Trump widerstehen. Thomas Jeffersons Vorschläge und ein Hinweis von Peter Sloterdijk

Ein Hinweis zum 20. Januar 2017: Mister Trump wird US-Präsident und er befindet sich als (zukünftiger) “Mauerbauer” in bester Gesellschaft mit dem Mauerbauer Walter Ulbricht, DDR.

«Der Geist des Widerstands gegen die Regierung ist bei gewissen Gelegenheiten so wertvoll, dass ich mir wünsche, er möge immer lebendig bleiben. Ich mag ein bisschen Rebellion dann und wann. Sie ist wie ein Sturm in der Atmosphäre.»

Das schrieb der spätere US – Präsident Thomas Jefferson 1787 als Botschafter in Paris, in den Monaten vor der Französischen Revolution. Die Hoffnung der Menschen, die sich nicht nur ihre Vernunft bewahrt haben, sondern  – im Unterschied zu Mister Trump – auch einen letzten Rest von Anstand und Wahrhaftigkeit, werden auf diesen “Sturm des Widerstands” gegen Trump hoffen und alle Möglichkeiten suchen, vernünftig den Geist des Widerstands gegen diese Regierung zu leben. Sie werden sich dabei nicht national einschließen, sondern auch die besonders Betroffenen, etwa die Mexikaner und Lateinamerikaner im allgemeinen, unterstützen im Widerstand gegen die verbrecherische Mauer, die Mister Trump an der Grenze zu Mexiko bauen will. Der letzte, der eine ganz große Mauer baute, war 1961 der kommunistische Diktator Walter Ulbricht. Trump ist also – wieder mal – in “bester Gesellschaft”.

Der Philosoph Peter Solterdijk schrieb am 24. November 2016 in “Die Zeit”, Seite 49, einen meines Erachtens eher wenig beachteten Text. Slolterdijk rechnet nämlich ganz schlicht damit, dass alsbald die Frage auftritt, wie man die Zeit nach Trump gestalten solle. Der Philosoph Sloterdijk schreibt dann: “Die Chance von Donald Trump, die ersten zwei Jahre seiner Amtszeit zu überleben, liegt vermutlich bei kaum mehr als zehn Prozent”. Slolterdijk nennt die USA weiter eine bloß hypothetische Demokratie, weil in dieser stets umstrittenen, “wackligen”  Demokratie der politische Mord eine, so wörtlich von Sloterdijk, “aktive Option”  ist. Im Falle eines Ausscheidens von Trump wäre dann Pence, der Vizepräsident, so Sloterdijk, der “richtige Trump-Nachfolger”… “Auf seine Mediokrität ist Verlass”.

Lassen wir diese heftigen Spekulationen Sloterdijks… Inspirierend sind auch die Überlegungen des US Literaturwissenschaftlers Mark Greif in der TAZ vom 14.1. 2017 Seite 03 veröffentlicht. Der ernstgemeinte Titel des erregten Autors Greif: “Ausflippen! Jetzt!” Zur Lektüre des TAZ-Artikles klicken Sie hier.

Zur (hoffentlich eintretenden) Möglichkeit der Amtsenthebung des Herrn Trump als US-Präsident schreibt der Berliner Politologe Prof. Christian Lammert, klicken Sie hier.

Auch der Philosoph Immanuel Kant kann in der heutigen vernetzten Welt niemals der Maxime von Mister Trump zustimmen: “Make America great again”. Wenn auch Deutschland diese Maxime für die eigene Politik gelten lassen würde: “Mach Deutschland wieder groß”. Oder Österreich: “Mach Österreich(-Ungarn) wieder groß”. Oder Russland:”Mach die Sowjetunion wieder groß” usw.: Wenn dieser Maxime jeder Staat heute in einem neuen nationalistischen Wahn folgen würde, hätten wir schnell den totalen Weltkrieg. Darum: Diese Maxime als Regierungsprogramm von Mister Trump ist kriegerisch, ist gefährlich, sie gehört verboten zu werden. Kant sagt: “Diese kriegerische Maxime hat wie jede andere kriegerische Maxime kein Recht. Sie entspricht nicht der Würde der Menschen und der Würde der Menschheit. Diese Maxime ist lebensgefährlich, sie muss überwunden werden”. Kant kann nur diese Maxime ertragen: “Make America democratic and human again”. Oder: “Gestaltet Deutschland und Europa und die Welt s0, dass die Würde und die Gleichheit jedes Menschen respektiert wird”.

Noch einmal, auch aus religionsphilosophischen Gründen, zurück zu Jefferson und nem Aufruf zum Widerstand: Jefferson war von 1801 bis 1809 der 3. Präsident Amerikas, er ist der Autor der Unabhängigkeitserklärung; ein einflussreicher Staatstheoretiker. Die Trennung von Kirche und Staat in den USA geht auf ihn zurück. Als Präsident nannte er für sich keine Religionszugehörigkeit, obwohl anglikanisch erzogen.

Interessant ist: Er zerschnitt seine Bibel, um die für ihn entscheidenden Textstellen für sich zusammenzustellen, Aussagen, die vor der kritischen Vernunft Bestand haben. Es entstand die „Jefferson – Bibel“. Er sagte: „Der Korruption des Christentums stehe ich in der Tat ablehnend gegenüber, aber nicht den wahren Prinzipien Jesu. Ich bin ein Christ in dem Sinne, wie Jesus es wollte.“ Als Propagandist für kirchenfeindliche Strömungen ist der dritte US-Präsident völlig ungeeignet.

Copyright: Christian Modehn Berlin

Für die Vielfalt, nicht nur im Glauben. Ein Interview mit Prof. Johan Goud, Den Haag

Für die Vielfalt, nicht nur im Glauben

Ein Interview mit dem Theologen und Pastor der Remonstranten-Kirche Prof. em. Johan Goud (Den Haag):

Die Fragen stellte Christian Modehn

Zwei Fragen beziehen sich unmittelbar auf die Theologie: Die Freiheit ist entscheidend für Remonstranten, auch die Selbstbestimmung des einzelnen, seinen Glauben zu leben auf seine je individuelle Art. Haben deswegen die Remonstranten de facto kein allgemein verbindliches Glaubensbekenntnis? Ebenso gilt die weitere Frage: Was hält Remonstranten zusammen bei der akzeptierten Glaubens-Pluralität? Und warum ist Pluralität der religiösen Überzeugungen ein Vorteil?

Aber zunächst zur aktuellen politischen Situation in den Niederlanden, dort sind Parlaments-Wahlen am 15. März 2017, mit der Prognose, dass die populistische und rechtslastige Partei PVV stark wird): Was können Christen in den Niederlanden, was können Remonstranten, jetzt tun gegen Wilders und die PVV?

