Die 8. unerhörte Frage: Warum ist Verzichten heute die notwendige Lebensform für die Reichen?

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
Wie können Menschen als Bürger auf den 6. Bericht des Weltklima-Rates von August 2021 vernünftig reagieren? Es geht bei dem Thema bekanntlich nicht um Theorie, sondern um unser Erleben von Dürren und Starkregen, Überflutungen und monströsen Waldbränden, von einer rigorosen Hitzewelle im Süden Europas ganz zu schweigen.

Zunächst: Die zentrale Aussage heißt: Der Weltklimarat IPCC betont: Es wird immer schwieriger, die Erwärmung der Erde unter 2 Grad zu halten. Die Emissionen von Treibhausgasen müssen „sofort, jetzt, schnell, drastisch reduziert werden“. Es geht wirklich um das Überleben der Menschheit und um das Bewahren dessen, was der Mensch von der Natur noch übriggelassen hat. Darüber wurde seit dem berühmten Bericht des „Club of Rome“ „Grenzen des Wachstums (1972), vielfach palavert, aber relativ wenig ist geschehen.
Das Versprechen einer wirksamen Reduzierung der Treibhausgase durch demokratische Regierungen (wie in Deutschland zur Merkel-Zeit) waren eher leere Versprechen, Ankündigungen, Beruhigungspillen. Die damals genannten Klima-Ziele wurden nachweislich nicht erreicht. Die Lobby der Ignorierenden in der neoliberalen Wirtschaft hat sich durchgesetzt. Sind sie die wahren „Herren“? Bis jetzt ja.
Bei der Wahl am 26. 9.2021 sollte deswegen nur die Partei gewählt werden, die noch am deutlichsten begründet argumentiert und verspricht, sich gegen die irreversible Veränderung des Klimasystems noch einmal wirksam aufzulehnen…
2.
Die unerhörte 8. Frage gilt dem persönlichen Beitrag des einzelnen, des Bürgers. Was ist zu tun? Philosophisch, also vernünftig, steht fest: Es geht um die Wiederentdeckung dessen, was man Moral, auch politische Moral, nennt.
Ohne eine Neuorientierung des Selbst-Bewusstseins („Geistes“) eines jeden lassen sich die Kipppunkte, also die Momente irreversibler Veränderungen des Klimasystems, nicht verhindern. Die mögliche Katastrophe haben Menschen gemacht, gemacht wegen der totalen Fixierung auf das Dogma „Wirtschaftswachstum“. Es ist wahrscheinlich das einzige verbliebene wirksame Glaubensbekenntnis der Reichen in den reichen Ländern und der mit ihnen verbundenen Reichen in den armen Ländern.
Es geht philosophisch gesehen also um die Frage: Welche Tugend als Lebensform muss jetzt Denken und Handeln der der Reichen leiten? Es wäre obszön, den Hungernden in Madagaskar, Tschad oder Haiti usw. das Verzichten zu empfehlen. Oder den prekär lebenden Armen in Europa und den USA…
3.
Es geht also philosophisch gesehen um das nicht gerade sehr beliebte Wort Moral und dabei um das noch unbeliebtere Wort Verzichten. Aber vielleicht beginnen beide Begriffe zu glänzen, wenn man sich die Mühe macht, sie näher zu betrachten.
So sehr der gelegentliche Verzicht auf ein Rinder-Steak ein kurzfristig gutes Gewissen erzeugt, es geht wahrlich nicht um gut gemeinte Symbolhandlungen, es geht um die Einübung eines neuen Bewusstseins, das auch politische und ökonomische Verbesserungen gestaltet. Und dies kann nur gelingen mit dem Verzicht auf die alten ökonomischen Dogmen des bisherigen Systems.
4.
Von vornherein steht philosophisch fest: Tugend ist alles andere als etwas Verstaubtes. Man denke an die breite philosophische Literatur zur Tugend-Forschung, etwa an das wichtige, übrigens leicht nachvollziehbare empfehlenswerte Buch des Philosophen Martin Seel “111 Tugenden – 111 Laster“ (2011). Gelebte Tugenden sind die Bedingung für humane Lebensformen. Und: Tugenden sind bereits in unserem Leben „vorhanden“, wir leben sie bereits, selbst wenn sie nicht als solche von vielen benannt werden: Das gilt sogar für ein „populäres“ Beispiel: Man denke daran, dass manche Dickleibige die Tugend des Fastens (für viel Geld) in speziellen Kliniken praktizieren. Sie wollen auf Körperfülle verzichten, um besser auszusehen oder gesünder zu leben. Die Tugend des Verzichts wird also von den Reichen in den reichen Ländern und den Reichen in den armen Ländern nicht nur akzeptiert, sondern sogar geschätzt. Auf wie viele Millionen Dollar ihres Privateigentums verzichten etwa reiche US-AmerikanerInnen oder BrasilianerInnen, um das Fettabsaugen zu finanzieren oder die teuren Schönheitsoperationen? Wie gern verzichten die männlichen Fußballfans, um, selbst bei knapper Kasse, eine teure Karte im Stadion zu „ergattern“ anstatt zum Beispiel ein gutes Buch zu kaufen oder mit der Familie einen gemeinsamen Ausflug zu machen.
5.
Abgesehen von diesen alltäglichen Beispielen: Verzichten hätte alle Chancen, DIE Tugend als vernünftige Lebensform in der Gegenwart werden, um in letzter Stunde, möchte man sagen, noch die Kipppunkte zu verhindern, die zu einer irreversiblen Veränderung des Welt-Klima-Systems führen.
Es ist wichtig, bei der Reflexion aufs Verzichten als Tugend auch auf die Sprachgeschichte dieses Wortes zu achten. Verzichten bedeutet: Etwas nicht länger noch beanspruchen; nicht auf einer Sache bestehen. Einen Anspruch nicht länger geltend machen. Verzichten bedeutet: Sich lossagen, etwas aufgeben, sich von einer Angewohnheit verabschieden, etwas verlassen, aufgeben, weil der neue Ort des Lebens viel mehr Lebenssinn, und sagen wir das schwierige Wort, auch Glück, verheißt. (Diese sprachlichen Hinweise verdanke ich der Website dwds.de, Der deutsche Wortschatz)
6.
Verzichten als erfreuliches, gar nicht trauriges Abschiednehmen vom Krankmachenden und Tödlichen ist also neues Denken und auch Neues (!) Denken. Das kann bei dem einzelnen nur dann ohne eine dauerhafte Bewusstseinsspaltung gelingen, wenn diese Erkenntnis, also das neue Denken, gleichzeitig auch ins Handeln, zur politischen Praxis, führt. Und diese neue Praxis gelingt nur wirksam in Verbindung mit Gruppen (siehe als Beispiel German Watch: https://germanwatch.org/de/weitblick oder „Fridays for future“ oder „Extinction Rebellion“ etc…)
7.
Dabei hat man sich längst von dem Irrtum befreien, Verzicht sei nur Sache der frömmelnden Leute aus der Kirche(ngeschichte), die freitags kein Fleisch essen, sondern ordentlich beim Fisch zulangen. Die Mönche verzichteten in der Fastenzeit vor Ostern aufs üppige Essen, sie tranken dafür aber sehr gern selbstgebrautes Starkbier. Auch die unmenschliche Zumutung, auf Sexualität zu verzichten in der Unkultur des Zwangs-Zölibates katholischer Priester ist nicht gemeint. Verzichten wurde als eine Art persönliches Opfer kaschiert, das man aus Liebe zu Gott und der Kirche bringen muss. Aber Verzichten als erfreulicher Abschied von tödlichen Denkzwängen hat gar nichts mit einem „Sich aufopfern“ zu tun. „Weniger ist mehr“, dies wird so oft gedankenlos in banalen Situationen geplappert. „Weniger ist mehr“ ist das Leitwort von Verzichten als Abschiednehmen…
Man sieht schon, wie sehr ein heutiger Begriff des Verzichtes gegen die eher absurde Verzichts-Tradition christlicher Spiritualität argumentieren muss.
Verzichten heute bedeutet eine neue Chance für ein sinnvolles Leben im Miteinander der Menschen, die sich gegen die irreversiblen Veränderungen des Klimasystems wehren. Die gleichzeitig aber wissen, dass weitere zentrale Projekte realisiert werden müssen, etwa Respekt der Menschenrechte auch für die Armen, im eigenen Land und weltweit, also auch Umgestaltung der ökonomischen Strukturen, die es noch zulassen, dass eine winzige Minderheit von Milliardären über Unmengen von Eigentum verfügen: „Nach Zählung des Forbes-Magazins gab es im Jahr 2021 weltweit 2.755 Menschen mit einem Vermögen von mindestens einer Milliarde US-Dollar“. Das waren 660 mehr als 2020.
(Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/220002/umfrage/anzahl-der-dollar-milliardaere-weltweit/)
Und „DIE WELT“ berichtete schon 2018 eine Studie von OXFAM: „42 Milliardäre besitzen so viel wie die halbe Welt“., gemeint sind die Bewihner dieser Welt. Ich denke, wer diese Verhältnisse nicht obszön findet, hat nur ein geringes moralisches Bewusstsein. Verzichten sollen also zuerst die Milliardäre. Und man sollte nicht glauben, wenn diese Herren zehn oder hundert Millionen spenden, dann wäre dies eine „ganz tolle“ Leistung des Verzichtes…
Aber zu wirksamen Veränderungen dieser obszönen Eigentumsstruktur wird es unter den gegebenen politischen Verhältnissen in den Demokratien wohl kaum kommen. Denn: Eigentum ist den Demokraten und ihren Religionen heilig. So steht also die Tugend Verzicht geradezu hoffnungslos gegen das unumstößliche, auch religiös verbrämte Dogma „Eigentum ist heilig“.
8.
Die Menschheit lebt längst über ihre Verhältnisse, was die „Nutzung“ der Erde und der Natur angeht. Am 29. Juli 2021 war wieder einmal der sogenannte „Weltüberlastungstag“: Das bedeutet: Die Ressourcen der Erde waren an diesem Tag für das restliche Jahr 2021 (also für fünf Monate) de facto aufgebraucht: Eigentlich hätte unter der Rücksicht das Jahr 2021 zu Ende gehen müssen… Diese Tatsache aber war den TV-Nachrichten kaum 30 Sekunden wert, sie wurde sozusagen als „Vermischtes“ behandelt wie etwa der Tod eines zweitklassigen Filmstars… Am 29. Juli 2021 haben die Menschen (und das sind hier wieder vorwiegend die Reichen) mehr von der vorhandenen Natur verbraucht als die Ökosysteme der Erde in diesem Jahr noch erneuern können. Wir tun also ab August 2021 so, als hätten wir fast 2 Erden zur Verfügung, um unseren jetzigen Bedarf an Ressourcen zu befriedigen… Diese Überlastung der Welt durch extremen Konsum ist die Kehrseite der Unfähigkeit, Verzichten als politische Haltung zu praktizieren. Aus ökologischen Gründen und klimatologischen Gründen wäre eine Umkehr der Konsumhaltung, also Verzicht, als Form eines bescheidenen und solidarischen Lebensstils dringend geboten. Die grundlegende Idee der Gleichheit aller Menschen käme dann zur Geltung.
Aber was sagen rechtslastige Politiker, die dem Dogma des Neoliberalismus und des Wirtschaftswachstums absolut verpflichtet sind, wie der FDP – Chef Christian Lindner: „Ich will nicht verzichten, und ich will auch nicht, dass andere verzichten müssen. Ich will durch Technik erreichen, dass die Menschen frei leben, sich frei bewegen können.“ (Zit.: LINK https://www.deutschlandfunk.de/politik-und-verzicht-weniger-konsum-als-antwort-auf-. die.724.de.html?dram:article_id=464406)
„Frei leben“ ist das verschlüsselte ideologische Wort für das freie (egoistische) Leben der wenigen Reichen, die unter Freiheit ihren totalen Konsum verstehen…Es ist manchmal befremdlich, dass die Konsum-und Wachstumsideologie der neoliberalen Herren so selten als Gefährdung für die Menschheit und für das Fortbestehen der Welt eingeschätzt wird.
9.
Wie stehen die Chancen, dass sich Verzicht als die neue Lebensform durchsetzt? Wer ehrlich ist wird sagen: Die Chancen sind – realistisch betrachtet – sehr gering, bei den politischen Verhältnissen heute … und der bekannten Abwehr von Neuem und Richtigen unter so vielen Leuten, die nur das Heute sehen und denen die Zukunft ihrer eigenen Kinder und Enkelkinder offenbar egal ist. Das teure Fleisch, das man isst, ist meistens ungesund; die teure Luxusyacht ist überflüssig angesichts des Klimawandels; das „SUV“ Auto ist etwas völlig Verrücktes auf den engen Straßen der Großstädte, um nur davon zu sprechen. Aber an dieses verrückte Leben klammert man sich., man kann sich von diesem Lebensstil nicht verabschieden.
Ist dies die herrschende „Lebens-Philosophie“: Es ist alles langweilig, gleichgültig, es ist alles nichts, es ist nichtig, das Alles-Haben verdeckt nur diesen Zustand.
Der herrschende Nihilismus ist der größte Feind der Tugend, des sinnvollen Lebens, des Verzichts. Eher soll die Welt untergehen, als dass wir verzichten, das ist die herrschende Ideologie unserer Welt, vorwiegend. Eine Haltung, die keine moralisch-politischen Maßstäbe kennt. Politiker sprechen nicht von dieser Situation, sie sind selbst Teil dieser Welt und wollen vor allem bei Wahlen gewinnen, mit Stimmen von vielen ahnungslosen Bürgern.
10.
Eigentlich könnte man noch denken, die Kirchen wären die Orte, wo ein neuer Lebensstil eingeübt werden könnte. Aber die Kirchen sind zu sehr mit sich selbst befasst, mit ihren internen Struktur- Reförmchen und ihrem endlosen Kampf gegen sexuellen Missbrauch durch Priester oder sie bemühen sich die Tatsache zu kaschieren, dass der katholische, angeblich zölibatäre Klerus sehr bald in Europa ausgestorben sein wird. Das sind aber mit Verlaub gesagt angesichts der genannten globalen Herausforderungen der Menschheit doch wirklich nur Themen, die nur Insider interessieren. Das ist die Situation: Die breite kritische und gebildete Öffentlichkeit erwartet von den Kirchen keinen effektiven und spürbaren Beitrag zum Thema Klimawandel, auch wenn Päpste manchmal einschlägige Texte publizieren. Aber die Vielfliegerei der Bischöfe und Prälaten aus aller Welt nach Rom, zum Papst und zur zentralen Kirchenbürokratie hat ja nur wegen der Pandemie etwas abgenommen. Und der Bildungsauftrag der Kirchen in dieser Sache? Die Katholiken feiern stur und unbewegt ihre immer selben Messen, anstatt die Chance zu nützen, in ihren Sonntagsversammlungen sich mit den Menschen auszutauschen und zu verabreden über Möglichkeiten gemeinsamen Handels angesichts der genannten Katastrophen. Ja, auch dies, auch öfter mal auf die übliche, ewig gleiche Messe zu verzichten, gerade, um das religiöse Denken auch politisch zu weiten…
11.
Wer die Hoffnung auf eine Abwehr des genannten „Kipppunktes“ noch als seine Lebenspraxis bewahren will, wende sich also an politisch wache und wirksamere Organisationen…Und studiere weiter die Erkenntnisse zum wirksamen Klimaschutz, die allerorten dargestellt und auf Demos, etwa von „fridays für future“, geradezu berechtigterweise eingehämmert werden.
12.
Eine gerechte Gesellschaftsordnung, die den Namen verdient, wird ohne Auseinandersetzungen mit dem Thema Enteignungen nicht auskommen, auch die wirksame Vermögenssteuer muss diskutiert und realisiert werden sowie der dringenden Aufforderung von Politikern an die Milliardäre, um der Humanität willen auf einen Teil ihrer Milliarden zu verzichten … zugunsten der Abschaffung von Hunger und Seuchen in Afrika und zugunsten einer Gesundheitspflege und Ausbildung für alle Menschen. Das werden die Milliardäre und die multi-Millionäre nicht tun, das ist sehr wahrscheinlich. Und sie wissen dabei genau, dass sie sich mit ihrem egoistischen Wahn außerhalb jener Menschheit bewegen, die Gerechtigkeit als wesentliches und unverzichtbares Kennzeichen des Menschlichen, geltend für jeden Menschen begreift.
Trotzdem bleibt uns nichts anderes, als die Hoffnung zu pflegen, die Hoffnung, dass die Welt nicht völlig „umkippt“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Eigentum ist Diebstahl“ (Proudhon, 1809 – 1865)

Über den Philosophen Pierre-Joseph Proudhon
Von Christian Modehn, im August 2021.

Ein Motto eines Kirchenlehrers, des Hl. Johannes Chrysostomos: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”.

Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (aus dem Jahr 2020), mit dem Titel: “Über die Geschwiserlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Dort die Nr. 119, zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (344-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt…

Das aktuelle Thema:
Das Thema „Eigentum ist Diebstahl“ hat, wie alle wissen, eine aktuelle Bedeutung. Es geht z.B. um das Monopol einiger Pharmakonzerne, etwa der Corona-Impfstoff-Hersteller Pfizer und Moderna. Deren Jahresumsatz 2021 wird auf 50 Milliarden Dollar geschätzt. Die Konzerne haben den Preis trotz aller Gewinne für eine Dosis erhöht, Moderna von 19 Euro auf 21,60 Euro, Pfizer von 15,50 auf 19,50 Euro. Die demokratischen Regierungen der reichen Länder nehmen das gelassen hin. Die armen Länder gehen leer aus, so verbreitet sich dort das Virus – auch mit neuen Varianten, die dann auch die reichen Länder der Reichen erreichen…
Jetzt sind wir beim Thema: “Eigentum ist Diebstahl“. Die Hersteller der Impfstoffe beharren absolut auf den Patenten ihrer Impfstoffe, sie wollen deswegen unerhörten Gewinn weiterhin machen, schützen also ihr so genanntes geistiges Eigentum. Dabei ist die Impfstoff-Forschung auch von der Allgemeinheit, auch von Steuergeldern, bezahlt worden.
Aber das Eigentum, den Profit, maßen sich die Aktionäre an, es allein genießen zu dürfen. Denn in der kapitalistischen „Ordnung“ ist Eigentum, auch so genanntes geistiges Eigentum, absolut heilig. Sogar die Regierung eines ultra-kapitalistischen Landes, die USA, plädieren nun für die Freigabe dieses so genannten geistigen Eigentums „Impfstoff“. Die US-Regierung wünscht, dass die Armen in den armen Ländern doch ein bisschen mehr Impfstoff abbekommen. Anlagen für die Produktion von Impfstoffen könnten – wie schon in Deutschland, siehe Biontech in Marburg – auch in armen Ländern in kurzer Zeit gebaut werden.

Zu Pierre-Joseph Proudhon:

Interessant ist in dem Zusammenhang das Studium des äußerst umfangreichen Werkes Pierre – Joseph Proudhons (geboren 1809 in Besancon, gestorben 1865 in Paris), es ist inspirierend aus politischen, ökonomischen und religionskritischen Gründen. Neben Babeuf ist Proudhon wohl der einzige Begründer eines Sozialismus, der als Autodidakt handwerklichen und bäuerlichen Kreisen entstammt.
Wichtiger aber ist: Proudhon ist einer der ersten Denker des 19. Jahrhunderts, der die absolute Gültigkeit des Privateigentums (etwa vertreten durch John Locke im Jahrhundert) kritisiert hat und ablehnt und Alternativen zeigt, die in die Richtung der heute diskutierten COMMONS gehen.

1.
Der französische Philosoph und Ökonom Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) ist meist nur wegen seiner These „Eigentum ist Diebstahl“ bekannt. Diese von ihm inhaltlich begründete Erkenntnis wird wie ein Slogan benutzt und nicht in den Kontext des Denkens von Proudhon gestellt. So wird diese Erkenntnis wie eine Waffe gegen ihn verwendet von fanatischen (meist religiösen, meist chriostlichen) Verteidigern „des“ „heiligen“ Eigentums.
Das Zitat „Eigentum ist Diebstahl“ wurde in Proudhons Schrift „Was ist Eigentum?“ im Jahr 1840 veröffentlicht.

2.
Dass die Auseinandersetzung mit der These „Eigentum ist Diebstahl“ aktuell ist, muss nicht erklärt werden.

Auch heute ist die Vorstellung von der Unantastbarkeit, wenn nicht der „Heiligkeit“ des Privateigentums in der kapitalistischen Welt allgemeines Dogma: Weil alles der Logik des Marktes unterworfen werden darf, ist alles für Privatleute wie für international agierende „Firmen“ käuflich und damit in Privat – Eigentum verwandelbar: Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Wasser, Wald, also auch die der Menschheit als Menschheit gegebene Natur im ganzen.

Einige tausend Menschen wurden und werden bei dieser totalen Käuflichkeit von allem zu erfolgreichen Eigentümern und zu Dollar Milliardären. Diese auf die Weltbevölkerung bezogen verschwindend kleine Minderheit (abgesehen von den hunderttausenden von Dollar Millionären) verfügt in vielen Ländern schon weit über die Hälfte des gesamten Einkommens. Das hat „Financial Times“ berichtet, die ZEIT zitiert: „So ist die Anzahl der Superreichen im Pandemiejahr von 2.000 auf 2.700 weltweit gestiegen. Eines der schillerndsten Beispiele ist der Tesla-Gründer Elon Musk, der 2020 sein persönliches Vermögen von 25 Milliarden auf 150 Milliarden Dollar gesteigert hat. Aber er ist keine Ausnahme. Es gibt mit Amancio Ortega in Spanien (Inditex-Modekonzern), Carlos Slim in Mexiko (Telekommunikation) oder Bernard Arnault in Frankreich (Luxusmode) sogar einzelne Personen, deren individuelle Vermögen mehr als fünf Prozent der Wirtschaftsleistung ihres eigenen Landes ausmachen. Und in Deutschland: So zeigen die Berechnungen der Financial Times, dass die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre hierzulande um 29 auf 136 Personen gestiegen ist. Deren Vermögen sind im Jahr 2020 um mehr als 100 Milliarden Euro oder drei Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands angewachsen. (Die Zeit, 20.5.2021). Nebenbei: Der mexikanische Milliardär Slim ist ein enger Freund des katholischen Ordens der “Legionäre Christi”, der seinerseits über viele Millionen Dollar Eigentum verfügt…und einen nun auch päpstlich anerkannten Verbrecher als Ordensgründer hat, den Sexualverbrecher Pater Marcial Maciel.

3.
In einer Welt, die die universal geltenden Menschenrechte wenigstens noch verbal in einigen Staaten anerkennt und faktisch wohl auch manchmal noch durchsetzen möchte, muss die ungleiche Verteilung des Eigentums debattiert und, im Falle von monströs großem Eigentum,  auch aufgehoben werden. Heilig ist nicht das Milliardeneigentum einzelner, sondern einzig das voll entfaltete Leben aller Menschen. Diese Erkenntnis ist ethisch korrekt und wahr, sie wird leider eher selten ausgesprochen und debattiert, etwa in Zeiten des Wahlkampfes 2021 gar nicht. Selbst sich noch links nennende Parteien haben Angst vor politisch wirksamer „Milliardärs-Kritik“.

4.
Diese Angst hatte der Philosoph Proudhon nicht. Eigentum, begrenzt für den persönlichen Gebrauch in der Gestaltung des eigenen Alltags, ist für Proudhon selbstverständlich legitim, zur Entfaltung der einzelnen Menschen kann darauf gar nicht verzichtet werden. Eigentum an Produktionsmitteln ist etwas anderes als Besitz von Dingen des täglichen Bedarfs. Jeder Mensch braucht zum Leben Besitz, Dinge, die den Alltag und die Lebensgestaltung ermöglichen.
Aber dann fährt Proudhon fort: Maßlos ist das Eigentum einzelner Millionäre, es kann nur zustande gekommen sein als „Diebstahl“, wie Proudhon ausführt, also durch Ausbeutung vieler anderer.

Es geht darum: Aus dem Eigentum an Produktionsmitteln maßlosen Profit zu machen, aktuell: ohne für diesen Gewinn bestenfalls nur einen Finger am Computer-Bildschirm krumm zu machen, also ohne persönlich zu arbeiten… dies ist für Proudhon aus ethischen und politischen Gründen verwerflich und zu überwinden. Werte und Eigentum werden nur durch Arbeit geschaffen. Das gilt für alle Menschen: „Dieses Eigentum ist unmöglich, weil es die Verneinung der Gleichheit ist“, betont Proudhon. Der gierige „homo oeconomicus“ (also der ganz aufs Ökonomische und den Profit fixierte Mensch) ist ein „Zerrbild der Menschlichkeit, ebenso wie eine Eigentumsmarktgesellschaft, deren öffentliche Räume zerfallen“ (so der Philosoph Helmut Rittstieg, Artikel „Eigentum“, in: Enzylopädie Philosophie, Band I, S.453).

Man könnte von einem Einkommen ohne Arbeit, also einem „arbeitslosen Einkommen“, sprechen. “Der Eigentümer erntet, ohne zu säen”, betont Proudhon. Und dieser Geld-Gewinn ist nur möglich, weil andere Menschen von dem Eigentümer ausgebeutet werden.

5.
Proudhon lässt sich in seiner Kritik am Eigentum von der grundlegenden Idee der universalen Gerechtigkeit leiten, Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt seiner Argumente ! Sogar der katholische Theologe Henri de Lubac hat sich in seiner Studie „Proudhon et le christianisme“ (Paris 1945) mit dieser zentralsten Idee Proudhons befasst: „Er war nicht weit davon entfernt, die Gerechtigkeit wie ein sakrales Erlebnis zu deuten und die Gerechtigkeit zu lieben wie eine Person“. Proudhon sagt: „Wir, die wir eine dem Menschen eingegebene, „immanente“ Moral zusprechen, wir, die wir wollen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, wir sind überhaupt keine Atheisten. Wir setzen die Gottheit nur um“ (Carnets, II, 178). D. h.: Wir setzen also an die Stelle des kirchlichen Gottes die Gerechtigkeit.

Und schon in seiner Schrift „Was ist Eigentum“, betont er: “Gerechtigkeit als „Gott“, nichts als Gerechtigkeit, das ist das Resumé meines Vortrags“. Dabei spielt die religiöse Überzeugung eine entscheidende Rolle: Proudhon kannte die katholische Kirche und die Theologie seiner Zeit sehr genau. Aufgrund seiner Tätigkeit, schon als Schriftsetzer las er Theologen wie Boussuet, Calmet, Fenelon und andere. Die Bibel in lateinischer Sprache hat er stets bei sich gehabt. Auch das Wörterbuch von Bergier („Dictionnaire théologique de Bergier“) wurde von ihm gelesen. Aber den kirchlichen Glauben an Gott im Jenseits hat Proudhon entschieden abgelehnt, die Kirche erschien als ideologische Stütze der bourgeoisen Eigentums-Fixierung. Aber er lobt die Gestalt Jesu, ist angetan von Jesu Geist der Revolte gegen allen Dogmatismus. Darin eröffnet er eine Tradition religionskritischer Denker, die Jesus von Nazareth aus dem dogmatischen Korsett der Kirche befreien und als ein Vorbild preisen, wie auch später Nietzsche, Agamben usw.
Proudhon betont: “Religion ist für den Menschen, nicht aber der Mensch für die Religion (Kirche) geschaffen“. Sein bedeutendstes Werk heißt “De la Justice dans la Révolution et dans l’Eglise” (1858; „Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche“). Es wurde von den reaktionären, herrschenden Kreisen als antiklerikales Buch wahrgenommen, Proudhon musste nach Belgien fliehen.

6.
Ob man Proudhon „Atheist“ nennen sollte, ist fraglich, eher würde das Stichwort „radikaler Agnostiker“ und“ Kirchen-Feind“ passen. Denn vom Phänomen des Religiösen kommt er bei aller Fraglichkeit nicht los. Er meine sogar, jede Kirche könnte ein Fragment der einen universalen Religion enthalten. Es ist nicht erstaunlich, dass Proudhon sich in einer Freimaurer Loge wohlfühlen wollte, 1847 wurde er in der Loge der „Sincérité, Parfaite Union et Constante Amitié, Orient de Besançon“ aufgenommen.

7.
Wenn Eigentum unter dem Maßstab universaler Gerechtigkeit steht, muss also das Eigentum verteilt werden. Das Eigentum an Grund und Boden muss in der Verfügung der staatlichen Gemeinden bleiben, die den Grund und Boden befristet den Pächtern übergeben.
Proudhon hat als Ziel seiner Kritik alles andere als den Kommunismus (marxistischer Prägung) vor Augen: Wenn im Kapitalismus die wenigen Starken mit ihrem Eigentum die vielen Schwachen ausbeuten, so dreht sich im Kommunismus das Ganze bloß um: „Der Kommunismus ist die Ausbeutung der wenigen Starken (Enteignungen) durch die vielen Schwachen (unter Führung einer zentralistischen Partei)“. Deswegen kam es auch 1847 nach ersten Anzeichen von Sympathie von Karl Marx für Proudhon zu einem Zerwürfnis zwischen beiden. Proudhon wird also eher der „anarchistischen“ Tradition zugerechnet. Im Russland des 19. Jahrhunderts spielte er eine inspirierende Rolle, etwa bei Tolstoi oder Dostojewski (siehe Fußnote 1) Bakunin war den Ideen Proudhons eng verbunden. Proudhon wird zurecht der „anarchistischen Bewegung“ zugerechnet, weil er die staatliche Herrschaft und Macht durch ein vertraglich festgelegtes Netzwerk gesellschaftlicher Organisationen ersetzen wollte.

8.
Proudhon setzt im Unterschied zu den Marxisten-Kommunisten auf radikale Reformen, und dabei suchte er nach alternativen Konzepten. Der die Produktionsmittel Besitzende soll dann nur über so viel verfügen dürfen, wie er selbst für sich bzw. seine Familie braucht. Viele dieser nur noch besitzenden Produzenten sollen dann im Austausch miteinander arbeiten; sie sind nicht einander Konkurrenten oder gar Feinde. Der Gedanke der wechselseitigen, gegenseitigen Hilfe („Mutuellisme“) ohne eine allmächtige Zentralregierung war für Proudhon zentral. Von der Diktatur einer Klasse, etwa der Proletarier, hielt er gar nichts. Er wollte das System, in dem sich der Eigentümer von der Arbeit fremder Arbeiter bereichert, unterbrechen und abbrechen. 1849 gründete Proudhon eine „Banque Populaire“, also eine „Volksbank“, sie sollte zinslose Kredite an Arbeiter gewähren. 1848 wurde Proudhon als Sozialist in die Nationalversammlung gewählt. Als Kritiker Napoléon Bonapartes musste Proudhon viele Jahre im Gefängnis verbringen.

9.
Proudhon hat also in der politischen Debatte und der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus eine gewisse Rolle gespielt. Für religionsphilosophisch Interessierte lohnt sich die Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zur katholischen Kirche seit der Kindheit, und vor allem zu seiner religiös geprägten Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit.

Zu diesen und anderen zentralen Ideen Proudhons hat die „Société P.-J.Proudhon“ in F- 72320 Courgenard hervorragende Studien als PDF-Dateien gratis zur Verfügung gestellt. (https://www.proudhon.net/)

10.
Es wäre eine weitere Arbeit zu zeigen, wie die von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten angestoßenen Debatten über das Privateigentum auch gewisse sanfte lehramtliche Veränderungen in der katholischen Kirche bewirkt haben. Da wird gelegentlich das Gemeinwohl über das Recht auf Privateigentum gestellt, so im § 2403 des offiziellen katholischen Katechismus von 1993. Im § 2406 heißt es noch sehr allgemein und vorsichtig: „Die staatliche Gewalt hat das Recht und die Pflicht, zugunsten des Gemeinwohls die rechtmäßige Ausübung des Eigentumsrechtes zu regeln“… Wohlgemerkt: Es geht um rechtmäßige Ausübung, nicht um gerechte Ausübung des Eigentumsrechtes!

Man bedenke, dass in dem noch bis ca. 1960 üblichen Handbuch katholische Moraltheologie“ von Heribert Jone (15. Auflage 1953) unter Verweis auf das Naturrecht der „gemeinsame (!) Besitz der irdischen Glücksgüter viele Unzuträglichkeiten“ nach sich ziehen würde (S. 204). Und weiter heißt es dann: „Demnach sind die Lehren …der Sozialisten und Kommunisten falsch“. Aber immerhin: „Nur in äußerster Not darf sich jedermann etwas von den Gütern des anderen aneignen“! (ebd.). Dies gilt nur in „äußerster Not“, nicht etwa allgemein schon in schwerer Not“, wie in § 331 betont wird….Jedoch: “Güter von geringem Wert aber dürfe sich ein Armer aneignen, wenn er sich so leicht aus schwerer Not erretten könnte und auf Bitten nichts erhalten würde“. Wenn aber sehr viele Arme sich Güter aneignen, dann könnte ja vielleicht eine kleine Revolution passieren oder? Daran denkt der Autor, der Kapuzinerpater Jone, nicht…
Es gibt darüber hinaus noch reaktionäre katholische Kreise, die sich unter dem Titel der internationalen „Bewegung für Tradition, Familie, Privateigentum“ zusammenfinden. Diese Bewegung wurde von dem Brasilianer Plinio Correa de Oliveira begründet, sie hat in Deutschland ihre Zentrale in Bad Homburg (Leitung: Martin von Gersdorff). LINK in dem Beitrag „Das reaktionäre Christentum der AFD… dort das 5. Kapitel.

Von anderer Seite kann man sich dem Thema Eigentum nähern: Über die Bedeutung des Verzichtens als Tugend, LINK

Fußnote 1:
Zur Beziehung Tolstois zu Proudhon:
Schon 1857 las Tolstoi Werke Proudhons, wahrscheinlich “Was ist Eigentum”. Die Notizen Tolstois aus der damaligen Zeit beweisen einen Einfluß Proudhons auf Tolstoi.

„Anfang 1862 wich Tolstoi auf einer Reise nach Westeuropa von seiner geplanten Route ab, um in Brüssel Proudhon zu besuchen. Sie sprachen über Erziehung – womit er sich damals sehr beschäftigte -, und Tolstoi erinnerte sich später, dass Proudhon “der einzige Mensch war, der in unserer Zeit die Bedeutung des öffentlichen Erziehungswesens und der Presse verstand”. Sie unterhielten sich auch über Proudhons Buch „La guerre et la paix“ , „Der Krieg und der Frieden“, das bei Tolstois Besuch kurz vor der Vollendung stand; es besteht wenig Zweifel, dass Tolstoi wesentlich mehr als nur den Titel seines größten Romans von dieser Abhandlung übernahm, in der argumentiert wird, dass die Entstehung und die Entwicklung des Krieges eher in der Psyche der Gesellschaft zu suchen seien als in den Entscheidungen politischer und militärischer Führer“.
Quelle: https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/leo-tolstoi/8124-george-woodcock-leo-tolstoi-ein-gewaltfreier-anarchist

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Remonstranten – eine christliche Kirche der Freiheit, auch in Berlin.

Im September 2021 gedenkt die Remonstranten-Gemeinde in Friedrichstadt ihres 400 jährigen Bestehens.

Das Ereignis ist nicht nur aus historischen Gründen bedeutend, weil dort niederländische Flüchtlinge remonstrantischen Glauben (also Häretiker in der Sicht der offiziellen Calvinisten in den Niederlanden auch kurze Zeit verfolgt) Zuflucht fanden.

Aus aktuellen Gründen vor allem verdienen die Remonstranten Interesse in der weiten christlichen Ökumene und darüber hinaus: Remonstranten sind tatsächlich die einzige explizit “theologisch-liberale” Kirche weltweit heute, was angeichts des zunehmenden Fundamentalismus in allen anderen christlichen Konfessionen sehr bedeutend ist. Die Remonstranten sind Mitglied des ökumenischen Weltrates der Kirchen in Genf.

Remonstranten gestatten selbstverständlich jedem einzelnen Mitglied, das eigene, persönliche Glaubensbekenntnis zu formulieren. Vorgegebene uralte Bekenntnisse sind interessant, aber nicht für den eigenen Glauben heute entscheidend. Glauben ist für Remonstranten kein Zwangssystem, dem man angesichts von Hierarchien eher leidend angehört, sondern eine Lebensform der persönlichen spirituellen Freiheit.
Das Glaubensbekenntnis der Remonstranten wurde 2006 selbstverständlich nur als Vorschag, als Impuls zum eigenen Nachdenken, für die eigene Lebensgestaltung formuliert.

Die Remonstranten waren – nebenbei gesagt – die erste christliche Kirche weltweit, die schon 1986 in Holland homosexuelles Leben und Lieben in ihren Kirchen offiziell segnete und die auch heute diese Lebensform als völlig gleichberechtigt versteht. Deswegen auch die Abwehr von Homophobie unter Remonstranten.

Vielfältige Informationen über remonstrantisches Leben und remonstrantische Theologie hat der Remonstrant Christian Modehn in Berlin veröffentlicht: LINK

In Berlin ist der Ort remonstrantischer Präsenz seit 2007 der Religionsphilosophische Salon Berlin, als offenes philosophisches wie auch remonstrantisch – theologisches Gesprächsforum. Als einziges “Dogma” gilt dort, sich seiner eigenen Vernunft kritisch und selbstkritisch “zu bedienen”.

Wer Niederländisch lesen kann: Ich empfehle diese website: https://www.remonstranten.nl/

Sonst auf Deutsch: www.remonstranten-berlin.de
Und:www.religionsphilosophischer-salon.de

Copyright: Christian Modehn

Die 6. “unerhörte Frage“: Sind Menschen bloß noch “andere Tiere”?

Von Christian Modehn.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

Ein Motto: “Denn wahrlich, der Mensch ist dem Leibe nach dem Tiere verwandt; ist er aber nicht dem Geiste nach Gott verwandt, so bleibt der Mensch ein gemeines und unedles Geschöpf. Ebenfalls wird die Seelengröße und der Glaube an die Veredlung des menschlichen Wesens zerstört” (so der Philosoph Francis Bacon, in: “Essays”, Leipzig, 4. Aufl., 1979,S. 68).

Und weiterer Hinweis zu Beginn: Diese unerhörte Frage wäre gar nicht formuliert worden, hätte nicht der australische Philosoph Singer das Thema seit langer Zeit mit aller Bravour nach vorn gebracht, so dass viele seine Thesen nachplappern. Singer hat, das ist bekannt, moralisch gesehen abartige Vorstellungen von dem Unwert bestimmter (etwa behinderter) Menschen und dem angeblichen Wert bestimmter Affen oder Schweine. Sein gefährliches Denken “geht mit der Negation der universalen Gültigkeit der Menschenrechte für Menschen einher” (Andreas Speit, Verqueres Denken, Berlin 2021, S. 210). Dieses Urteil zugunsten der universalen Menschenethik gilt, selbst wenn Singers Werk zur “Animal Liberation” manche Veganer als ihre neue Bibel betrachten. Und den Tierschutz wichtiger nehmen als den Schutz eines jeden menschlichen Wesens.

Warum sprechen heute so viele Menschen, auch Philosophen, salopp „Von Menschen und anderen Tieren“? Oder wie der „berühmte Philosoph“, Prof. Markus Gabriel sagt: “Wir als Tiere“ (S. 116, in „Zwischen Gut und Böse”, Hamburg 2021). An die unsinnigen Thesen von Peter Singer habe ich gerade oben erinnert.
Es könnnen zahllose weitere Beispiele genannt werden, wie es Mode ist, die Menschen als andere Tier zu bezeichnen, d.h. den Menschen als Menschen abzuwerten. Das ist wohl auch ein politischer Trend? Etwa Thilo Hagendorff in seinem Buch:”Was sich am Fleisch entscheidet”(Büchner -Verlag):”Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionen usw. bei Tieren macht deutlich, dass nicht-menschliche den menschlichen Tieren ähnlich sind“. Und bei Sloterdijk kann man Entsprechendes finden, etwa in seiner Preisrede anläßlich der Übergabe des Helmuth Plessner Preises: “Der Mensch als Tier, dem etwas fehlt“, fasst der Tagesspiegel Sloterdijks Position zusammen. Und er selbst sagt in dem Vortrag nach bekannter Manier sich nicht festlegend und schwankend:”Der Mensch ist eine Randexistenz der Tierwelt”.

1.
So sehr ich selbstverständlich weiß, dass Menschen innerhalb der Evolution entstanden sind und dass Menschen auch animalische (d.h. oft: brutale) Tendenzen haben. Und ich weiß auch: Hundefreunde tun alles für ihren „Liebsten“ und meinen zu sehen, wie er sich freut, anhänglich ist usw. Aber ist das Hunde – Verhalten Ausdruck ihrer vermuteten Freiheit oder gar Liebe? Gewiss nicht, es ist Ausdruck für die Dressur, die seinem Hunde-Wesen entspricht…
Mir scheint es sehr problematisch zu sein, immer wieder, sich den Naturwissenschaften offenbar anbiedernd, von „Menschen und anderen Tieren“ zu sprechen oder bekenntnismäßig zu sagen „Wir als Tiere“.
Welche Interessen stehen dahinter, den Menschen als Tier zu bezeichnen, ihn in die Tierwelt (des Unvernünftigen, vielleicht Dressierten) einzuordnen?
Polemisch gefragt: Wie viele Mücken haben Konzerte komponiert, wie viele Hyänen haben Romane geschrieben, wie viele Löwen gastronomische Leistungen vollbracht, wie viele Eulenhaben von Mystik gesprochen?
Könnte man den Freunden der Behauptung „Menschen und andere Tiere“ eine Freude machen, wenn man ihren Satz einfach umdreht und sagt: “Tiere und andere Menschen“? Oder sogar: „Tiere sind doch auch (nur) Menschen“. Vielleicht stimmen sie dem zu. Manche sind, so sagte meine Mutter, im Blick auf in Hunde verliebte Hundefreunde: „Diese Leute sind auf den Hund gekommen“. Sie können einem vielleicht leidtun, weil sie keine Menschen gefunden haben, die sie lieben können.
2.
Ich verstehe den philosophischen Kontext im Hintergrund dieser modischen Thesen, es ist die Abwehr von einer rein aufs Geistige zielende Definition des Menschen. Bloß weil die Menschen als Geistwesen/Vernunftwesen de facto so viel Unsinn und Verbrechen begangen haben und begehen, gibt es trotzdem keinen Grund, dem Menschen innerhalb der Natur und der Evolution eine besondere Stellung abzusprechen, die durch Geist und Vernunft als „typische Unterscheidung“ gekennzeichnet ist. Oder wollen wir einem unfähigen und trägen Politiker die Entschuldigung abnehmen: „Ich war eben beim Schutz der Umwelt oder beim kritischen Umgang mit Lobbyisten einfach nur faul wie ein Schwein“?
Wenn ich mich also gegen diese Thesen wehre, will ich nicht wieder die totale Herrscherrolle des Menschen bzw. des Mannes herausstellen. Ich will nur an die Erkenntnis erinnern: Ein Tier hat als Tier keine Vernunft und damit auch keine Freiheit. Das diskriminiert die Tiere ganz und gar nicht, es ist eine artgerechte Beschreibung ihres tierischen Wesens. Wir sollten unsere lieben Tiere (lieb sind alle, siehe Haie) nicht als mögliche Vernunftwesen überfordern. T. Viele Tiere behandeln wir als Fleischfresser nach wie vor brutal wie Sachobjekte in der üblichen Massentierhaltung. Wenn man das bedenkt, ist diese Rede von „Wir als Tiere“ nichts als modisches, ein bisschen modische Geschwätz.
3.
Reden wir also vom Menschen als dem Wesen der Freiheit, der Mensch, der noch die Klimakatstrophe etwas einschränken kann oder der das Massensterben in den Hungerregionen überwinden könnte, wenn er nur will. Tiere würden nicht einmal auf solche Gedanken kommen…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

60 Jahre Berliner Mauer am 13. August…Und Mauern entstehen allerorten.

Ein Hinweis zum „Mauerbau-Jubiläum” am 13. August 2021.
Von Christian Modehn

1.
„Fast alle haben heute die Absicht, Mauern zu errichten“. Wenn Walter Ulbricht (SED) noch lebte, würde er seine altbekannte Lüge „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ (mitgeteilt am 15.6.1961, also knapp zwei Monate vor dem Bau der Berliner Mauer) verändern. Und ausnahmsweise kritisch und richtig sagen: “Fast alle haben heute die Absicht, Mauern zu errichten“. Und Ulbricht hätte ausnahmsweise recht!
2.
Ohne Ironie: Dieser Satz ist der nüchterne Befund derer, die auf die sozialen Verhältnisse in ihrem eigenen Land schauen wie auf die soziale Ungleichheit weltweit oder speziell auf die unüberwindlichen Abgrenzungen, was Berufswahl und Karriere für Arme angeht oder auch, was die Wohnverhältnisse betrifft. In zentralen Lagen deutscher Städte, wie München, Frankfurt, Berlin, Hamburg kann kein „Normalverdienender“ mehr wohnen und leben. Ganze Innenstadt-Bezirke errichten immer höhere (unsichtbare) Mauern in den Städten. Und die demokratischen Regierungen sehen dem machtlos zu, sehen zu, wie es Massen von Vertriebenen gibt, vertrieben von international agierenden Spekulanten. Mauern unter den „gleichen Bürgern“ werden errichtet.
3.
„Gated communities“ („geschlossene Wohnanlagen“) sind jetzt nicht mehr nur die mit Mauern und Wachpersonal behüteten Wohnquartiere der Millionäre und Millionäre in Californien oder Brasilien, gated communties sind schon längst auf andere, nicht sofort erkennbare Art bestimmend, etwa für die größten Teile der Innenstädte von London, Amsterdam und Paris (durchschnittlicher Preis für einen Quadratmeter Eigentumswohnung etwa in der Nähe des Pariser Rathauses, also im 4. Arrondissement, ca. 14.000 Euro).
4.
Unsere Welt ist heute nicht nur von Grenzen, oft für viele nicht passierbar, durchzogen, sondern von Mauern: Das sind jene materiellen oder virtuellen massiven Abwehrsysteme, um in einer sozial gespaltenen Welt die „anderen“, die „Störenden“, die „Benachteiligten“ von den Reichen auszuschließen. Bestes Beispiel ist die Abwehr von Flüchtlingen im Mittelmeer. Um Walter Ulbrichts Wort zu variieren: Da hat die ganze EU-Mauern errichtet, mit abwehrenden Wächtern, die sogar bereit sind, Flüchtlinge ertrinken zu lassen. Grenztruppen also, bekannt aus der DDR. Auf diesem Ulbricht – Niveau ist Europa (E.U.) wieder angekommen. Und selbst die heftigsten und störrischsten „Grenzer“, wie Herr Orban in Ungarn, können ungestört antihuman walten und empfangen dickes Geld von der E.U.
Das heißt ja nicht, dass es keine Grenzen geben sollte, aber sie sollten keine unüberwindbaren Mauern sein, sondern durchlässig, vor allem für Hilfesuchende. Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die europäischen und amerikanischen Staaten bedrohte Juden ab 1933 aufgenommen hätten. Walter Benjamin hätte noch glückliche Jahre erlebt…
5.
Also bitte kein Jubel am 13. August 2021 mit dem Motto: Die Mauer ist weg. Ja, die Berliner Mauer ist als materielle Gegebenheit fast ganz verschwunden, aber wo sind die Mauern heute? Da ist die Liste, siehe oben schon begonnen, endlos lang.
7.
Ich nenne nur die „Mauer in den Köpfen“, wie ein Bonmot sagt, also den Beton im Kopf, der kritisches Nachdenken im einzelnen Menschen verhindert. Wer hat der Beton in die meisten Köpfe gesteckt? Es waren und es sind die Macher von menschenfeindlichen Ideologien, von Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Antifeminismus, die Feinde der Demokratie und der universal geltenden Menschenrechte und so weiter. Sie sind die Mauer-Bauer in den Köpfen. Weil die Köpfe so vieler leer waren oder keine Widerstandsreserven gegen den Wahn hatten, konnten sie von ideologischen Machthabern gefüllt werden. Wer wohl diese ideologischen Machthaber sind? Sie agieren oft eher anonym, hinter den Kulissen der angeblich hilflosen Regierungen, also etwa die Neoliberalen, jeder und jede kann weitere ideologische Beton-Mischer und Mauer-Bauer finden…
8.
In unserer Sicht ist es besonders tragisch, dass die christliche Religion, die vom Kern ihrer Botschaft Nächstenliebe predigt und leben will, also alles gegen Mauern haben sollte, dass diese Religion selbst Mauern baut. Das gilt für viele fundamentalistische Kirchen, wie für viele Evangelikale und Pfingstkirchen, das gilt für den immer noch dogmatisch erstarrten offiziellen Katholizismus. Der Vatikan ist bekanntlich von hohen und meterdicken Mauern umgeben. Ein Symbol! Vom Betongeist islamistischer Fundamentalisten wäre zu sprechen oder dem der Ultra-Orthodoxen in der russischen Putin -Kirche oder in Israel oder im Hinduismus usw…
9.
Religionen als Institutionen sind Mauer-Institutionen, sie lieben die Mauern, die streng bewachten Grenzen, in denen es nur Freunde oder Feinde gibt.
10.
Wer kann Mauern einreißen: Der kritische Geist der reflektierenden Vernunft im einzelnen. Und die einzelnen können sich zum spirituellen und politischen Überleben Organisationen und Gruppen suchen, die dem Wahn der Mauern Widerstand leisten und versuchen ,diese einzureißen…
11.
Eine Anregung:
Die Gruppen des kritischen Katholizismus (mit ihrem „Synodalen Weg“ jetzt) werden an den „Mauern des Vatikans“ selbstverständlich wieder scheitern, wie so viele ähnliche Projekte zuvor … und sich dann auf die Suche nach ihrer verlorenen Lebens-Zeit begeben.
Wie wäre es, wenn diese Katholiken sich von dem Modell der Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“ (Berlin) inspirieren ließen. Sie könnten in einer wohl geplanten Aktion an vielen Stellen die hohen Mauern des Vatikan-Staates erklimmen und schließlich hoffentlich unbemerkt überwinden. Die Reformer landen förmlich auf den Schreibtischen der Prälaten und Kardinäle… Das wäre ein politisch-theologischer Symbolakt, der mehr gedanklich bewirken könnte und langfristig im Gedächtnis bliebe als die ewigen, aber hoffnungslosen Debatten über die Reform der eingemauerten römischen Kirche.

Zur Vertiefung: Hohe Mauern sperren den Vatikan ein, das Zentrum der römisch-katholischen Kirche LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die 7. „unerhörte Frage“: Haben politische Einsichten eines Philosophen des 17. Jahrhunderts eine aktuelle Bedeutung?

Das Motto von Francis Bacon: „Aberglaube (und Verschwörungstheorien) sind verheerend für den Staat“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
„Der Aberglaube bringt Verstand, Philosophie, natürliches Gefühl, Recht und Achtung auf den guten Namen zum Schweigen“. Dadurch verhindert der Aberglaube ein menschenwürdiges Leben. „Aberglaube beherrscht dann allein und unumschränkt die menschlichen Gemüter“. Der Philosoph Francis Bacon, (1561-1626), bekannt vor allem als Philosoph der Natur und der Empirie, hat vor den Verirrungen des Aberglaubens gewarnt, den er, aus seiner Sicht damals, als viel verhängnisvoller deutete für das menschliche Zusammenleben als den Atheismus.
2.
Unter Aberglauben verstand Bacon vor allem einen wahnhaften religiösen Glauben, aber auch verrückte Ideologien, die man heute Verschwörungstheorien nennt. Im 15. seiner „Essays“ (von 1625) spricht er über „Aufstände und öffentliche Unruhen“, dabei betont er, dass „Schmähschriften und zügellose Reden“ sowie „Gerüchte“ zu den öffentlichen Unruhen führen“, also in seiner Sicht zum Chaos (in: Essays, Leipzig, 1979, S. 55). Gerüchte als Verschwörungstheorien deutet bereits der römische Dichter Vergil (70 vor Chr. -19 nach Chr.) als „Vorläufer kommender Aufstände“, betont Bacon. „Aufrührerische Tumulte und aufrührerische Gerüchte lassen sich gar nicht unterscheiden“. (S.56).
Erstaunlicherweise empfiehlt Bacon nicht eine „allzu strenge Unterdrückung“ der Gerüchte; er wehrt sich gegen allzu häufiges Agieren, die das Ziel hat, den inneren sozialen Frieden zu bewahren. Bacon meint hingegen, wenn man sich zu intensiv um die Unterdrückung der Gerüchte bemüht, „sind diese Gerüchte von erstaunlich langer Lebensdauer“ (S. 56).
In die Gegenwart übersetzt: Das allzu häufige Sprechen, zum Beispiel über die AFD, die Reichsbürger etc. stärkt wohl eher noch das „Ansehen“ dieser rechtsextremen Kreise. Die AFD ist eine Partei, für die sich nur ca. 10 Prozent der Wähler entscheiden, da ist übermäßiges Reden mit denen nicht so hilfreich, was aber auch nicht heißt, dass Fakten freigelegt werden müssen.
3.
Bacon nennt Beispiele übler Verschwörungstheorien, er erinnert etwa an den berühmten Religionsphilosophen Plutarch, (45 – 125 n. Chr.) Von ihm behaupteten Verschwörungstheoretiker damals, er verzehre seine Kinder gleich nach der Geburt. (Francis Bacon, Essays, Leipzig, 1979, S. 70). Nebenbei: Plutarch hat eine Studie über den Aberglauben veröffentlicht…
Interessant ist, dass Francis Bacon neben anderen eine Ursache für den Aberglauben (und Verschwörungstheorien) nennt: “Es sind schließlich barbarische, namentlich mit Elend und Ungemacht verbundene Zeitalter“ (Ebd., S .71).
Und man glaubt förmlich Verbindungen zur Gegenwart der verbrecherischen Verschwörungstheorien (und der entsprechenden Praktiken!) zu lesen, wenn Bacon schreibt: „Der Aberglaube (auch die Verschwörungstheorien) hat den Sturz manches Staates herbeigeführt, weil er eine neue Urkraft darstellt, die verheerend den ganzen Staatskörper überfällt. Beim Aberglauben gibt das Volk den Ton an, und in diesem Punkte folgen Weise den Toren nach, und in verkehrter Reihenfolge passen sich die Vernunftgründe hinterher der Praxis an“ (Ebd. S.70).
4.
In dem leider nicht vollendeten Essay „Über Gerüchte“ (S. 244ff.) schreibt er: „Jedenfalls ist nicht zu leugnen, dass Rebellen und aufrührerische Gerüchte und Schmähreden zueinander gehören wie Brüder und Schwestern“ (S. 244). „Das Gerücht verfügt über eine solche Macht, dass kaum eine bedeutende Handlung vor sich geht, woran es nicht einen großen Anteil hat, zumal im Kriege“ (S. 245)
5.
Bacon war zu seiner Zeit sicher ein getreuer Anhänger des Absolutismus, seine Warnungen vor Aberglauben, Verschwörungstheorien und Gerüchten müssen in dem Zusammenhang gesehen werden. Aber er „lehnt jede königliche Diktatur und Tyrannei ab. Auch der König sei dem Ganzen verpflichtet und dürfe nicht das Gleichgewicht im Staate durch willkürliche Maßnahmen stören“ (S. 261, in dem Beitrag von Walter Apelt). Für Bacon gibt es also keine fürstliche „Allgewalt“.
6.
Weil Bacon eine universale humane Ordnung vor Augen hatte, sind seine Warnungen vor der Macht des Aberglaubens, der Gerüchte und Verschwörungstheorien durchaus auch heute ernst zu nehmen.

Die „Essays“ von Francis Bacon gibt es in deutscher Sprache in unterschiedlichen Verlagen.Ich zitiere nach der vollständigen Ausgabe der „Dietrichschen Verlagsbuchhandlung“ in Leipzig, 4. Aufl., 1979, das Buch, in feiner Ausstattung, gebunden, 284 Seiten, hatte den erstaunlichen Preis von 6,15 DDR-Mark.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Macron – ein Revolutionär?

Zu einem neuen Buch von Joseph de Weck

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.7.2021

1.
Der Untertitel des Buches „Emmanuel Macron“ zeigt von vornherein die Richtung, es geht um einen „revolutionären Präsidenten“. Autor dieses Essays, das rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl 2022 erscheint, ist der in Paris lebende Politologe Joseph de Weck (Jahrgang 1986). Herrscht also, 232 Jahre nach dem Beginn der Französischen Revolution, tatsächlich ein „Revolutionär“ an der obersten, äußerst mächtigen Spitze der Republik? Macron sieht sich in einem geradezu übermäßigen Anspruch, aber er kann nicht die neue Revolution vollbringen, die Bürger folgen ihm nicht… und die Europäer – bis jetzt – auch nicht. So ist die Macht des sehr energischen und sehr selbstbewussten Emmanuel Macron doch begrenzt, immer wieder gestört von den eigensinnigen Bürgern, wie etwa der berühmten Protest-Bewegung der „Gelbwesten“. Macron will ganz entschlossen, nach der Beurteilung des Politologen, die zerrissene, „gespaltene“ (S. 180) und deswegen widersprüchliche Nation Frankreich nicht etwa nur regieren, er will sie versöhnen. Ein Mammutprojekt, denn gespalten ist die Nation spätestens seit 1789. Die BürgerInnen Frankreichs sind, ohne in Klischees zu verfallen, oft sehr aufmüpfig und sozusagen ständig streikbereit, Kompromisse fallen schwer, dabei „im letzten“, was die Stabilität ihres Lebens zumal auf dem Lande betrifft, doch „sehr konservativ“ (S. 166). Macron, der Präsident will diese seine Nation versöhnen, und gleichzeitig Europa in der Gestalt der E.U. als geistige wie ökonomische Macht entwickeln und verteidigen. Seine europäische Führerrolle wird wohl nach dem Ende der Ära Merkel noch deutlicher werden. Macron ist wohl DER europäische Politiker heute und zweifellos auch nach 2022, wenn „es denn klappt“, und sich Macron gegen die sehr rechtslastige Marine Le Pen (Parteiführerin von „Rassemblement National“) durchsetzt…
2.
Es ist auch bezeichnend für das ausgeprägte Selbstbewusstsein Macrons, dass er als Titel für seine politische Programmschrift schon im November 2016, also kurz vor seiner Wahl, schlicht und unbescheiden „Revolution“ wählte. In der Taschenbuchausgabe 2017 steht der etwas milder stimmende Untertitel „Reconcilier la France“, „Frankreich versöhnen“. Keine leichte Aufgabe: „Frankreich ist im Grunde eine Gesellschaft von Anarchisten“, heißt das sehr provozierende Urteil de Wecks (S. 36), und er bezieht sich dabei auf das bekannte Zitat von de Gaulle, der daran (ver)zweifelte ein Land zu regieren, „in dem es 258 Käsesorten gibt“ (ebd.).
Joseph de Weck bezieht sich oft auf dieses „Revolutions-Buch“ von Macron. Und zeigt, dass tatsächlich die Versöhnung des in sich zerstrittenen, ideologisch wie sozialpolitisch zerrissenen Frankreich die oberste, aber äußerst schwierige Projekt des jungen Staatspräsidenten (geboren am 21. 12.1977 in Amiens) ist.
De Wecks Buch bietet keine ausführliche, chronologisch geordnete Biographie des Staatspräsidenten, nur elementare Informationen werden dazu geboten, etwa auch zu seiner Ehe (Heirat 2007!) mit seiner früheren Lehrerin Brigitte Auzière im Gymnasium der Jesuiten in Amiens (S. 23 f.).
Im ganzen stellt der Autor den Präsidenten Macron in den Kontext der aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Damit werden viele Leserinnen in Deutschland zugleich wichtige Hintergrundinformationen zu der doch eher unbekannten, wenn nicht fremden Nation in der Nachbarschaft geboten.
3.
Ich nenne nur einige zentrale Stichworte, die im Essay dargestellt werden:
Macron will explizit im Auftreten, Reden, Handeln ein großer, ein intellektueller Staatsmann sein, der sich gern mit de Gaulle und dem Sozialisten Mitterrand vergleicht. Macron ist sich seiner Bedeutung sehr bewusst und er zeigt das.
Er ist verglichen mit anderen PolitikerInnen in Europa tatsächlich ein intellektueller Staatspräsident, mit einer tieferen Kenntnis der Philosophie und Literatur, seine Reden und Ansprachen haben oft den Charakter philosophischer Reflexion. PolitikerInnen in der europäischen Nachbarschaft oder in den Büros der E.U. zeigen in ihren intellektuell dürftigen Reden eher ihren eigenen, eher technokratischen Charakter.
Das ist der Anspruch: Macron will eine Politik gestalten, die weder rechts noch links ist. Dafür gibt es viele Beispiele: Er fördert die Wohlhabenden in der Steuerpolitik und erhöht aber auch die Rente der Armen ein bisschen. Er fördert die Bildung und reduziert die Klassengröße in „sozial prekären Vierteln“ auf 12 SchülerInnen. Das Gehalt der Lehrer, die es in diesen Problemgegenden aushalten, erhöht er um 3.000 Euro jährlich (S. 90).
4.
So sehr auch manche Reformen für die „einfachen Leute“ wichtig sind: Die Kritik gerade von Seiten der Linken ist heftig (S. 96). Joseph de Weck schreibt: “Ein Teil der Bevölkerung hasst den Präsidenten Macron richtig gehend, heftiger noch als Sarkozy“ (S. 159). Warum? Weil er in der Sicht der Linken doch letztlich eine Politik zugunsten der Reichen macht, selbst wenn er sich dialogfreundlich etwa mit den „Gelbwesten“ unterhält. Die Rechten und die Reaktionären, auch viele Katholiken, verachten ihn, weil er die „Ehe für alle“, also die Ehe für homosexuelle Paare, eingeführt hat. Bezeichnend ist, dass Macron mit dem niederländischen rechtsliberalen und neoliberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte befreundet ist (S. 128).
5.
Im Ganzen ist „Macrons Image noch immer nicht fixiert“, (s. 185), viele Beobachter betonen: Man kann Macron nicht definieren, er entzieht sich förmlich einer Festlegung. Die Linken sehen das anders, wie etwa der inzwischen viel gerühmte Autor Eduard Louis (S. 163). Louis beschwerte sich sogar darüber, dass sein autobiographischer Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ im Präsidentenpalast gelesen wird. Per Tweet schrieb Louis an Macron: “Sehen Sie davon ab, mich zu benutzen, um die Gewalt (des Staates gegen ausgegrenzte, arm gemachte Bürger, CM) zu maskieren, die Sie ausüben und inkarnieren…“ Worte, die de Weck eher peinlich findet… Und er schreibt weiter: „Obwohl (der tatsächlich weltberühmte linke Ökonom, CM) Thomas Piketty ähnlich denkt wie Macron, jedenfalls in Sachen Weltwirtschafts – und Europapolitik, sucht Macorn nicht die Nähe zu diesem Starökonomen“ (S. 163). Macron ist eben kein Linker, wer es immer noch weiß! Er verteidigt die „Meritokratie“ (S. 164), also das liberale (auch FDP) Motto: Leistung und viel Arbeit lohnt sich, sie erst macht aus einem Menschen einen wertvollen Menschen…
6.
Es ist auch klar, dass sich Macron einigen Thesen von Marine Le Pen angepasst hat, gerade hinsichtlich der Flüchtlingspolitik. Ihm geht es darum, Stimmen aus dem sehr konservativen Lager bei der Wahl 2022 zu sammeln, damit er stärker wird als die rechtsextreme Politikerin Le Pen. Auf die Stimmen der Linken kann Macron im zweiten, entscheidenden Wahlgang gegen Le Pen nicht zählen. Aber noch ist vieles offen und vielleicht passiert ein Wunder und die zerstrittenen Linken vertragen sich und einigen sich auf einen gemeinsamen Kandidaten bzw. eine Kandidatin.
7.
Natürlich kann der Essay von Joseph de Weck nicht alle relevanten Aspekte zu Macron und Frankreich heute ansprechen. Ich hätte mir trotzdem mehr Informationen gewünscht zu der typisch französischen Laicité, die de Weck komischerweise einmal falsch mit „laizistisch“ übersetzt (S. 167). Und die Bedeutung Macrons als Philosoph und Ricoeur – Schüler wird meines Erachtens vom Autor etwas übertrieben. LINK Und auch dies: „Gottesdiensten bleibt (der getaufte Katholik) Macron grundsätzlich fern“, schreibt de Weck auf S.18. Mag ja sein. Aber mit den Katholiken will der Katholik Macron, der Jesuitenschüler, letztlich doch in gutem Einvernehmen sein. Kürzlich besuchte er als erster Präsident überhaupt im Juli 2021 den Marienwallfahrtsort Lourdes… Natürlich offiziell nicht als Pilger, sondern als besorgter Politiker. Aber diese Visite fand nach der Veröffentlichung des Buches statt. Immerhin aber hat Macron im Juni 2018 Papst Franziskus im Vatikan zu einem einstündigen, offenbar sehr herzlichen Gespräch getroffen, er wurde zum Ehrenkanonikus der Basilika St. Johannes im Lateran ernannt, gemäß einer alten Tradition. Und noch am 21.3. 2021 hat Macron und der Papst telefoniert. Dabei gratulierte der Präsident Papst Franziskus für seine Reise in den Irak. Schwieriger gestaltet sich der Umgang Macrons mit „den“ Muslimen, sein Innenminister bezeichnete pauschal den „Islam als Problem“…Ein neues Laicité-Gesetz soll die Muslime auffordern, sich eindeutig zu den Werten der Republik theoretisch wie praktisch zu bekennen. LINK
Die Laicité, die ständig viel besprochene Trennung von Religionen und Staat, wird heute neu bestimmt im Blick auf die Muslime und ihre Gemeinden. Macron will die Integration fördern, viele meinen, es handle sich eher um eine Assimilierung „des“ Islams an die französische Republik. Deswegen schwärmt die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen auch von der Laicité, weil sie darin ein Instrument entdeckt hat, „die“ Muslime in Frankreich einzugrenzen mit einer Art „Nicht -Willlkommens – Unkultur“. Marine Le Pens Vater war und ist stärker antisemitisch orientiert, die Tochter als Parteiführerin ist geradezu judenfreundlich, ihre ganze Abneigung gilt nun dem Islam.
Leider wird in politischen oder soziologischen journalistischen Essays viel zu wenig die nach wie vor aktuelle Bedeutung der Religionen in Europa dokumentiert und diskutiert…
8.
Ansätze für eine politisch-theologische Vertiefung bietet de Weck, etwa auf Seite 71. Er erinnert an die sakral anmutende Inszenierung Macrons im Louvre zu Beginn seiner Präsidentschaft, er weist auf einen gewissen Heldenkult hin (sozusagen säkulare Heiligenverehrung?) und vor allem: Macron ist durchaus mit dem Gedanken vertraut, dass Franzosen manchmal eine „Praxis der religiösen Überhöhung der Republik“ (Seite 71) suchen und pflegen.
Wird dann der Präsident der Republik zu einem säkular-heiligen Nachfolger unter den Königen? Bloß: Welcher Bischof würde ihn, den Präsidentenkönig, dann salben etc.?
Fest steht: So ganz wird die säkulare, wenn nicht jetzt bereits tief säkularisierte, also auch durchaus a-kirchliche bzw. anti-kirchliche französische Gesellschaft (nur noch ca. 32 Prozent nennen sich jetzt laut Umfragen katholisch (Quelle: Le Point, 23.5.2019) dann doch nicht die Verbindungen zu einer gewissen Transzendenz los… Etwas Göttliches verschwindet offenbar nicht. Aber vielleicht verbergen sich hinter dem säkular Göttlichen doch nur Götzen?
9.
Nur ein kleiner Korrekturvorschag für die 2. Auflage: Evreux ist wahrlich, wie de Weck behauptet, keine „Pariser Vorstadt“, (S. 165), sondern Sitz der Präfektur des Départements Eure. Evreux ist 98 Km von Paris entfernt…

Joseph de Weck, Emmanuel Macron. Der revolutionäre Präsident. Weltkiosk-Verlag London-Berlin, 2021, 201 Seiten, 20 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin