Moderne ausleihen. Das bedeutet Individualismus, Einhaltung der Menschenrechte, Selbstkritik“.
Seit 13 Jahren lebt Hamed Abdel – Samad in Deutschland. Hier hat er die demokratische Kultur des Westens schätzen gelernt, in München arbeitet er inzwischen als Politologe und Islamforscher. Sein arabischer Name bedeutet: „Dankbarer Sklave Gottes“. Dieser Bezeichnung will er heute nicht mehr entsprechen. Hamed Abdel – Samad schreibt in seinem Buch:
„Ich nahm Abschied von einem Glauben, der Andersdenkende und Andersgläubige schikaniert und die eigenen Anhänger in die Isolation treibt, so dass sie keine Antworten mehr auf das Weltgeschehen finden außer Wut und Verschwörungstheorien. Dieser Glaube macht die Menschen entweder passiv oder explosiv“.
Diese lebensfeindliche Alternative gilt es zu überwinden in einer radikalen Erneuerung des Islams:
„Ich würde es mir wünschen, dass mehr muslimische Intellektuelle in Europa sich für diese Reformen einsetzen. Ich sehe aber, dass viele von ihnen mit sich selbst beschäftigt sind, mit der bedingungslosen Verteidigung des Islam. Das hilft niemandem, das hilft Muslimen nicht, das hilft Europäern nicht. Wir haben hier eine privilegierte Situation, dass man in Freiheit lebt, dass man schreiben und sagen kann, was man will. Und statt sich für Reformen in der islamischen Welt einzusetzen, sind viele leider Gottes damit beschäftigt, das Islam Image aufzupolieren“.
Im deutschsprachigen Raum ist der Kreis der Reformer des Islams nicht sehr groß. Nur einige Intellektuelle treten in öffentlichen Debatten hervor. Die so genannte Basis, die „normalen Frommen“ und die Besucher von Moscheen, äußern sich kaum über die Qualität muslimischer Theologie. In der Schweiz allerdings gibt es seit 5 Jahren eine Art Bürgerbewegung für einen humanistischen Islam. Saida Keller – Messahli, in Tunesien geboren, hätte eigentlich in ihrer neuen Heimat, in Zürich, genug zu tun als Lehrerin für Romanistik. Aber sie wollte praktisch beweisen, dass es auch einen anderen, einen progressiven Islam geben kann.
„Mir wurde einfach klar, dass ich immer Unbehagen hatte, wenn ich Vertreter von islamischen Organisationen in der Schweiz hörte im Namen aller Muslime sprechen. Das hat mich unheimlich gestört. Weil die haben auch über mich gesprochen, für mich, und ich wollte das einfach nicht mehr. Und dann hab ich mir gesagt: jetzt mach du auch etwas, du kannst nicht nur klagen“,
Und so gründete Saida Keller Messahli das „Forum progressiver Islam“: In dem Gesprächskreis treffen sich Muslime, die den Glauben an Allah mit der demokratischen Kultur versöhnen wollen:
„Ich hatte diese Idee, dieses Forum zu gründen und hatte sehr viele Schwierigkeiten, Leute davon zu überzeugen. Die Reaktion war sehr ambivalent. Sicher dreiviertel der Leute, die ich gefragt, sagten: Wir müssen unbedingt so etwas machen. Aber: Ich würde mich nie getrauen, das zu machen. Also, die Angst vor den organisierten Muslimen! Und als ich merkte, das viele Angst haben, war mir wie zusätzlicher Antrieb, unbedingt das zu machen. Weil ich dachte, das kann es ja nicht sein, dass alle schweigen“.
Inzwischen setzen sich 150 Frauen und Männer in der Schweiz für einen humanistischen Islam ein. Ihnen ist das kritische Studium des Korans besonders wichtig:
„Diese heilige Schrift ist aus dem 7. Jahrhundert, und wir leben im 21. Jahrhundert. Und es kann nicht sein, dass wir die Entwicklung von 1400 Jahren in der Menschheitsgeschichte einfach ignorieren. Das heißt: Wenn diese Vorschrift sagt: Einem Dieb muss man den Arm abhacken, das macht man heute in Saudi Arabien oder in Afghanistan oder in Pakistan, dann sagen wir: Das darf nicht sein: Jeder Mensch ein schützenswertes Menschenrecht auf körperliche Integrität hat. Also ist diese Vorschrift wegzuschaffen. Menschenrechte, demokratische Regeln und internationales Recht sollen höher gewertet sein und stehen höher als jede religiöse Vorschrift“.
Die Reformvorschläge könnten radikaler kaum sein: Menschenrechte sollen im Islam wichtiger sein als religiöse Gesetze. Und die menschliche Vernunft soll darüber entscheiden, welche religiösen Traditionen heute noch Gültigkeit haben. Nur in dieser Haltung glaubt Saida Keller – Messahli den religiös gefärbten islamischen Extremismus abwehren zu können:
„Der Missbrauch dieser heiligen Schrift ist enorm. Wer ist schon demokratisch an die Macht gekommen? Niemand. Jedes Staatsoberhaupt legitimiert seine Macht durch Gott“.
Die Reform – Muslima erinnert sich bei aller Kritik gern an die Traditionen eines menschenfreundlichen islamischen Glaubens.
„Meine Eltern konnten weder lesen noch schreiben. Und dennoch: Ich vermisse ihre Haltung zur Religion so stark wie nie. Sie haben den Islam so humorvoll gelebt. Mein Vater trank sehr gern Wein z.B. Und wenn ihm einer wagte zu sagen, warum trinkst du? Dann sagte er: Hör mal zu: Glaube hat gar nichts damit zu tun, was ich in meinem Glas habe. Belästige mich nicht mehr. Mein Vater war Bauer, meine Mutter Hausfrau, und haben für sich die Haltung entwickelt, dass man die Großzügigkeit haben muss zu akzeptieren, dass ein anderer Religion anders macht“.
…und eben auch andere Kleider trägt als seine Nachbarin:
„Mein Problem ist, dass jene Frauen, die die Burka tragen, mich diskriminieren. Und das kann ich nicht akzeptieren, Wenn sie das einfach für sich machen würden. Das Problem ist, dass sie das im öffentlichen Raum tun und immer mit dem immanenten Vorwurf gegen alle anderen, die das nicht so machen. Es gibt Kopftuch und Kopftuch. Es gibt Kopftücher, die sind politisch dermaßen aufgeladen, die empfinde ich als Affront. Und es gibt ein Kopftuch, so wie es meine Mutter trägt, wo man die Haare auch sehen darf, das überhaupt nicht politisch aufgeladen ist“.
Aber die politischen Machthaber haben einen totalen Anspruch: Über ihre Kleider Vorschriften wollen sie auch die Sexualität kontrollieren.
„Die ganze Verhüllungsgeschichte, das machen sie, weil sie ein riesiges Problem mit der Sexualität haben im Leben. Und dieses Problem ist so gigantisch, es findet hinter der Kulisse statt und nur nach ganz bestimmten festgelegten Regeln, also vor der Ehe nicht, nach der Ehe nicht. Dadurch haben diese jungen Männer keine Möglichkeit, eine Erfahrung zu machen mit einer Frau, weil die Frau darf auch keine Sexualität aus leben vor der Ehe. Und sehr oft sind die Männer von Natur aus gar nicht homosexuell, sondern sie haben keine andere Wahl, als ihre sexuellen Erfahrungen mit einem Mann zu machen, d.h. sie werden gezwungen, etwas zu machen, was sie gar nicht wollen. Das ist politisch bedingt und auch sozial bedingt“.
Die Reform des Islams kann auf die freie Aussprache über die Sexualität und die Rechte der Frauen niemals verzichten. Manchmal können solche Gespräche auch in der Öffentlichkeit arabischer Länder angestoßen werden. Die Politologin Elham Manea hat das erlebt. Sie stammt aus dem Jemen; auf beinahe wunderbare Weise konnte sie ihr Buch über die „Frauenfrage im Islam“ noch in der muslimischen Welt veröffentlichen:
„Dass ich das gemacht habe auf Arabisch, publiziert in Beirut, aber auch in Jemen, war einfach klar und deutlich meine Meinung betreffend Frauenrechte, Frauensituationen in unserer Gesellschaft klar und deutlich zu sagen.
Es wurde als Skandal betrachtet am Anfang, aber die Tatsache, dass ich das überlebte, hat mir wie einen Schwupps gegeben.
Vor dem 11. Sept. habe ich nichts gesagt. Ich habe einfach geschluckt,
Wenn man nicht dagegen steht, dann macht man mit auch“.
Elham Manea lebt inzwischen in der Schweiz, auch sie ist Mitglied des Forums für einen humanistischen Islam. Die Kritik an einem machtvollen Islam ist für sie selbstverständlich; aber sie legt Wert darauf, nicht mit einer Atheistin, einer „Ex-Muslimin“ verwechselt zu werden.
„Es geht um humanistischen Islam, d.h.in unserer Freiheit unser Leben zu gestalten, wie wir wollen“.
Elham Manea hat ihre Lebensphilosophie in ihrem Buch „Ich will nicht mehr schweigen“ auf den Punkt gebracht:
„Ich bin in erster Linie Humanistin, dann Araberin und an dritter Stelle Muslimin“.
Als Dozentin an der Universität Zürich hat sie den Mut, öffentlich das dringendste Thema zu besprechen, die „Natur“ des Korans, seine Textgestalt.
„Wenn wir eine Reformation wirklich durchsetzen wollen, dann müssen wir auch mit der Natur des Koran umgehen. Es geht um eine menschliche Natur von dem heiligen Text. Die Koranverse wurden von Menschen gesammelt, von Menschen geschrieben“.
Worte, die für die meisten Muslime heute als einen Skandal empfinden. Denn sie werden seit Jahrhunderten von ihren Herrschern belehrt: Der Koran sei eine völlig eigenständige Literaturgattung, sie entziehe sich dem vernünftigem Begreifen des Menschen. Als „ewiges Wort Gottes“ sollte man den Text nicht in den Zusammenhang der Geschichte stellen. Aber gerade davon sind heute humanistische Islamtheologen überzeugt. Weltweit bekannt ist z.B. der Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid. Er plädierte schon 1990 in seiner Heimat für eine menschliche Verstehensweise des „Heiligen Buches“. Ihm gelang der Nachweis, dass mehrere Autoren die einzelnen Verse des Korans zu einem Buch zusammengefügt haben. Wegen dieser historisch – kritischen Koranlektüre wurde Abu Zaid als Apostat, als Atheist, verurteilt, er musste nach Holland fliehen. Heute ist er Professor an der Humanistischen Universität von Utrecht:
„Mein Konzept eines humanistischen Islam besteht darin, die wirklich menschlichen Elemente des Korans aufzuzeigen. D.h. wir gehen zum Text zurück und entdecken dabei, was noch bedeutsam ist für unsere heutige moderne Zeit. Dabei kann nur die Vernunft entscheiden, was wirklich Offenbarung Gottes ist. Wir müssen dringend daran weiter arbeiten! Wir müssen diese Fragen weiter pflegen, um gegen die Tabus zu kämpfen“.
Die Autoren des Korans konnten wie alle anderen spirituellen Schriftsteller gar nicht anders, als ihre eigenen begrenzten Traditionen mit allgemein gültigen Weisheitslehren zu vermischen. Historisch Bedingtes muss nun von bleibend Gültigen unterschieden werden. Daran arbeiten die Reformer des Islams heute. Einer von ihnen ist Rachid Benzine, er stammt aus Marokko und lehrt heute als Islamwissenschaftler im französischen Aix en Provence:
„Unsere Dogmen wurden in der Geschichte erarbeitet, sie sind die Ergebnisse der Geschichte, sie sind an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem universalen Gedanken des Korans und seiner historischen Sprache. Es muss ein neues Verständnis des Korans entstehen, einen neuen Horizont, in dem sich sein Sinn zeigt, eine neue Hoffnung gerade für Leute, die heute an ihm verzweifeln. Denn im Namen unumstößlicher Wahrheiten hat man Menschen ermordet, die nicht die gleiche Glaubenswahrheit teilen. Wir müssen heute verstehen, dass es keine Religion gibt, die vollständig wahr oder vollständig falsch ist. Wir müssen die Relativität der Glaubenssysteme erkennen. Wenn wir unsere religiösen Texte betrachten, die sich als Wort Gottes verstehen, dann gibt es immer darin angeblich Worte des Lebens, die sich aber in Worte des Todes verwandeln“.
Vorbilder für ihre tolerante Glaubenshaltung finden die Islam Reformer in der weiten Vergangenheit, etwa bei den Sufi Mystikern im Mittelalter, wie z.B. bei Ibn Arabi, der im 12. Jahrhundert in Andalusien lebte und dort schrieb:
„Mein Herz ist bereit zur Aufnahme von jeder religiösen Form. Mein Herz wurde ein Kloster für Mönche, ein Tempel für heidnische Götter und die Kaaba des muslimischen Pilgers, mein Herz wurde ein Platz für die Tafeln der jüdischen Tora und der Lehren des Korans. Ich folge einzig der Religion der Liebe“.
Diese mystischen Traditionen der religiösen Toleranz gingen im Islam nie ganz verloren. Und auch das kritische Forschen ist nie ganz verloren gegangen. Aber Islam – Wissenschaftler riskierten ihr Leben, als sie schon Anfang des 20. Jahrhunderts den Koran als einen literarischen Text interpretierten, wie die Professoren Al-Khuli oder Ahmand Kalafallah in Ägypten.
Die heutigen Reformer des Islams arbeiten eng mit nicht – muslimischen Wissenschaftlern zusammen. Georges Tamer z.B. arbeitet an der Ohio State University. Er ist Christ und stammt aus dem Libanon. In Deutschland hat er Islamwissenschaften studiert. Tamer setzt sich mit fundamentalistischen Strömungen auseinander, die behaupten: Heutige Herrscher in arabischen Staaten müssen Weltliches und Religiöses in einer Hand vereinen. Professor Tamer:
„Nur zu Zeiten des Propheten waren die Belange des Staates und einer religiösen Gemeinschaft in einer Hand. Das ist aber die prophetische Ära im Islam. Der Anspruch, dass man beides in einem haben müsse, ist einfach der Anspruch, die prophetische Ära wieder zu beleben. Und das kann nicht möglich sein, weil man dafür einen Propheten braucht. Und es gibt im Islam die Lehre, dass Mohammed der letzte Prophet ist. Die prophetische Ära ist auch nach gutem islamischen Verständnis schon vorbei. Und nicht wiederholbar“.
Eine fundamentalistische Verschmelzung von weltlicher Herrschaft und religiöser Führung verbietet der Koran, eine Erkenntnis, die für Länder wie den Iran oder Saudi Arabien wie eine Art Kriegserklärung erscheinen muss. Der Staat, so heißt es dort, solle völlig von der Scharia, dem religiösen Gesetz, bestimmt sein. Wie reagieren die Studenten, wenn diese Ideologie zurückgewiesen wird? Professor Tamer:
„Es ist immer beim ersten Mal ein Schock. Aber wenn man intensiver ins Gespräch einsteigt und auf Dauer wirken solche Gespräche einiges. Es hat Auswirkungen auch in muslimischen Gesellschaften. Ich bin davon überzeugt, dass solche Bemühungen ausstrahlen“.
Über das Internet werden diese weltweit verbreitet. Auch das gebildete Publikum in der arabischen Welt verlangt förmlich nach wissenschaftlichen Informationen. Hamded Abdel – Samad musste sein Buch „Abschied vom Himmel“ allerdings offiziell einen „Roman“ nennen, um vor der ägyptischen Zensur bestehen zu können:
„Also ich spreche nicht nur in islamischen Kreisen in Deutschland darüber. Ich spreche in Ägypten und in arabischen Ländern. Ich schreibe auch darüber wöchentlich in einer ägyptischen Zeitung. Und das, was ich hier sage, sage ich in der islamischen Welt. Ich habe auch viel Wert darauf gelegt, dass das Buch zuerst auch in Ägypten erschienen war“.
Mit den Islam Reformern im Westen arbeiten bereits einzelne Wissenschaftler in arabischen Ländern zusammen. Saida Keller Messahli berichtet von einer befreundeten Islam Spezialistin in Nordafrika:
„Die forscht auch über Tabuthemen, und macht das clandestin. D.h. ihre Forschung darf sie nicht gegen außen vertreten. Sie forscht über Apostasie. Das ist ein absolutes Tabu. Wenn jemand von Ihnen erfährt, dass sie sich offiziell von Gott verabschiedet haben, dann riskieren sie ihr Leben. Und sie trifft diese Leute, zuerst anonym, sie schickt ihnen Fragebogen, und spielen sich sehr viele Tragödien ab in diesem Sinn“.
Die Vertreter des humanistischen Islams sind vor allem Kritiker ihrer Religion. Aber sie fühlen sich als Demokraten immer auch den Menschenrechten verpflichtet und damit der Religionsfreiheit. Darum erheben sie nach wie vor ihre Stimme, etwa gegen den Baustopp von Minaretten etwa in der Schweiz:
„Man kann nicht den Bau eines Minaretts in der Verfassung verbieten. Religionsfreiheit heißt nicht nur, seine Religion frei wählen zu können, es heißt auch, seine Religion praktizieren u können.
Ich hab sehr viel auszusetzen an islamischen Organisationen in der Schweiz, das ich tu ich regelmäßig. Aber man kann nicht ein Menschenrecht beschneiden mit der Begründung von Ehrenmorden oder was auch immer .Sie verhindern keine Ehrenmorde, wenn sie einen Turm verbieten“.
Wieder den Sinn für Nuancen entwickeln und Pauschalurteile zurückweisen: Elham Manea widerspricht in ihrem Buch „Ich will nicht mehr schweigen“ z. B. dem beliebten Klischee, „die“ Terroristen aus der arabischen Welt seien nur „islamisch“ geprägt:
„Die Menschen, die diese Gräueltaten begingen, benutzten den Islam als Rechtfertigung für ihr Handeln. Aber die Verwendung des Adjektivs „islamisch“ trägt nicht dazu bei, den Feind greifbarer zu machen. Sie fördert lediglich seine Obskurität, was das Angstgefühl noch verstärkte“.
Denn die Terroristen sind vor aller religiösen Identität zuerst Mörder und Verbrecher, Menschen, die auf diese Weise ihre Frustration über die eigenen korrupten Herrscher oder die „westliche Dekadenz“ „abarbeiten“ wollen. …Angesichts dieser Verhältnisse erwarten die Reformer keinen unmittelbaren Erfolg ihrer Arbeit, betont Elham Manea:
„Ich werde nicht versuchen, die Generationen, die jetzt hier leben, zu ändern. Ich versuche eher die Jungen, die in die Schule gehen, zu ändern. Es ist wichtig, dass wir mit dieser Generation arbeiten, dass wir ihnen eine Alternative bieten.
Es gibt es die andere, die offen sind, die sind bereit, einen anderen Weg zu haben“.
Die Reformer des Islam sind nicht bereit, Demokratie und Menschenrechte nur als begrenzten Ausdruck ausschließlich westlicher Werte anzusehen. Sie sind überzeugt: Demokratie und Menschenrechte sind von universaler Bedeutung für alle Menschen, selbst wenn sie in einer bestimmten Tradition Europas entstanden sind. Und den Glauben des einzelnen in die Privatsphäre zu setzen, ist nicht bloß für Europäer oder Christen gültig: Saida Keller Messahli:
„Die Glaubensfrage ist eigentlich die intimste Frage, die man jemandem stellen kann. Es ist immer ein Missverständnis zu meinen, das Intimste sei der Körper. Das ist ein absolutes Missverständnis. Das Intimste ist die Glaubensfrage, d.h. jene Frage, die ein Mensch zuinnerst mit sich herumträgt, und diese Frage muss ich ja niemandem beantworten. Es ist mein Recht, diese Frage für mich zu behalten, nicht so dogmatisch zu glauben wie von mir erwartet wird. Ja, ich nehme mir diese Freiheit“.
Der Humanistische Islam wird Zukunft haben, weil sich die Muslime nicht mehr davon abbringen lassen, ihren eigenen, individuell gefärbten Glauben zu pflegen: Elham Manea:
„Ich glaube an Gott, ich glaube nicht an einen Text, ich glaube nicht an ein Buch. Ich glaube an Gott. Und es bleibt diese spirituelle Beziehung, trotz aller meiner Zweifel, aller meiner Rationalität bis heute. Religion lebt noch, aber in verschiedenen Formen privater Sphäre, man sieht einfach das nicht, das ist alles“.
In der „privaten“ Welt lebt die Religion, und dort bildet sich auch eine neue Spiritualität. Islam Reformer wie Hamded Abdel Samad stellen sich die Frage: Wie kann in dieser individualistischen Frömmigkeit Gott beschrieben werden?
„Das, was jeder für sich selber entdeckt, und nicht irgendjemand von oben, der das diktiert. Nicht der Patriarch, der über alles herrscht. Kein Gott, der nur diktiert, aber niemals verhandelt“.
Hamed Abdel – Samad hat sich von einem feudalistischen, wenn nicht diktatorischen Gottesbild befreit zugunsten eines Gottes, der als „oberster Garant der Demokratie“! verehrt werden kann. Dass diese Überzeugung keine neue ideologische Verblendung ist, steht außer Frage: Denn Gott, der Barmherzige, kann nur als Menschenfreund verehrt werden, wenn er tatsächlich in gleicher Weise aller Menschen Freund ist, vor allem der Unterdrückten. Aber diese Überzeugung heute öffentlich zu äußern, ist lebensgefährlich: In seinem Buch „Mein Abschied vom Himmel“ schreibt Hamed Abdel Samad:
„Vor dreizehn Jahren verließ ich Ägypten mit der Hoffnung, in Freiheit leben zu können. Nun bin ich sogar mitten in Europa auf Polizeischutz angewiesen, weil ich von meinem Recht auf freie Meinung Gebrauch mache. Ich bin lediglich Teil eines Konfliktes zwischen Absolutismus und Ambivalenz, Dogma und Vernunft, Monokultur und Vielfalt. Dieser Konflikt beschränkt sich allerdings nicht auf den Islam“.

Literatur:
Hamed Abdel – Samad, Mein Abschied vom Himmel. Fackelträger Verlag, Köln, 2009, 312 Seiten, 19.50 Euro.

Elham Manea, Ich will nicht mehr schweigen. Herder Verlag 2009, 200 Seiten. 17,95 Euro.

Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran. Herder verlag 2008, 235 Seiten. 15 Euro.

Haiti: Das uralte Gift des Rassismus

Die Diskussionen – auch in unserem religionsphilosophischen Salon –  über HAITI gehen weiter.  Die Katastrophe dort hatte schon vor dem Erdbeben begonnen: Der Mangel an jeglicher Infrastruktur behindert heute die Rettung und Aufbauarbeit. Gibt es auch Gründe für dieses Disaster im Bereich der Mentalitäten?

Das uralte Gift des Rassismus: Was Haiti im Innern zerstört

Von Christian Modehn

Für ihre Befreiung aus der Sklaverei hatten sie wahnsinnigen Mut aufgebracht. Ohne strategische Erfahrung glaubten die Schwarzen an den Erfolg ihres Aufstandes. Sie hatten die Gunst der Stunde erkannt und die revolutionäre Entwicklung in Frankreich mit der Erklärung der Menschenrechte für sich selbst genutzt. Selbst gegen Napoléon konnten sie sich durchsetzen, im Kampf gab tausende von Toten auf beiden Seiten. Die Befreiung aus der jahrhundertealten blutigen Sklaverei gelang nur mit einem enormen „Blutbad“. Das hat sich in das Gedächtnis des Volkes tief eingegraben. Am 1. 1. 1804 wurde die erste Republik auf dem südamerikanischem Kontinent ausgerufen. Gedemütigte, wie Tiere behandelte schwarze Sklaven hatten sich selbst befreit. Für die meisten Europäer war dies eine enorme Erniedrigung. Die USA sprachen sich schon 1806 für einen Handelsboykott aus. Als sich die vertriebenen französischen Eigentümer der Zuckerrohrplantagen gemütlich in Paris niedergelassen hatten, präsentierte der französische Staat eine furchtbare Rechnung: Die junge Republik der Schwarzen musste 150 Millionen (damaliger) Francs, umgerechnet 21 Milliarden US Dollar,  als „Entschädigung“ zahlen. Eine maßlose Summe, Ausdruck rassistischen Denkens, so sollten die befreiten Sklaven nun ökonomisch erneut zu versklavt werden.

Dabei waren die Kolonisten bereits zu immensem Reichtum gekommen, Haiti galt weltweit als die lukrativste Kolonie überhaupt. Aber die neuen „freien“ Herrscher in Haiti waren so eingeschüchtert, dass sie treu und brav die Zahlungen der „Wiedergutmachung“ leisteten.

Haiti war als freie Republik revolutionärer Sklaven von Anfang an auch diplomatisch völlig isoliert. Kein Staat respektierte das Land. Simon Bolivar, der berühmte „Befreier“ Venezuelas und Kolumbiens, fand 1815 Zuflucht in Haiti, später durften ihm noch schwarze Soldaten in seiner Heimat zur Seite stehen. Aber bei zunehmendem Erfolg ließ selbst er Haiti fallen. Die USA fürchteten, die Sklaven im eigenen Land könnten sich an Haiti ein Beispiel nehmen. Auch der Vatikan hat fast 60 Jahre gewartet, ehe er die Republik der Schwarzen anerkannte, obwohl deren Politiker immer wieder um Nonnen und Priester zum Aufbau eines guten Schulwesens gebettelt hatten. Die schwarzen Politiker galten den Päpsten als „zu aufmüpfig“…

Die Befreier Haitis waren seelisch tief verwundet nach all den Jahren der Sklaverei. Und sie folgten dem Denkschema ihrer Herren: der  Unterscheidung zwischen Oben und Unten, zwischen wertvoll und minderwertig. Schwarze bekämpften die wenigen im Land verbliebenen, etwas besser gebildeten Mulatten, und die wiederum verachteten die „dummen Neger“. Dieses rassistisch geprägte Gegeneinander durchzieht die politische Geschichte Haitis bis heute.

Schon in den ersten Jahren war das Land gespalten: In der Republik im Süden regierten Mulatten, im Norden hatten Schwarze ein Kaiserreich geschaffen, mit den absurdesten Formen eines Hofstaates etwa unter Jacques I., Henri I. oder Faustin I. Dieser verübte unsägliche Massaker an Mulatten. Seinen Spuren folgte der Gewaltherrscher Francois Dauvailier, ein Schwarzer, der von seiner „Tropen SS“, den Tontons Macoutes, vor allem Mulatten tötete. Ein Grund für das klägliche Ende des ersten frei gewählten Präsidenten, des Armenpriester Aristide, ist sicher auch die Ablehnung, die er, der Schwarze, von der reichen Oberschicht der Mulatten erfuhr. Die hatten sich in Pétionville nahe der Hauptstadt in ihren Luxusvillen eingebunkert. Beim Erdebeben blieben diese bestens ausgestatteten Paläste weithin verschont!

Der ökonomische Niedergang begann mit der Ablehnung der Schwarzen, weiterhin die Plantagen, ihre Orte des Schreckens, zu kultivieren. Die einstigen Sklaven dachten nur an ihr Eigentum, an ihre kleinen Parzellen Land, um den Eigenbedarf zu decken. Haiti verarmte so sehr, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts sogar Zucker importiert werde musste. 1915 (bis 1934) besetzten die USA das Karibikland. Sie redeten dem erbärmlichen Volk ein, die Schulden gegenüber Frankreich am besten durch Kredite in den USA zu bezahlen. Als Zeichen der „Anerkennung“ durften die USA dann mit extrem niedrigen Lohnkosten in Haiti produzieren. Haitis Menschen wurden seit der großen Befreiung immer wieder reingelegt, betrogen, gedemütigt. „Das pyramidale Herrschaftsmodell aus Kolonialzeiten wurde dem freien Haiti übergestülpt, in diesem vegetieren die Nachkommen der Sklaven bis heute“, schreibt der Haitispezialist, der Soziologe F. Saint-Louis. (1

Zwei wichtige Studien:

Fridolin Saint- Louis, „Le Voudou Haitien“, Paris, Ed. L`Harmattan, 2000

-und auf das grundlegende Buch von Walter l. Bernecker „Kleine Geschichte Haitis“. Suhrkamp Vl., Frankfurt 1996.

Werden aus Feinden nun Freunde? Wie die Dominikanische Republik jetzt Haiti hilft

In unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon werden immer wieder auch Fragen einer gerechteren Friedensordnung diskutiert, nicht nur im Sinne Kants, der ja schon einen “Bund der Nationen” vorgeschlagen hat, sondern auch im überschaubaren Rahmen, etwa in der Beziehung zwischen zwei Staaten. Kann aus einer Katastrophe, wie jetzt in Haiti, auch ein positiver Effekt folgen? Können bislang verfeindete Menschen über ihren Schatten springen? Wir haben den Eindruck, dass es bemerkenswerte, positive Tendenzen gibt in der Beziehung der Dominikanischen Republik zu Haiti.  Weil mindestens 1 Million Deutsche als Touristen mit der Dominikanischen Republik in irgendeiner Weise verbunden sind, ist dieses Thema alles andere als ein “Randthema”. Es verdient viel Aufmeksamkeit gerade im Zusammenhang von “Völkerverständigung”.

Werden aus Feinden Freunde?

Haiti und de Dominikanische Republik: Wirkungen der Katastrophe

Von Christian Modehn

Helfer aus der Dominikanischen Republik waren (wie die Kubaner) die ersten, die sich in Haitis Hauptstadt Port – au – Prince um die Bergung von Verschütteten kümmerten. Die schnelle Hilfe ist eigentlich selbstverständlich, denn die beiden Länder sind Nachbarn auf der Insel „Hispaniola“. Seit dem 13. Januar ist die Solidarität ungebrochen. „Wir müssen jetzt die beste Hilfe für Haiti leisten“, sagt Carlos Morales Troncoso, Außenminister der Dominikanischen Republik. Erstaunliche Worte: Denn bis zum 12.Januar waren die Beziehungen zwischen beiden Ländern alles andere als freundlich. Mindestens 500.000 Haitianer arbeiten in der Dominikanischen Republik auf Zuckerrohrplantagen oder auf Baustellen. Sie hausen in erbärmlichen Unterkünften, werden miserabel bezahlt, verfügen über keine Rechte. Sie sind als „Neger“ die Untermenschen, sprechen Kreolisch und nicht Spanisch wie die Dominikaner. Und die sind mehrheitlich zwar Mulatten, aber stolz darauf, „zur weißen Rasse zu gehören“. Die dominikanische Polizei verschleppt die „Gastarbeiter“ immer wieder, führt sie zur Grenze, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, der hart verdiente Lohn verschwindet in den Taschen der Zwischenhändler. Menschenrechtsorganisationen haben die Dominikanische Republik mehrfach wegen sklavenähnlicher Verhältnisse angeklagt. Bisher gab es keine Verbesserung der Gesetze, die Mentalitäten der meisten scheinen versteinert zu sein. Ungestraft blieb schon das große Massaker an Haitianern,  als der dominikanische Diktatur Trujillo vom 2. Bis 4. Oktober 1937 mindestens 20.000 wehrlose Haitianer hinrichten ließ, ein Akt der „Abschreckung, Symbol für angebliche Überlegenheit, Ausdruck rassistischen Wahns. Schwarze  mussten an der Grenze das spanische Wort perejil, (Petersilie) korrekt aussprechen: Wer das r korrekt spanisch „rollte“ und das j wie ein ch aussprach, galt als Dominikaner. Wer es nicht schaffte, war Haitianer, er wurde ermordet. Trujillo fand sich später bereit, 750.000 Dollar „Entschädigung“ zu zahlen. Das Geld erreichte die Hinterbliebenen nie, die Regierung in Haiti steckte es sich in die eigene Tasche.

Der Massenmord sollten das Unrecht rächen, das die Dominikaner im 19. Jahrhundert von Haiti aus erlebten:  Schon 1801 besetzten die „befreiten Sklaven“ das Gebiet der heutigen Dominkanischen Republik. Von 1822 bis 1843 gab es dort ein Regime haitianischer Diktatoren, denn sie fühlten sich von allen Seiten bedroht. Selbst nach der Unabhängigkeit der Dominikanischen Republik 1844 besetzten Haitis Truppen noch einmal das Land. Die seelischen Verletzungen auf beiden Seiten der Insel wurden nie besprochen, geschweige denn bearbeitet oder „geheilt“.

Jetzt gibt es eine reale Chance, dass angesichts der Katastrophe neue Beziehungen möglich werden: Die Dominikanische Regierung hat sofort 231 Millionen Dominikanische Pesos (fast eine halbe Million Euro) für das Nachbarland Haiti zur Verfügung gestellt. Sonia Pierre, inzwischen weltbekannte Menschenrechtsaktivistin in Santo Domingo, muss diesmal sogar die Regierung loben: „Ohne die Hilfe des dominikanischen Staates wäre die Tragödie in Haiti noch größer“. Aber: Bei einem „Marathon“ auf allen dominikanischen TV –  und Radioprogrammen wurden 55 Millionen Pesos (ca. 110.000 Euro) gespendet, eine beträchtliche Summe! Denn den meisten Dominikanern geht es ökonomisch zwar etwas besser geht als den Haitianern, aber auch sie leben nicht in einem reichen Land. Auch Santo Domingo gibt es große Slums! Aber die Leute lassen sich anrühren: Künstler, wie der berühmte Merengue Sänger Juan Luis Guerra von Santo Domingo, sammeln Geld, sie fahren über die Grenze, bieten ihre Hilfe an. Die Bischöfe weisen jetzt jegliches „nationalistisches Denken“ zurück. Die Kirchengemeinden an der Grenze, selbst bettelarm, nehmen sich der verzweifelten Menschen an. Mehr als 15. 000 verletzte Haitianer wurden in der ersten Woche in dominikanischen Kliniken versorgt. Die Regierung in Port au Prince hat zugestimmt, dass sich sogar 150 dominikanische Soldaten um die Sicherung der Straßen in Haiti kümmern können, allerdings unter der Leitung peruanischer „UNO – Soldaten“.

Eine allgemeine Öffnung der Grenze kommt für die dominikanischen Behörden nicht in Frage: Es wäre wohl vorauszusehen, so heißt es, dass viele tausend Haitianer ins Land strömen würden. „So viele Menschen könnten wir bei unserer Infrastruktur auch nicht betreuen“, sagen dominikanische Politiker. Und damit haben sie wohl recht.