Der Krieg der Bauern im Allgäu – gegen die „Herren Äbte“ in den Klöstern!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.5.2025.

Dieser kurze Hinweis ist eine Ergänzung und Verteigung zu unserem Beitrag über den Reformator Thomas Müntzer. LINK

1.
Auch die Bauern im Allgäu konnten ihre Lebensbedingungen, also Ausbeutung und Leibeigenschaft, zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht länger ertragen: Sie wagten den Aufstand gegen ihre Herren: Diese Herren waren vor allem die sich christlich nennenden Äbte der Klöster, „geistliche Herrschaften“. Die Benediktiner-Klöster in Augsburg, Ottobeuren und Irsee etwa verfügten über sehr viel mehr Territorien als die weltlichen Reichsstädte Memmingen, Kaufbeuren und Kempten. Die Äbte forderten exzessiv Abgaben von den Bauern.
Als sie den Aufstand wagten, „standen die Bauern mit dem Rücken zur Wand, um ihre Freiheit, gesellschaftliche Anerkennung und politische Teilhabe zu erkämpfen. Hinzu kam ihre Sehnsucht nach einer christlichen Seelsorge, die diesen Namen auch verdient hätte,“ schreibt der Historiker Stefan Fischer in seiner „Kleinen Geschichte des Bauernkriegs 1525“ mit dem Titel „Aufruhr im Allgäu“ (S. 140). Auch wenn die Bauern der Übermacht der Herren unterlegen waren: Sie hatten immerhin im März 1525 die grundlegenden „Zwölf Artikel“ in Memmingen formuliert: Dies sind die ersten Forderungen, Menschenrechte und Freiheitsrechte auch für Bauern, „den gemeinen Mann“, durchzusetzen. Interessant ist, dass das „Gottes Recht“, also das Wort Gottes (Weisungen der Bibel), herrschen sollte und nicht das willkürliche, menschliche „Rechtswesen“, das zugunsten der Herren von den Herren formuliert wurde. „Das „göttliche Recht“ forderte in letzter Konsequenz eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das „göttliche Recht“ der Bibel hatte also, wörtlich genommen und ohne den klerikalen Filter gelesen, eine revolutionäre Bedeutung. In dem Zusammenhang von „religiösem Fundamentalismus“ zu sprechen, ist schwierig, weil es von der Vernunft her formulierte Menschen Rechte noch nicht gab. Und der Humanismus, etwa eines Erasmus, fand keine weite Anerkennung, durch Martin Luther, den Feind der Philosophie, auch nicht.
Zu den „Zwölf Artikeln”: Siehe Fußnote 1.
Bemerkenswert ist: Diese Zwölf Artikel wurden als Druckschrift mit sehr hoher Auflage verbreitet. Dieser Text hatte eine weite Wirkung bis in die USA und nach Frankreich.

2.
Das Buch von Stefan Fischer macht einmal mehr klar: Der Bauernkrieg war keineswegs nur ein auf Mitteldeutschland begrenztes Ereignis und keineswegs nur ein Kampf unter der Inspiration des Reformators Thomas Müntzer. Das Buch bietet nicht nur eine anschauliche, differenziert argumentierende Beschreibung der Ereignisse im Krieg der Bauern gegen ihre Herren, es werden auch entscheidende Stichworte zum Hintergrund ausführlich erläutert, wie „Die Leibeigenschaft“, „Der Bundschuh“, „Der schwäbische Bund“ oder ausführliche Informationen auch zu wichtigen Protagonisten in diesen Auseinandersetzungen wie „Sebastian Lotzer“ oder „Gordian Seuter“.
Die geistlichen Herren in den Klöstern, wie im Stift Kempten, hielten nach der Niederlage der Bauern 1525 an der Leibeigenschaft, wenn auch “gemäßigt“ (S. 132) fest. Nach dem Krieg wurde eine die politische Mitwirkung der Bauern in ihrer Heimat sehr begrenzt gewährt. Die Leibeigenschaft wurde erst 1803 gesetzlich abgeschafft.

3.
Das Benediktinerkloster Ottobeuren hat kürzlich (2023) ein neues durchaus prächtig zu nennendes „Klostermuseum“ eröffnet: Tatsächlich: „Eines der modernsten Museen im Allgäu, hier werden Wissen und Informationen spannend, interaktiv, multimeldial vermittelt“, wie es im offiziellen Werbe- Flyer heißt (https://www.vereinigung-ottobeuren.de/klostermuseum/).
Nebenbei: Es ist eher wahrscheinlich, dass das ganze Kloster bald zum Museum wird; zur Zeit leben in dem riesigen Klostergebäude noch 15 Mönche eher reiferen Alters (https://www.abtei-ottobeuren.de/content/konvent/konvent/).
Leider nur bis zum 1.6.2025 ist eine Sonderausstellung „Spuren des Bauernkrieges“ im Theatersaal des Klostermuseums Ottobeuren zu sehen; danach, ab 1. Oktober 2025 für knapp drei Monate noch einmal im Stadtmuseum Memmingen. Dabei gehört doch das Thema „Bauernkrieg und das Kloster Ottobeuren“ wirklich auf Dauer in die zentrale „moderne“ Ausstellungswelt des Klostermuseums. Aber es ist für Klöster immer noch unangenehm , wenn sie im Blick auf die eigene Geschichte zugeben und dokumentieren müssen: Auch wir katholischen Mönche hatten leibeigene Bauern, die sich im Geist des Evangeliums gegen uns, den Klerus, im Krieg erhoben… Gewiss: Die Bauern haben 1525 das reiche Kloster Ottobeuren geplündert. Aber es zeigt die begrenzte Sichtweise: Nur dieses Ereignis der Plünderung wird in der offiziellen Kloster „Zeittafel“ erwähnt. (https://abtei-ottobeuren.de/content/klosteranlage/historisches/). So wird der kritische Blick der Besucher des prächtigen modernen Klostermuseums nicht übermäßig geschärft. Und der tatsächliche (dokumentierte) Glanz wissenschaftlicher Leistungen einiger Mönche dieses Klosters bleibt in der Erinnerung. Die barocke Klosterwelt muss ad aeternum nichts als schön sein.
Zur barocken Basilika des Klosters: prachtvoll, himmlisch und außerirdisch:https://abtei-ottobeuren.de/content/klosteranlage/die-basilika/

Fußnote 1:
Flugschrift der Zwölf Artikel von 1525
Eine der Originalurkunden der Zwölf Artikel wird im Stadtarchiv Memmingen verwahrt. Nachfolgend eine grobe Übertragung des Texts der Zwölf Artikel in heutiges Deutsch:
– Jede Gemeinde soll das Recht haben, ihren Pfarrer zu wählen und ihn zu entsetzen (abzusetzen), wenn er sich ungebührlich verhält. Der Pfarrer soll das Evangelium lauter und klar ohne allen menschlichen Zusatz predigen, da in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen können.
– Von dem großen Zehnten sollen die Pfarrer besoldet werden. Ein etwaiger Überschuss soll für die Dorfarmut und die Entrichtung der Kriegssteuer verwandt werden. Der kleine Zehnt soll abgetan (aufgegeben) werden, da er von Menschen erdacht (und nicht biblisch begründet) ist, denn Gott der Herr hat das Vieh dem Menschen frei erschaffen.[7]
-Ist der Brauch bisher gewesen, dass man uns für Eigenleute (Leibeigene) gehalten hat, welches zu erbarmen ist, angesehen, dass uns Christus alle mit seinen kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.
– Ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen. Denn als Gott der Herr den Menschen erschuf, hat er ihm Gewalt über alle Tiere, den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser gegeben.
– Haben sich die Herrschaften die Hölzer (Wälder) alleine angeeignet. Wenn der arme Mann etwas bedarf, muss er es für das doppelte Geld kaufen. Es sollen daher alle Hölzer, die nicht erkauft sind (gemeint sind ehemalige Gemeindewälder, die sich viele Herrscher angeeignet hatten), der Gemeinde wieder heimfallen (zurückgegeben werden), damit jeder seinen Bedarf an Bau- und Brennholz daraus decken kann.
– Soll man der Dienste (Frondienste) wegen, welche von Tag zu Tag vermehrt werden und täglich zunehmen, ein Einsehen haben und uns nicht so sehr belasten, so, wie unsere Eltern gedient haben, allein nach Laut des Wortes Gottes.
– Soll die Herrschaft den Bauern die Dienste nicht über das bei der Verleihung festgesetzte Maß hinaus erhöhen. (Eine Anhebung der Fron ohne Vereinbarung war durchaus üblich.)
– Können viele Güter die Pachtabgabe nicht ertragen. Ehrbare Leute sollen diese Güter besichtigen und die Gült nach Billigkeit neu festsetzen, damit der Bauer seine Arbeit nicht umsonst tue, denn ein jeglicher Tagwerker ist seines Lohnes würdig.
– Werden der großen Frevel (Gerichtsbußen) wegen stets neue Satzungen gemacht. Man straft nicht nach Gestalt der Sache, sondern nach Belieben (Erhöhungen von Strafen und Willkür bei der Verurteilung waren üblich). Ist unsere Meinung, uns bei alter geschriebener Strafe zu strafen, wonach die Sache gehandelt ist, und nicht nach Gunst.
– Haben etliche Wiesen und Äcker, die einer Gemeinde zugehören (Gemeindeland, das ursprünglich allen Mitgliedern zur Verfügung stand), angeeignet. Die wollen wir wieder zu unseren gemeinen Händen nehmen.
– Soll der Todfall (eine Art Erbschaftssteuer) ganz und gar abgeschafft werden, und nimmermehr sollen Witwen und Waisen so schändlich wider Gott und Ehre beraubt werden.
– Ist unser Beschluss und endliche Meinung, wenn einer oder mehr der hier gestellten Artikel dem Worte Gottes nicht gemäß wären …, von denen wollen wir abstehen, wenn man es uns auf Grund der Schrift erklärt. Wenn man uns schon etliche Artikel jetzt zuließe und es befände sich hernach, dass sie Unrecht wären, so sollen sie von Stund an tot und ab sein. Desgleichen wollen wir uns aber auch vorbehalten haben, wenn man in der Schrift noch mehr Artikel fände, die wider Gott und eine Beschwernis des Nächsten wären.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Zw%C3%B6lf_Artikel

Stefan Fischer, „Aufruhr im Allgäu. Kleine Geschichte des Bauernkriegs 1525.“ Verlag Friedrich Pustet2024, 144 Seiten, 16.95€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Der Bauernkrieg und der Theologe Thomas Müntzer.

Vor 500 Jahren (am 27. Mai) wurde Thomas Müntzer in Mühlhausen hingerichtet.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 11.5.2025.

Zur Erinnerung: Wir nennen unsere Beiträge Hinweise: Und das bedeutet immer eine sanfte Aufforderung: Lest diesen Hinweis und … fragt und studiert weiter. Das gilt auch für diesen Hinweis. Er versucht, die Theologie Thomas Müntzers in einen aktuellen Rahmen zu stellen und  auch Zweifel an einer umfassenden theologischen Kompetenz Martin Luthers zu verstärken. Über die rigorose Ablehung der Vernunft durch Luther  als einer entscheidenden Kraft auch in den Kirchen haben wir uns schon geäußert, auch im Zusammenhang der Auseinandersetzungen Luthers mit Erasmus in dieser Frage.  (Siehe 2.)

1. Die Aktualität.
Wir haben 2016 auf die Bedeutung Thomas Müntzers hingewiesen, zumal auf seine Erkenntnis, dass christliche „Erlösung“ viel mehr ist als nur ein Seelentrost. Erlösung ist als Befreiung zu verstehen, auch als materiell – spürbare Befreiung der Armen von Unrecht und Ausbeutung. Die bleibende Frage, die durch Thomas Müntzer drängend und dringend ist: Gibt es eine „materiell und politisch spürbare, „greifbare“ Erlösung – im Sinne von „Gerechtigkeit für alle“ und Frieden als Basis des humanen Lebens? Wer die lateinamerikanische Theologie der Befreiung kennt, wird diese Frage mit Ja beantworten, an der Zustimmung zu Gewalt und Krieg (in den letzten Monaten Müntzers) liegt freilich die Differenz zur Befreiungstheologie. Zu unserem Hinweis (2016) auf Müntzer als dem fast vergessenen Reformator: LINK

2. Der Gegner von Martin Luther
Dass Thomas Müntzer in seiner radikalen Solidarität mit den aufständischen Bauern gescheitert ist, steht fest. Er ist als Bauernführer in der Schlacht von Frankenhausen 1525 untergegangen, auch aufgrund seiner – in heutigen Begriffen – fundamentalistischen Bibeldeutung. Er sah sich als ein vom heiligen Geist Auserwählter berufen, aus seiner Deutung der Bibel unmittelbar politische Konsequenzen zu ziehen. Müntzers Gegner Martin Luther war auf seine Art ebenfalls ein fundamentalistischer Bibelinterpret, indem er etwa den „Gehorsam gegenüber den Untertanen“ von Paulus (Römerbrief 13, 1-7) übernahm, ohne vernünftige , d.h vermittelnde Reflexion auf die Anwendung dieses Bibelspruches. Aber es gab damals leider keine historisch – kritische Bibelwissenschaft, keine Hermeneutik, das gilt auch für Bibel – Interpretation Thomas Münzers!

Martin Luther hat in seiner Schrift, verfasst im Jahr 1525, “Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern” die Fürsten ermuntert, die aufständischen Bauern in ihrem Kampf niederzuschlagen. Er forderte jeden Christen tatsächlich auf, diese Bauern zu töten, “als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss”, so wörtlich im Text des berühmten Reformators. Damit waren auch die Beziehungen zwischen dem Reformator Luther und dem Reformator Müntzer definitiv zerbrochen, mit tödlichen Folgen für Müntzer und die Bauern. Man möchte sagen: Luthers auf das Spirituelle und “Innertheologische” begrenzte Reformation hatte über die spirituelle UND politische Reformation Müntzers gesiegt. Lutheraner und ihre Pastoren sind seitdem – pauschal gesagt – politisch fast immer aufseiten der Fürsten und Könige gewesen, siehe die Staatskirchen in Deutschland (die Kolonialherren Wilhelm I und II als Kirchenführer!) oder die lutherischen Staatskirchen in Schweden Dänemark, Norwegen, Schweden bis vor wenigen Jahren. Es gilt also, was der Historiker Hans – Jürgen Goertz schreibt: Weil Luther die Reformation dem Schutz der weltlichen Obrigkeit anvertraute, “begann diese, den politischen und kirchlichen Bereich zu disziplinieren, auch ihre religiös verordnete Unantastbarkeit allmählich zu einer gottbegnadeten Aura politisch zu steigern  und den `gemeinen Mann` zum Untertan zu erniedrigen.” (Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer, München 2015, S. 244).

3.
Die große Studie von Lynda Roper über den Bauernkrieg mit dem Titel „Für die Freiheit“ (C.H.Beck Verlag 2025) stellt die ganze Breite der Massenbewegung des Bauernkrieges dar, sie beweist damit auch, dass Thomas Müntzer dabei keineswegs im Mittelpunkt steht: Es ist sicher einer ideologisch bedingten Verehrung Müntzers durch die DDR geschuldet, auch wegen der Wahrnehmung des Bauernkriegs-Panoramas (von Werner Tübke) in Bad Frankenhausen, dass Müntzer im Bewusstsein vieler noch immer als „der“ Hauptprotagonist im Bauernkrieg fixiert wird. Selbst man seine Rolle nun relativiert: Theologisch bedeutend bleibt Müntzer trotzdem.

4. Der Bauernkrieg als Massenaufstand
Lynda Roper zeigt ausführlich: Der Bauernkrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts war ein Massen – Aufstand der armen Bauern gegen ein System des Unrechts, repräsentiert vom Adel und hohen Klerus. Er war ein Aufstand der Verzweifelten, der sehr heftig und total rücksichtslos von den etablierten Herrschern niedergeschlagen wurde. Die angebliche „Ordnung” der Klassen in einem hierarchischen System blieb weiterhin erhalten.
Der Bauernkrieg war nicht etwa nur auf den Raum Mitteldeutschlands begrenzt, sondern er hatte auch die Armen in weiten Teilen Badens, Württembergs, Südtirols und des Salzburger Landes erfasst.
Eine ARTE Dokumentation hat die bisher unterdrückte bzw. übersehene Teilnahme der Frauen an diesem Kampf dokumentiert. Zum Film ist verfügbar bis 7.8.2025: LINK https://www.arte.tv/de/videos/117712-000-A/die-frauen-des-bauernkriegs/

5. Beginn der deutschen Gewaltgeschichte
Die in Frankenhausen 1525 kämpfenden Bauern wurden Opfer eines Massakers der Herrschenden. Etwa 100.000 Bauern ließen in ihrem Kampf ihr Leben. Peter Seibert zeigt in seinem Buch „Die Niederschlagung des Bauernkrieges 1525“: Diese Niederlage der Bauern ist der „Beginn einer deutschen Gewaltgeschichte“, so der Untertitel zu Seiberts Studie (Dietz Verlag, Bonn 2025). Nach der Hinrichtung Müntzers am 27. Mai 1525 wurde sein Kopf sichtbar für alle aufgespießt, als Zeichen der absoluten Niederlage der Sache der Bauern. Seibert zeigt, welchen Repressionen die Bauern nach ihrer Niederlage unterworfen waren. So wurde etwa die Leibeigenschaft noch einmal verschärft. Der adligen Opfer des Krieges wurden öffentlich voller Trauer gedacht, die vielen tausend toten Bauern (die Frauen zumal) sind meist als namenlose “Masse” untergegangen un der Erinnerung entschwunden. So ist Siegergeschichte bis heute. Zur aktuellen Müntzer – Ausstellung in Mühlhausen: LINK

6. Müntzer als Reformator reformiert Einsichten Luthers
Zu unseren schon 2016 publizierten Hinweisen zu Thomas Müntzer noch einmal grundsätzliche Erinnerungen:
Müntzer war zwar kein Universitäts-Theologe. Aber er war „ein Theologe, ein Seelsorger und Prediger.“ Er wurde ja als katholischer priester ausgebildet mit Studien an der Universität in Frankfurt/Oder!  Der Müntzer Forscher Hans – Jürgen Goertz hat eine „völlig überarbeitete und teilweise neugeschriebene“ Ausgabe seines Standardwerkes (von 1989) „Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten“, im C.H.Beck Verlag veröffentlicht,  erschienen 2015.
Goertz erinnert: Müntzer wollte „die Lehre der Wittenberger Reformatoren „in ein besseres Wesen führen“ zu wollen (S. 276). Das ist entscheidend: Müntzer verändert, reformiert sozusagen die Einsichten Luthers: Sie führen ihn ins Politische, ins Eintreten für die Armen. „Es ist Zeit, auf den Bauernkrieg zurückzukommen, damit wir wieder eine Reformation in den Blick nehmen, die sich in ihrer Radikalität von Luthers tröstlichen Wahrheiten gelöst hat“, schreibt auch Lynda Roper (S. 14.)

7. Mit Gott eins
Selbst wenn Luther von einer „Neubestimmung der christlichen Identität“ sprach als Konsequenz seiner Gnadenlehre, so wird man zu Müntzers speziellen Glauben betonen müssen: Er hat die reformatorische Spiritualität aus dem Innenraum des Spirituellen befreit, und zwar auf eine originelle Weise. Die theologische Basis dafür ist: Jeder Christ ist durch die Gnade sozusagen unmittelbar mit Gott eins. Und das hat Konsequenzen, auch politische!

8. Eine Theologie der Revolution, inspiriert von der Mystik
In den Herzen der Gläubigen redet Gottes Geist: Der heilige Geist spricht zumal in den besonders Erwählten, zu denen sich Müntzer rechnete. Und diese Erwählten verstehen es, den Geist Gottes aktuell in der politischen Situation zu deuten und in die Praxis umzusetzen. Die Laien, vor allem die Bauern, wissen aufgrund ihrer unmittelbaren Gotteserfahrung, also durch ihre eigene Erfahrung des heiligen Geistes: Durch ihren Befreiungskampf will Gott selbst einen Herrschaftswechsel politisch und sozial durchsetzen. „Müntzer hat tatsächlich eine Theologie der Revolution `avant la lettre erfunden. Diese Theologie erwuchs aus dem Geist der Mystik, aus dem Eindruck, den die apokalyptische Zeitströmung auf ihn ausübte…“( Goertz, S. 280). Problematisch bleibt der extreme Anspruch Müntzers, berufen zu sein, die Auserwählten (Arme Bauern) und die Gottlosen (die Fürsten, die sich nicht bekehren) nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch die Auserwählten in einen politischen Kampf gegen die Gottlosen zu schicken. Die Herrschenden waren für Müntzer nicht Wesen von unantastbarer heiliger Würde. Luther wetterte zwar gegen die Herrschaft der Päpste, aber nicht gegen die Herrschaft der Fürsten. Er brauchte sie für den Erfolg seiner Reformation.

9. „Eine fügliche Empörung“
Hans- Jürgen Goetz zeigt in seiner Studie: Müntzer sprach von einer, so wörtlich „füglichen Empörung“, also von einem Aufstand „der nicht egoistischen, herrschsüchtigen Motiven entspringt, sondern Intentionen verfolgt, die sich in aller Gelassenheit dem Willen Gottes anvertrauen und selbstlos auf das zukünftige Reich des Friedens und der Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Das ist zwar keine pazifistische Gesinnung, aber doch eine skrupulöse Haltung gegenüber der Anwendung von Gewalt im allgemeinen.“ (S. 285).

10.  Müntzer bleibt ein Außenseiter in den Kirchen!
Wird die Erinnerung an Müntzer wenigstens ins Nachdenken darüber führen, dass christliche Erlösung – im Sinne Jesu von Nazareth – niemals nur eine seelische Erlösung sein darf? Sondern auch, dass die „seelisch Erlösten“ um Gerechtigkeit für alle kämpfen sollen?
Man wird dazu angesichts der offenbar schon konservativen Wende – auch in den meisten Kirchen heute – skeptisch bleiben.
Und auch dies zum Schluss: „Keine Kirche hat sich bemüht, das Denken Thomas Müntzers aufzunehmen und im Laufe der Jahrhunderte weiterzuentwickeln“, so der Historiker Hans-Jürgen Goertz. (S. 275).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ergänzung am 23.5.2025: Die Tageszeitung ND (Neues Deutschland) veröffentlichte am 22.5.2025 einen Beitrag von Dr. Marion Damaschke, der Vize-Vorsitzender der Thomas-Müntzer-Gesellschaft in Mühlhausen. Hier ein Auszug aus dem Essay:

Am Vorabend der Schlacht (in Frankenhausen) galt Thomas Müntzer bei Freunden und Feinden als die spirituelle Führungsgestalt der Aufständischen. Hatten diese die Fürsten noch wissen lassen, »Wir sint nicht hie, yemant was tzu thon, … sonder von wegen go(e)ttlicher gerechtikeit tzu erhalten. Wir sint ouch nit hie von wegen blutvergissung«, antworteten ihnen die Belagerer, dass allein die Obrigkeiten diejenigen seien, »denen von Got das schwert beuolhen« (befohlen), und sie gekommen seien, »euch darumb als die lesterer Gotes zu straffen«. Ultimativ forderten sie »den falschen propheten Thomas Montzer sampt seynem anhange lebendig herausantwortet« (herauszugeben) und dass man sich »in vnser gnad vnd vngnad ergebet«. Die Forderung wurde mehrheitlich abgelehnt. Als sich um die Sonne ein Ring zeichnete, predigte Müntzer, dass dies das göttliche Himmelszeichen sei. »Si sollten nur hertzlich streiten und keck sein.« Die Versammelten stimmten den Pfingstchoral an. Diese Situation nutzten die fürstlichen Truppen und feuerten mit ihren in Stellung gebrachten Geschützen in die Wagenburg. Reiter drangen in das Lager ein. Panik brach aus. Etwa 6000 Aufständische verloren im Gemetzel ihr Leben.

Müntzer konnte noch fliehen und sich in der Stadt verbergen, wo er jedoch bald von Söldnern entdeckt und Graf Ernst von Mansfeld, seinem ärgsten Feind, übergeben wurde. Im Wasserschloss Heldrungen begann am 16. Mai 1525 das Verhör. In der Absicht, Müntzers Lehre und Tun als ketzerisch und ungesetzlich zu brandmarken, sorgten die Sieger dafür, dass Mitschriften von Aussagen, die er während des Verhörs gemacht hatte, schnell verbreitet wurden. Mit dem irreführenden Titel »Bekenntnis Thomas Müntzers« (Bekentnus Thomas Muntzers) wurde es sogleich variationsreich mehrfach gedruckt. Befragt nach dem Ziel des Aufruhrs soll Müntzer unter Folter gesagt haben: »Dye entporunge habe er darumb gemacht, das dye christenheyt solt alle gleych werden und das dye fursten und herrn, dye dem evangelio nit wollten beystehen, sollten vortriben und totgeschlagen werden.« Der Grundsatz seines Verbündnisses sei gewesen, dass alle Güter jedem nach seinen Bedürfnis ausgeteilt werden: »omnia sundt communia«. Müntzer war gewillt, die Normen und Gebote des Evangeliums radikal zu befolgen, wobei er den Abbau der sozialen Ungleichheit einschloss. Als Luther den Verhörtext las, sah er darin Müntzers teuflische Verstockung und Verblendung. Für ihn blieb Müntzer ein »Werkzeug des Satans« und ein »Zerstörer aller Ordnung«.
Mit gebrochenen Händen nicht mehr zum Schreiben fähig, diktierte Müntzer am 17. Mai 1525 seinen letzten Brief, der an die christliche Gemeinde und den Rat in Mühlhausen gerichtet war. Er forderte sie auf, die Fürsten um Gnade zu bitten, »dormit des vnschuldigen bluts nit weyter vorgossen werde«. Die Schuld am Scheitern des Aufstands sah er darin, dass er vom Volk nicht recht verstanden worden sei, vor allem aber dass »eyn yder seyn eygennutz mehr gesucht dan dye rechtfertigung der christenheyt«. In diesem Abschiedsbrief bat er auch darum, seiner Frau Ottilie von Gersen seine Bücher und den Hausrat auszuhändigen, was aber nicht geschah. Unklar ist, wie es seiner Witwe und dem gemeinsamen Kind erging.
1531 beklagte Luther, dass zu Müntzers Richtstätte auf dem Rieseninger Berg viele »gewissenslose Leute« pilgerten, die nicht nur aus dem nahen Mühlhausen kämen. Er forderte, dass derart Verehrung aufhören müsse. Die Hinrichtungsstätte wurde über Jahrhunderte hinweg zu einem Ort wechselnder Gedenkkultur. 1901 wurde auf dem Rieseninger Berg ein Bauernkriegs-Denkstein errichtet, dessen Inschrift dem Bauernkrieg von 1525 als Mühlhausens Unglücksjahr gewidmet war, in dem ein Strafgericht über das Zentrum der radikalreformatorischen Bewegung gehalten wurde.

Von Marion Damaschke erschienen unter anderem diese Bücher: »Signaturen einer Epoche. Beiträge zur Geschichte der frühen Neuzeit« (2012), »Thomas Müntzer. Keine Randbemerkung der Geschichte« (2017), »Bauernkrieger im Talar: Thomas Müntzer in der Belletristik« (2021) sowie »Thomas Müntzer im Blick« (2023).

Immerhin hat die evangelisch – lutherische Gemeinde zu Mühlhausen einen Fernseh-Gottesdienst im ZDF am 25. mai 2025 gestalten können zum Thema Thomas Müntzer. LINK.

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin

Der Augustinermönch Papst Leo XIV. und der Augustinermönch Martin Luther

Ein Hinweis von Christian Modehn am 8. Mai 2025.

Papst Leo XIV. ist Mitglied des Augustiner – Ordens, dem auch der Reformator Martin Luther angehörte. Zu Luthers Zeiten noch „Augustiner Eremiten“ genannt.

Papst Leo XIV. und Martin Luther sind in gewisser Weise, wie es in Kirchenkreisen heißt, „Mitbrüder.“ Werden sie zerstrittene „Mitbrüder“ bleiben? Martin Luther war von 1505 -1524 Augustiner-Mönch. Seit der Zeit trug er nicht mehr die Ordenskleidung und zeigte öffentlich sein “Anderssein” als Reformator.

Ob Leo XIV. die Papstkritik seines Mitbruders Martin Luther ernst nimmt und die Ökumene als versöhnte Verschiedenheit der Kirchen und Christen voranbringt? Das wünschen sich einige an der Ökumene noch Interessierte. Ich halte es eher für unwahrscheinlich.

Papst Leo XIV. hat zwar in seiner Biografie sicher viele wichtige unterschiedliche Erfahrungen. Etwa Arme und Armut in Peru, Befreiungstheologie in Peru, Universitätserfahrungen an der Universität der Augustiner in Philadelphia USA (Villanova-Uni) sowie die Besetzung von Bischofsstühlen weltweit, organisiert von seinem einstigen „Bischofs-Ministerium“ im Vatikan…
Aber Ökumene? Vielleicht helfen etwas Gedanken des heiligen Augustinus weiter vom gemeinschaftlichen Kloster Leben in der Verschiedenheit der Mentalitäten.
Wünschen würde ich vor allem, dass ein Augustiner als Papst im 21. Jahrhundert endlich die furchtbare und falsche Erbsündenlehre des heiligen Augustinus beiseite legt, also abschafft. Aber auch das ist sogar sehr unwahrscheinlich. Dogmen werden nicht abgeschafft…Aber warten wir ab…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

“Der Engel der Geschichte” von Walter Benjamin. Eine Interpretation.

Erläuterungen zu den 18 Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ von Walter Benjamin.
Von Christian Modehn am 6. Mai 2025.     Anläßlich der Ausstellung im Bode – Museum in Berlin LINK

Der dichte und intensive, durchaus schwierige Text Walter Benjamins ist heute aktuell: Weil wir mit ihm nach dem Sinn des Fortschritts fragen und einer kritischen Erinnerungskultur, nach der Anwesenheit von Hoffnungszeichen in der Geschichte und: Wie denn ein Engel, möglicherweise Göttliches, dabei von Bedeutung ist. Walter Benjamin arbeitete an diesem Essay im Jahr 1940. Das Manuskript übergab er im September 1940 Hannah Arendt, sie sollte es bewahren und retten, als er mit ihr auf der Flucht vor den Nazis war. Walter Benjamin starb am 26. September 1940 in Port Bou, in Spanien, dicht an der französischen Grenze. Geboren wurde Benjamin am 15. Juli 1892 in Berlin.