Johan Goud:

Diese Frage betrifft auch den Populismus, der sich im Augenblick in der ganzen Welt regt und der in den Niederlanden verbunden ist mit dem Namen Weiterlesen ⇘

Die “Heilige Familie”: Einige kritische Hinweise zu einem problematischen Bild und einem katholisch-politischen Fest

Ein Hinweis zum katholischen wie auch politisch inszenierten “Fest der Heiligen Familie”.

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 29.12.2016. Erneut bearbeitet am 23.12.2022.

Sinn und Unsinn katholischer Feiertage werden besonders deutlich, wenn man das „Fest der Heiligen Familie“ aus der Distanz, also kritisch, anschaut; das Fest wird in diesem Jahr am Freitag, den 30. Dezember, gefeiert.

Die Erkenntnis vorweg: Das Fest und die Verehrung der sog. “Heiligen Familie” sind eine fromme Konstruktion. Selbst wenn man wortwörtlich die wenigen Zeilen im Neuen Testament über die aus bur drei Personen bestehende Familie in Nazareth liest, kann diese Familie für real lebende Menschen kein heiliges Vorbild sein. Sie ist nämlich keine umfassend-menschliche Familie, sondern letztlich irgendwie halb-göttlich aufgrund von Jungfrauengeburt und dem weiteren asexuellen Leben des Paares , Josef istr ohnehin nicht der leibliche Vater Jesu. Und es ist sehr fragwürdig, warum dieses Fest weiterhin propagiert wird.  Aus politischen Gründen, wahrscheinlich… Aber lesen Sie weiter:

1. Die Familie Jesu in Nazareth soll heilig, d.h. vorbildlich sein.

Wenn man die offizielle dogmatische Lesart der entsprechenden äußerst knappen Hinweise im Neuen Testament beachtet, ergibt sich:
Jesus hat also keinen leiblichen Vater.

Jesus wurde also nicht menschlich gezeugt, das heißt: Er ist kein Produkt menschlicher Liebe, Lust und Leidenschaft. Ist er also in dieser offiziellen Kirchenlehre kein vollständiger  Mensch?

2. Josef – bloß ein alter Pfegevater?

Sein Vater Josef ist sozusagen der freundliche Herr, ein Freund Marias, der sich um das von ihm gar nicht gezeugte Kind kümmert.

In allen Berichten des NT schweigt Josef, er sagt praktisch gar Nichts. Er folgt lediglich den Befehlen Gottes. Gehorsam ist seine größte Tugend. In dieser Sanftmut ist er vielleicht ein vorbildlicher Mann, jedenfalls ist er kein Macho. Wie er zu dieser stillen Sanftheit gekommen ist, wird nicht verraten.

Maria selbst ist eine Frau, die aus dem menschlichen „Rahmen“ fällt, sie ist selbst schon ohne Erbsünde befleckt geboren worden; also förmlich von paradiesischer Unschuld. Die angeblichen Marien-Eltern Anna und Joachim (sie werden im NT nicht erwähnt) haben also auch Maria schon ohne Erbsünde gezeugt und empfangen. Warum sind dann aber Anna und Joachim nicht auch ihrerseits schon frei von Erbsünde?

Ist die Mutter Maria also eine menschliche Frau oder hat sie sozusagen mindestens ein Bein noch in der Unschuld des Paradieses?

3. Heilig ist diese Familie, weil sie nur ein Kind hat?

Nach offizieller dogmatischer Lesart wird Jesus also in einer Ein-Kind-Familie groß. Das wäre heute sogar vorbildlich angesichts des Bevölkerungsüberschusses gerade in den katholischen Gegenden Afrikas und der Philippinen. Tatsächlich empfiehlt die katholische Hierarchie, der Klerus, aber immer eine kinderreiche Familie. Papst Franziskus hat da Gott sei dank andere Vorstellungen, die er auf den Philippinen deutlich ausdrückte. Dafür sollten vernünftige Menschen ihm danken!

Das Neue Testament spricht zwar ausdrücklich von Brüdern Jesu, etwa Jacobus wird genannt, aber dieser Titel Brüder Jesu wird dogmatisch uminterpretiert: Es sind dann Neffen oder ähnliche Verwandte: Hätte Jesu Brüder, dann hätten ja Josef und Maria mindestens nach der Geburt Jesu doch Sex miteinander gehabt. Weil Sex aber zwischen Josef und Maria ausgeschlossen ist, wird Josef klassisch als uralter Herr dargestellt. So wurde Jesus also von einem Opa erzogen…

Also wird das Einzelkind Jesus groß und zum Mann bei einem Elternpaar, die aufpasst, keine Erotik, keinen Sex, miteinander zu haben. Jesus wird also in einer asexuellen Familie groß. Vielleicht ist sein späterer Widerstand gegen die Eltern daraus erklärlich? Ist er böse, dass er sexuell vielleicht nicht aufgeklärt wurde? Hatte er als Mensch (er ist wahrer Mensch, sagen die katholischen Dogmatiker) gar keine Erotik? Keinen Sex? Warum wird das alles verschwiegen in dem heiligen Buch Neues Testament?

4. Die Idylle der heiligen Familie.

Ist eine solche Familie heilig, erstrebenswert? Die Familien-Ideologie wird immer katholischerseits verstanden als Hetero-Familien-Ideologie, sie ist offiziell in der römischen Kirche heute äußerst dominant. Der Schutz dieser Familie mit der klassischen Mami in der Küche und dem lieben Papi, der zur Arbeit geht, wird heute katholischerseits weltweit propagiert, ist zentrales Glaubensbekenntnis wie etwa der Schutz des ungeborenen Lebens! In Frankreich etwa war die katholische Mobilisierung gegen die gesetzlich erfolgreiche Ehe für alle (also auch für Homosexuelle usw.) ein Höhepunkt der Opposition gegen Präsident Hollande (PS), diese Familien-Opposition hat letztlich auch die PS zu Fall gebracht. Die „Heilige Familie“ ist also sehr politisch und kämpferisch für die alten Familien-Idyllen.

Dass diese alten Hetero-Ehe-Modelle auch viel Unheil anrichten, wird natürlich oft übersehen: Gewalt in der Ehe, Unterdrückung der Frauen, kaschierte Untreue, verlogene Sexualität usw. Und jeder weiß, dass etwa in den katholischen Familien etwa Lateinamerikas die eine Mutter Kinder von 5 verschiedenen Männern hat, für diese 5 Kinder muss sie allein sorgen, weil die katholischen Männer längst woanders sind. In katholischen Regionen gibt es eigentlich keine klassischen Familien mehr, dieses Modell ist aufgrund der globlisierten Ökonomie gescheitert: Vati arbeitet 500 Kilometer entfernt von der Familie, eher normal etwa in Brasilien…Wer die klassische Familie retten will, sollte diese Ökonomie kritisch bekämpfen.

Also: Dieses merkwürdige mythische Bild der Heiligen Familie von Nazareth ist heute nichts als fromme Ideologie und schöner Schein. So wird eine reife Auseinandersetzung mit Sexualität und Partnerschaft in allen möglichen Lebensformen verhindert. So unterbleibt das öffentliche und reife Gespräch zum Thema Sex in aller Vielfalt und Ehe in aller Vielfalt.

5. Ketzerische, aber richtige Deutung!

Einige deuten die heilige Familie Jesu in Nazareth auch ketzerisch etwas anders: Maria empfängt Jesus durch eine künstliche Befruchtung. Ihr Freund Josef, der “Partner”,  akzeptiert das. Und lebt mit Maria und dem dann geborenen Kinde Jesus zusammen. Und es entstehen aus der Liebe Josef und Marias weitere Kinder, Geschwister Jesu. Diese sind dann wahrscheinlich ohne künstliche Befruchtung entstanden.

6. Josef – eindeutig der leibliche Vater Jesu von Nazareth.

Oder wer es sanfter, biblisch zutreffend, will: Josef ist natürlich und ganz klar der leibliche Vater Jesu. Und er ist der Vater der Geschwister Jesu, Maria die Mutter. Dies ist heute die Überzeugung der historisch-kritischen Bibelinterpretation der mythologischen Berichte im Neuen Testament.

Die spätere Theologie wollte die Göttlichkeit Jesu auf ihre drastische Weise retten; sie musste sich auf einen himmlischen Vater (den heiligen Geist) Jesu beziehen. Jesus sollte ja auch – auf diese Weise konstruiert – eine göttliche Natur haben). So war es wieder einmal der dogmatische Zwang, der ein umfassend menschliches Verstehen des Menschen Jesu gewaltsam verhinderte.

Den Gläubigen wurden dogmatische Behauptungen als Glaubensinhalte zugemutet: Unbefleckte Empfängnis Mariens, Josef als alter „Nährvater“ usw., also Begriffe und Bilder, die nur ein vernunftfreier, d.h. gedankenloser Glaube annehmen konnte.

Die Bereitschaft, solches zu glauben, ist heute zumindest in Europa vorbei. Gott sei Dank. Aber die offizielle Kirche tut noch so, als müsste sie diese dogmatischen Konstruktionen weiter als Glaubensinhalt predigen und zu glauben verlangen! Was für ein Fehler, das Menschliche an Jesus auf diese Weise nahezu total auszuschließen.

Copyright: Christian Modehn im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.

 

Martin Heideggers Briefe von 1930 bis 1949 an seinen Bruder Fritz: Viel Nebel und wenig Licht

Ein Buch Hinweis von Christian Modehn

Eine kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers liegt noch immer nicht vor. Die bisher erschienen Bücher nennen sich bloß „Gesamtausgabe“, betreut und redigiert von getreuen Heidegger – Freunden und – Deutern. Auch die kürzlich bei Herder – der bisher nicht als „Heidegger-Verlag“ bekannt wurde – publizierten Briefe von Martin an seinen Bruder Fritz und die wenigen (!) Briefe von Fritz an Martin Heidegger aus den Jahren 1930 bis 1949 sind nur eine Auswahl; jeder Brief weist intern noch viele Kürzungen auf. Wem ist damit gedient? Was da weggelassen wurde, bleibt im Nebel. So hat dieses Buch im Blick auf die veröffentlichten Briefe etwas „Gönnerisches“, von den Erben ausgewählt. Erstaunlich ist aber, dass doch eher nicht so relevante Mitteilungen in den Briefen, wie etwa die ständigen Gratulationen zu den jeweiligen Namenstagen der Brüder, nicht weggelassen wurden. Offenbar soll durch die häufigen Namentags-Gratulationen irgendwie noch ein katholischer traditioneller Restbestand bei Bruder Martin herausgestellt werden, der sich auch abermals in den Briefen an Bruder Fritz als jenseits des Katholischen/Christlichen offenbart. Ständig spricht auch der Philosoph von der Sorge um seine „Kisten“ (also eigene Bücher- und Manuskript-Kisten), die doch bitte schön irgendwo gut versteckt und vergraben werden sollen – angesichts der Bombardements. Von den verfolgten Juden, die sich kaum noch verstecken konnten, ist hingegen an keiner Stelle des Briefswechsels die Rede. Mitfühlende Äußerungen wurden von den Herausgebern gewiss nicht weggelassen. Denn solche Worte hätten ja wenigstens ansatzweise einen menschlich-mitfühlenden Heidegger gezeigt. War er aber nicht! Stattdessen wird die maßlose, durchaus in Lächerliche gehende Selbsteinschätzung Martin Heideggers erneut dokumentiert. So schreibt er am 10. Mai 1944, er müsse „hinauf“ in die Hütte von Todtnauberg. Denn er spüre, dass das Seyn (!) ihm etwas zu sagen habe: „Ich fühle das Erwachen eines Denkens, dem ich mich jetzt einfach hinhalte, umweht von einem weither kommenden Atem der Geschichte des Seyns (sic)..“. Die Menschen sterben, Soldaten erfrieren, Juden werden vergast, und Heidegger „hält sich dem Seyn hin“ und fühlt sich „umweht“…. Dann folgt die maßlose Überhöhung seiner eigenen Rolle: „Zumal ist dies: dass durch einen einzigen Menschen das Geheimnis spricht und in mir die Kühnheit des Denkens dem entgegenkommt und es befreien darf ins klare Wort“ (S. 101). Ob diese Worte Heideggers klar sind und jemals, von ihm angeblich klar gewünscht, auch klar sein sollten, darf wie so oft bezweifelt werden; wichtiger ist hier, dass sich Heidegger eine geradezu prophetische Rolle zuspricht und anmaßt („durch einen einzigen Menschen spricht das Geheimnis“, also das göttliche Geheimnis CM…Also durch ihn, Heidegger, kommt förmlich die Erlösung durch die und als die Seyns-Hörigkeit. Das heißt: Folgen wir bitte Heideggers Offenbarungen des Seyns, auch Schickungen genannt….

Während in den ersten Wochen des Jahres 1944 Bomben auf Berlin fallen und Frankfurt am Main zu der Zeit zerstört wird, von dem Gemetzel in Russland ganz zu schweigen, was Heidegger doch wenigstens ansatzweise wusste, da schreibt der egozentrische Philosoph in dem gleichen Brief an Bruder Fritz: “Ich muss hinauf (zur Hütte in Todtnauberg, CM), um zu danken, dass alles gut geworden und dem Schönen erst zu öffnen sich langsam und verborgen anschickt“… (So schreibt Heidegger, kein Tippfehler meinerseits dabei). In einem Brief vom 11. November 1944 schreibt Martin an Bruder Fritz gar, wörtlich von „Erleuchtung“, die ihm zuteil wurde bei einer Entscheidung hinsichtlich seiner Vorlesungen in Freiburg (die fast alle seinem neuen „Führer“, dem Dichter Hölderlin, als dem „Deutschen“, gewidmet sind). Das Wort „Erleuchtung“ ist nicht ironisch gemeint bei Heidegger.

Dieses kleine Zitat Beispiel zeigt, wie viel tatsächlich differenzierte und genaue Text-Analyse in dem genannten Buch des Herder-Verlages notwendig gewesen wäre. Aber die 22 Beiträge (die ja nach meinem Eindruck vor allem auch wegen der Veröffentlichung der bislang unbekannten Briefe verfasst wurden, nur das macht ja Sinn für ein weiteres „Sammelwerk“) zeigen nur selten einen tieferen Bezug zu den Briefen. Bruno Pieger bietet sogar auf 28 Seiten einen so genannten „Kommentar zur Briefauswahl“. Diese Erläuterungen bleiben aber sehr dürftig und erklären nicht, warum, nur ein Beispiel, Heideggers Sohn Hermann sich in Theresienstadt aufhält „und dort das soldatische Leben der aktiven Truppe vermisst“ (S. 65, ein Brief an „Bruder Fritz, Liesel und die lieben Buben“ vom 3. Juli 1940). Kein Wort von Herrn Piegel, was denn Sohn Hermann in Theresienstadt machte…

Man ist etwas erstaunt, dass Rabbiner Walter Homolka, Potsdam, als Mitherausgeber gewonnen wurde. Meines Wissens trat er als Heidegger Forscher bisher leider nicht so deutlich hervor. Man könnte etwas zynisch werden und meinen, für die Heidegger-Freunde (und den Verlag) tut eben ein prominenter Rabbiner gut – gerade nach der Publikation der explizit antisemitischen „Schwarzen Hefte“ Heideggers –, vielleicht gelingt es einem Rabbiner, den Denker aus dem Schwarzwald wieder in die bessere Gesellschaft zu heben. Und Arnulf Heidegger, Rechtsanwalt, ist als Enkel Martin Heideggers und als Nachlassverwalter der weitere Mitherausgeber. Die Familie also prägt doch noch das Publikationsgeschehen – wenigstens in einem katholischen Verlag! Und kein Geringerer als Manuel Herder, Chef des großen Herder-Unternehmens, stellt dem neuen 1. Vorsitzenden der Heidegger Gesellschaft, Harald Seubert, vier Fragen über „Heidegger heute“. Harald Seubert ist etlichen nicht nur als Philosoph so ein bisschen bekannt, sondern auch als Interview-Partner der sehr rechtslastigen Wochenzeitung „Junge Freiheit“, etwa am 5. Dezember 2008. Auch eines seiner Bücher wurde am 18.9.2015 vorgestellt; da schreibt die Junge Freiheit über Seubert: “Skeptisch ist der Verfasser gegenüber einem verbreiteten unkritischen Verständnis von „Demokratie“ als der besten aller möglichen politischen Welten…“ Der Studentische Konvent der Universität Bamberg veröffentlichte Mitte Dezember 2012 diese Pressemitteilung über Seubert: „Am 15. Dezember 2012 sprach der als Dozent an der Universität Bamberg tätige Harald Seubert nach Informationen der „Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e.V.“ auf dem Thomastag der „regionalen Angehörigen des ultrarechten Dachverbands ‚Deutsche Burschenschaft ‘“ in der „Thomaskneipe“ in Nürnberg.“ Auch am 10. Februar 2015 erwähnte die „Junge Freiheit“ Seubert positiv usw…Zumindest wird deutlich: In eher etwas links angehauchten Kreisen ist die Heidegger-Forschung und Heidegger Publikation auch heute nun wirklich nicht beheimatet. „Das Seyn spricht rechts, könnte man Heidegger nachträglich zuflüstern…

In dem Herder-Buch gesteht Seubert „mit einem gewissen Recht“ (S. 351) die Berechtigung der Kritik an Heidegger großzügigerweise zu. Der Familienstreit im Hause Heidegger wird aber von Seubert angesprochen, wenn er die Deutungen der Heidegger-Forscher Trawny oder Mehring für „aufgeblasen“ (S. 348) hält. Mit anderen Worten: Eine etwas kritische Deutung durch die Heidegger Familie und die mit ihr eng verbundene Heidegger Gesellschaft (also Seubert) schließt nicht aus, dass weiter heftig polemisiert wird. Und man ist beinahe etwas enttäuscht, dass nicht auch Friedrich Wilhelm von Herrmann, der vielseitige Herausgeber und engste Heidegger-Vertraute, zu Wort kommt. Und uns vor allem erklärt, warum er lang und breit ein wohlwollendes Fernseh-Interview mit dem rechtsextremen Russen Alexander Dugin (er war Co-Vorsitzender der mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei Russlands) zwei Stunden lang führen wollte. So rückt Heidegger abermals ins rechte und sehr rechte Spektrum…

Aber solche politischen Merkwürdigkeiten, wenn nicht Skandale, freizulegen meidet der Sammelband. Genauso wertvoll wäre es gewesen, noch einmal Prof. Günter Figal zu befragen, den bekannten und geschätzten Philosophen aus Freiburg i.Br., warum er sich denn aus der „Heidegger-Gesellschaft“ nach vielen Jahren höchst-verantwortlicher Mitarbeit zurückgezogen hat…

So haben wir es also mit dem Buch „Heidegger und der Antisemitismus“ mit besonders interessanten Brief-Fragmenten zu tun, die für die künftige Heidegger Interpretation doch etwas aufschlussreich sein werden. Der Untertitel heißt „Positionen im Widerstreit“: Tatsächlich äußern sich verschiedene kompetente Heidegger-Deuter. Vor allem den Beitrag Micha Brumliks möchte ich da ausdrücklich empfehlen: Er hat die hier auf ca. 130 Seiten publizierten Briefe gelesen und setzt sich mit ihnen in dem hervorragenden Beitrag „Die Alltäglichkeit des Judenhasses – Heideggers Verfallenheit an den Antisemitismus“ (Seite 202 bis 211) auseinander. Auch Donatella Di Cesare hat ihre Lektüre der hier publizierten Briefe in ihren Beitrag eingebracht. Eher nebenbei erwähnt auch Klaus Held die Briefe. Sein Beitrag erinnert abermals daran, dass Heidegger schon sehr früh die Öffentlichkeit verachtete und politisches Engagement mit der Eigentlichkeit der Existenz nicht verbinden konnte und wollte. Die Fixierung auf „Heimat“ machte ihn blind fürs Weltgeschehen. Dabei war er ja durchaus Zeitungsleser, der die Bomben erlebte und von der Vergasung der Juden musste er trotz aller Schwarzwald-Bindung gehört haben!….Auch Reinhard Mehring erwähnt die Briefe in seinem sehr lesenswerten Beitrag „Postmortaler Suizid. Zur Selbstdemontage des Autors der Gesamtausgabe“. Andere Autoren wollen sich, sagen wir es ruhig, „versöhnend und versöhnlerisch, zeigen, sie erinnern an die sehr allgemeine Erkenntnis, dass es doch sehr zu differenzieren gilt, dass vieles doch wichtig bleibt bei Heidegger. Was das genau ist, wird eher behauptet und nicht ausführlich entwickelt. Gerade die viel zitierten Hölderlin-Deutungen Heideggers mitten im Zweiten Weltkrieg sind ja doch keineswegs so ohne weiteres gültig, sondern politisch hoch problematisch und auch in der Interpretation oft eine Zumutung. Wichtiger scheint mir die in dem Buch gar nicht diskutierte Frage: Was bleibt von diesem jetzt antisemitischen und auch gar nicht so konfessionell-christlichen Heidegger in der Rezeption katholischer Theologie (Rahner) und Philosophie (Welte und seine Schüler) noch übrig? Kann man mit Heidegger zum (theologisch vertretbaren) Heiligen kommen? Da muss eine neue kritische Forschungsarbeit geleistet werden und etwa Bernhard Welte kritischer interpretiert werden. Man lese nur noch einmal die Worte des katholischen Theologen und Priesters Bernhard Welte zur Beisetzung Heideggers am 28. Mai 1976 (in: Heidegger-Welte, Briefe und Begegnungen, 2003, S. 124 ff), diese Worte „triefen“ förmlich von Heidegger-Ergebenheiten (etwa: „Heidegger folgte seinem „Geheiß“, S. 127). Aber das ist ein anderes Thema…

Es gibt viele Themen, die durch diese Brief-Fragmente angesprochen werden, etwa, dass Heidegger seine, erst jetzt publizierten berühmten Schwarzen Hefte seinem Bruder Fritz schon zum Lesen gab, so in dem Brief vom 2. November 1938: „Ich brauche in den nächsten Wochen von den schwarzen Heften (Überlegungen) Nr. VII und VIII, wenn du gerade dabei bist, kannst du ruhig zu Ende lesen. Schicke die Hefte am besten in einer Buchscheide gut verpackt und eingeschrieben“. Schon damals wollte Heidegger per Einschreiben selbst in der Nazi-Zeit sicherstellen, dass seine Schwarzen Hefte nicht vor seinem Tod außerhalb der Familie gelesen werden. Die Schwarzen Hefte, bewusst von ihm selbst post mortem veröffentlicht, sollten in seiner Sicht eine Art Schlussakkord unter dem ganzen Gedachten (dem Werk) sein…

Auf die in den Briefen über unüberhörbare Verachtung der (Weimarer) Demokratie wurde andernorts mehrfach treffend hingewiesen, Heidegger findet seine persönliche Situation in der Öffentlichkeit nach dem Krieg schlimmer als in der Nazi-Zeit (129). Wer kann ernsthaft so viel Abwehr der Demokratie Heideggers ertragen?

Sichtbar wird ein Mann, der Sehnsucht hat nach der heimatlichen Scholle, der alten heilen Welt in der Kleinstadt Meßkirch, der gleichzeitig größenwahnsinnig das Seyn hört, dadurch eigentlich Lehrmeister für alle Seienden sein möchte, es aber in der Nazi-Zeit nicht sein darf. Ein Philosoph, der Hitler verehrt, weil er die große Wende bringen soll. Diese aber dann doch nicht bringt, weil er Heidegger nicht zu seinem Meisterdenker machte. So entsteht vor uns ein verärgerter, gekränkter, auf alles Deutsche nach wie vor versessener Denker, der sich als etwas ganz Besonderes und Höchst-Berufenes fühlt, der hört und lauscht auf das Seyn und dann eher lallend manchmal angeblich wesentliche Winke gibt. So möchte man doch des Meisters eigene Worte zitieren, kaum nachvollziehbar, wie so vieles bei ihm: „Es entspricht dem Geheimnis des Seyns, dass zumal mit dem Widerfug der Verwüstung ist der Fug eines Anfangs“ (bei Irritationen der Lektüre: Keine Tippfehler meinerseits, CM, es steht im Brief vom 23. August 1943, Seite 90) Oder in ähnliche (defätistische) Sicht gehend: Die erbauliche Mahnung an Bruder Fritz im Kriegsjahr 1943 (genau am 22. Oktober), nachdem Martin darauf hingewiesen hat, dass nur „die Kleingläubigen in Ratlosigkeit geraten, wenn diese Welt in ihren Fugen kracht“ (S. 93)….selbst wenn durch die Verhandlungen der alliierten Politiker „im äußeren Effekt Grausiges passiert. Darum diese Mahnung Martins als eines, so wörtlich, „Wissenden“ an Fritz: : “Bleibe in deiner stillen Welt ( wieso stillen Welt, gab es in Meßkirch keine Bomben? CM). Und weiter schreibt Bruder Martin: „Das ist keine Flucht, sondern die Inständigkeit, deren das Seyn selbst bedarf“ (Seite 93). Was soll das bloß heißen? Hat das Heidegger selbst verstanden? Meint er mit Seyn vielleicht nicht doch „Gott“? Oder war dieser Satz gar eine „Schickung“, ein „Eräugnis“, die er als Erwählter („Wissender“) förmlich mitteilen musste? Aber: Haben wir schon einmal erlebt, dass das Seyn unserer Inständigkeit bedarf? Aber lassen wir diese Fragen, wohin auch immer sie führen? Wusste das Heidegger selbst?

Der Heidegger Spezialist Prof. Holger Zaborowski (Vallendar) schlägt in seinem Beitrag vor, weiterhin Heidegger, aber eben differenzierter zu lesen und zu erforschen, trotz der von Zaborowski genannten „Mehrdeutigkeiten, Spannungen und Widersprüche“ (S. 430). Er spricht sogar von „Ambivalenz des Heideggerschen Denkens“ (ebd.)

Holger Zaborowski gesteht ein, dass Heidegger in den „Schwarzen Heften“, so wörtlich, „unter seinem eigenen Niveau“ denkt (434). Was aber wäre das „Niveau“? Zaborowski nennt weitere große Schwachpunkte, etwa das schon früher viel besprochene Ausbleiben ethischen Denkens (438). Der Heidegger Kenner (leider bietet er keinerlei Hinweise auf die Briefe!) folgt aber der Interpretationslinie, die Heidegger selbst vorgegeben hat, nämlich der Interpretation im Bild des WEGES… da gibt es dann halt Entwicklungen und Irrwege und Holzwege und viel Gestrüpp und Irrnisse… In jedem Fall sollten wir, so Zaborowski, „mit Heidegger weitergehen“ und auch „immer über ihn hinausgehen“. Wo werden wir dann beim „Hinausgehen“ landen? Immer noch bei einem zur Vernunft gekommenen Heidegger?

Vielleicht hilft ein dialektisch-kritischer Umgang mit dem Denker aus dem Schwarzwald im Augenblick einigen etwas weiter. Damit sie nicht entsetzt sind vor der Tatsache, wie viel Lebenszeit sie mit dem Durchkauen und Entziffern von Heideggers Worten und Weisungen und Schickungen verbracht zu haben … und sich im stillen dann doch fragen: Warum habe ich nicht anstelle Heideggers etwa viel mehr Kant und Aristoteles gelesen? Von Habermas oder Rawl ganz zu schweigen? Solche philosophischen, heideggerisch bedingten Lebensschicksale, verbunden mit der Suche nach der mit Heidegger “verlorenen Zei”t, vielleicht auch dies wiederum Schickung des Seyns ?, wird man später vielleicht noch besprechen müssen.

Der Philosoph Thomas Vasek (Hamburg) schreibt treffend am Ende seines Beitrags: „Es ist an der Zeit, ohne Heidegger zu denken“ (Seite 404).

PS: Es ist deutlich geworden, dass dieser Beitrag leider nicht alle Beiträge des Buches ausführlich diskutieren kann. Und es konnten keine weiteren kritischen Auseinandersetzungen mit den “Briefen” erwähnt werden. Auf einen Text soll noch hingewiesen werden: Die Philosophin Susan Neiman hat sich schon am 27. Oktober 2016 in “DIE ZEIT” (Seite 49) mit der auch in den “Briefen” deutlichen Zurückweisung von Aufklärung und Moderne durch Heidegger befasst. “Die Quelle allen Unglücks ?” ist der Titel des Aufsatzes von Susan Neiman: “Heideggers Verachtung der Öffentlichkeit ist nur ein Beispiel dafür, wie sich elitäres Denken bedroht fühlt”….”Die alte, antimoderne Nostlagie schimmert durch jede seiner Zeilen hindurch. Wetten, dass Nietzsche ihn zu denjenigen gezählt hätte, die `ihr Gewässer trüben, damit es tief scheine`?” Susan Neiman hat sich wohl ihre Worte gut überlegt, wenn sie auch im Blick auf die “Schwarzen Hefte” Heideggers (ebenfalls in “Die Zeit”) schreibt: Diese Texte “enthalten eine Reihe von ressentimentgetriebenen Aussagen, die Heidegger von einer Geistesgröße zum Kleingeist zurückstufen – wenn sie nicht gar Infantiles oder gar Wahnsinniges bloßlegen”.

Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger. Hg. von Walter Homolka und Arnulf Heidegger. Verlag Herder, 2016, 448 Seiten, 24,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Bourdieu vor 15 Jahren gestorben: “Die Kirche neigt zum „Schönreden“ (Euphemisierung)

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 23. Januar 2002 ist der große Soziologe Pierre Bourdieu (geboren am 1.8.1930) in Paris gestorben. Sein sehr umfangreiches Werk ist in vielerlei Hinsicht, zweifelsfrei, von bleibender Bedeutung. Bourdieu hat in frühen Jahren eine „Konversion des Philosophen zum Ethnologen“ (so Stephan Egger) und dann weiter zum Soziologen erlebt. Dabei spielen zwar seine sechs expliziten Beiträge zum Thema Religion im gesamten Werk-Umfang eine nicht so  beträchtliche Rolle. Aber seine religionssoziologischen Arbeiten (auf Deutsch in dem Band „Religion“ des Suhrkamp-Verlages 2011 publiziert) bieten doch viele Inspirationen, um nicht nur deutlich die Arbeitsweise Bourdieus zu erleben, sondern auch die (nicht nur auf Frankreich bezogenen) religionssoziologischen Erkenntnisse weiter zu studieren.

Dabei ist es erneut interessant, die selbstverständliche sachliche Distanz Bourdieus zum Thema Kirche zu beobachten; er spricht über die französischen Bischöfe als „Episkopat“ „im Feld der Macht“ unter dem leicht ironischen Titel „Die Heilige Familie“ sehr ausführlich. Selbstverständlich mit sehr zahlreichem statistischen Material und Interviews. Sie führen empirisch in die katholische Kleriker- bzw. Bischofswelt der Jahre 1932 bis 1952 sowie zwischen 1972 und 1980. Und da wird, wie Bourdieu betont, im ganzen des Kirchlichen vieles verschleiert, „euphemisiert“, wie er das nennt, um nach außen hin den Charakter einer heiligen Bischofs-Familie zu bekunden. Nebenbei: In Frankreich ist die Zahl der Bischöfe sehr viel größer als etwa in Deutschland, wenn man in Frankreich alle „Hilfsbischöfe“ bzw.“Weihbischöfe“ mitzählt, kommt man schnell auf eine Zahl über 100 sich selbst nennende „Ober-Hirten“ bzw. „Episkopoi“, wörtlich aus dem Altgriechischen übersetzt „Aufseher“! Wir haben es der Religionssoziologie und der empirischen Studie Bourdieus zu verdanken, dass der immer wieder behauptete Schleier der Heiligkeit entfernt wird und Bischöfe in ihrem sehr weltlichen und politischen Gebaren sichtbar werden. Der Beitrag „Die Heilige Familie“ (also über die Bischöfe) zerstört die öffentliche kirchliche Propaganda, die Bischöfe würden einen einheitlichen „Corpus“ darstellen. Dieser Eindruck war 1982, als der Beitrag Bourdieus erschien, vielleicht noch gültig; heute erlebt die Öffentlichkeit durchaus etwas (!) vom Streit innerhalb der Bischofskonferenzen und der Kardinäle in Rom. Aber diese Pluralität wird nicht als Zeichen von Lebendigkeit von den Bischöfen selbst bewertet, sondern eher als Fehler, als Mangel an „Einheit“. Große autokratische Organisationen verlangen wegen des Machterhalts immer nach dem Begriff der Einheit. Vielfalt gefährdet die Macht, das wussten schon die Fürsten spätestens seit dem Absolutismus. Aber bischöfliche Einheit ist für Bourdieu empirisch bewiesen eine „Illusion“ (S. 96).

Das Thema Bourdieus ist keineswegs nur für den kleinen Kreis der Spezialisten interessant. Denn Bourdieu zeigt, wie es unter den Bischöfen Frankreichs tatsächlich eine durch „klassenmäßige Unterschiede“ bedingte Pluralität gibt. Die aber in den Klerikerkreisen vertuscht wird. Auf die sehr interessanten Studien zur unterschiedlichen sozialen und kulturellen Herkunft der französischen Bischöfe wollen wir hier nicht eingehen: Bourdieu unterscheidet die sozusagen dem katholischen Bauernstand bzw. Kleinbürgermilieu entstammenden Bischöfe von den eher aus kulturell gebildeten und finanziell arrivierteren Familien kommenden „Oberhirten“.

Interessant sind die Hinweise zur absoluten Bevorzugung der klassischen Hetero-Familie durch die Bischöfe. Sie waren ja kürzlich im Kampf gegen die Homoehe in Frankreich an „vorderster Front“. Ohne die klassische Hetero-Ehe gibt es eben in der Denkwelt des Klerus „keine Reproduktion der Geistlichkeit“, man ist, klerikal gesehen, eben „von der christlichen Familie abhängig“. Bourdieu weist nach, dass die meisten Bischöfe kinderreichen Familien entstammen.

Interessant ist auch der relativ kleine Beitrag über „Das Lachen der Bischöfe“ von 1994: Darin zeigt Bourdieu die übliche klerikale Sprachregelung, “weltliche” und politische Tatsachen euphemisch zu verschleiern. Statt von Marketing wird von Apostolat gesprochen; statt von Kundschaft in den Gemeinden von Gläubigen. Die Kirche pflegt das Tabu, also die Angst vor expliziten Formulierungen: Statt von Reisebüro zu sprechen, ist von „Wallfahrtsunternehmen“ die Rede. Eine Russland-Reise wird zur „Begegnung mit der Orthodoxie“ umbenannt. Auch hinsichtlich der Rechte der Laienmitarbeiter in der Kirche gilt dies: Mitgliedschaften in öffentlichen Gewerkschaften sind tabu, es wird der „Familiengeist“ vorgeschoben, als Euphemisierung eines realen „Ausbeutungsverhältnisses!, wie Bourdieu sagt (S. 235). So werden die Priester in Frankreich auch nicht als Empfänger von (prosaischem) Gehalt bezeichnet, sondern als Empfänger von “Bezügen” (S. 237) „Die religiöse Sprache fungiert permanent als ein Werkzeug der Euphemisierung“ (S. 238).

So wird die Wahrheit in gewisser Weise ausgeblendet zugunsten eines Scheins von heiler Welt. Aber dieser Schein verschwindet immer mehr, weil er von den Medien angekratzt wird und auch die katholische Kirche als eine menschliche, d.h. veränderbare Organisation sichtbar wird.

Copyright: Christian Modehn im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.

 

 

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche soll nun Friedenskirche heißen.

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin. Veröffentlicht am 21. Dezember 2016 um 18 Uhr.
Siehe auch einen aktuellen Beitrag vom 12.6.2020: LINK

Der Gottesdienst am Abend des 20. Dezember 2016 hat es gezeigt: Pfarrer und Bischöfe unterschiedlicher Konfessionen, Imame und ein Rabbiner können gemeinsam und in der – durch diese Praxis bewiesenen – Anerkennung der Gleichwertigkeit eine religiöse Feier, eine im umfassenden Sinne ökumenische Feier gestalten. Diese interreligiöse Gedenk-Stunde (mit protestantischer Dominanz) fand in der “Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche” statt. So wurde ansatzweise (wo waren die Vertreter der Konfessionsfreien, etwa der Humanisten, wo Buddhisten usw. ?) eine Ahnung von dem vermittelt, was die wahre “Berufung” dieser Kirche am Breitscheid-Platz ist, gerade jetzt, nach dem Terroranschlag des 19. Dezember 2016: Sie ist eine Friedens-Kirche, sie sollte ein Friedens-Tempel für alle werden. Das heißt: Aus der „Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“ wird nun die „Friedenskirche“. Sie erhält den neuen Titel “Friedenskirche”. Ein traditionsreiches Kirchengebäude verliert seinen unsäglichen Titel (Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche) und wird so förmlich „neu errichtet“.

So sehr die Menschen auch betroffen sind vom Terroranschlag auf die Besucher des Weihnachtsmarktes rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und so sehr sie leiden angesichts der Ermordung von mehr als 12 Personen und der zahlreichen schwer verletzten Opfer: Diese widerwärtige Tat eines – offenbar – total enthemmten religiösen Fundamentalisten darf nicht als Beginn eines „Kriegszustandes“ gedeutet werden. SPIEGEL ONLINE publizierte am 20.12. vormittags diese Einschätzung des Vorsitzenden der Innenministerkonferenz Klaus Bouillon CDU (Saarland). Darin ist er wohl nicht weit entfernt von rechtsextremen Kreisen; sie schwadronieren angesichts des Anschlags, wie zu erwarten, von einer „Kriegserklärung“ „des“ Islam auf „das Abendland“. Auf die sinnlose Debatte, was denn überhaupt ein Krieg sein könnte, wenn eine Partei den Feind („einzelne versteckte Terroristen“) gar nicht genau greifen, definieren und finden kann, wollen wir uns gar nicht einlassen. Einen „Krieg“ gegen einzelne Terroristen(gruppen) in Europa kann es „per definitionem“ nicht geben.

Weiter führt die Erkenntnis: Diese unmenschliche Tat fand im Schatten einer weltweit bekannten Kirche statt. Sie hat immer noch den Titel „Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Offenbar ist der Name ihrer Kirche für die Gemeinde selbst und die Evangelische Kirche in Berlin insgesamt aber durchaus peinlich. Denn sie verwenden oft, etwas verschämt, nur noch den völlig nichts sagenden Titel „Gedächtniskirche“ oder gar nur die drei banalen Anfangsbuchstaben KWG.

Tatsächlich kann sich jeder etwas historisch Gebildete nur peinlich berührt fühlen, wenn er sich an den Titelgeber dieser berühmten Kirche tatsächlich erinnert.Und dann noch sozusagen im Schatten, der stillen Anwesenheit, dieser Person in diesem Gotteshaus singt und betet: Kaiser Wilhelm der Erste (geboren 1797, gestorben 1888) war nicht nur König von Preußen, sondern seit 1871 auch Deutscher Kaiser. Und er war ein begeisterter Kriegs-Herr und stolzer Sieger über den Erzfeind Frankreich im Jahr 1871. So verfügte Wilhelm II. als oberster Chef der evangelischen Kirche, dass eine neue Kirche in einem Zentrum Berlins, im „alten Westen“, zu Ehren Wilhelm I. gebaut werden sollte. Unbescheidenerweise fand die Grundsteinlegung an Wilhelm I. Geburtstag, also an einem 22. März des Jahres 1891 statt. Und noch pikanter: Für die Einweihung der prächtigen Kirche im neoromanischen Stil hatte Wilhelm II. den so genannten „Sedan-Tag“ gewünscht, also das deutsch-nationalistische Gedenken an die Kapitulation der französischen Armee am 2. September 1871 in der Stadt Sedan. Militärische Siege, erkauft mit massenhaften Sterben von Soldaten und Zivilisten, sollten von vornherein den Glanz dieser Kirche verstärken. Sie ist also selbst noch mit dem banalen Titel „KWG“ architektonischer Ausdruck einer militaristischen, staatskonformen Theologie. Man möchte beinahe zynisch werden und sagen, Gott sei Dank wurde diese Kirche im 2. Weltkrieg zerstört. Denn mit ihr ging, symbolisch, die – eigentlich seit Luther – skandalöse Kirche-Staat-Einheit in die Trümmer. Aber ein Turm blieb ein bisschen erhalten und er wird als Ruine ständig weiter gepflegt. Der sehr gelungene Kirchenneubau durch den Architekten Egon Eiermann (die Einweihung fand am 17. Dezember 1961 statt) behielt aber wieder den Titel Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Dass die Gemeinde eigentlich den Frieden und nicht den Kriegsherren Kaiser Wilhelm I. verehren will, ist ansatzweise wenigstens schon jetzt offenkundig: Es wird die Zeichnung eine „Stalingrad-Madonna“ ausgestellt, sie erinnert an den Tod deutscher UND russischer Soldaten.

Nun ist aber angesichts der Terror-Attacke vom 19. Dezember 2016 der Moment gekommen, der Kirche insgesamt, auf dem zentralen Breitscheid-Platz, einen neuen Namen zu geben. Ein Symbol mit einem neuen Namen muss der Gewalt auf diesem Breitscheid-Platz widerstehen! Übrigens: Rudolf Breitscheid war als SPD Politiker Widerstandskämpfer, er ist im KZ Buchenwald ermordet worden. An diesem zentralen Platz in Berlin also, wo sich so viel Schrecken und Leiden am 19.Dezember ereignete, muss eine Kirche präsent sein, die zu Mord und Totschlag und Terror schon im Titel NEIN sagt: Und dies kann nur eine Kirche sein, die Friedens-Kirche heißt. Kaiser Wilhelm war Kriegs-Treiber. Also: Weg mit ihm aus der religiösen Erinnerung.

Seit dem 19. Dezember 2016 gibt es also keinen Grund mehr, sich in einem Gotteshaus an den Kriegsherren Kaiser Wilhelm I. zu erinnern. Dieser Herr und Kirchenfürst hat ausgedient; er darf nur noch historisch-kritisch studiert werden, er darf nicht länger mehr „Namenspatron“ einer Kirche sein.

In der Friedenskirche auf dem Breitscheid-Platz können dann weiter, wie schon am 20.12., interreligiöse Friedensgebete und Friedensfeiern und Friedensdiskussionen stattfinden, selbstverständlich auch mit jüdischen und islamischen Gemeinden oder auch mit buddhistisch-Frommen und den in Berlin so zahlreichen humanistisch Engagierten. Friede ist etwas Universales. Eine Friedenskirche darf nicht konfessionalistisch verengt sein.

Kaiser Wilhelm ist, Gott sei Dank, in seinem Sarg fest eingeschlossen. Sein Gespenst huscht nicht mehr durch die Kirche auf dem Breitscheid-Platz. Leben soll dort nur der Friede, der von allen Menschen gesucht wird. Diese neue Friedenskirche wird dann auch ein beliebtes Zentrum für Dialog und Toleranz werden.

Zudem: Der Verzicht auf den unsäglichen Kaiser-Wilhelm-Titel wäre ein toller Beitrag im Luther – und Reformationsgedenken 2017. Da würden die Stadt Berlin und die Menschen im ganzen Land spüren: Die evangelische Kirche bewegt sich etwas, sie denkt mit; sie setzt Zeichen des Lebens auch dadurch, dass sie sich – endlich – von historischen Schrott-Titeln trennt. Damit wäre im Reformationsgedenken 2017 ein Weg geöffnet, über viele andere unsägliche Namen evangelischer Kirchen nachzudenken: Was soll eine “Königin-Luise-Gedächtniskirche”? Was bedeuten so banale Namen wie “Auenkirche” oder “Kirche am Seggeluchbecken”, um nur weitere Titel aus Berlin zu nennen? Gibt es denn keine ökumenischen Vorbilder oder Heilige? Ist die Kirche an Vorbildern so arm?  Je mehr man allerdings “die Gedächtnis-Kirche” auch als banalen Titel so toll und wunderbar findet, wird die Gedankenlosigkeit nur befördert.

Copyright: Christian Modehn im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.

 

Die Heimat des Weltbürgers: Ein philosophischer Salon.

Der erste religionsphilosophische Salon in Berlin im Jahr 2017 findet am Freitag, den 27. Januar um 19.00 wieder in der Galerie FANTOM, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Wir danken wieder herzlich bei den Verantwortlichen der Galerie FANTOM, dass wir uns dort schon seit etlichen Monaten treffen können!

Das aktuelle, durchaus politische, aber wie üblich immer auch philosophische Thema:

Die Heimat des Weltbürgers (des Kosmopoliten).

Nur wer auch Kosmopolit ist, kann die kleine Welt der eigenen Heimat schätzen und bewerten. Und ist vor dem Wahn des Nationalismus etwas geschützt. Und ist am Aufbau einer gerechten Weltgesellschaft interessiert. Und interessiert sich leidenschaftlich für EUROPA (das ja nicht nur „Brüssel“ ist). Und hält die Menschenrechte für unendlich wichtiger als die dummen Sprüche am Stammtisch. Wir bereiten uns also in gewisser Weise auf philosophischen Widerstand vor gegen alle Formen des rechten (rechtsextremen) Populismus!

Gleichzeitig werden wir überlegen, wie der zunehmende Nationalismus eine Form kollektiven Egoismus ist und überwunden werden kann. Was hilft das kritische, „allgemeine“ philosophische Denken dabei? Haben Religionen und Kirchen als internationale Gemeinschaften die Kraft, dem Nationalismus Einhalt zu gebieten?

Wir hoffen, dass Teilnehmer aus vielfältigen Kulturen, etwa Südeuropas, Lateinamerikas, Afrikas, diesmal mit uns debattieren. Nur so macht die kosmopolitische Haltung als Lebensform ja Sinn. Selbstverständlich werden wir dabei die Vorschläge Kants zum Weltbürger und zum Frieden erörtern.

Unser Salon besteht 2017 10 Jahre mit über 100 Salonabenden. Als “Eigenlob” gesagt: “Recht hübsch eigentlich“… Eine philosophische “Basisinitiative”… Und: Dank an alle, die immer wieder mal dabei sein können oder neu dazukommen und mitdenken und weiterdenken.

Es ist ein Ziel der Initiatoren und sicher aller TeilnehmerInnen, dass sich die Idee des philosophischen Salons etwas mehr herumspricht und an anderen Orten auch realisiert als Form qualifizierten, grundsätzlichen und philosophischen, d.h. freien Nachdenkens, außerhalb dogmatischer Systeme. Als Form des – im guten Sinne – (welt)bürgerlichen Miteinanders in der Stadt.

Anmeldung erbeten an: christian.modehn@berlin.de

copyright: Christian Modehn, Berlin