Armin Laschets Lügen und sein Opus Dei.

Ein Hinweis auch zur widerwärtigen Rote-Socken Kampagne der CDU im Jahr 2021.  Siehe unten auch den aktuellen, per email versendeten Kommentar von Heribert Prantl über “Stinkstiefeleien im Wahlkampf” (am 19.9.2021 von H. Prantl veröffentlicht)

Von Christian Modehn

1.Der Kanzlerkandidat der UNION Armin Laschet kämpft mit allen Mitteln, auch mit unanständigen, um seinen Wahlsieg. So auf dem CSU-Parteitag am 11.9.2021. Ich zitiere den  Deutschlandfunk: „Laschet hatte in seiner Rede gesagt, in allen Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte hätten die Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite gestanden. Laschet hatte die Warnung vor einer Regierung aus SPD und Grünen in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt. Steuererhöhungen und mehr Bürokratie würden den Wohlstand gefährden, sagte der CDU-Chef in Nürnberg. Dem SPD-Kanzlerkandidaten und Finanzminister Scholz warf Laschet vor, sich eine Hintertür für eine Koalition mit der Linken offenzuhalten“.

2.Führende Vertreter der SPD äußerten sich zu Laschets Polemik, dies berichtet etwa der Deutschlandfunk am 11.9.2021: „Bundesarbeitsminister Heil erklärte, den Beitrag der Sozialdemokratie zum Aufbau des Landes und der Demokratie zu leugnen, sei nicht nur geschichtsvergessen, sondern unanständig und würdelos. SPD-Generalsekretär Klingbeil äußerte sich ähnlich und meinte, die Union unter Laschet gehöre in die Opposition“.

3.Angesichts dieser „unanständigen und würdelosen Äußerungen“ Laschets könnte man erneut reflektieren über die Bedeutung des „C“ für den Vorsitzenden dieser C Partei und die C – Partei insgesamt.  Vom C ist in diesen Parteien nichts mehr übrig geblieben, heißt die bekannte Erkenntnis.

4.Naheliegend ist es, Herrn Laschet an einige theologisch-ethische Auffassungen zum Thema Lüge zu erinnern, die sogar in OPUS-DEI Kreisen verbreitet werden. Das könnte Herrn Lachet interessieren, wo doch seine Familie bekanntermaßen eine familiäre Bindung an das Opus Dei hat. LINK.

5.Die Lügen und das Opus Dei:

Der Wiener Psychiater Dr. Raphael Bonelli hat auf einer Opus-Dei-Veranstaltung im Münchner Opus-Dei-Zentrum „Weidenau“ über die „Lüge als schreckliches Drama“ im Oktober 2010 referiert. Bonelli ist bekanntermaßen eng verbunden mit sehr konservativen katholischen Institutionen, wie kath.net oder der theologischen Hochschule in Heiligenkreuz usw., Bonelli ist Opus Dei Mitglied (Belege dafür unten, Fußnote 1)

6.Die Opus Dei-Website fasst den Vortrag des Opus Dei -Mitgliedes Bonelli zusammen.

Der Inhalt dürfte dem Opus Dei affinen Herrn Laschet und seinen C Wähler vielleicht noch zu denken geben, vielleicht folgen sie den Opus-Dei-Weisungen?

„In den Sitzungen mit seinen Patienten stelle er (Bonelli) immer wieder fest, dass die Unwahrheit wie ein Gift wirke, das alle menschlichen Beziehungen zerstöre. Die Lügner würden in der Regel höchstens ein wenig Schwindelei zugeben und überdies für sich in Anspruch nehmen, damit ihren Mitmenschen nur Unbehagen ersparen zu wollen. Wörtlich sagte Bonelli: „Der Lügner lügt aber nicht aus Nächstenliebe. Sein Problem ist vielmehr die Feigheit vor kleinen Schwierigkeiten. Es geht ihm um eine momentane Unlustvermeidung. Was morgen kommt, ist ihm egal“, beschrieb der Referent einen Prozess, der in einen Gewöhnungseffekt des allmählichen Wegschauens einmünde. Je tiefer der notorische Lügner in seinen Unwahrheiten versinke, desto weniger sei er sich dessen bewusst. Daher lautet Bonellis dringende Empfehlung: „Ich darf niemals etwas sagen, was nicht stimmt“. Und dann berief sich  Bonelli auf die „kluge“ Opus-DEI-Praxis: „Das heißt aber auch, dass ich nicht immer die volle Wahrheit sagen muss.“ (Quelle: https://opusdei.org/de-de/article/die-luge-ist-ein-schreckliches-drama/)

Fußnote 1 zur Opus Dei-Mitgliedschaft von BonellI:: https://www.falter.at/zeitung/20070912/raphael-bonelli/1836150010;; https://www.biologie-seite.de/Biologie/Raphael_M._Bonelli; https://www.aargauerzeitung.ch/verschiedenes/bischof-huonder-holt-mitglied-von-opus-dei-als-referenten-ld.1617745

Copyright: Christian Modehn. Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der aktuelle Kommentar von Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 19.9.2021

 

 

STINKSTIELEIEN IM WAHLKAMPF:
Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das in der kommenden Woche wichtig ist – und manchmal auch darüber hinaus am 19.9.2021

 

In den letzten wilden Wahlkampftagen kam mir der alte Spruch vom Zeigefinger in den Sinn. Er stammt von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten, der ein unbequemer Demokrat war, ein nachdenklicher Jurist und ein engagierter Christ. Heinemann hat 1968, es war in einer Zeit heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen und er war noch Justizminister im Kabinett von Willy Brandt, an eine anatomisch-moralische Tatsache erinnert: “Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.”

In diesen letzten Wahlkampftagen gilt dies für Armin Laschet und seine Parteifreunde. Der CDU-Kanzlerkandidat versucht, unter Hinweis auf staatsanwaltschaftliche Durchsuchungen im Bundesfinanzministerium seinem Konkurrenten Olaf Scholz einen Skandal anzuhängen – irgendwas mit Geldwäsche. Ja, es gibt einen Skandal, aber dieser Skandal ist kein Scholz-Skandal, sondern ein Justizskandal. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück hat ihre Ermittlungen gegen die Geldwäsche-Zentralstelle des Zolls in Köln so in Szene gesetzt: Sie hat einen von ihr erwirkten richterlichen Durchsuchungsbeschluss so unsauber und verfälscht in die Öffentlichkeit getragen, dass der Eindruck entstehen musste, es würde gegen Scholz ermittelt. Und damit nicht genug: Als Scholzens Staatssekretär Wolfgang Schmidt diesen Eindruck zu korrigieren versuchte, indem er das einschlägige richterliche Dokument auf Twitter präsentierte, wurde er von der Staatsanwaltschaft Osnabrück deswegen mit einem weiteren strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen ihn persönlich traktiert.

Chefermittler und CDU-Funktionär

Sind das nur merkwürdige Zufälle? Oder sind das Aktionen, um dem SPD-Kanzlerkandidaten bewusst zu schaden oder eine solche Schädigung zumindest billigend in Kauf zu nehmen? Der Chef der Osnabrücker Ermittler, also der Betreiber dieser Aktionen heißt Bernard Südbeck. Er ist nicht nur Leitender Oberstaatsanwalt, sondern auch CDU-Mitglied und CDU-Funktionär, nämlich Chef der CDU in Cloppenburg. Ist der ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Egal, welcher Partei Staatsanwälte angehören, sie haben unvoreingenommen zu ermitteln und dabei verhältnismäßig vorzugehen. Daran darf man im vorliegenden Fall zweifeln.

Wie man mit Presseerklärungen Geschichte schreibt

Historisch interessierte Menschen wissen, dass man durch missverständliche, dass man durch Presseerklärungen, die die Tatsachen verfälschen, nicht nur einen Wahlkampf beeinflussen, sondern sogar einen Krieg auslösen kann. Bismarck hat 1870 ein Telegramm des preußischen Königs Wilhelm I., der im Kurort Bad Ems weilte, so schroff als Pressemitteilung umformuliert, verkürzt und dann verbreiten lassen, dass aus einer eher harmlosen diplomatischen Auseinandersetzung mit Frankreich eine giftige Provokation wurde. Napoleon III. sah in dieser Provokation, wie von Bismarck gewollt, den Grund für seine Kriegserklärung an Preußen. So begann mit der “Emser Depesche” der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Eine solche Bedeutung hat nun der deutsche Wahlkampf von 2021 ganz gewiss nicht und die Presseerklärung der Staatsanwaltschaft Osnabrück ist keine Emser Depesche im Miniformat. Aber eine Stinkstiefelei ist die ganze Sache schon. Sie sollte wohl auch die Erinnerung an alte Skandale wachrufen, in denen Scholz nicht besonders gut aussah. Mit bloßem Verfolgungseifer ist das nicht zu erklären. Aber mit solchem Verfolgungseifer ist Staatsanwalt Südbeck schon einmal aufgefallen, als er – wie die SZ es am 15. Mai 2009 -beschrieb (“Jagdszenen aus Oldenburg“), seine Kompetenzen überschritt, um an einer anonymen Strafanzeige mitzuwirken.

Das Recht dient nicht dem Wahlkampf

Nicht nur Heinemanns Satz vom Zeigefinger kam mir in diesen Laschet/Scholz/Baerbock-Tagen in Sinn, sondern auch ein berühmter juristischer Vortrag: Rudolf von Jhering, ein hochgelehrter Starjurist des 19. Jahrhunderts, hat ihn vor fast 150 Jahren gehalten, im Jahr 1872. Der Vortrag trug den Titel: “Der Kampf ums Recht”. Das gedruckte Manuskript wurde eines der erfolgreichsten juristischen Bücher, die in Deutschland je erschienen sind – es gab zwölf Auflagen in zwei Jahren; das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt. In diesem Buch findet sich der markige Satz: “Das Leben des Rechts ist ein Kampf”; der Kampf ums Recht sei “ein Akt der ethischen Selbsterhaltung”. So ein Paragraphen-Militarismus ist heute nicht mehr ganz so angesagt wie damals. Gleichwohl: Sollte der Leiter der Osnabrücker Staatsanwaltschaft das Buch gelesen und goutiert haben, dann hat er es missverstanden. Da steht: “Das Recht ist ein Kampf”. Da steht nicht: “Das Recht ist ein Wahlkampf”, da steht auch nicht “Das Recht dient dem Wahlkampf”. Seit meinem Newsletter vom vergangenen Sonntag sind einige einschlägige Merkwürdigkeiten hinzugekommen, die den Verdacht des Rechtsmissbrauchs nähren.

Schauen wir uns die Sache näher an: Die für Geldwäsche zuständige Behörde heißt FIU (Financial Intelligence Unit), sie sitzt in Köln und steht seit längerer Zeit im Verdacht, Hinweise von Banken oder Notaren auf Geldwäsche nicht an Polizei und Staatsanwaltschaft weitergeleitet zu haben. Die FIU gehörte ursprünglich zum BKA; der Vorgänger von Scholz als Finanzminister, Wolfgang Schäuble, hat die Geldwäsche-Zentralstelle dann dem Zoll zugeschlagen; lege artis war das nicht. Nicht nur Banken und Notare, auch die Compliance-Abteilungen großer Konzerne wunderten sich immer wieder, dass ihre Anzeigen bei der FIU im Sande verliefen. Insofern war und ist es zunächst einmal begrüßenswert, dass die Staatsanwaltschaft Osnabrück seit 2020 in Fällen ermittelt, in denen es konkrete Hinweise gibt, dass die FIU dem Verdacht der Geldwäsche nicht nachgegangen ist.

Verwunderliches, Merkwürdiges, Suspektes

Ein wenig verwunderlich war freilich, dass die Staatsanwaltschaft sich Korrespondenzen zwischen der FIU und dem Finanz- sowie dem Justizministerium von den beiden Ministerien nicht einfach hat vorlegen lassen. Vielleicht haben die Ermittler befürchtet, dass die Ministerien von sich aus nicht alles offenlegen. Angesichts der schon länger dauernden Ermittlungen ist aber bemerkenswert, dass die Staatsanwaltschaft einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss erst so spät, nämlich am 10. August, also in der heißen Wahlkampfphase, erwirkt und dann, in der heißesten Phase, zwei Wochen vor der Bundestagswahl vollstrecken lässt. Diese Vorgehensweise hatte zwar ein Gschmäckle, ließ sich jedoch damit begründen, dass die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde nicht auf Wahlkämpfe Rücksicht nehmen muss – ja möglicherweise dazu beiträgt, dass neue, gewichtige Fakten auf den Tisch kommen, die den Wählern bei ihrer Beurteilung der Kandidaten nicht vorenthalten werden sollten.

Spätestens von da an wird es aber suspekt: Die Staatsanwaltschaft teilt in ihrer Presseerklärung etwas Anderes über den von ihr erwirkten richterlichen Durchsuchungsbeschluss mit, als es dieser Durchsuchungsbeschluss vorsieht und erlaubt: Die Presseerklärung spricht nämlich von Ermittlungen auch in Richtung der Leitung der Ministerien, also potentiell gegen Finanzminister Scholz. Der richterliche Beschluss erlaubt aber lediglich die Suche nach Korrespondenzen zwischen Mitarbeitern der FIU und solchen des Finanzministeriums. Dieser Unterschied war und ist gravierend. Mit diesen von der Staatsanwaltschaft falsch dargestellten Fakten geriet Scholz in die politische Schusslinie.

Und nun kommen wir vom Suspekten zum Anrüchigen: Finanzstaatssekretär Schmidt, ein sehr enger Vertrauter von Scholz, der durch Veröffentlichung von Auszügen beider Dokumente (also Presseerklärung und Durchsuchungsbeschluss) auf diese Ungereimtheit hinweist, wird deswegen von der Staatsanwaltschaft Osnabrück mit einem Ermittlungsverfahren wegen der angeblichen Begehung einer Straftat nach Paragraf 353 d Strafgesetzbuch überzogen. Nach diesem Paragraf 353 d StGB wird mit Geldstrafe oder Haft bis zu einem Jahr bestraft, wer amtliche Dokumente eines Strafverfahrens in wesentlichen Teilen öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Gerichtsverhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Mit dieser Strafnorm soll der Beschuldigte vor Vorverurteilungen bewahrt und die Laienrichter, die im Strafverfahren keine Einsicht in die Strafakten erhalten, sollen in ihrer Unvoreingenommenheit geschützt werden. Auch wenn die Strafnorm, weil pressefeindlich, umstritten ist, hat sie das Bundesverfassungsgericht bisher in seinen Entscheidungen für verfassungsgemäß erklärt. So weit, so gut.

Ein böser Witz

Aber wer ist hier als Erster an die Öffentlichkeit getreten? Es war die Staatsanwaltschaft mit einer Presseerklärung, in der sie den Durchsuchungsbeschluss unrichtig wiedergegeben hat! Mit dieser Unrichtigkeit hat sie die Voreingenommenheit der Öffentlichkeit selbst präpariert – und der Staatssekretär hat mit seiner Veröffentlichung des Durchsuchungsbeschlusses dazu beigetragen, die Unvoreingenommenheit wieder herzustellen. Das ist nicht strafbar, das wird vom Schutzzweck der Strafnorm nicht erfasst. Das Ermittlungsverfahren ist daher rechtsmissbräuchlich. Es bleibt auch rechtsmissbräuchlich, wenn die Staatsanwaltschaft Osnabrück es nun an die Staatsanwaltschaft in Berlin abgegeben hat. Es ist auf dem Mist des Osnabrücker Staatsanwaltschaft gewachsen. Mit solchen Rechtsmissbräuchlichkeiten sollte sich Armin Laschet nicht munitionieren.

Laschet muss auf seinen Zeigefinger achten. Die drei Finger, die auf ihn selbst zeigen, weisen ihn darauf hin, dass sein Parteifreund erstens eine verfälschte Presseerklärung in die Welt gesetzt hat, zweitens denjenigen, der das aufklärt, mit Strafverfolgung überzieht, und drittens dabei jede Verhältnismäßigkeit vermissen lässt. Das Recht mag ein Kampf sein. Ein Wahlkampf ist es nicht.

Ich wünsche Ihnen eine gute letzte Wahlkampfwoche – und die Kraft der Erkenntnis, die man beim Wählen braucht.

Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

 

Der Wahn der Gotteskrieger: Warum ist Religionskritik oft so hilflos?

Eine Liste der “Unerhörten Fragen”.

Die 1. unerhörte Frage: Warum lädt die Evangelische Kirche (in Deutschland) nicht Katholiken zur Konversion ein?

Die 2. unerhörte Frage: Warum fördert der Katholizismus die Korruption in Lateinamerika?

Die 3. unerhörte Frage: Inwiefern ist der heutige Katholizismus immer noch vom Aberglauben bestimmt?

Die 4. unerhörte Frage: Warum haben Menschen das deutliche Kriterium für die Qualität ihres Lebensstils (ihrer Moral) vergessen?

Die 5. unerhörte Frage: Warum gibt es – in der von Europa gesteuerten Ökonomie – angeblich wertvolle “Herrenmenschen” und zweitklassige Arme, etwa Afrikaner?

Die 6. unerhörte Frage: Sind Menschen bloß noch “andere Tiere”?

Die 7. unerhörte Frage: Haben politische Einsichten eines Philosophen des 17. Jahrhunderts eine aktuelle Bedeutung?

Die 8. unerhörte Frage: Warum ist Verzichten heute die notwendige Lebensform für die Reichen?

Die 9. unerhörte Frage: Der Wahn der Gotteskrieger: Warum ist Religionskritik oft so hilflos?

Die 10. unerhörte Frage: Das Erdbeben und die Philosophie. Sind religionsphilosophische Hinweise etwa zynisch?

 

Die 9. „unerhörte Frage“. Anläßlich des 11.9. 2001: Der Wahn der Gotteskrieger: Warum ist Religionskritik oft so hilflos?

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 11.9.2021

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

An den 11. September 2001 erinnern heißt: An die zerstörerische Gewalt eines fundamentalistischen Glaubens erinnern. Also an einen Wahn. Wie viele Berichte wurden über einen der wichtigsten Massen-Mörder des 11. September 2001, über Mohammed Atta, Sohn eines ägyptischen Rechtsanwaltes, geschrieben?

2.

In aller Kürze und auf dem neuesten Stand der Forschung schreibt die Frankfurter Dschihadismus-Forscherin Prof. Susanne Schröter (Die ZEIT, 9.Sept. 2021, S. 68) das Entscheidende: Mohammed Atta war der intellektuelle Kopf von fünf Entführern des „American-Airlines“-Flugzeuges, das in den „Nordturm“ des Welthandelszentrums von New York gelenkt wurde. Er war überzeugter Dschihadist.

3.

Die erste Erkenntnis: “Der Dschihadismus ist ein religiöses Phänomen“. Zweitens: Die Mörder waren deswegen bestimmt von einem religiösen Heilsversprechen des islamischen Glaubens.  Drittens: Prof. Susanne Schröter, schreibt: „Wer diese fromme Spielart des Terrors bekämpfen will, darf sein Heilsversprechen nicht unterschätzen: die Aussicht auf einen unmittelbaren Zugang des Attentäters zum Paradies“. Und dann die nicht gerade zuversichtlich stimmenden Worte: „Wer daran wirklich glaubt, ist mit weltlichen Argumenten kaum zu überzeugen“.

4.

Die aufgeklärten, der Vernunft vertrauenden Menschen, sind nach dieser Erkenntnis in gewisser Weise hilflos… Man könnte mit dieser Einschätzung als Sympathisant der reaktionären Clique der pauschalen rechtsextremen Islam-Feinde eingestuft werden. Mit denen aber haben Dschihadismus-Kritiker gar nichts zu tun…

Trotzdem bleibt die Frage: Was tun mit Menschen, die mit Argumenten nicht mehr erreichbar sind…Man denke, nebenbei, auch an die Leute, die mit esoterischen Gründen sich weigern, sich impfen zu lassen; die Gefährdung des eigenen wie das Leben anderer ist diesen so genannten Freiheitskämpfern schnuppe. Sie sind nichts als eigensinnige Egoisten…, aber das ist ein anderes Thema..

Viel schwerwiegender ist die Erkenntnis: Mit den radikalen Islamisten, den Dschihadisten, ist kein Dialog möglich. Sie sind total eingefangen in ihrer absoluten göttlichen „Idee“.

5.

Die Verteidiger der Vernunft und der hierzulande absolut selbstverständlichen Religionskritik sind zunächst also hilflos angesichts dieser Erkenntnisse von Prof. Susanne Schröter. Es muss die Erkenntnis vertieft werde, ein altes Thema der Religionskritik: Wie stark können Religionen die Menschen vergiften? Das gilt für alle Religionen. Und es stellt sich die Frage: Welche Gestalt einer vernünftigen Religion ist als Bezug zu einer göttlichen Wirklichkeit noch gültig?

6.

Wird die Säkularisierung der Lebensverhältnisse auch für Muslime eine Abkehr von religiösem Wahn nach sich ziehen? Bisher ist davon wenig zu spüren! Die Aufgabe heißt: Die Tendenzen einer säkularen und demokratischen Lebensweise gilt es zu fördern und zu unterstützen und rechtlich durchzusetzen. Darum sollte man etwa in den Gesprächen zwischen Christen und Muslimen nicht so sehr von Gott, sondern von der Chance und dem Glück einer säkularen Lebensform sprechen. Christen sollten den Mut haben zu sagen: Viel mehr Religionskritik und ein Ernstnehmen des Atheismus tun uns menschlich gut. Religiöse Menschen sollten immer auch Kritiker ihrer eigenen Religion sein…

7.

Dann sollten die Kontrollen des demokratischen Recht-Staates über die Moscheen verstärkt werden…Man sollte prüfen, was denn da so alles gepredigt wird etc. Die Franzosen unter Präsident Macron haben jetzt erste richtige Schritte getan zum Schutz des säkularen Staates. Susanne Schröter schreibt in der ZEIT: „Oft vergehen viele Jahre, bevor radikale Vereine verboten oder extremistische Moscheen geschlossen werden. Auch die Hamburger Al-Quds Moschee, die für die Hamburger Zelle große Bedeutung besaß, wurde erst Jahre nach den Attentaten vom 11. September 2001 geschlossen“ (ebd.). Genauer gesagt: Diese Moschee in der Nähe des Hauptbahnhofs wurde erst im August 2010 geschlossen, nachdem weitere Fälle extremistischer Praxis deutlich wurden…

8.

Und die ebenfalls noch immer sehr aufs Jenseits, den Himmel, die Hölle, den Teufel, das Paradies fixierten Christen und ihre oft ja auch noch fundamentalistischen Dogmatiker und Bischöfe? Die sollten den Mut haben und sagen: Von diesen „letzten Dingen“ sprechen wir jetzt nicht mehr. Was Gott mit den Verstorbenen in seinem Himmel „macht“, bleibt sein Geheimnis. Entscheidend ist: „Gestalten wir die Erde, die Staaten und Gesellschaften gerechter“. Das ist der religiöse Auftrag. Und befreien wir uns von den Ängsten vor einem rächenden Gott. Verbrecher müssen irdisch bestraft werden bzw. verhindert werden, das ist keine Sache des „Himmels“. Aber leider ist die maßlose Ikonographie der Christen, vor allem der Katholiken, voll von „himmlischen und höllischen Bildern“…

9.

Werden sich die vielen Millionen fundamentalistischer Christen (Evangelikale etc.) darauf einlassen, vom Himmel und dem Paradies erst mal zu schweigen und „der Erde und den Menschen und dem „Mensch gewordenen Gott“ Jesus treu zu bleiben? Ich glaube dies eher nicht. Auch das Christentum, die Kirchen, haben sich mit einem gewissen religiösen Aberglauben gut eingerichtet. Aber selbst eine utopische Forderung soll formuliert werden.

10.

Noch einmal eine Perspektive zum Schluss: In der ZEIT, ebenfalls vom 9. Sept. 2021, Seite 68, schreibt Ebrahim Afsah, Prof. für islamisches Recht in Wien und Kopenhagen: „Es fehlt die Bereitschaft, die Saat der Gewalt im islamischen Erbe und die umfassende Radikalisierung als ernste intellektuelle Herausforderung anzunehmen“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mystiker, Journalist, Aufklärer, Theologe, Romantiker, aber immer: ein „Reisender“: Karl Philipp Moritz.

Über Karl Philipp Moritz, anlässlich seines Geburtstages am 15.9.1756

Hinweise von Christian Modehn.

Ein Motto:

„Moritz ist ein wahres Genie, ein wahrer Sonderling“ (Alexander von Humboldt).

1.

Muss man heute an Karl Philipp Moritz erinnern?

Einige Stichworte zu seinem kurzen Leben,  aber sehr umfangreichen vielfältigen Werk: Aus bescheidenen, aber extrem  frommen pietistischen Verhältnissen stammend, vielseitig begabt; Journalist; Theologiestudent und Prediger; als Reisender rastlos unterwegs, Autor des hoch geschätzten Romans (als Autobiografie) „Anton Reiser“; ein Pädagoge der ungewöhnlichen Art („Phantasie ist wichtiger als Wissen“); ein Freund Goethes, beliebt in den Berliner Salons; Autor und Gründer der ersten Zeitschrift mit „psychoanalytischem Interesse“ (das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“); schließlich Professor an der Akademie der Wissenschaften…

„Ein Aufstieg, der in der deutschen Geistesgeschichte ohne weiteres Beispiel ist“ (Willi Winkler, „Karl Philipp Moritz“, Rowohlt Monographie“, S.115). Aber doch mit der Einschränkung: „Man wusste nicht recht, wo man ihn einordnen könnte“ (Horst Günther im Nachwort zu „Anton Reiser, Insel-Taschenbuch, 2013, S. 529).

Muss man Menschen „einordnen“? Natürlich NICHT! Trotzdem: Moritz war nicht Philosoph im „klassischen“ Sinn, schon gar nicht Psychoanalytiker `avant la lettre`, er war auch kein Philologe alter Sprachen trotz seiner Studien zur antiken Mythologie… Aber: „Vielleicht liegt im Scheitern an den üblichen Gattungen seine Modernität“ (Horst Günther, ebd.)

2.

Über die Stationen und Daten seines kurzen Lebens kann man sich etwa bei wikipedia oder in der schönen Rowohlt-Monographie von Willi Winkler informieren. Geboren wurde Moritz am 15. 9.1756 in Hameln; gestorben ist er im Alter von knapp 37 Jahren am 26.6.1793 in Berlin.

3.

„Alles, was Moritz je geschrieben hat, gehört zueinander. Und alles ist angelegt in seiner Kindheit und Jugend“, betont Horst Günther (ebd., S. 530). Wenn das so ist, dann müsste die Prägung durch den extrem konfusen und unterdrückerischen Pietismus zuhause wie während seiner Ausbildung im Mittelpunkt der Forschung stehen. Die These sollte sein: Moritz, ein Mann, der durch frommen, sich mystisch nennenden Wahn verdorben wurde. Solches gibt es bis heute, nicht nur im Christentum…

Karl Philipp Moritz wird zu Hause nicht geliebt, aber mit der Ideologie einer christlichen Mystik abstruser Art konfrontiert, was ihn auch zur Selbstverachtung führt… Auch wenn Moritz später die Philosophie der Aufklärung schätzt: Die innere Bindung an Mystik und Quietismus (und damit verbunden auch an Aberglauben) wurde er nicht los. „Ganz kann sich Moritz nie von der Mystik befreien, die ihn von der Wiege auf unterdrückt hat“ (Willi Winkler, a.a.O., S. 120).

4.

Erstaunlich ist, dass in den protestantischen Kreisen von Hameln (wo er geboren wurde) sowie in Hannover und Braunschweig, wo er als 12-Jähriger bei einem von Mystik verwirrten Hutmacher lebte, die Lehren der französischen katholischen Mystikerin Madame de Guyon (1648-1717) (präziser: Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon)

verbreitet waren. Diese seltsame katholisch-protestantische Ökumene seit dem 18. Jahrhundert sollte weiter untersucht werden. Die einflussreichen Pietisten damals, wie August Hermann Francke, Gerhard Tersteegen, Zinzendorf usw. waren von den Ideen und Visionen Madame de Guyons geprägt… Diese fromme Adlige wurde wegen ihrer extremen spirituellen Lehren aber sogar von der offiziellen katholischen Kirche verfolgt, von anderen Katholiken wiederum wurde sie wie eine Heilige geschätzt: Sie glaubte z.B., mit Jesus verheiratet zu sein. Das Ziel ihrer mystischen Bemühungen war die Auflösung des menschlichen Selbst in Gott hinein, es ging tatsächlich um Vernichtung des Selbst. Das vernichtete Selbst wird dann in eine Art geistige Wüste und der Dürre geführt, wo „sich auch kein Fünklein der Selbstliebe mehr mischen darf“. Wie gesagt, diese abstrusen Wahngebilde fanden Zuspruch im protestantischen Deutschland, manche ließen sich wohl von ihrer „tiefgründigen“ Sprache verführen, wie das Umfeld des jungen Karl Philipp Moritz. Er  spricht noch von ihr in seinem autobiographischen Roman „Anton Reiser“, er zeigt, wie sich der junge Reiser (Moritz) sogar noch tröstete in den eleganten verworrenen Worten der Madame… Aber insgesamt hat diese eher menschenverachtende Mystik der Madame de Guyon dem jungen Moritz das Leben verdorben. Später distanzierte er sich ironisch-witzig von dieser Person, die die Trockenheit des Geistes lobte: “Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet“ (zit. in Willi Winkler, a.a.O. S. 17). Willi Winkler versucht eine Gesamteinschätzung: „Ob Moritz die Schwärmerei, den religiösen Aberglauben, den die Aufklärung so heftig bekämpfte, selber überwunden hat, ist zumindest zweifelhaft“. (Rowohlts Monographien, S.78).

5.

Als Journalist wagt sich Moritz auf ein ganz neues Feld der Forschung: Es geht um die Erkundung der Tiefen der Seele. Moritz geht in der von ihm begründeten und herausgegebenen Zeitschrift (1783-1793) von den konkreten Lebenserfahrungen des einzelnen Menschen aus, auch von den eigenen. „In einer Fülle von Fallgeschichten berichtete diese als Viermonatsschrift konzipierte Zeitschrift über Mörder und Selbstmörder, religiöse Schwärmer und Hypochonder. Versuche mit Taubstummen und Charakteranalysen von Adoleszenten wurden neben Fällen von Kleptomanie und sexuellem Missbrauch mitgeteilt. Ein anhaltendes, fast schon systematisches Interesse richtete sich auf die Form und den Inhalt frühester Kindheitserinnerungen, und die Vielzahl eingesandter Traumerfahrungen forderte Moritz und seine beiden ihn zeitweise vertretenden Mitherausgeber Carl Friedrich Pockels (1757-1814) und Salomon Maimon (1753-1800) zu ersten Ansätzen einer »Theorie der Träume« heraus“…. „Mit der Darstellung von Zwangshandlungen, Traumphänomenen und Kindheitserinnerungen, mit Mendelssohns Erörterung eines topischen Modells der Seele und den wegweisenden sprachpsychologischen Überlegungen von Moritz zu den unpersönlichen Zeitwörtern (»es donnert«), stand es am Beginn einer Entwicklung, die bis hin zu Sigmund Freud führen sollte, der dieselben rätselhaften psychologischen Phänomene mit einer neuen systematischen Theorie erschliessen konnte.

(siehe: http://telota.bbaw.de/mze/)

6..

Moritz interessiert sich für die philosophische Aufklärung. Auch den Kindern will er die Idee der Gleichheit erklären: in seinem „A.B.C.Buch“ von 1790. Die Menschen sind nicht ungleich, betont er: »Die armen und niedrigen Menschen sind ebenso gebildet [geschaffen] wie die Reichen und Vornehmen. Ein jeder Mensch ist der Hilfe bedürftig. Wenn die armen und niedrigen Menschen schwach und krank sind, so bedürfen sie der Hilfe. Und wenn die Reichen und Vornehmen schwach und krank sind, so bedürfen sie auch der Hilfe. Kein Mensch muss den andern gering schätzen. Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu sein.«  (ZEIT 7. 9. 2006, Benedikt Erens).

7.

Karl Philipp Moritz ist und bleibt der bis heute hoch geschätzte Dichter seines autobiographischen Romans Anton Reiser (1790), inzwischen wurde diese „Bekenntnisschrift“ in viele Sprachen übersetzt. Es ist die Geschichte eines Versuchs, sich selbst mit vielen Mühen aus der Unmündigkeit zu befreien. Den Pietismus des Elternhauses verlässt Reiser, aber eine geistige, spirituelle Heimat findet er nicht. In dieser Wahrhaftigkeit stellt sich Reiser/Moritz dar. Reiser erhöht sich und degradiert sich, leidet unter Ängsten und hat doch den Willen, dem Leben einen höheren Sinn abzugewinnen, auch wenn es schwerfällt. Aber der Eindruck bleibt: Der Mensch wird im Laufe seines jungen Lebens zerstückelt. Der Schriftsteller Arno Schmidt sagt: „Anton Reiser, ein Buch wie es kein anderes Volk der Erde besitzt“ (zit. in Willi Winkler,a.a.O., S. 144).

8.

Die Macht der seelischen Zerstörung durch frommen Wahn (Madame Guyon usw.) war also alles andere als total. Moritz, der so oft gelitten hat, konnte seinen Schmerz sinnvoll in seinen vielfältigen Werken überwinden. Seine Homosexualität konnte er nicht in Freiheit leben und gestalten, so sehr er auch in seinen Freund Karl Friedrich Klischnig (1788 – 1811) verliebt war…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Atheismus im Christentum: Das heißt: Atheismus inmitten des Glaubens.

Wer ist ein religiöser Mensch? Jemand, der auch Atheist ist.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Buch „Atheismus im Christentum“ von Ernst Bloch, 1968 veröffentlicht, sollten religiöse Menschen, Christen, Muslime, Juden wie auch Atheisten neu entdecken, auch Atheisten, die bekanntlich auch „nur“ glauben können, nämlich: Dass es Gott nicht gibt.

1.

Der Titel des Buches ist Programm. Man könnte ihn verwandeln in „Atheismus im persönlichen Glauben“. Oder: „Atheismus in meiner, in unserer Spiritualität“. Impulse werden freigesetzt für einen Glauben, der heutige Lebenserfahrungen respektiert, also auch den Inhalt des Glaubens neu gestaltet. Denn bekanntlich ist religiöser Glaube etwas Lebendiges, d.h. Wandelbares, und entgegen vielerlei rigider Praxis der Kirchen und Religionen nichts Versteinertes, nicht auf ewig Dogmatisches.

2.

Ernst Bloch will ein Gottesbild überwinden, um jetzt nur beim Christentum, den Kirchen zu bleiben, das dort bestimmend wurde: Gott wird als Himmels-Herrscher verehrt oder als „Rachegott“ gefürchtet. Dieser Gott bremst die Freiheit aktiver Lebensgestaltung, behindert den Elan, für die universale Gerechtigkeit unter den Menschen auf dieser Erde einzutreten. Bloch wehrt sich aber auch gegen eine andere Gestalt banalen Glaubens, den banalen Atheismus, etwa in „Gespräche mit Ernst Bloch“, 1975, Seite 170. Dieser Atheismus begrenzt sich schlicht darauf, die Materie für „alles“ zu halten und diese zu verehren und … Gott zu bekämpfen. „Mir geht es hingegen um revolutionären Atheismus in Religionen selber, insbesondere dem Christentum, wie man weiß“ (S. 170).

3.

Bloch zeigt, dass Menschen wesentlich von der geistigen Kraft des Transzendierens bestimmt sind. Das heißt: Sie haben die innere, die geistige Energie, über jeden vorfindlichen Zustand hinauszustreben, das erinnert deutlich an Hegel. Bloch denkt entschieden an politische und ökonomische Verhältnisse, die die Menschenwürde aller bekämpfen und ausschließen. Diese Energie für ein „Transzendierens nach vorne, in die bessere Zukunft der Menschheit und der Welt zu entwickeln, ist die wahre spirituelle Leistung der Menschen, vor allem derer, die sich Christen nennen.

4.

Damit wird die Dimension des „Atheismus in meinem, in unserem Glauben“, erreicht:

Wer den Herrscher – Gott im Himmel, den Rächer und wundertätigen Willkürgott, der mal hier, mal dort Wunder für diesen oder mal für jenen tut, wer also diesen Willkür-Gott ablehnt und vernünftig und emotional überwindet, gerät in eine Art Zwischenraum, in eine Leere. Die ist bestimmt von der Erfahrung des Verlustes des alten Gottes UND dem Nicht-Dasein einer neuen zentralen Lebensmitte, sagen wir eines „neuen Göttlichen“, das man in Erwartungshaltung vielleicht den neuen gründenden Sinn, das Heilige, nennen könnte. Aber eben nicht mehr den angelernten Gott aus Kindeszeiten.

Im leeren Zwischenraum ist die Stimmung des Abschieds bestimmend, auch der Angst, etwas Wesentliches und Altvertrautes verloren oder aufgegeben zu haben. Aber doch setzt sich die Einsicht und die Gewissheit durch: Das „alte, überkommene, angelernte, Gottesbild“ stört unsere gegenwärtige Lebenserfahrung und die vernünftige Einsicht. Denn das überwundene, alte Gottesbild ruhte also wie ein „erratischer Block“ in unserem Leben. Damit deutet sich schon an, dass die Leere, der Zwischenraum, um der geistigen Gesundheit willen verlassen werden sollte. Eine neue, humanere Vorstellung von dem Göttlichen oder dem Sinn-Gründenden deutet sich an.

5.

Man könnte bei Bloch also lernen: Wer als Christ diese Situation der Leere, des Übergangs, erfährt und begrifflich denkt, erlebt für sich selbst und in sich selbst den „Atheismus im Christentum“: Der religiöse Mensch, der Christ, ist also Gott „los“ geworden, d.h. gottlos geworden, befreit von einem Gott, der das Leben behindert und die Unreife der Menschen fördert. Bloch weist sehr treffend darauf hin, dass der Philosoph und Mystiker Meister Eckart im 14. Jahrhundert seinen dringenden Wunsch formulierte, er möge „Gottes quitt“ sein, also gott-los werden. Dies sagte er nicht aus einer unreflektierten Zustimmung zu einem vulgären Atheismus. Vielmehr wusste er: Das dingliche und greifbare und verfügbare allgemeine christliche Gottesbild verfälscht den „göttlichen Gott“. Und die Bindung an ihn macht den Menschen unfrei, kettet ihn an Phantome, die Angst erzeugen und verwirren.

6.

Bloch hat also einen Vorschlag, diese Phasen der Leere und des Atheismus als Phasen der Gesundung, der Reifung, des geistigen und politischen Wachstums zu verstehen. So können diese Momente und Zeiten des Übergangs, der Leere, des Atheismus, gelebt werden. Sie sind immer wieder neu sich einstellende Momente einer spirituellen Lebendigkeit. Man könnte also sagen: Wer als Christ nicht oft auch Atheist gewesen ist, hat nicht in einem lebendigen Leben, in einer lebendigen Spiritualität, gelebt. Und diese Lebendigkeit ist wesentlich das dauernde Transzendieren als das Überwinden jeglicher Fixierung. Und gerade dieses dauernde Transzendieren ist das eigentlich Feste und Bleibende im Leben.

7.

Darauf kommt es entschieden an: Religiöse Menschen, also noch einmal Christen, Juden, Muslime, Atheisten sollten diese ihre geistige Struktur, das Transzendieren, als ihren religiösen Mittelpunkt erkennen. Transzendieren ist im Sinne Blochs das  sehr weltliche und politische Transzendieren in eine bessere Zukunft für die Menschheit! Das Ziel des Transzendierens ist für Bloch nicht der vertikal zu denkende göttliche Herr des Himmels und der himmlischen Heere, sondern das umfassend humane Reich der Zukunft. Bloch sprich in dem Zusammenhang von „Transzendieren ohne Transzendenz“, also ohne göttlichen „Himmel“. Es wäre jedoch zu fragen, ob dieses Transzendieren in eine umfassend humane Zukunft („vorwärts“, wie Bloch sagt) nicht bereits schon das Göttliche im Menschen ist. Ich würde den Gedanken unterstützen. Bloch lehnt ihn ab, weil er mit der Voraussetzung einer mit der „Schöpfung“ gegebenen, sozusagen an gelegten geistigen Kraft des Transzendierens rechnet.

8.

Der Atheismus Blochs ist etwas sehr Spezielles. Für Bloch ist die Gestalt Jesu von Nazareth zentral, den er – wie viele andere auch – als „Menschensohn“ versteht, im Anschluss an das Neue Testament. Jesus als der „Menschensohn“ ist die herausragende Gestalt unter den Menschen mit einer radikalen humanen Botschaft. Bloch schreibt: „Jesu Wort: Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan ist entscheidend: Plötzlich erscheint keine Obrigkeit mehr…hier also ist der Gott, der von oben herrscht, vollkommen weg. Und eine Rückwendung auf den Menschen ist da, und zwar zu den Armen, Erniedrigten…Man kann das schon Atheismus nennen, da der theos, der Gott (in seiner Macht) gestürzt wird“ („Gespräche mit Ernst Bloch, S. 171). Jesus wird also gerade als Zeuge einer Humanität zugunsten der Armen und Ausgegrenzten zu einer Art erlösendem, befreienden Vorbild.

9.

Wer sich von den Einsichten Blochs anregen lässt, wird auf eine philosophische und theologische Entdeckungsfahrt geschickt: Ohne Atheismus als Erfahrung inmitten des Lebens gibt es keine Spiritualität. Diese Aussage steht etwa gegen die Kirchen, die immer als Ideal predigen, nur den reinen Glauben allzeit zu leben sei Ausdruck der Heiligkeit und Vollkommenheit. Nur das Gute, nur das Fromme allein zu leben ist in der Sicht Blochs naiv: Glauben ohne in atheistische Phasen zu gelangen, ist etwas Stagnierendes. Der reflektierte Atheismus findet immer wieder zu einer neuen Glaubenshaltung. So entsteht eine geistvolle Dialektik inmitten des Lebens.

10.

Noch einmal: Auch der Atheist ist von einer Glaubenshaltung bestimmt , von der Überzeugung, dass kein Gott ist. Atheisten als Glaubende: Das wäre auch ein Aspekt, der sich aus Blochs „Atheismus im Christentum“ ergeben könnte. „Atheismus ist auch Glauben“ wäre dann der weiterführende Titel. Dieser Atheist kann sich aber von „christlichen Atheisten“ belehren lassen: „Den Gott, den ihr Atheisten ablehnt, den lehne ich als Glaubender genauso ab. Insofern sind wir, Atheisten wie Glaubende, in der Dialektik des Lebens immer in ganz neuer Weise Atheisten. Wir beide, Christen und Atheisten, sind gottlos, nämlich in unserer Ablehnung des banalen Gottesbildes.

11.

Das Nachdenken müsste natürlich Konsequenzen haben in der religiösen oder auch in atheistischen Bildung. Bleiben wir bei der religiösen, der christlichen Bildung etwa der Kinder. Kindgemäße Hinweise auf die göttliche Wirklichkeit lassen sich bestimmt nicht durch das Auswendiglernen von Sprüchen und Gebeten oder durch Kindergottesdienste mit viel kindlichem Tralala erreichen. Wichtiger wäre eine kindgemäße Einführung in das, was man die Tiefe und das Geheimnis des Lebens und der Welt nennt. Dann ist von dem unmittelbar eingreifenden wundertätigen Gott keine Rede mehr, Lehren, die so viel Verwirrung stiften bis ins hohe Lebensalter:  Da wird dann mit einem naiven kindlichen Glauben noch im reflektierten, reifen Alter behauptet: „Wenn Gott dies und das zulässt und nicht als Gott direkt eingreift, dann glaube ich nicht an ihn“.

12.

Solche religiös-kindliche Dummheit kann aber überwunden werden, wenn Kinder und Jugendliche anstelle des üblichen religiösen Tralala eben Meditationen, Achtsamkeit, sowie im Spiel das Nachgestalten bestimmter Parabeln Jesu lernen und üben. Das Verstehen der Religionen darf nie auf einer kindlichen, ich möchte sagen, infantilen Stufe stehen bleiben. Insofern ist mancher „Atheismus“ im Christentum auch oft nichts anderes als die Ablehnung des infantilen Glaubens im Christentum. Der Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel hat dieses Phänomen schon vor einigen Jahren auf den Begriff gebracht: „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, heißt sein Buch, 1985 erschienen. Oder den Titel variierend: „Atheismus durch das Sich Klammern an infantile Gottesbilder“. Dieser „Atheismus“ sollte unbedingt überwunden werden. Aber diese authentische, „sachgemäße“ religiöse Bildung kann kaum noch vermittelt werden, weil sich so viele von der Religion längst abgewandt haben. Sie meinen, es gäbe Religion, es gäbe Christentum, nur in dieser dummen, naiven, infantilen Gestalt. Die freilich die Kirchen aus Mangel an spiritueller Lebendigkeit und , dogmatischer Sturheit fortsetzen, bis zu ihrem eigenen Ende, dem Absterben des Christentums. Nietzsche hat treffend gefragt: Wird die Kirche zum Grab Gottes? (Siehe Friedrich Nietzsches, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 12).  LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Afghanistan: Das Ende der „Mission des Westens“?

Nach der Kapitulation des Westens in Afghanistan.

Hinweise von Christian Modehn

1.

Der militärische Einsatz des Westens in Afghanistan hatte sich als ein humanitäres Projekt verstanden, um Menschenrechte dort durchzusetzen, vor allem für Frauen sollten sie Realität werden. Der Westen hatte dort eine Mission, sie wollte er mit Gewalt durchsetzen.

2.

Der militärische Kampf des Westens in Afghanistan hatte – in der Theorie – hohe Ziele, „Ideale“. Die Militärs des Westens, also konfessionell betrachtet meistens noch nominell Christen, waren eine Art von Missionaren, die zum Töten des Feindes bereit waren. Dieses missionarische Selbstverständnis hat im Gefühl der moralischen und ethischen (christlichen) Überlegenheit des Westens ihren Ursprung. Dass sich die immer noch christlichen und sehr kirchlichen Bürger der USA traditionell als missionarische Nation verstehen, verantwortlich für das Wohl der Welt, ist evident. Dieses ideologische und religiös gefärbte Selbstverständnis verdeckte ökonomische, geopolitische und machtpolitische Interessen, das ist ebenso evident.

3.

Tatsache ist: Diese US-Missionare sind mit ihren Missionen im Laufe dieser langen US-„Missionsgeschichte“ fast immer gescheitert. Sie haben zwar etwa in Lateinamerika ihre politischen Ziele, die Absetzung linker Regierungen mit Gewalt durchgesetzt, aber nicht dauerhaft rechtstaatliche und demokratische Regierungen „produziert“. Diese US-Missionen haben vielen tausend Menschen das Leben gekostet und viele tausend Milliarden US-Dollar verschlungen. Vom permanenten Krieg der USA in allen Teilen der Welt hat nur die US-Rüstungsindustrie profitiert. Friedlicher, humaner ist die Welt durch die vielen US-Missionen also nicht geworden, eher das Gegenteil ist wahr:Man denke an die  US Einsätze in Irak, Somalia, Vietnam, Chile, Guatemala usw…

4.

Jetzt (Ende August 2021) werden auf höchster Ebene heftige Zweifel an der missionarischen Sendung der USA laut. Der „Heilsbringer“ gerühmte Präsident Biden sagt: „Wir sollten keine amerikanischen Leben opfern, um Afghanistan zu einer Demokratie zu machen“ (SZ 28/ 29. Aug 2021 S. 2). Wenn es noch zu militärischem Handeln seitens der USA kommen soll, dann offenbar nur, um unmittelbare Attacken auf US-Bürger zu rächen. Der Katholik Joe Biden warnte die IS-Kämpfer in Afghanistan: „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen, wir werden euch jagen, und ihr werdet bezahlen“ (SZ 28./29. Aug 2021 S. 2). Mit anderen Worten: Die USA werden nicht auf die Sprache der Waffen verzichten. Natürlich können die USA das Abschlachten so vieler Menschen durch die IS in Afghanistan nicht ohne weiteres hinnehmen, es handelt sich wirklich beim IS um Mörderbanden. Aber jede neue militärische Antwort verlängert die Spirale der Gewalt. Gibt es bei dieser üblichen, dieser „eingefahrenen“ Politik noch ein Entkommen aus dieser stetig zunehmenden Spirale der Gewalt? Warum kontaktieren eigentlich Politiker nicht ihre so kenntnisreichen Friedensforscher? Ist Friedensforschung nichts als eine Art akademisches Beschäftigungsprogramm?

5.

An die Kraft des Geistes glaubt heutzutage kein Politiker mehr, also an Dialog, Verhandlungen mit dem Feind, ausschließlich humanitäre Hilfe und vor allem sehr gute geistige und kulturelle Vorbereitung, wenn Europäer, US-Amerikaner, also dem Namen nach Christen in muslimischen Staaten „eingreifen“. Von einer humanen, klugen, reflektierten, gebildeten Friedenspolitik ist offenbar niemand mehr überzeugt. Die Menschen, die zu Feinden erklärt wurden, also die zum Krieg entschlossenen muslimischen Krieger, sind evident auch keine reflektierten Friedensboten. Und die sich human nennende islamische Welt (die Mehrheit?) ist offenbar völlig außerstande, diesen sich islamisch nennenden Mörderbanden irgendwie Einhalt zu gebieten. Immerhin diese Worte von Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland. “Was in Afghanistan passiert, ist ein Schlag für die weltweite muslimische Community: Denn die allermeisten Muslime – und die Afghanen ohnehin – wollen keinen Steinzeit-Islam, gepaart mit Stammes-Doktrin. Und diese Taliban finden jetzt wieder an die Macht. Und das ist deswegen ein Desaster für alle“.

6.

Auch dieses Desaster hat eine (!) entscheidende Ursache in der Überzeugung der Politiker auf beiden Seiten, im Westen wie unter Muslimen: Dies ist die Überzeugung, eine Mission zu haben.

Mission heißt: „Ich bin gesandt, den anderen meine eigene Überzeugung mitzuteilen“. Das kann solange gut gehen, wenn alle Missionare ihr Gesandtsein als Verpflichtung zum friedlichen Dialog verstehen, also als interessierten Austausch, zu dem wie bei jedem geistigen Austausch auch die Lernbereitschaft von anderen, Fremden, Gegner, ja selbst Feinden gehört. Mission hat also schon aus friedenspolitischen Gründen nur den Sinn, wenn sie als gewaltfreier Dialog geschieht. Wir wissen heute, dass diese Erkenntnis ein wahres und erstrebenswertes Ideal beschreibt. Es war unter weniger komplexen Verhältnissen eher realisierbar, ist aber heute in einer a-priori totalkriegerischen, total machtversessenen Welt fast ohne Chancen. Leider wird zu wenig über gelungene Friedensmissionen berichtet, die zwar vielleicht nur einige Jahre Bestand hatten, weil die kriegsversessene Umgebung diese Erfolge zerstörte. Man denke etwa an die gelungene Friedensmission der christlichen Aktivisten „San Egidio“ in dem von Bürgerkrieg zerrissenen Mozambique.

7.

Die ersten Christen haben in ihren Evangelien dem auferstandenen Jesus von Nazareth das Wort in den Mund gelegt, sie sollten als Gemeinde, als Kirche „allen Menschen das Evangelium (in amtskirchlicher Interpretation) verkünden“. (siehe das Markus Ev., 16, 15). Zum missionarischen Islam: Auch der Islam in seinen vielfältigen Konfessionen versteht sich als missionarische Religion, was etwa in der Koran-Sure 34,28 angedeutet wird. Mission heißt zunächst, die Vertiefung der Koran-Kenntnisse bei den ungebildeten Muslimen, aber auch die Bereitschaft, etwa Christen in die islamische Gemeinschaft aufzunehmen. Über Konvertiten ist man hoch erfreut.

8.

Dem Auftrag Jesu bzw. der ersten Gemeinde zur Mission hat die Kirche von Anfang entsprochen, selten sogar ohne Gewalt, sondern im Dialog. Man denke etwa an den Besuch des heiligen Franziskus von Assisi im Jahr 1219 beim Sultan Malik al Kamir in Ägypten, zu einem Zeitpunkt, als katholische Kreuzfahrer das „Heilige Land“ von „ungläubigen Muslims“ zu befreien suchten. Selbst wenn viele historische Details unklar bleiben: Das Treffen hat stattgefunden und ist ein Lichtblick in einer langen Missionsgeschichte der christlichen wie der islamischen Religion (zur Einführung in dieses Thema siehe: https://www.deutschlandfunk.de/franz-von-assisi-und-sultan-al-kamil-begegnen-sich-zwischen.2540.de.html?dram:article_id=455143).

Es wäre ein weites Thema der Missionsgeschichte, die wenigen Momente zu studieren, in denen etwa katholische Missionare aus Europa in „heidnischen Ländern“ auf den Dialog, die Begegnung mit den anderen setzten: Da muss an die China-Mission der Jesuiten im 17. Jahrhundert erinnert werden, etwa an Pater Ricci in Peking, der als hoch qualifizierter Gelehrter im Austausch stand mit dem Kaiser und dessen Gelehrten. Die Jesuiten gingen schon damals soweit, in Begriffe einer „heidnische“ Philosophie, der konfuzianischen Lehre, das Christentum zu übersetzen und es darzustellen. Pater Ricci befand sich in einer großen Gruppe anderer Jesuiten, die ähnlich im (wissenschaftlichen) Dialog mit Chinesen tätig waren. Diese „Dialog-Mission“ scheiterte einerseits an einer theologischen Ängstlichkeit in Rom und an den Umbrüchen innerhalb der chinesischen Dynastie (siehe dazu: Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. C.H. Beck-verlag 2016, S. 646). Auch von den sogenannten „Jesuiten-Reduktionen“ etwa in Paraguay unter dem Volk der Guarani wäre zu sprechen. Aber diese „Dialog-Missionen“ sind absolute Ausnahmen geblieben. Meist wurde der christliche Glaube den „Heiden“ nur äußerlich aufgedrängt und aufgesetzt zum Nachplappern, die elementare Friedensbotschaft des Christentums wurde gar nicht verstanden und verinnerlicht. Man denke etwa an den Völkermord in Ruanda, wo vor allem mörderische katholische Hutus die ebenfalls katholischen Tutsi abschlachteten.

9.

Die sich säkular verstehenden europäischen und nordamerikanischen Staaten begreifen ihre Mission heute als Durchsetzung der universal geltenden Menschenrechte. Menschenrechte sind, wie auch Prof. Herfried Münkler betont, als Zivilreligion zu deuten. Die Menschenrechte sind zwar im Westen formuliert worden, aber diese regionale Herkunft schließt nicht universale Geltung aus, zumal auch die Menschenrechte immer ausführlicher weiter bestimmt werden, etwa als sozialpolitische Menschenrechte. Und evident ist auch: Wer Unterdrückung und Folter in den vielen Staaten erlebt, die eben nicht die Menschenrechte praktisch gelten lassen, hat nur einen Wunsch: Endlich Anteil zu haben an den selbstverständlich für alle geltenden Menschrechte. Über die Menschenrechte als universal geltende Menschenrechte dürfte es, mit Vernunft besehen, eigentlich keine Debatte mehr geben. Es gibt auch philosophische Evidenzen.

10.

Menschenrechte können erfolgreich nur vermittelt werden im Dialog, also in einer friedlichen Situation.

Im Krieg und mit tötender Gewalt Menschenrechte durchsetzen zu wollen, ist von vornherein absurd. „Militärisch kann man einen solchen Konflikt in Afghanistan allein nicht lösen, der Einsatz von Soldaten schafft der Politik Zeit, um mit anderen Mitteln an die Konfliktlösung heranzugehen“. (Oberstleutnant a.D. Rainer Glatz, in „Die ZEIT“,  26.8.2021, S. 7).

Aber wenn man schon einmal begonnen hat, Unrechtssysteme durch Kriegshandlungen zu besiegen, dann soll man als westlicher „Missionar“ auch Geduld und Nerven behalten, bis sich tatsächlich ein wirksamer Systemwandel, etwa in Afghanistan, zeigt. Mit anderen Worten: Der Abbruch der Präsenz des Westens in Afghanistan war völlig übereilt. Denn erste Erfolge hinsichtlich der Menschenrechte sind ja sichtbar, etwa hinsichtlich der Menschenrechte für Frauen, der Durchsetzung von Bildung…

Der Abzug der westlichen Truppen war also übereilt, unreflektiert, darum dumm und gefährlich sowie auch moralisch verwerflich. Denn die Versprechen der westlichen Regierungen, umfassend die vielen tausend afghanischen Mitarbeiter zu schützen und im Falle eines Abzugs der West-Truppen ins westliche Ausland zu bringen, wurden nicht erfüllt. Diese evidente Lüge wird das Ansehen des Westens unter vernünftigen islamischen Bürgern weiterhin stören und zerstören. Und der Westen hat Afghanistan als Land zwar verlassen, der Fluch dieses viel zu früh abgebrochenen Krieges, genannt Friedensmission, wird noch lange leider Wirkungen zeigen, auch im Westen.

 

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jean-Luc Nancy: „Das Christentum hat sich von mir abgewandt. Aber die wahre Mystik blieb mir“

Der Philosoph Jean-Luc Nancy ist gestorben

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ist am 23.8.2021 im Alter von 81 Jahren gestorben, er war viele Jahre Professor in Straßburg, er ist einer der wichtigsten Philosophen unserer Gegenwart.  Sein philosophisches und literarisches Werk ist äußerst lebendig und umfangreich, mehr als 100, zum Teil viel beachtete Bücher hat Nancy publiziert. Er war auch mehrfach in Berlin zu Vorträgen und Debatten. Etliche längere Interviews auf Deutsch sind in der sehr empfehlenswerten Zeitschrift „Lettre International“ erschienen….

Dieser Hinweis ist natürlich keine „Gesamtwürdigung“ seines Werkes.  Es ist sehr komplex und zudem für „schnelle Lektüre“ ungeeignet…Das sollte aber niemanden hindern, Nancy zu studieren. Hier werden nur einige Stellungnahmen Nancys genannt werden, die in der Pariser Tageszeitung „La Croix“ kürzlich veröffentlicht wurden. Die ausgewählten Stellungnahmen beziehen sich vor allem auf das immer deutliche religiöse bzw. auch religionsphilosophische Interesse von Jean-Luc Nancy. Und das passt gut in den Schwerpunkt unseres philosophischen Salons.

1. Zur christlichen Biographie Nancys:

Im Alter von etwa 28 Jahren trennt sich Nancy vom christlichen Glauben und der katholischen Kirche, er war in der Gemeinschaft J.E.C., „Jeunesse Etudiante Chrétienne“, in der „Christlichen studierenden Jugend“, einer Organisation der katholischen Kirche, aktiv engagiert und interessiert“. (Zur J.E.C. gehörten viele Intellektuelle und Politiker, wie Francois Mitterrand, René Rémond, Georges Montaron und andere. Die J.E.C. besteht bis heute, als progressive, linke katholische Organisation). Jean-Luc Nancy: „Die Zugehörigkeit zum Christentum war für mich absolut untrennbar mit einer politischen und sozialen Vision. Wir waren in der JEC sehr engagiert zugunsten der Demokratisierung des Unterrichts und der Ausbildung. Ich war Christ, ganz und gar. Aber ich muss sagen: Das Christentum hat sich von mir abgewandt, wie von einer ganzen Generation. Denn im Jahr 1957 kritisierten die französischen Bischöfe die progressive Haltung der J.E.C. Das war für mich wie ein Donnerschlag und so befreite ich mich von der Kirche, die mir als eine Gestalt des Konservativen und der Macht erschien. Diese Loslösung von der Kirche war möglich, weil ich die Philosophen Hegel, Heidegger und Derrida entdeckte. Diese Philosophen sagten mir nicht: Ich bringe dir das Heil. Aber sie ließen mich lebendig sein“.

Aber es bleibt für Nancy nach dem Abschied vom Christentum: „Etwa die Interpretation der Bibel. Ich sah, dass man förmlich bis ins Unendliche den Sinn eines Textes entdecken kann“.

2. Das andere Herz

Nancy hat oft davon gesprochen, dass ihm 1992 ein Herz transplantiert wurde, darüber hat er 2000 ein Buch geschrieben mit dem Titel „L Intrus“, „Der Eindringling“. Er wendet sich an den Menschen, der, ohne es zu wissen, ihm sein zweites Herz gegeben hat.

3. Gemeinschaft leben und Gemeinschaft denken

Ein Mittelpunkt der Philosophie Nancys steht sicher die Reflexion über die Gemeinschaft der Menschen, auch die Gleichheit der Menschen, sowie ihre Krankheiten, aktuell von ihm reflektiert das Corona-Virus. Dazu das Buch „Un trop humain virus“ 2020, erschienen in den Editions Bayard Paris. In dem Interview mit „La Croix“ spricht er über das Gesundsein heute.  „Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Gesundheit ein wesentliches Gut ist, aber auch ein Recht. Jeder kann es fordern. Trotzdem: Die Gesundheit ist nicht die Wahrheit der Existenz…Heute ist die Gesundheit zu einer Art Selbstzweck geworden. Wozu  sollen wir denn bei guter Gesundheit sein? Für welche Ziele leben wir? Das ist nicht mehr klar.“

4. Der kulturelle Bruch

„Seit der Verkündigung des Todes Gottes durch Nietzsche sind wir in eine Epoche der Unsicherheit eingetreten. Ich denke oft an den Satz von Jean-Christophe Bailly, einem überzeugten Atheisten, der in seinem Buch „Adieu“ geschrieben hat: Der Atheismus war nicht imstande, seine eigene Wüste zu bewässern. Ich glaube, diese Diagnose ist völlig korrekt. Die moderne Zivilisation hat nichts vorgeschlagen, um die Gestalt des Gottes zu ersetzen, die ausgelöscht wurde. Ich habe die Gewissheit, dass es eine neue spirituelle Revolution geben wird, dass die Zeit dafür gekommen ist, aber das kann vielleicht noch 300 Jahre dauern.“

5. „Wir sind Kinder Gottes“?

Nancy fragt sich, was denn letztlich die Gleichheit der Menschen heute legitimieren und beweisen könnte. „Man muss anerkennen, dass wir es nicht wissen… Im Laufe unserer Geschichte wurde das Christentum wichtig…Man sagte: Man ist ein Kind Gottes, das legitimierte die Gleichheit. Aber außerhalb der Religion, wie kann man die Gleichheit denken“?

6. “Wir tappen im Dunkeln

„Aber was die Zukunft angeht, kann ich nichts voraussagen und vorschlagen. Ich tappe im Dunkeln. Trotzdem: Wenn man sich im Dunkeln befindet, ist man niemals gänzlich in der totalen Finsternis. Im „Schwarzen“ lebend, sieht man auf andere Weise, nicht durch die Augen, sondern durch andere Sinne, das hören, das tasten…

7. Was bleibt?

„Ich habe in der Philosophie Hegels so etwas wie die Wahrheit des Christentums gefunden!  Hegel ist jemand, der in der wahren Bewegung des Geistes bleibt, eines Geistes, der die Grenzen überschreitet. Wichtig ist für mich auch der Philosoph Meister Eckart. Er sagte: „Bitten wir Gott, dass er uns in der Freiheit erhält und dass wir von Gott frei werden“.  Bei der Mystik heute muss ich eine gewisse Erschöpfung feststellen, heute sind die großen Debatten über die Mystik förmlich banalisiert. Ein sehr großer Teil der Menschheit heute verlangt nach Religion, aber die Menschen begnügen sich mit groben und dummen Sprüchen, die ihnen vorgesetzt werden. Unerträglich, was man so an Predigten der Evangelikalen hört…

8. Was ist Philosophie?

“Die Philosophie ist die Arbeit des Denkens. Philosophie gehört nicht zur Ordnung eines Wissens. Sondern eher: Dazu kommen, Worte für das zu geben , was man lebt. Die Aufgabe des Denkens ist die (Wiederer)-Öffnung, das Erwachen, das Aufgreifen der dringenden Bitte um Sinn. Philosophieren beginnt da, wo der Sinn unterbrochen ist. Aber der Sinn ist nicht eine Art Lager an Bedeutungen, kein Lager der Antworten und der Erklärungen der Welt, die irgendwo niedergelegt sind und die man teilen sollte”. Nein! Das Teilen, das ist der Sinn.  (Philosophie Magazine, Paris, August 2021).

9. Und die Freude?

Die Philosophie von Nancy ist geprägt von der Freude, der Anwesenheit der Lebensfreude. „Aber Freude ist nicht Zufriedenheit. Sie ist ein Affekt des Geistes, man weiß sich über jede Zweckbestimmung Begrenzung und jede Ganzheit hinausgetragen. Was die Freude für einen Grund hat, vermag ich nicht zu sagen…in jedem Fall: Die Freude kommt immer von einem „anderswoher“ (d`ailleurs). Von anderen, nicht von mir. Von den großen Gedanken der Philosophen, der Worte der Poeten, der warmen Zuneigung der Personen, der Schönheit der Kunst und der Körper. Natürlich, diese Erfahrung der Freude ist nicht immer da. Aber wenn sie kommt, dann berührt das, dann ist das ergreifend“.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin

Kardinal Alfred Bengsch: Ein Bischof von Berlin, der „theologische Mauern“ errichete. Im Osten wie im Westen.

Hinweise von Christian Modehn, publiziert am 21.8.2021.

Zur Einführung:
Warum dieses Thema? Es gibt heute viel Dringenderes. Zweifellos.

Eine Neuigkeit: Joseph Ratzinger schätzte als Theologe und künftiger Erzbischof von München ganz besonders Kardinal Alfred Bengsch. Zwei sehr Konservative kannten sich schon seit dem Konzil… Siehe Nr. 17).

– Aber am Beispiel von Erzbischof und Kardinal Bengsch (1921-1979), Bischof in der geteilten Stadt Berlin, wird einmal mehr deutlich, wie ein einzelner, sich „Ober-Hirte“ nennender Kleriker eine ganze Kircheneinheit, ein Bistum, ins geistige Getto und zu einem von Angst bestimmten Glauben führen kann. Die Herrschaft einzelner, sich Macht anmaßender Bischöfe ist ja im aktuellen Fall von Kardinal Woelki (Köln) allgemein bekannt. Woelki hat in der klerikalen Arroganz viele „Vorgänger“ und „Mitstreiter“. Einer ist Bengsch, einer von vielen „Oberhirten“.

– Als Berliner, geboren in Ost–Berlin, in Berlin-Friedrichshagen, 1958 Flucht nach West-Berlin und dort Abitur sowie ein Semester Studium der ev. und kath. Theologie sowie der Philosophie an der F.U., (die Studien konnte ich in der BRD abschließen), kenne ich Bengsch, weil ich auch familiär mit dem „katholischen Milieu“ damals eng verbunden war. Mir ist es wichtig, ein Stück Erinnerungsarbeit zu leisten. Und vielleicht Aspekte deutlich zu machen, die anlässlich seines 100. Geburtstages in Jubelfeiern verdrängt werden.

Diese Hinweise sind also ein Beitrag der Religionskritik, eines Hauptthemas der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

1. Lobeshymnen oder die historische Wahrheit?
In diesen Wochen erinnern sich nicht nur „Katholiken an den Berliner Erzbischof und Kardinal Alfred Bengsch. Es handelt sich um einen katholischen Bischof, der das katholische „Leben“ in Berlin (-Ost wie auch -West) bestimmte und sich darüber hinaus mit seiner sehr konservativen Theologie in den Katholizismus der BRD einschaltete.

Alfred Bengsch ist, summarisch betrachtet, ein Prototyp des ängstlichen, verschlossenen, dialog-unfähigen und arroganten Bischofs. Diese Tatsachen werden hoffentlich Beachtung verdienen, wenn anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch, wie offiziell – katholisch üblich, die erwünschten Lobeshymnen auf den „Ober-Hirten“ angestimmt werden. Der Herder Verlag wirbt für ein neues Buch über Bengsch mit der Behauptung: „Alfred Kardinal Bengsch gilt bis heute als einer der prominentesten und beliebtesten Oberhirten des Erzbistums Berlin“. Prominent war er auf seine Weise; aber als sturer Dialogverweigerer, kann er da als beliebt gelten? Bei einigen theologisch eher anspruchslosen Gläubigen vielleicht, die sich an Bengschs Predigten erbauten, die ganz auf die traditionelle Masche der klassisch-konservative Innerlichkeit und des bloß spirituellen Trostes setzten.

2. Bengsch wird Bischof – eine Art „Notlösung“
Alfred Bengsch wurde am 10. Februar 1921 in Berlin-Schönberg geboren, zum „Weihbischof“ in Berlin mit Amtssitz in Ost-Berlin wurde er 1959 von Papst Johannes XXIII. ernannt. Zum maßgeblich leitenden Bischof des Bistums Berlin wurde er drei Tage nach der Errichtung der Mauer, also am 16. August 1961, ernannt. Er war also in einem für katholische Bischöfe extrem jugendlichen Alter, er war 40 Jahre alt. Diese Ernennung ist begründet vor allem in der Abberufung des in West-Berlin lebenden Bischofs Julius Döpfner, er wurde Erzbischof von München-Freising. Und Bengsch war da eine schnelle „Lösung“, manche sagen, er wurde verantwortlicher Bischof, weil der Papst „sonst niemanden hatte“.

3. Bengsch repräsentierte die so genannte Einheit des Bistums Berlin
Bischof Bengsch „residierte“ in Ost -Berlin mit dem dortigen kirchlichen Verwaltungsapparat („Ordinariat“), hatte aber die Möglichkeit als einer der wenigen DDR- Bürger regelmäßig nach West-Berlin einzureisen und den aufwendigen, parallelen Verwaltungsapparat im Ordinariat West (wie viele Priester waren damals eigentlich nur „Verwaltungsbeamte“?) sowie die Gemeinden zu besuchen. Das muss noch einmal betont werden: Bengsch war als Bischof in der DDR auch für die Katholiken im freiheitlich und demokratisch geprägten West-Berlin zuständig. Und auch das ist wichtig: Die von kirchenoffizieller Seite bis heute viel beschworene und gerühmte „Einheit des Bistums Berlin“ nach dem Mauerbau am 13.8. 1961 repräsentierte de facto und als leibhaftige Einheit Bischof Bengsch allein: Er war einer der wenigen regelmäßigen, von der DDR-Regierung akzeptierten, Ost-West-Pendler. Natürlich besuchten einige Katholiken aus dem West-Berlin privat auch den Ostteil, aber offizielle Begegnungen in den Ost-Gemeinden fanden nicht statt.
Am 13. Dezember 1979 ist Erzbischof Bengsch in Berlin verstorben.

4. „Eine markige Persönlichkeit“?
Über weitere Details seines Lebens kann man sich über wikipedia usw. informieren. Hier geht es darum, wie es sich gehört, kritische Hinweise zum theologischen und kirchenpolitischen Denken Bengschs zu skizzieren. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch eher Lobeshymnen angestimmt werden als objektive Beobachtungen. Ein Text der Katholischen Akademie Berlin vom Sommer 2021 nennt Bengsch etwa eine „markige Persönlichkeit“, was immer das „markig“ bedeuten mag. Und die Akademie fährt fort: „Er hat bis heute bleibende Spuren hinterlassen“. Wohl wahr, von diesen „Spuren“ handelt dieser Hinweis, es sind – schon jetzt zusammenfassend formuliert – Spuren, die die Katholiken in West-Berlin, in einer Stadt in der „freien Welt“, ins Getto führten, in eine geistige Verkrampfung und Abgeschlossenheit, die spiegelbildlich der Mentalität der DDR-Führung durchaus entspricht. Insofern wäre es eine ausführliche Studie wert zu zeigen, wie Bischof Bengsch in seinem Verhalten des rigiden Regierens die DDR-Mentalität der Herrschenden belebte.

5. Nur Bengsch kennt das „unverkürzte Evangelium“
Eine gewisse Leitlinie der Interpretation des Denkens und Handels von Bengsch bietet sogar eine offizielle katholische Deutung: 1980 wurde im katholischen St. Benno-Verlag in Leipzig das Buch „Der Glaube lebt“ veröffentlicht, darin schreibt das katholische DDR- Autorenteam sehr ehrlich: „Kardinal Bengsch war kein progressiver Bischof“ – mit der sehr treffenden Ergänzung: „falls es so etwas gibt. Im Schubladendenken … ist er einwandfrei im Fach konservativ gelandet, und das noch nicht einmal gegen seinen Willen“ (S. 135). Dieser konservative und ängstliche Theologe Bengsch hatte sich übrigens als seinen Wahlspruch gewählt: „Helfer eurer Freude“. Gemeinte war selbstverständlich bei ihm immer die „innerliche Freude“ der dogmatisch korrekt Glaubenden. Das wahre Motto Bengschs war eher das von ihm häufig verwendete Wort: „Ich will die Lehre der Kirche UNVERKÜRZT lehren“. Wobei er von sich selbst, durchaus arrogant, meinte, das unverkürzte, also das ganze und das authentische Evangelium zu kennen: Pluralismus der Meinung schloss diese Überzeugung aus. Bengsch allein bestimmte, was „unverkürzt“ bedeutet…Davon wird noch zu sprechen sein.

6. Die Häretiker suchen und bestrafen.
Zur theologischen und kirchlichen Laufbahn Alfred Bengschs: In den neunzehnhundertfünfziger Jahren konnten Priester der DDR noch an bundesdeutschen theologischen Fakultäten promovieren, so auch Alfred Bengsch. Er erwarb 1956 an der Universität München bei dem katholischen Dogmatiker (und auch später noch explizit konservativen Theologen) Michael Schmaus seinen Dr. theol. Das Thema der Promotionsschrift ist: „Heilsgeschichte und Heilswissen bei Irenäus von Lyon. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus Haereses, „Gegen die Häretiker“.
Das Thema hat keine aktuelle Bedeutung, damals schon nicht, also 10 Jahre nach Kriegsende und der von Nazis betriebenen Vernichtung des europäischen Judentums! Da hätte man sich ja auch Relevanteres vorstellen können für einen jungen Theologen aus dem geteilten Deutschland. Aber nein, es musste ein Theologe und ein so genannter „Kirchenvater“ des 1. Jahrhunderts sein, Irenäus von Lyon, über den schon 1956 sicher mindestens 20 Studien vorlagen. Irenäus von Lyon lebte von 135 bis 200. Die Abgrenzung des wahren Glaubens von den Meinungen der Häretiker (bei Irenäus waren es die so genannten Gnostiker) prägte das Denken von Bengsch also von Anfang an.

7. Die grundlegende “Weichenstellung” im Denken von Bengsch
Das ist für das Verständnis entscheidend: Bischof Bengsch lehnte als Teilnehmer des 2. Vatikanischen Reform- Konzils (1962-1965) das entscheidende und grundlegende Konzilsdokument „Die Kirche in der Welt von heute“, auch „Gaudium et spes“ genannt, ab. Am 7. Dezember 1965 fand nach langen und heftigen Debatten die Schlussabstimmung statt: 2.309 Ja-Stimmen standen 75 Nein-Stimmen gegenüber. Mit Nein hatte auch Bischof Bengsch von Berlin gestimmt. Unter der verschwindenden Minderheit der Nein-Sager befanden sich die berühmtesten reaktionären Bischöfe damals, in dieser Gesellschaft bewegte sich also Bengsch offenbar guten Gewissens. Die „Neinsager“ lehnten eine dialogbereite Kirche ab, sie wollten überhaupt nicht, dass sich die Kirche als „Hort der absoluten Wahrheit“ auch lernbereit mit den modernen Denkweisen auseinandersetzen muss. Bekanntlich wurde selbst der Dialog mit Atheisten vom Reformkonzil mit absoluter Mehrheit gutgeheißen. Von dieser Wegweisung des Reformkonzils wollte Bengsch nichts wissen. Die Konsequenz war: Bengsch lehnte den Dialog mit der säkularen, atheistischen, sozialistischen Welt ab, genauso wie dies auch der spätere Traditionalist und „Piusbruder“ Erzbischof Marcel Lefèbvre tat oder der reaktionäre brasilianische Erzbischof Geraldo Sigaud svd. Er war führendes Mitglied der bis heute bestehenden internationalen reaktionären Bewegung „Für Tradition, Familie und Privateigentum“. Bischof Sigaud ist nachweislich der heftigste Feind des Propheten Erzbischof Helder Camara gewesen. Die reaktionären Kreise sammelten sich während des Konzils im „Coetus Internationalis Patrum“, also dem „Internationalen Bund der Väter“, (leibliche Väter waren sie wahrscheinlich nicht). Zu diesem Kreis gehörte auch der große Gegner von Papst Johannes XXIII. :Kardinal Alfredo Ottaviani, Chef der damaligen „Inquisitionsbehörde“. Ob Bengsch zu diesem reaktionären „Coetus“ als Mitglied gehörte, ist für mich nicht eindeutig. Der einstige Pressesprecher des Bistums Berlin, Dieter Hanky schrieb in der offiziellen Bistumszeitung „Petrusblatt“: „Bengschs Bedenken, mit denen er sich zwar nicht allein, aber in einer kleinen Gruppe (also doch dem genannten „Coetus“?, CM) befand, galten vor allem jenen Textstellen, von denen er glaubte annehmen zu dürfen, dass sie vor allem von kommunistischen und anderen atheistischen Regierungen zum Schaden der Kirche missbraucht werden könnten… Als dann das Konzilsdokument, die Konstitution Kirche in der Welt von heute, wenn auch in einigen Punkten verbessert, mit großer Mehrheit vom Konzil angenommen wurde, schrieb Erzbischof Bengsch am 22. November 1965 in tiefer Sorge einen ausführlichen Brief an Papst Paul VI., in dem er ihm die Gründe für seine Ablehnung der Konstitution darlegte. Zu seiner großen Überraschung bat ihn der Papst am 6. Dezember zu einer Privataudienz, in der er den Papst noch einmal beschwor, der Konstitution in dieser Form die Zustimmung zu versagen. Er befürchtete Folgen in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, wo die Verteidigung der religiösen Werte der Kirche als Widerstand gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gewertet würde. Es war umsonst“. (Petrusblatt 12. Dezember 1999). Gott sei Dank, muss man sagen, sonst hätte Bengsch die ganze Kirche noch weiter ins Getto geführt…

8. Die katholische Kirche einmauern, im Osten wie im Westen.
Das Nein zu einem Dialog mit der säkularen, atheistischen Welt hat Bengsch als Bischof von Berlin Ost wie Berlin West fortgesetzt und durchgesetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen: So, wie sich die DDR in Berlin mit einer Mauer umgab, so umgab Bengsch auch die katholische Kirche in der DDR mit einer Mauer. Seine Mauer-Abschottungs-Ideologie setzte er auch in der Kirche in West-Berlin rigoros durch.

9. Bengsch baut katholische Mauern in der DDR
Über Bengschs durchgängiges Bemühen, die katholischen Kirche in der DDR mit einer geistigen Mauer zu umgeben, sind etliche prägnante historische Studien erschienen. Ich erwähne nur die eher summarische Darstellung von Clemens M. März in dem Buch „Unser Glaube mischt sich ein. Evangelische Kirche in der DDR“, Ev. Verlagsanstalt Berlin 1990. Der Titel des Beitrags von Clemens M. März nach dem Mauerfall, 1990 geschrieben: “Aus dem Winterschlaf erwacht: Befreit zur Katholizität“ Seite 111-120). März zeigt: Die katholische Kirche in der DDR „distanzierte sich ostentativ von jeglicher gesellschaftlichen Mitarbeit“ (S. 115). Die DDR sollte nach Bengschs Meinung soweit es nur geht ignoriert werden,“ die Kirche flüchtete sich in die Katakombe“ (S. 117). Die offenen, weiterführenden Einsichten der Diözesansynode von Meißen (1969-1971) wurden von ihm unterdrückt. „Sie wurden von Bengsch der Ketzerei verdächtigt“ (S. 116) … Da haben wir schon wieder Bengschs Suche nach Ketzern (Häretikern), eine Leidenschaft seit seiner Doktorarbeit. Der katholische Theologe in Leipzig, Dr. Wolfgang Trilling, spricht sogar von einer „Liquidierung der Synode in Meißen“ durch Bengsch, siehe Trillings wichtigen und sehr erhellenden Beitrag in der Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988), Seite 324.
Im ganzen, meint auch der Autor Clemens M. März, habe Bengsch „das selbstgewählte Getto“ gepflegt (S. 118) „indem die katholische Kirche auch dort schwieg, wo sie, analog zum mutigen Eintreten der evangelischen Kirche, für Freiheit und Menschenrechte, hätte reden müssen“ (S. 117).
Zu demselben Ergebnis in der Einschätzung von Bengschs Wirken in der DDR kommt der schon genannte katholische Theologe und Professor für Bibelwissenschaftler Wolfgang Trilling (Leipzig). Er hat seinen Beitrag in der oben genannten Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988) unter den Titel gestellt „Kirche auf Distanz“ (Seite 322-332). Man darf sagen, dass dieser theologisch-historische Beitrag über die katholische Kirche in der DDR, in Leipzig verfasst 1987, stimmungsmäßig auch von einem „heiligen Zorn“ Trillings auf das katholische System bestimmt ist: “Nicht Produktivität, Phantasie, Experiment, Kritik, Freimut mit den neuen Partnern auf den verschiedenen Ebenen (der DDR) werden von Katholiken erwartet und als christliche Verhaltensweisen empfunden, sondern Gemeinsamkeit, ja gar Geschlossenheit, Zusammenhalt der kleinen Herde…“ (S. 324)… „Die Konstitution des Konzils Kirche des Konzils in der Welt von heute wurde in der DDR faktisch nicht rezipiert…es ging keine belebende Wirkung von ihr aus“ (S. 325). Und Trilling weist darauf hin, dass sich „katholische Jugendliche vielfach evangelischen Gruppen angeschlossen hatten, in denen die Friedensthematik z.B. leidenschaftlich diskutiert wurde“ (S. 328). Summa summarum schreibt der katholische Theologe Wolfgang Trilling: „Die gegenwärtige Lage, die durch das Fehlen jedes Instrumentariums innerkirchlicher Öffentlichkeit (synodale Einrichtungen, eigene Laienverbände…) verschärft wird, ist grotesk und in der Weltkirche singulär. Dennoch: Was uns nottut, ist eine entschlossene Abkehr von dem bisherigen Weg“, so (S.331). Über Trillings Widerspruch gegen den „Bengsch-Kurs der Abschottung“ hat auch Theo Mechtenberg in der Trierer Zeitschrift „Imprimatur“ (Heft 3, 2018) geschrieben. Die katholische Kirchenzeitung in den neuen Bundesländern, Ost-Deutschland, „Tag des Herrn“, berichtete am 11.4. 1999 von einer Tagung, auf der der Erfurter Historiker Jörg Seiler über die Beziehung der katholischen Bischöfe zu den jungen Katholiken mit “Gewissenskonflkten“ berichtete, es ging also um die Frage: Was denken die katholischen Bischöfe vom Dienst als Bausoldat oder von Totalverweigerern. Besonderen Einfluss dabei hatte der Berliner Erzbischof Alfred Bengsch: „Er sah direkte Interventionen in der Frage der Wehrpflicht als Gefährdung des relativ ruhigen Staat-Kirchen-Verhältnisses an.“ Die Auseinandersetzungen um die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen überließ man der evangelischen Kirche“, so der Journalist Matthias Holluba in „Tag des Herrn“.

10. Bengsch und sein „Maulkorberlass“
Der schon genannte Autor Clemens M. März erwähnt zur „politischen Dialogverweigerung Bengsch auch den so genannten „Maulkorberlass von Bengsch“ vom 1. Juni 1977, der den Priestern wie auch den Laien der DDR verbot, politische Aktivitäten auszuüben! Bengsch betonte sogar: „Das kirchliche Amt (also Bengsch selbst, CM) als gültiges Zeichen der Einheit und die prophetische Freiheit (was meint der Bischof denn damit?, CM) verlangen, kein wie auch immer geartetes politisches Engagement einzugehen“ (S. 117). Dadurch hatte sich die katholische Kirche der DDR auch vom Friedensengagement distanziert. Die „friedliche Revolution“ von 1989 war institutionell tatsächlich nur von der Evangelischen Kirche unterstützt und gefördert. 1990 wird dann der neu ernannte Bischof Georg Sterzinsky in einem Interview mit der „WELT“ (1.2.1990) vorsichtig und ein bisschen selbstkritisch bekennen: „Wir Katholiken der DDR hätten unsere Solidarität mit jungen Oppositionsgruppen deutlicher zum Ausdruck bringen müssen“ (S. 119). Um den Titel des Beitrags von Clemens M. März etwas zu variieren: 1990, nach dem die Mauer gefallen war, war die seit Bengsch in den Winterschlaf verfallene katholische Kirche im Osten Deutschlands ein bisschen erwacht…

11.Eine Mauer soll auch West-Berliner Katholiken einschließen
Die Mauer und das eingemauerte Denken hatte Bengsch so tief verinnerlicht, dass er auch die Katholiken in West-Berlin in eine geistige, theologisch engstirnige Mauer einsperrte, was er auch mit aller Bravour in West-Berlin durchsetzte:
Keine katholische Pressefreiheit
Der Redakteur der katholischen Kirchenzeitung in West-Berlin, “Petrusblatt“, Günter Renner, hatte es 1967 gewagt, einen kritischen Leserbrief gegen eine Entscheidung der katholischen Verwaltungsbehörde, des Ordinariates in West-Berlin, zu publizieren. Etwas Normales für eine freie Presse in einer freien Stadt. Die Verwaltungs-Prälaten waren jedoch empört und setzten alles in Bewegung, um den fähigen und bei den meisten Lesern beliebten Redakteur Pfarrer Renner abzusetzen. Viele Zeitungen, auch katholische Blätter in der BRD, zeigten sich verärgert über diese Entscheidung. Selbst die mit der CDU eng verbundene Berliner Morgenpost aus dem eigentlich immer kirchlich wohlgesinnten Hause Axel Caesar Springer protestierte. Die Medien forderten Bengsch auf, Pfarrer Renner als Redakteur weiter arbeiten zu lassen, aber vergebens. Bengsch war entschieden gegen umfassende und normale Pressefreiheit innerhalb der katholischen Kirche. Wieder eine erstaunliche Parallele zur Pressefreiheit in der DDR. Dieses Denken in einem Freund-Feind-Schema ist formal gesehen die gemeinsame Mentalität von Bengsch und der DDR-Führung.
Also musste der Redakteur Pfarrer Renner seinen Posten aufgeben, „er werde mit seinem kritischen Arbeiten den einem Diözesanblatt gestellten Aufgaben nicht gerecht“, hieß es. Nachfolger von Pfarrer Renner wurde damalige, mit Bengsch eng verbundene Ordinariatsräte und konservative Theologen wie Wolfgang Knauft oder Erich Klausener. Sie machten aus dem Petrusblatt eine katholische „Prawda“ oder „Neues Deutschland“. Aus einem dialogbereiten Blatt wurde ein offizielles „Organ“. Dagegen wehrte sich kurze Zeit ein kritisches Wochenblatt, mit dem Titel „Der Christ“ (Auflage 5.000). Bengsch nannte diese Zeitschrift wörtlich, so berichtete der SPIEGEL 1968, auf seine „freundliche“ Art „ein Käseblatt“. Aus Mangel an Geld musste „Der Christ“ bald verschwinden. Kirchensteuer-Gelder erhielten nur die offiziellen Propaganda-Blätter wie das Petrusblatt. (Über die Kirchenpresse im geteilten Berlin siehe auch: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/259675/christliche-gemeinschaft-im-geteilten-berlin)
Was die publizistische Wirkung angeht: Bengsch genießt noch heute wegen seiner rigorosen Haltung als Konservativer viel Achtung, etwa in dem reaktionären Monatsblatt aus Regensburg mit dem Titel „Der Fels“, dort ein Beitrag von Bengsch im Dezember 2013.

12. Keine katholisch- theologische Wissenschaft in Berlin
Über die Mauer, die Bengsch um die katholische Kirche in West-Berlin zog, wären viele Beispiele zu nennen: So gab es etwa überhaupt kein katholisch-theologisches Institut, also keine theologische Forschung, die den Namen verdient. Das wirklich winzige „Seminar für katholische Theologie“ an der Freien Universität stand zwar in der Nähe des FU Hauptgebäudes, dem Henry Ford Bau, es stand aber geistig völlig am Rande, spielte überhaupt keine Rolle im kulturellen und religiösen Leben der Stadt. Der Leiter dieser „Klitsche“, wie wir Studenten damals das winzige Seminar für katholische Theologie nannten, war seit 1956 Prof. Marcel Reding (aus Luxemburg), ein stiller, zurückhaltend-netter gebildeter Priester, der auch etwas Bengsch-kritisch war, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Redings Lebenswerk war die Marx-Interpretation im Lichte des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin. Dann dozierte dort noch der Moral-Theologe und Jesuit Waldemar Molinski, mit dem sich heftige Debatten ergaben etwa über den Willen einiger Studenten, eine ökumenische, also eine gemeinsame katholisch-evangelische Studentengemeinde zu gründen. Diese ökumenische Initiative wurde unterdrückt. Ökumene war überhaupt nicht Bengschs Interesse. Er benutzte evangelische Kirchengebäude auf dem Lande, in Brandenburg, wenn denn kein „katholisches Gotteshaus“ zur Verfügung für die kleine Gemeinde. Aber das war es…
Eine katholische Akademie in West-Berlin, die diesen Namen verdiente, wie etwa die 1957 gegründete Katholische Akademie in München, gab es zu Bengschs Zeiten nicht. Das so genannte“ katholische Bildungswerk“ war ein Einmann-Betrieb mit Pfr. Fassbender, die Sendungen über Kirchen in der ARD Anstalt SFB wurden von Ordinariatsräten streng beobachtet und kritisiert. Demokratische Meinungsvielfalt war ein Horror für Bengsch, dies wollte er seinen Untertanen einbläuen. Prälat Klausener in West-Berlin hatte die Bengsch-Theologie völlig verinnerlicht: „Demokratie ist in der katholischen Kirche abzulehnen, vielmehr ist dem kirchlichen Amt Vertrauen und Gehorsam geboten“, zitiert der katholische Politologe Manfred Krämer in seiner Studie „Kirche kontra Demokratie?“ (München, 1973, S. 46). Dr. Manfred Krämer war ein geradezu leidenschaftlich kluger Vorkämpfer für eine moderne katholische Kirche auch in West-Berlin, aber ist mit seinem Engagement selbstverständlich gescheitert … und leider viel zu früh verstorben…

13. Mit Stasi-Methoden in der Kirche arbeiten
Dem SPIEGEL war es in Heft 26 des Jahres 1969 ein Bericht wert: Kardinal Bengsch folgte Stasi-ähnlichen Methoden und konnte deswegen einen theologisch gebildeten Kaplan in der West-Berliner Gemeinde St. Bernhard in Dahlem vertreiben. Konkret: Ein Bengsch-freundlicher Katholik hatte heimlich – wie die Stasi – die „theologisch-modernen“ Predigten von Kaplan Hebler mitgeschnitten und die Kassetten dem Kardinal bzw. seinen Prälaten zugeschickt. Sie hörten die Mitschnitte ab und … Kardinal Bengsch entfernte Kaplan Hebler aus der Gemeinde. Der SPIEGEL hat sogar den Tonband-affinen Katholiken genannt, es war ein gewisser Alfons Ryzlewicz. Er also förderte, sicher nicht allein, mit seinem orthodoxen Eifer die Absetzung Heblers … wieder einmal wegen „Häresieverdacht“. Der SPIEGEL berichtet: Hebler wurde ins Bischöfliche Ordinariat (West) zitiert, „wo er fünf Stunden lang auf Fragen einer fünfköpfigen Kommission antworten musste. Zwar tranken die geistlichen Herren dabei Tee mit dem Beschuldigten, doch diesem war angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe der »private Ton« eher lästig. Denn er wurde u.a. beschuldigt, er habe den Gottesdienst zum Ort des Protestes gemacht und »engagierte politische Erklärungen« in die Verkündigung gebracht usw… Tatsächlich wurde Hebler dann von Bengsch nach dem Rausschmiss aus der Gemeinde ein „Studienurlaub“ gewährt… Der bekannte, an der FU von moderaten Demokraten sehr geschätzte Katholik, der Politologe Prof. Alexander Schwan, sprach von Hebler als einem der wenigen, die „zu den erschreckend wenigen Predigern in Berlin gehörten, die … einem Großstädter die Verkündigung Jesu Christi heute noch nahezubringen und bedeutsam zu machen vermögen«. Viele Dahlemer Katholiken protestierten gegen die Entscheidung Bengschs und sandten dem Kardinal einen entsprechenden Brief, aber sie erhielten keine Antwort.
Bengsch und die „68 er Bewegung“
Interessant ist auch die Ignoranz Bengschs und der Prälaten in West-Berlin im Umfeld des Mai 68. Als der Studentenführer Rudi Dutschke am 11.4. 1968 am Kurfürsten Damm 141 Opfer eines Attentates wurde, das er nur schwerstkrank überlebte, berichtete das Petrusblatt recht knapp über „Osterzwischenfälle“ (dieser Titel erinnert an die Sprachregelung des „Neuen Deutschland“ der SED). Und weil einige Demonstranten auf dem Kurfürsten Damm ein Kreuz in der Hand hatten und es hoch hinaus wie eine Mahnung in die Öffentlichkeit streckten, schrieb Prälat Erich Klausener im „Petrusblatt“: „Junge Leute nehmen das Kreuz für sich in Anspruch. In ihrem Sendungsbewusstsein fühlen sie sich als Vollstrecker der Geschichte“. Das Kreuz, so der Prälat, gehöre in die Hände der Kirche, nicht der Aufständischen! Und der Prälat kritisierte dann die Demonstranten weiter, „weil sie einen moralischen Absolutheitsanspruch haben, der nur von wenigen erhoben wird“. Als einige katholische Studenten Flugblätter über den Mai 68 in der Sankt Canisius-Kirche (Charlottenburg) verteilten, wurden sie sofort rausgeworfen. Das Petrusblatt berichtete, dass der dort aufhaltende Erzbischof Bengsch ausdrücklich die Annahme dieses Flugblattes verweigert hätte, weil er sich ja auf die Feier des Pontifikal – Amtes in dieser Kirche vorbereiten musste…(In diesem Absatz zitiere ich aus meinem Beitrag in dem Buch “Zwischen Medellin und Paris. 1968 und die Theologie“, der Titel meines Beitrags: „Der Traum ist vorbei“. Edition Exodus, Luzern/Münster, 2009, S. 11-24).

14. Die Idee vom „unverkürzten Evangelium“
Alfred Bengsch, Bischof und dann auch Kardinal, liebte es, seine eigene überragende Rolle als einzig kompetenter Interpret der Lehre Jesu Christi zu definieren: „Ich will das unverkürzte Evangelium predigen“. Dabei predigte er immer sein auf katholisches Getto verkürztes Evangelium, ohne jeden Respekt für Pluralität auch in der Kirche, Meinungsfreiheit, intellektuelles Niveau. Bekanntlich gibt es im Neuen Testament schon theologische Pluralität….Bengsch aber war von seinem „unverkürzten Evangelium“ absolut und unerschütterlich überzeugt. 1966 fanden sich Westberliner Katholiken noch in der riesigen Deutschlandhalle und füllten geduldig den Raum. Da bezog sich Bengsch auf Kritik und Vorwürfe, die sich gegen sein Kirchenregiment wandten und er fuhr dann in der ihm eigenen Leidens-Mine fort: „Ich werde das alles eher ertragen, als dass ein einziger junger Mensch in meinem Bistum mir vorwerfen sollte, er wäre in die Irre gegangen, weil ich zu feige gewesen wäre, das unverkürzte Evangelium Gottes zu predigen“.
Tatsächlich hat sich, von außen betrachtet, Bengschs unverkürztes konservativ-rigides und nur auf innere Gefühle setzendes Evangelium nicht durchsetzen können. Ab 1968 begann der große kirchliche Abbruch, auch quantitativ gesehen, des West-Berliner Katholizismus. In Bengschs Sicht sind dann also doch viele „in die Irre gegangen“, weil sie schlicht und einfach aus der Kirche austraten. Und daran ist nicht nur irgendeine diffuse säkulare Mentalität „schuld“, wie Kirchenführer oft sagen, sondern auch das rigide Kirchenregiment des Berliner „Ober-Hirten“ und seiner Getreuen. Viele West-Berliner Katholiken haben sich aus der von Bengsch errichten katholischen Getto-Mauer befreit… und sind spirituell als freie Menschen eigene Wege gegangen.

15. Ein eigenes Bistum West-Berlin mit einem freien Bischof für eine freie Metropole.
Es wurde nie ernsthaft diskutiert, ob nicht doch ein eigenes Bistum West-Berlin letztlich für die betroffenen Katholiken hilfreicher gewesen wäre, weil sich dann eine eigene Form katholischen Lebens in einer demokratischen Stadt hätte entwickeln können. Bekanntlich hat die Evangelische Kirche in Berlin zwei Bischöfe gehabt, einen im Osten, einen im Westen. Dadurch konnten die Protestanten frei und auf die unterschiedlichen Verhältnisse unterschiedlich reagieren.
Aber die Fixierung auf die Einheit des Bistums Berlin war ein Wahn, weil, wie gesagt, Bengsch allein diese Einheit als Grenzgänger repräsentierte. Bengschs Nachfolger Bischof Joachim Meisner (bis 1989) war für West-Berliner auch alles andere als ein Lichtblick. Auch er herrschte in einer rigiden Herrschaft, ohne Sinn für theologische Pluralität und Meinungsfreiheit. Auch Meisner hat viele interessierte Katholiken West-Berlins aus dieser Kirche herausgeführt. Auch Meisner dachte in den undemokratischen Kategorien der DDR-Führung. LINK.

15. Gegen die „Schlipspriester“
Ich will mit einer kleinen persönlichen Erinnerung an Bischof Bengsch diese Hinweise beenden. Als Berliner Katholik habe ich als Jugendlicher diesen Berliner Bischof mehrfach erlebt. Eine Szene in einem Gemeindehaus werde ich nicht vergessen, als der Bischof an der Krawatte eines jungen Priesters zerrte und an dem Schlips hin – und herzog und dann brüllte: „Sie Schlips-Priester“. Ich hatte mich so gefreut, dass sich katholische Priester wie andere Männer ein bisschen „normal“ kleiden. Bengsch wollte auch die eindeutige klerikale Kleiderordnung. Und einmal saß ich in einer Runde des katholischen „Primanerforums“ (Leitung der Jesuit Pater Lachmund), da kam Bengsch kurz in den Raum, eilte von einem Jugendlichen zum anderen, schüttelte die Hände, fragte eigentlich desinteressiert kurz nach dem Namen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde… und verschwand. „Der ist aber gar nicht freundlich“, sagte ein Freund am Tisch. Ich konnte dem nur zustimmen.

16.
Bengsch war die falsche Person an diesem exponierten Platz Ost – und West – Berlin. Sein kardinaler Fehler: Er hat zusätzlich zur DDR-SED-Mauer noch katholische Mauern in beiden Teilen der Stadt gebaut, er war in dieser theologischen Enge und Angst-Besessenheit der offiziellen DDR/SED Mentalität nicht ganz unähnlich. Und er hatte geradezu Lust, Dissidenten zu verfolgen und zu bestrafen, und ließ, wie oben gezeigt, Stasi-Methoden in der Kirche zu. 

17.

Ratzinger ein Freund von Bengsch:

Der Theologe Joseph Ratzinger war mit dem konservativen Bischof und Kardinal Alfred Bengsch (Berlin) eng befreundet.
Ein kirchengeschichtlicher Hinweis von Christian Modehn am 9.1.2023.

Erzbischof Heiner Koch, Berlin, vermittelte am 9.1.2023 in der Johannes Basilika in Berlin – Kreuzberg Erkenntnisse besonderer Art: Sie zeigen, dass Joseph Ratzinger, Konzilstheologe, mit Erzbischof Alfred Bengsch lange Zeit schon vor dem Konzil eng freundlich verbunden war und mit ihm theologisch übereinstimmte. Bengsch war bekanntlich ein konservativer Gegner des Konzilsbeschlusses „Kirche in der Welt von heute“. Ratzinger war von 1968 bis 1977 Professor in Regensburg, in der bewussten Nähe des sehr konservativen Bischofs Rudolf Graber.

Erzbischof Koch sagte also am 9.1.2023:

„Um ein Haar wäre Joseph Ratzinger, unser verstorbener Papst emeritus Benedikt XVI., ein „Berliner“ geworden. Der Grund dafür war
– was zu-nächst paradox klingt – seine Ernennung zum Erzbischof
von München und Freising im Jahr 1977. Seit fast einem
Vierteljahrhundert war Ratzinger zu diesem Zeitpunkt bereits
persönlich, theologisch und geistlich eng mit Alfred Bengsch
verbunden, dem damaligen Bischof von Berlin. Vier Tage nach seiner
Ernennung durch Papst Paul VI. richtete Ratzinger an Bengsch einen
Brief, in dem er ihn zur Weihehandlung einlud. Aber zuvor legte er ein
Geständnis ab: „Einen Augenblick“ lang habe er nämlich, so schrieb
er, darüber nachgedacht, ihn, den Berliner Kardinal, zu bitten, dass er
ihm das Weihesakrament spende. Seine Begründung ist das
Bekenntnis einer tiefen Freundschaft: Es sei, so Ratzinger, „in allen
Wandlungen der Zeit“ zwischen ihnen beiden „die innere Nähe des
Denkens und des Wollens“ geblieben, die schon von ihren ersten
Begegnungen an der Münchener Universität an bestand. Für
Ratzinger rührte diese Nähe „von der gemeinsamen Berufung und
dem sie tragenden Glauben her.“

Quelle: stefan.foerner@erzbistumberlin.de Nachricht vom 9.1.2023.

 

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