1.
Aus dem Text „Über den Begriff der Geschichte“ wird immer wieder ausschließlich die IX. These besprochen und diskutiert und dabei so getan, als käme für Benjamin alles auf den dort erwähnten ENGEL des Künstlers Paul Klee an (also auf die aquarellierte Zeichnung „Angelus Novus“ von 1920). Diese Fixierung auf einen „Engel-Zusammenhang“ ist zu eng. Man sollte den „Engel“ Benjamins im Zusammenhang der übrigen 17 Thesen des Essays „Über den Begriff der Geschichte“ verstehen. Der Text Benjamins: LINK

2.
Zur zentralen Aussage der 18 Thesen: Sie sind miteinander verschränkt und aufeinander bezogen, also nicht etwa beliebig nebeneinander gestellt. Benjamin schreibt diese Thesen, wie er darin selbst sagt, in Zeiten des Faschismus. Konkret also ist diese Arbeit in seinen durchaus verzweifelten „Kampf gegen den Faschismus“ eingebunden. Die Thesen sind also auf eine politische Katastrophe (auf den Faschismus) bezogen. Dies macht Benjamins Aussagen heute, im Mai 2025, aktuell und bedeutsam. Mit dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ will Benjamin für eine Deutung der Geschichte plädieren – jenseits bürgerlicher Selbstverständlichkeiten. Benjamin sieht sich als Denker des historischen Materialismus im Sinne von Karl Marx, eine Parteibindung oder gar eine positive Äußerung zur KP oder gar zu Stalin ist im Text nicht zu finden. Für den Klassenkampf setzt sich Benjamin ein, und damit distanziert er sich von der Position der Sozialdemokratie. Sie ist der in seiner Sicht naiven Idee eines kontinuierlichen Fortschritts verpflichtet.

3.
Benjamin sieht die herrschende Deutung der Geschichte in der damals weit verbreiteten „historistischen“ Denkform: Diese geht in seiner Sicht davon aus, dass die Geschichte der Menschheit ein evolutiver Prozess ist, stetig nach vorn laufend, der Kenntnis vieler beliebiger Daten und Fakten verpflichtet. Benjamins Deutung der Geschichte hingegen geht von den grundlegenden und belastenden Fragen der Gegenwart aus und sucht deswegen nur nach einzelnen treffenden Inspirationen im Vergangenen. Im Sinne des historischen Materialismus springt der Historiker und der Philosoph also förmlich in die Ereignisse und Erfahrungen von einst, so findet er Inspirationen und Hilfe.

4.
In dieser Geschichtsdeutung ist eine Haltung wichtig, für die Benjamin den eher ungewöhnlichen Begriff EINGEDENKEN verwendet. Es geht ihm um eine besondere Form des Gedenkens an historische Begebenheiten: Im Ein – Gedenken lässt der Mensch das Erinnerte in sich hinein, in seinen Geist, seine Seele, seine Vernunft. Aller äußerliche, bloß aufs Wissen von Daten und Namen begrenzte Umgang mit Geschichte wird überwunden. Das Vergangene wird im Eingedenken als provozierender Anspruch an die Gegenwart erfahren. Diese Form eines lebendigen Umgangs mit Geschichte wird in der offiziellen Geschichtsdeutung vernachlässigt oder unterdrückt.

5.
Wichtig ist zu respektieren, dass Benjamin in den 18 Thesen als Marxist, als „historischer Materialist“ tatsächlich auf spirituelle, religiös anmutende Impulse wert legt. Diese können im Klassenkampf hilfreich sein, weil sie eine andere, tiefere Sicht auf die Geschichte, die Weltgeschichte, vermitteln: Diese Geschichte hat für Benjamin viel zu tun mit der Hoffnung auf Erlösung und dem messianischen Gedanken. Mit dem jüdischen Philosophen und Theologen Gerhard Scholem war der Jude Walter Benjamin verbunden. Wenn Benjamin von Theologie spricht in den 18 Thesen, meint er die jüdische Theologie.

6.
Zum ersten Mal, am 15. Juli 2017, wurde einige dieser Hinweise von Christian Modehn als Einführung in ein Gespräch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 14. 7. 2017 vorgetragen, in einer Galerie am Walter – Benjamin – Platz in Berlin – Charlottenburg.

7. Hinweis zur I. These:
Hier tritt der schon aus der Schrift „Berliner Kindheit“ bekannte „bucklige Zwerg“ auf, diesmal in einer positiven Rolle: Er lenkt nämlich ungeahnt das Tun der Sozialisten. Wie der „bucklige Zwerg“ diesen Einfluss hat und haben kann, wird von Benjamin nicht gesagt! Erstaunlich bleibt die Behauptung Benjamins einer Art geheimen „Steuerung“ des Sozialismus/ Marxismus durch die jüdische Theologie. Benjamin meint: Wenn denn der „historische Materialismus“, also der Marxismus im Sinne Benjamins, die Theologie „in ihren Dienst nimmt“, dann könne der Marxismus es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen“. Selbst angesichts der Tatsache, dass die Theologie im Augenblick „klein und hässlich ist“. Ohne Theologie als reflektierte Erwartung der Erlösung gibt es also keine erfolgreiche Gestaltung der Geschichte im Sinne des Marxisten Benjamin. Der historische Materialismus muss die Theologie – eine Spiritualität – in ihren Dienst nehmen, wenn er sich durchsetzen will. Das ist durch aus ungewöhnlich in sozialistischen Kreisen damals. Im Denken Rosa Luxemburgs hat Christian Modehn auch spirituelle Dimensionen nachgewiesen LINK.

8. Hinweis zur II. These:
Benjamin meint, „in der Vorstellung des Glücks schwingt unveräußerlich die Vorstellung der Erlösung mit“. Und diese Vorstellung ist auch in der Vergangenheit, in der Geschichte der Menschheit, zugegen: In der Vergangenheit ist „eine schwache messianische Kraft“ anwesend, also eine Art von „etwas Göttlichem“, das die Geschichte prägt. Weil die heutigen Menschen auch zur Geschichte gehören, kann diese Prägung durch „Göttliches“ bedeuten: „Dann sind wir auf der Erde erwartet worden“. Das heißt: „Es gibt eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem (Leben)“. Es gibt also aufgrund einer „schwachen messianischen Kraft“ in der Geschichte ein Verbundensein der Menschen untereinander. „Billig“ und mühelos kann der historische Materialist, also Benjamin, damit nicht umgehen.

9. Hinweis zur III. These:
Hier entwickelt Benjamin seine Kritik an der herrschenden Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie. Er zeigt zunächst ein partielles Verständnis für den Chronisten, also für den Historiker, der fein und säuberlich alle Ereignisse, auch die unbedeutend erscheinenden, aufzeichnet und bewahrt. Nichts darf für die Geschichte verloren gehen, schreibt Benjamin. Aber er geht darüber hinaus: Der Gesamt – Überblick über die Welt- Geschichte und damit über die Menschenwelt im ganzen ist erst der erlösten Menschheit, in der messianischen Zeit, also am Ende der Geschichte möglich. Benjamin spricht von dem „jüngsten Tag“, an dem alle Ereignisse „zitierbar“ seien, wie er sagt, also klar vor Augen eines jeden treten. Das ist dann die große Übersicht der Erlösten über die Geschichte. Hier werden überraschend für einen marxistischen Philosophen Dimensionen von Transzendenz angesprochen, also von einer Art himmlischen Rettung, einem „jüngsten Tag“, vom „jüngstem Gericht“ in der Theologie der Christen spricht er nicht.

10. Hinweis zur IV. These:
Der irritierende, an Karl Marx erinnernde Vorspruch ist das Hegel-Zitat von 1807: „Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen“ . Dies hat Hegel tatsächlich 1807 geschrieben. Das Zitat wirkt wie ein materialistischer Ausrutscher des Idealisten Hegel. (FUSSNOTE 1)
In dem Hinweis bietet Benjamin ein überraschendes Plädoyer: Die „feinen und spirituellen Dinge“ sollten von einem Marxisten ernst genommen werden, gerade wenn er den Klassenkampf entscheidend findet. So dringend der Kampf „um die rohen und materiellen Dinge“ auch ist, die spirituellen Dinge dürfen nicht ignoriert werden. Die „spirituellen Dinge“ werden von Benjamin allerdings sehr weltlich als „Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit“ im Klassenkampf beschrieben. Sie werden jeden Sieg der Herrschenden in Frage stellen, das heißt: auch über Niederlagen im Klassenkampf hinweghelfen. Genauso wichtig ist: Ohne den Klassenkampf zugunsten materieller und sozialer Gerechtigkeit kann es keine „spirituellen Dinge“ geben. Ins Heute übersetzt: Spiritualität ohne politischen Kampf kann es nicht geben. „Diese spirituellen Dinge wirken in die Ferne der Zeit zurück“, schreibt Benjamin. Sie sind rück – wirkend: Sie gelten also auch in der Vergangenheit, und sie verändern unser Bild der Vergangenheit. Auch die Vergangenheit ist spirituell “durchdrungen” im Sinne Benjamins…
Jetzt wird es in diesem dichten Text durchaus „mystisch“: Alles Gewesene, die Vergangenheit, wendet sich der Sonne zu, „die am Himmel der Geschichte am Aufgehen ist“. Auf die von der Sonne bewirkten „unscheinbarsten Veränderungen“ „muss der historische Materialist sich verstehen“. Er muss diese geheime spirituelle Kraft wahrnehmen lernen! Der historische Materialist, der Marxist, der Sozialist, muss also eine spirituelle Kraft in sich entwickeln, um überhaupt den Gang der Geschichte verstehen zu können.

11. Hinweis zur V. These:
Wer „das wahre Bild Der Vergangenheit“, wie Benjamin sagt, pflegen will, muss sich darauf einstellen: Dass dieses wahre Bild von einst nur „vorbeihuscht“. Es ist „ein Aufblitzen“ , im Sinne einer plötzlichen geschenkten Erkenntnis, einer Einsicht. In diesem Aufblitzen ist jedoch „die Vergangenheit festzuhalten“. Dies ist die Haltung des historischen Materialismus. Ganz anders denkt die bürgerliche Geschichtsforschung, die meint, über alles Vergangene ständig verfügen zu können. „Die Vergangenheit läuft ja nicht davon“, sagen die bürgerlichen Historiker im Sinne des Historismus, betont Benjamin. Diese distanzierte Haltung der bürgerlichen Historiker bedeutet: Die Vergangenheit steht als gleichförmig fließende Zeit mit ihren vielen tausend interessanten wie uninteressanten“ Ereignissen immer zu unserer Verfügung. Für Benjamin hingegen gilt: Jede Gegenwart muss suchen und prüfen, ob ein Bild der Vergangenheit zu meiner Gegenwart mit ihrem Klassenkampf und dem Kampf der Unterdrückten um Gerechtigkeit „passt“.

12. Hinweis zur VI. These:
Wieder setzt sich Benjamin mit der Deutung der Geschichte im Sinne des Historischen Materialismus auseinander. Im aktuellen Augenblick der Gefahr (durch den Faschismus) stellt sich für ihn förmlich schlagartig eine spezielle Erinnerung ein, sie „blitzt auf“, wie er schreibt. Er spricht zunächst allgemein nur von dem „Bestand der Tradition“ und der „Überlieferung“, die in der Erinnerung aufblitzt und bewahrt wird und vor der Verfälschung durch „die herrschende Klasse“geschützt werden muss. Unvermittelt wird dann aber bei Benjamin ein jüdisch – theologischer Gedanke lebendig, er spricht vom „Messias “, als dem Inhalt der Tradition und Überlieferung. Wer als Geschichtsschreiber diese Erinnerung bewahrt, kann „Funken der Hoffnung“ entfachen, aber die Hoffnung ist bedroht, „der Feind (der Faschismus) hat zu siegen nicht aufgehört“.

13. Hinweis zur VII. These:
Noch einmal setzt sich Benjamin mit der von ihm kritisierten „historistischen“ (und bürgerlichen) Geschichtsforschung auseinander. Ihre Anhänger empfehlen die Einfühlung in ein abgekapseltes Ereignis, und dabei interessieren sie sich nur für die Sieger und die jetzigen Herrscher als deren Nachfahren, betont Benjamin. Die Sieger der Geschichte sind – ohne, dass Benjamin diese Bezeichnung wählt – etwa die Kolonialherren, die erbeutete Kulturgüter „im Triumphzug“ mit sich führen. Diese Kulturgüter sind „von einer Abkunft, die Benjamin als Forscher des historischen Materialismus „nicht ohne Grauen bedenken“ kann. Diese Kulturgüter wurden unter „Fron“ geschaffen, sie sind Zeugnisse „der Barbarei“. Auch die Weitergabe dieser Kulturgüter kann Ausdruck des Barbarischen sein. Man denke an die erbeutete Kunst von Kolonisten und den Verbleib dieser Kunst in europäischen Museen. Benjamin will auf diese Weise „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“.

14. Hinweis zur VIII. These:
Die Unterdrückten lebten und leben „im Ausnahmezustand“, der „die Regel ist in der Geschichte.“ Benjamin meint: Die Position der Unterdrückten könnte sich verbessern, „durch die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“. Also offenbar durch die (hier als solche nicht genannte) Revolution. Der wirkliche Ausnahmezustand kann im Kampf gegen den Faschismus, der hier explizit genannt wird, hilfreich sein.

15. Hinweis zur IX. These:
Dieses Kapitel ist das berühmteste und am häufigsten zitierte aus Benjamins Werken. Der Engel hat hier als Bote nur eine Einsicht zu verbreiten: Die Botschaft von der wahren Bedeutung des Fortschritts. Weil die Engel – Gestalt auch zur jüdischen Theologie gehört, hat Benjamin ein Wort des jüdischen Theologen Gerhard Scholem seinen Ausführungen vorangestellt.
In den sehr dichten Äußerungen wird der Engel ein „Engel der Geschichte“ genannt: Er sieht im Weltzustand nur „eine einzige Katastrophe“, die die unablässig „Trümmer auf Trümmer häuft“. Der Engel möchte zwar verweilen und den Weltzustand verändern, nämlich „die Toten wecken und das Zerschlagenen zusammenfügen“. Aber der Engel ist eingeschränkt, hilflos, er kann „seine Flügel nicht mehr schließen“. Denn ein Sturm hat die Flügel beschädigt, und der weht merkwürdigerweise vom Paradiese her, also von der angeblich heilen, von Gott geschaffenen Welt. Das muss unterstrichen werden: Der zerstörerische Sturm kommt aus dem Paradies, also dem Werk Gottes: Die Schöpfung ist offenbar mißlungen, weil ein solcher Sturm aus dem Paradies so viele Trümmerhaufen erzeugt auf der Erde. Den vernichtenden Sturm, der den Engel behindert, nennt Benjamin unvermittelt und rätselhaft „das, was wir Fortschritt nennen“. Der tödliche Fortschritt soll als eine Katastrophe verstanden werden, die vom Paradies herrührt. Der Engel bleibt hilflos, ist „in die Zukunft“ getrieben, die er selbst nicht sehen kann: Denn er kann nur rückwärts schauen, nach hinten, Richtung zerstörerisches Paradies mit seinem Sturm…
Fortschritt ist also in Benjamins Sicht nicht mehr Tat des Menschen, Fortschritt als Erzeugung von Trümmern und Elend erscheint als ein Werk Gottes: Und die Welt strebt für Benjamin dem Endzustand entgegen, der Erlösung. Da erwartet der Messias die Menschen. Ist (der gute) Gott als der Schöpfer des Paradieses auch der Gott, der den verheerenden Fortschrittssturm geschaffen hat? Im IX. Kapitel zeigt Benjamin eine überraschende Deutung des Fortschritt- Wahns. Hier ist der Mittelpunkt des ganzen Textes, der die spekulative Geschichtsphilosophie Benjamins zum Ausdruck bringt.

16. Hinweis zur X. These:
Benjamin stellt hier seine „Theologie des Engels“ in den Dienst seiner globalen Geschichtsphilosophie und der Tiefen – Analyse des Fortschritts. Seine politische Analyse wird also deutlicher: Da ist von den „Gegnern des Faschismus“ – also den Sozialisten – die Rede. Benjamin denkt an die sozialistischen Politiker, auf die er, wie andere Sozialisten setzten. Aber diese Politiker liegen angesichts der Allmacht des Faschismus „am Boden“ und sie haben auch “ihre eigenen Sache verraten“: Benjamin denkt dabei an Stalin und dessen Pakt mit Hitler. Diese verräterischen Politiker klagt Benjamin an: Sie folgten einem blinden Fortschrittsglauben, also auch der Gier, durch Verhandlungen mit Hitler mehr Vorteile zu erlangen. Sie glaubten die „Massenbasis“ der (kommunistischen) Partei hinter sich zu haben, was ja im Falle europäischer Kommunistischer Parteien in ihrer Stalin – Ergebenheit historisch so stimmt. Diese Massenbasis sei „servil“ und „in einen unkontrollierbaren Apparat“ eingezwungen.
Benjamin will „jede Komplexität“ mit diesem Politiker vermeiden. Nur so kann sich das „politische Weltkind“ aus den Fesseln befreien, in die diese Politiker die Menschen eingezwängt haben.

17. Hinweis zur XI. These:
Dies ist sicher ein politisch brisantes Kapitel: Benjamins Abgrenzung von der SPD.
Die SPD sei konformistisch mit den Herrschenden, sagt Benjamin. Als Marxist lässt er auch 1940 nichts Gutes an der SPD. Die Kommunistische Partei, zu der er als Mitglied nie gehörte, erwähnt er nicht in ihrer taktischen Haltung; die KP Frankreichs z.B. hatte 1939 den Hitler Stalin Pakt unterstützt.
Die SPD – Arbeiterklasse glaubt, es sei richtig, mit dem großen Strom der Herrschenden zu schwimmen, also die Strukturen der Herrschenden zu stützen, meint Benjamin. Durch ihre Arbeit würden die SPD Proletarier Reichtum erlangen und Kultur schätzen. Dabei übersehen die SPD – Arbeiter, so Benjamin, dass sie keinen Anteil an den Produktionsmitteln haben. Eine langsame Verbesserung der Arbeit, nicht die revolutionäre Neuorganisation der Eigentumsverhältnisse, bringe ERLÖSUNG, so etwa Josef Dietzgen, ein SPD-Philosoph (1828 bis 1888 im Exil in Chicago). Für die SPD stehe die Ausbeutung der Natur im Mittelpunkt, dies sei „technokratisch“, meint der Marxist Benjamin. Die SPD „sehe die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft…

Nebenbei: Hatten etwa kommunistische Regierungen Respekt vor der zu bewahrenden Natur? Sicher nicht.

18. Hinweis zur XII. These:
Noch beschreibt Benjamin seine Ablehnung der SPD: Zusammenfassend gesagt: Die SPD will nicht die Befreiung der unterdrückten Klassen. Benjamin behauptet, die SPD will den Arbeitern nur die Erlösung künftiger Generationen versprechen. Louis Auguste Blanqui (1805 – 1881) wird von Benjamin lobend erwähnt, er war einer der ersten Theoretiker des Sozialismus in Frankreich.

19. Hinweis zur XIII. These:
Noch einmal kritisiert Benjamin die Haltung der SPD zum Fortschritt. Zu pauschal, zu dogmatisch sei das SPD Fortschrittsdenken. Da wird die Geschichte gedacht als eine Linie, die stets nach vorn strebt, ins Bessere. Dies ist für Benjamin eine homogene, eine gleichförmig gemachte Zeit, die keine entscheidenden Höhepunkte kennt, und deswegen durch eine gewisse Monotonie „leer“ und bedeutungslos erscheint. Diese Deutung der Geschichte will die materialistische Geschichtsdeutung überwinden! Und man wird sich an dieser Stelle an den „Engel der Geschichte“ (IX. These) erinnern und sich fragen, wer denn verantwortlich ist für die dort genannten riesigen Trümmerberge, die der Fortschritt erzeugt.

20. Hinweis zur XIV. These:
Für Benjamin wird heute Geschichte durch den historischen Materialismus gemacht, konstruiert: Sie geht aus von dem JETZT und seinen Leidenserfahrungen. Aus dem Kontinuum der Geschichte wird Wichtiges und Hilfreiches für das JETZT „HERAUSGESPRENGT“, so wörtlich. Das klingt tatsächlich gewalttätig. Als Beispiel für diese ungewöhnliche, auswählende Geschichtsdeutung nennt Benjamin eine der radikalsten Hauptfiguren der Französischen Revolution: Robespierre. Er wählte – für sein Revolutionsverständnis – das Bild vom einem antiken Rom als wichtig und inspirierend aus, meint Benjamin. Was genau denn Robespierre aus „dem antiken Rom“ für seine Zeit „heraussprengte“, sagt Benjamin leider nicht. Er bleibt im allgemeinen und sagt weiter: Der historisch – materialistisch denkende Revolutionär muss in die Geschichte mit einem „Tigersprung hineinspringen“ und sich dabei das für ihn Wichtige als Inspiration und Hilfe entreißen. Solch ein Sprung ist die Revolution. Und hier wird Karl Marx und dessen Revolutionsvorstellung in der Deutung Benjamins explizit erwähnt. Man merkt an dieser Stelle einmal mehr, dass Benjamin eben leider nur kurze und knappe Thesen verfasste, man hätte gern Ausführlicheres gelesen…

21. Hinweis zur XV. These:
Wichtig ist hier der Begriff EINGEDENKEN, typisch für Benjamin. Das lebendige Eingedenken ist eine Steigerung des Gedenkens. Das banale Gedenken gerade an „Gedenktagen“ hat meist nur einen äußerlichen, pflichtgemäßen Charakter, ohne tiefere Wirkung und ohne politische Konsequenzen für die Gedenkenden. Feiertage sollen aber Tage des Eingedenkens werden, fordert Benjamin. Erneut schreibt Benjamin von seiner zentrale Idee: Es gilt das von den Herrschern suggerierte gleichmäßig dahin strömende, alles gleichmachende „Kontinuum der Geschichte“ aufzusprengen. Wenn das geschieht, dann geschieht die revolutionäre Aktion. In der Juli-Revolution in Frankreich 1830 wurde auf die Uhren geschossen, um das Erlebnis großer Zeit deutlich zu machen, einer neuen Zeit, die man fixieren, die zum Stillstand bringen will.

22. Hinweis zur XVI. These:
Stillstand ist ein merkwürdiges, aber hier das entscheidende Wort: Benjamin meint, die Geschichte komme im JETZT, im Kairos, zu einem Stillstand, zu einer intensiven Möglichkeit des Eingedenkens. Nur so kann das messianische Element gesehen werden. Gegenwart als Stillstand wird eine neue Dimension, man möchte sagen eine Dimension der Heils-Zeit. Darauf kann der historische Materialist, also der Marxist, nicht verzichten. Er muss das gleichmäßige und für Benjamin langweilige „Kontinuum der Geschichte aufbrechen“. Er muss Wichtiges für den Klassenkampf auswählen und bevorzugt darstellen und lebendig machen.

23. Hinweis zur XVII. These:
Auch hier setzt sich Benjamin ab von der bürgerlichen Geschichtsforschung, Historismus von ihm genannt. In dieser Konzeption fließt alles in eine ferne Zukunft dahin und alles ist gleich – gültig, alles ist gleich viel wert. Der historische Materialist aber wählt aus der Geschichte Wesentliches aus. Und das Wesentliche ist die messianischen Zukunft. Sie leuchtete schon in der von den Herrschern unterdrückten Deutung der Vergangenheit auf. Die messianische Zeit verlangt höchste Aufmerksamkeit des Geistes, also eine Art „Stilllegung“, man könnte sagen: Ein meditatives Nachdenken und Konzentriertsein auf das Wesentliche im Jetzt. Und dieses ist wesentlich, weil es um die Rettung der Welt im „Messianischen“ geht, das Wesentliche wird – wieder rabiat formulier – aus der Gesamtgeschichte „herausgesprengt“. In einem solchen aus dem Zeitverlauf herausgesprengten revolutionären Ereignis kann eine ganze Epoche aufbewahrt, versammelt sein. Diese historische – materialistische Geschichtsforschung unterliegt einem „konstruktiven Prinzip“.

24. Hinweis zur XVIII. These:
Die Jetzt-Zeit will Benjamin als Modell der messianischen Zeit verstanden wissen, diese Jetztzeit fasst in einer ungeheuren Verkürzung („Abbreviatur“) die Geschichte der ganzen Menschheit zusammen. Und es gibt für Benjamin eine bestimmte „Figur“ der Geschichte: Und diese ist bedeutend: Denn sie „macht die ganze Geschichte der Menschheit im Universum.“ Wer ist diese Figur? Der Messias? Ist er derjenige, der „die ganze Geschichte der Menschheit im Universum macht“ und in der „Jetztzeit“ anwesend ist? Den theologischen Erkenntnissen Benjamins folgend, wird das so sein. Aber in der Geschichte der Menschheit gibt es auch die Katastrophen, siehe IX. These. Es bleibt also dann doch offen, ob hier noch vorsichtig ein persönlicher Trost in der Zeit der Verfolgung durch den Faschismus formuliert wird. Wenn das so sein könnte, dann ist die „Figur“ der Messias und damit etwas Trostvolles angesichts der von Benjamin erlebten Unmöglichkeit zu fliehen und auf ein menschenwürdiges Leben noch zu erhoffen.

Der Text hat noch einen Anhang:
Im Anhang A wird nochmals die historistische Geschichtsdeutung abgelehnt; da werden, so meint Benjamin, alle Begebenheiten gleichförmig. Daran sieht man noch einmal, wie wichtig für Benjamin ein radikal anderer Umgang mit Geschichte ist!

Im Anhang B wird unterstrichen, dass die authentische jüdische Haltung nicht die Zukunft in allen Details wissen will. Da braucht man keine detaillierten Kenntnisse des absolut und endgültig Zukünftigen. Ganz am Ende, eher versteckt im Anhang B, stehen ungewöhnlichen, letzte Hoffnungen weckende Sätze: Es gebe für die Juden inmitten der Zeit doch diese Hoffnung: Jede Sekunde sei „die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“. Eine leere und gleichgültige (also hoffnungslose) Zukunft gibt es für die Juden nicht. Der Messias wird sich schon durchsetzen, wenn er nur „durch eine kleine Pforte eintreten“ wird.

FUßNOTE 1: Ernst Bloch schreibt: … ein unbewachter Satz des großen Idealisten Hegel gehört hierher, und nicht nur der junge, auch der entschieden materialistische MARX hätte ihm wohl zugestimmt. Denn 1807 schrieb HEGEL aus Bamberg, wo er als Redakteur sich durchschlug, an seinen Jenenser Freund, den Major KNEBEL: «Ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern gemacht: Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen» (XVII, S. 629 f). Der Spruch lautet in der Bibel (Matth. 6, 33) bekanntlich genau umgekehrt: „Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit! Und alles wird euch hinzugefügt werden.“ ( Ernst Bloch: „Karl Marx und die Menschlichkeit“, Reinbek 1969, S. 139-149.)

Der Text „Über den Begriff der Geschichte“ von Walter Benjamin ist veröffentlicht in dem Band „Illuminationen“, Ausgewählte Schriften I“. Suhrkamp Taschenbuch.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kultur darf sich niemals abschotten. Dialog und Austausch müssen gelten.

“Kultur. Eine neue Geschichte der Welt”: Ein provozierendes Buch von Martin Puchner.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 5.5.2025.

1.
Martin Puchner, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Cambridge, USA, hat dort 2023 sein Buch „Culture“ vorgelegt: In den 15 Kapiteln seines Buch (auf Deutsch „Kultur. Eine neue Geschichte der Welt“) zeigt Puchner, dass die Kultur bzw. die Kulturen etwas Aufregendes, Anregendes, ganz neu zu Entdeckendes sind – zumal angesichts der nationalistischen Starre und Enge sowie der fundamentalistischen Fixierung heutiger konservativ – populistischer Regierungen und „Bewegungen“…
Marin Puchner stellt sein Thema gut dokumentiert und leicht zugänglich vor, voller überraschender Einsichten, man möchte sagen: durchaus „spannend“ beim Lesen.

2.
Der Autor befreit in den 15 Kapiteln – den in sich abgeschlossenen Essays – von der Vorstellung, eine Nation „besitze“ ihre Kultur. Oder: Kultur sei etwas Fertiges und Abgekapseltes. Genauso falsch ist: Als Kultur könne nur die von etablierten Kulturmanagern geförderte und staatlich unterstützte „hohe Literatur“ oder die „klassische Oper“ und das „große Schauspielhaus“ usw. gelten.
Jede konkrete Kultur – etwa eines Landes, eines Sprachraums etc. – ist Resultat von Begegnungen mit anderen Menschen und deren Kultur. Die eigene Kultur ist ein mühsam erworbenes, immer weiter zu entwickelndes Resultat von Lernbereitschaft und Innovation: Nur sie ermöglichen die Zusammenfügung unterschiedlicher Kulturen zu einer dann eben neuen oder erneuerten Kultur. Und die wird dann ihrerseits selbstverständlich wieder von anderen rezipiert und auch umgeformt.

3.
Martin Puchner schreibt: „Kulturen gedeihen auf dem Boden der freien Verfügbarkeit von vielfältigen Formen des Ausdrucks und der Sinnstiftung, von Möglichkeiten und Experimenten. Und in dem Maß, in dem Kontakte mit Fremden diese Optionen erweitern, fördern sie die Produktion und Entfaltung von Kultur“. Dagegen neigen die auf Exklusivität und Reinheit (der eigenen Kultur) bedachten national begrenzten Leute mir ihrer „volksbezogenen“ Kultur dazu, kulturelle Alternativen auszuschließen, Möglichkeiten des Austauschs zu begrenzen und darüber zu wachen, dass derlei Experimente nicht zu weit getrieben werden. (siehe S. 379).

4.
Diese ängstliche offizielle Kulturpolitik ist heute weithin an der Macht, sie entspricht der konservativen und populistischen Wende in den sich Demokratie nennenden Staaten. Dieses enge Verständnis von Kultur als eigene „Kulturpolitik der Abwehr“ muss in Beziehung gesetzt werden zur aktuellen Politik der „Schließung der Grenzen Europas und der USA“ für Fremde, Ausländer, für Flüchtende zumal. Diese Schließung der Grenzen wird von Martin Puchner zwar nicht aktuell angesprochen, aber seine Position ist deutlich: Auf diese Weise “verarmen geistig“, so Puchner, die konservativen und populistischen Menschen und ihre Kulturpolitiker. An die „geistige Verarmung“ sollten sich der neue deutsche Innenminister Dobrindt und sein Meister Merz stets erinnern, die AFD wird dazu sicher nicht in der Lage sein: Die neuen Grenzkontrollen lassen uns in Europa, in Deutschland, auch geistig und kulturell weiter verarmen, sie sind bereits Ausdruck geistiger Armut. Denn die strengen Grenzkontrollen und Zurückweisungen und Rückweisungen und Abschiebungen sind auch kein Ausweg, keine wirksame Hilfe angesichts der umfassenden, auch materiellen Armut und das Elend in den vom Kapitalismus arm gemachten Ländern des globalen Südens.

5.
Hier können die 15 Essays des Buches nicht im einzelnen vorgestellt werden. Gemeinsam ist allen: Sie beschreiben die Lebendigkeit von Kultur, wenn sie aus Begegnungen mit anderen Kulturen, oft nicht ohne Konflikte, entstehen. Von Nofretete über Platon und König Ashoka und dann weiter zu der christlichen Mystikerin Hildegard von Bingen und den Pariser Salons vor der Französischen Revolution handeln etwa die Studien des Buches. Sie zeigen an ausgewählten Beispielen, dass die Geschichte der Kulturen der Welt nur als Austausch, Begegnung und Konflikt zu verstehen ist.

6.
Ein Beispiel: Zurecht erinnert Martin Puchner daran: Die Revolution der Sklaven auf Haiti (damals französisch Saint Domingue genannt) und ihre erkämpfte Unabhängigkeit im Jahr 1804 wurde „als ein bedeutendes Ereignis in der Weltgeschichte lange Zeit ignoriert“ (S. 293). Ein bißchen Nachhilfe zu diesem Thema bietet das Kapitel des Buches: Deutlich wird: Die Sklaven dieser französischen Kolonie ließen sich von den politischen und philosophischen Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution inspirieren, sie verachteten also nicht pauschal jene „europäischen Ideen“, bloß weil sie aus der „weißen Welt“ der „weißen Herrscher“ stammten. Damit ist deutlich: Der Ort des Ursprungs für allgemein gültige Prinzipien hat mit ihrer universellen Geltung nichts zu tun! Die Sklaven Toussaint Louverture und Dessalines, um nur zwei der Befreier Haitis zu nennen, haben die Ideen der Aufklärung „für ihre Zwecke nützen können“. Freilich wurde der Weg in die Freiheit und Unabhängigkeit Haitis sofort von den Kolonialmächten mit allen Mitten bekämpft. Afroamerikanische Schriftsteller und antirassistische Schriftsteller äußerten sich im 19. Jahrhundert in „lobenden Tönen“ über den Befreier Toussaint Louverture (ebd.). Auch Hegel sprach schon lobend über die Befreiungstat der schwarzen Sklaven, wie die Philosophin Susan Buck – Morse in ihrer Studie „Hegel und Haiti“ (Suhrkamp, 2011) gezeigt hat. Im ganzen hatte die haitianische Revolution viele Feinde unter den Kolonialmächten. Aber auch die innenpolitischen Repressionen nach der haitianischen Revolutionen müssen beachtet werden. Ein glückliches, d.h. für alle Haitianer menschenwürdiges Leben hat die Revolution leider nicht erzeugt, davon spricht Martin Puchner nicht. Die Befreiung Haitis und die Gründung der Republik schon im Jahr 1804 (!) ist jedenfalls nicht nur an internen Streitereien eher gescheitert, Schuld war vor allem die nach wie vor kolonialistische und rassistsiche Haltung Europas und der USA gegenüber Haiti bis heute, gegenüber den „Schwarzen“…

7.
Ein zweites Beispiel: Einzelne Kulturen schaffen sich ihre Identität durch Mythen oder Erzählungen, in denen die Übernahme kultureller Güter und Werte der „anderen“ beschrieben wird. Der Autor spricht von einer „Aufpfropfung fremder Kulturen auf die eigene Kultur bzw. auch von Kulturtransfer (S. 175). Und er berichtet ausführlich über diesen lange dauernden Prozess der „Aufpfropfung“ am Beispiel der Orthodoxen Kirche Äthiopiens, sie ist seit dem 4.Jahrhundert in dem Land schon lebendig. Gerade für jene, die an der Geschichte des vielfältigen Christentums interessiert sind, ist der Essay bedeutsam , er hat denTitel „Die Königin von Äthiopien heißt die Diebe der Bundeslade willkommen“ (S. 171 ff.). Es geht um die Mythen und Erzählungen: Die Königin von Saba sei in den Besitz der „heiligen“ „Bundeslade mit den Tafeln der 10 Gebote des Moses“ (gelagert im Tempel zu Jerusalem) gekommen. Der grundlegende äthiopische Text dazu ist die Erzählung „Kebra Nagast“, die bis heute eine große Rolle in Äthiopien spielt. Der Besitz dieser „Bundeslade“ ist förmlich der Mittelpunkt äthiopischer Kultur und der äthiopisch orthodoxen Kirche. „Die Schrift „Kebra Nagast“ räumt ein, dass die eigene äthiopische Kultur von einer anderen Kultur (dem Judentum) abstammt, sie verkündet dann aber die eigene Überlegenheit“ (S. 179).
In Jamaika suchten die Bewohner (ehemalige afrikanische Sklaven) eine Quelle ihrer Identität: Einer der führenden Köpfe in dieser Suche nach Identität war derGewerkschafter und Publizist Marcus Garvey. „Er machte Äthiopien mit seiner uralten Geschichte und Schrifttradition zu einem wichtigen Bezugspunkt für Jamaikaner.“ (S. 188). Die Jamaikanische Rastafari – Bewegung hat sich auf äthiopische Traditionen bezogen. „DieRastafari-Bewegung müsste als ein glänzendes Beispiel für einen Transfer mit einer Verschmelzung verschiedener Kulturen gelten. Die Nachfahren von Sklaven aus Afrika mussten sich eine Vergangenheit erschaffen, die ihnen eine andere Zukunft als die von den europäischen Kolonialherren angebotene verhieß.“(S. 189).
Der Autor fordert, die Erzählung „Kebra Nagast“ als einen wichtigen Text im Kanon der Welt-Literatur anzuerkennen.“ (S. 190).

8.
Für philosophisch Interessierte der Hinweis auf ein mir besonders wichtiges und aktuelles Kapitel des Buches: „Als Bagdad zu einem Speicher der Weisheit wurde“ (S. 149 ff.) Tatsächlich interessierten sich muslimische Herrscher und Gelehrte in Bagdad im 9. Jahrhundert und noch etliche Jahre länger für die Philosophie der „heidnischen Griechen“, vor allem für Aristoteles. Es wurde in Bagdad eine große Bibliothek errichtet, ein so genannter „Speicher der Weisheit“, der umfangreiche Raum zur Pflege und Bewahrung astronomischer, mathematischer, medizinischer und eben auch philosophischer Texte. Es handelte sich vor allem um Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische. Die – auch christlichen – Übersetzer und die muslimischen Herrscher „waren zu dem Schluss gelangt, dass sich die in der Vergangenheit (Griechenlands) gewonnenen Erkenntnisse für die eigene Gegenwart nutzen ließen.“ (S. 155). Damals galt stark die Weisung des Korans, dass das Streben nach Wissen und Philosophie eine religiöse Pflicht für jeden Muslim ist. (S. 157). „Aus fremden Kulturen zu schöpfen, das wussten diese Übersetzungsprojekte, kann eine reichhaltige Quelle der Stärkung sein.“ (S. 159). Und dann die entscheidende Erkenntnis. „Die Araber waren die eigentlichen Erben der griechischen Antike.“ (ebd.). Der Philosoph Ibn Sina (980-1037), im Westen Avicenna genannt, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Was war Bagdad damals nur für eine kulturell bedeutende durchaus tolerante Stadt!
Später wurden alle technische Errungenschaften Europas – bis zu den modernsten Waffen – in der muslimischen Welt übernommen: Aber es waren nur die Technik und die Naturwissenschaft, nicht aber die allgemein und universal geltende Philosophie der Menschenrechte. Die schönsten Autos in diesen sich religiös nennenden Staaten der arabischen Welt durften Frauen nicht selbständig fahren… Es ist die fundamentalistisch verstandene muslimische Religion, die den umfassenden Kulturaustausch bis heute behindert und stört und manchmal zerstört.

9.
Martin Puchner zeigt, wie Kulturen eines bestimmten Landes, einer Region, paradoxerweise möchte man sagen, überleben konnten: „In China blieben buddhistische Schriften und Statuen erhalten, obwohl sie zu den vorherrschenden konfuzianischen und taoistischen Sitten und Gebräuchen im Gegensatz standen. So wie griechische Philosophen in Bagdad posthum weiterlebten, obwohl sie keine Gefolgsleute des Propheten Mohammed gewesen waren“.“ (S. 378 – 379). Kulturgüter blieben also erhalten, obwohl sie den „Besitzern“ dieser kulturellen Zeugnisse nicht nur als befremdlich , sondern auch als Bedrohung erschienen. Diese „Besitzer“ ihnen befremdlich erscheinender Kultur waren eben keine „Puristen und Puritaner“, wie Puchner schreibt (S. 379). Nur Fundamentalisten praktizieren die  Zerstörung der ihnen fremd und feindlich erscheinenden Kulturen ihrer eigenen Länder. Man denke an die Kulturzerstörungen des Islamischen Staates oder an die Fundamentalisten der Kulturrevolution Maos, oder auch an den Kampf der Nazis gegen die ihnen „entartetet“ erscheinende wertvolle Kunst wie auch an die Bücherverbrennungen der Nazis. Dem gegenüber wirkt der „Index der Verbotenen Bücher“ der Päpste noch eher bescheiden. Der Index (das Lektüreverbot von etwa 6000 Büchern für Katholiken) wurde von Papst Paul VI. tatsächlich erst am 15. November 1966 (!) abgeschafft.

10.
Das Buch “Kultur“ von Martin Puchner zeigt in den 15 ausgewählten Kapiteln tatsächlich eine „neue Geschichte der Welt“, wie der Untertitel heißt. Die Erkenntnis wird gefördert, dass Dialog und Lernbereitschaft unter den verschiedenen Kulturen immer schon stattgefunden haben und hoffentlich heute weiter stattfinden – früher nicht ohne Konflikte und Erfahrungen von Leid und Einschränkungen, heute sicher auch nicht. Aber Dialog und Lernen der verschiedenen Kulturen voneinander ist anders nicht möglich.
Nur diese Lernbereitschaft als Offenheit im Respekt der gleichen Würde aller Kulturen weist den Weg in eine humanere Zukunft. Abschotten und sich mit rigiden Gesetzen abgrenzen sind der falsche, der inhumane Weg einer populistisch, das heißt immer auch egoistisch werdenden Welt des reichen kapitalistischen Nordens. Die Menschen – Welt muss die gemeinsame Welt der gleichberechtigten Menschen (und der zu bewahrenden Natur) in der Vielfalt werden.

Martin Puchner, „Kultur. Eine neue Geschichte der Welt“. Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 2025, 428 Seiten, 35€. Aus dem Amerikanischen Übersetzt von Enrico Heinemann.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de. in Berlin.

Wolfram Weimer und sein Gott: Eine Rezension

Für die Zeitschrift “Publik Forum” hat Christian Modehn  im Oktober 2021 eine – bei Publik Forum übliche – kurze Rezension geschrieben zum Buch von Wolfram Weimer “Sehnsucht nach Gott”, erschienen im katholischen Bonifatius-Verlag. Das Buch hat 128 Seiten und kostet 15 €:

Der Autor Wolfram Weimer will mit seiner „Streitschrift“ die konservative Ideologie durch die Religion beleben.

Er setzt dabei abstrakt einen Gott voraus, an dem – seiner Meinung nach – zu zweifeln Unsinn ist.

Dieser Gottesglaube soll als „Deutungsmacht“ das politische Handeln in der Demokratie bestimmen.

Religionssoziologen beweisen den Rückgang der Kirchenbindung. Diese Fakten lässt der Autor nicht gelten, er erhofft sich voller Sehnsucht eine „neo-religiösen Bewegung“ der “Gott-Gläubigen.”

Der theologisch inkompetente Publizist Weimer hat einst das konservative Magazin „Cicero“ gegründet, jetzt ist er Chef seiner „Media Group“: Sie hat ihren „Freiheitspreis“ im April 2021 ihrem Freund, dem damaligen österreichischen Kanzler Sebastian Kurz, verliehen. Für diese Kreise ist „Gott“ eine Chiffre für ein verstaubtes Ideal-Bild der Familie.

Von der Bibel ist in Weimers Buch fast keine Rede, von prophetischer Kritik gar nicht.

Wer wirklich Sehnsucht nach Gott hat, braucht dieses Buch nicht.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Die Papstansprache Ostern 2025: Ausdruck des Elends.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 20.4.2025

Eine Notiz am 21. 4.2025: Wir haben diesen Hinweis nach der Urbi – et – Orbi Veranstaltung am Ostersonntag geschrieben und veröffentlicht: Da wusste niemand, dass dieser Auftritt von Papst Franziskus der letzte und seine – von einem Priester verlesene – Osterbotschaft wohl die letzte öffentliche Äußerung ist. Uns hat die Osterbotschaft des elenden Papstes bewegt und zu kritischem Nachdenken geführt, das wir dann am Ostersonntag, 20.4.2025, veröffentlichten. Unsere Kritik an solchen allgemein gehaltenen, meist nur floskelreichen Papst – Ansprachen zu Ostern oder Weihnachten bleibt bestehen, trotz einer gewissen Trauer über den Tod dieses zweifellos ungewöhnlichen und in mancher Hinsicht mutigen Papstes Franziskus: Er war kein Freund des Klerus und seiner Macht, er sagte das öffentlich von Anbeginn seines Pontifikates! LINK Aber er hatte nicht die Kraft, den Klerus einzuschränken und das verheerende Zölibats-Gesetz  abzuschaffen. Die Macht dazu hätte er als Papst gehabt. Aber diese Macht hat er – aus Angst?, vor wem ?, nicht genutzt. Und den Frauen wollte er stur und fundamentalistisch nicht umfassend gleiche Rechte in der Kirche geben. Insofern bleiben die Erinnerungen an Papst Franziskus dann doch düster. Es ist halt nach wie vor ein Elend mit dem Papsttum… Ob der nächste Papst dieses Elend beseitigt, ist ungewiss… CM.

Am Ostersonntag 20.4.2025 geschrieben und veröffentlicht: 

1.
Papst Franziskus, Ostern 2025:
Er kann fast nicht mehr sprechen,
sich nicht mehr bewegen,
lässt seine Botschaft verlesen,
schaut stumm auf die Menschen des Peters-Platzes:
Ein Bild des Erbarmens. Des Elends.
„Urbi et Orbi“: Nur ein mühsamer Hauch. Der hilflose Pontifex maximus.
Muss das sein? Eine unerhörte Frage: Unsere Antwort: Nein. Das muss nicht sein.
Manche frommen Leute und auch Fundamentalisten werden hingegen jubeln: „So ein standhafter Schwerkranker, der sich auch noch öffentlich zeigt. Er ist wie der Apostel Paulus, der da sagte: Im Leiden bin ich groß“. Ähnliche Worte des Neuen Testaments werden gern zitiert, wenn sich katholische Kleriker, Päpste zumal, unersetzlich finden.

2.
Traurige Ostern 2025:
Nicht nur, weil ein Schwerkranker seine Botschaft verlesen ließ. Diese selbst ist hilflos und voller allgemeiner Sprüche. Es sind eher Gemeinplätze für eine schwerkranke, hilflose Welt voller Gewalttäter. Da hätte eine gewagte, humane Botschaft mit konkreten Forderungen gut getan. Warum nicht eine klare Zielvorstellung formulieren: Etwa: Die katholischen Gemeinden sollen Orte des Friedens und des Dialogs werden!
Aber nein: Wie immer beim „Urbi et Orbi“: Moralische Gemeinplätze, das tausendmal, schon von früheren Päpsten, ausgesprochene Bedauern: dass da und dort und nun überall und immer mehr Krieg und Hunger und Elend herrschen. Die Namen der verantwortlichen Übeltäter werden vom Päpsten aus diplomatischen Gründen niemals genannt: Päpste sind ja auch Staatschefs, da muss man vorsichtig sein und das Wohl der eigenen Kirche bedenken… Deswegen, aus diplomatischen Gründen, kein präzises Wort gegen den Kriegsherrn Putin, offenbar will der Papst es sich auch nicht mit dem Patriarchen und widerlichen Kriegsideologen Kyrill von Moskau verderben. Der Papst liebt ja so die Orthodoxie… Bloß keine Namen nennen, bloß nicht konkret werden!

3.
Wie erbärmlich die päpstlichen Worte zur Ukraine: „Möge der auferstandene Christus der gepeinigten Ukraine das österliche Geschenk des Friedens zuteilwerden lassen und alle Beteiligten ermutigen, ihre Bemühungen um einen gerechten und dauerhaften Frieden fortzusetzen.“ Erschreckend, diese päpstliche Friedenspolitik der leeren frommen Sprüche. „Bla Bla“, muss man sagen.
Auch kein Wort über den sich zum Faschisten entwickelnden Mister Trump, kein Wort über die miserablen sozialen Zustände im Heimatland Argentinien unter dem Libertären Milei und so weiter…

4.
Natürlich: Papst Franziskus ist nicht nur sehr alt, er ist auch schwer krank, wenn auch nun ständig „auf dem Weg der Besserung“, wie es offiziell jetzt immer heißt.
Natürlich: Kein vernünftiger Mensch will einen reaktionären Papst als Nachfolger. Aber es ist wahrscheinlich kein Zeichen der Heiligkeit für einen „heiligen Vater“, in einer Welt voller Gewalt, voller Diktatoren und Gewaltherrscher in den USA wie in Russland und Iran und China und Israel und so weiter und so weiter, an seinem Amt als Schwerkranker festzukleben und allgemeine fromme Sprüche zu Ostern in die Welt zu senden. Ein heiliger Vater sollte auch ein politischer Prophet sein.  Aber tatkräftige Propheten waren die Päpste eher sehr selten. Ob der Nachfolger von Papst Franziskus vieles besser und vernünftiger macht, ist auch unwahrscheinlich in dieser abgeschotteten Welt der Kleriker. Ein Elend ist es mit dem Papsttum, mit der ewigen Klerusherrschaft…

5.
Diese gut gemeinte, aber inhaltlich leere und schlicht –  fromme Papstrede 2025 werden einige mit einem weinenden Auge hören und lesen, Worte von „diesen armen Greis, der sich so viel Mühe gibt.“
Die frommen Massen auf dem Petersplatz haben ihrem Idol zugejubelt, in die Höhe, förmlich und fröhlich – verzückt in den Himmel geschaut, um ihn, den „heiligen Vater“ auf der Loggia hoch oben zu sehen… Oft hatten die Frommen und die Schaulustigen eine Flagge ihres Landes in der Hand: Ausdruck des katholischen Universalismus oder des katholischen Nationalismus?

6.
Aber es wird noch einige wenige Menschen geben, voller Irritation darüber, dass die katholische Kirchenführung die Botschaft des Evangeliums einfach nicht besser, konkreter, politischer und in prophetischer moderner Sprache sagen kann und sagen will.

7.
Von der theologischen Deutung der Auferstehung Jesu von Nazareth durch die Kirchenführung wollen wir hier eher schweigen. Nur dieses: Warum verbreiten Päpste und Prälaten theologischen Unsinn noch heute : „Das Grab Jesu war leer“? Der Geist eines jeden Menschen erlebt die Auferstehung, nicht der Leib.

Und die Protestanten sind die großen Schweigenden zu allem, was Rom und den Papst und urbi et orbi betrifft. Ökumenische Zusammenarbeit nennt man das.

Die Ansprache des Papstes Ostern 2025: LINK

Die Wahl eines Papstes als sehr winziges Element von Demokratie in der katholischen Kirche:  LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin