Wenn der Klerus die Gläubigen vertreibt. Der Zusammenbruch der katholischen Kirche in Frankreich heute.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Vorwort 1:
Eine bestimmte Kultur verschwindet in Europa: Die von den Kirchen, zumal der katholischen Kirche, geprägte Kultur. Das Verschwinden wird sichtbar nicht nur am Umgang mit „nicht mehr verwendbaren Kirchen-Gebäuden“, auch am Mangel an „klerikalem Personal“, an der Vergreisung des Klerus, dem Zusammenschluss vieler Gemeinden zu einer einzigen anonymen, so genannten „Groß-Gemeinde“, sondern vor allem im systematischen Abschied („Austritt“) vieler (einst?) religiöser Menschen (Kirchenmitglieder). In den letzten Jahren vertreibt der geradezu massenhafte sexuelle Missbrauch durch angeblich zölibatäre Kletiker, auch Bischöfe, die Gläubigen. Sie können und wollen einem Kirchensystem nicht mehr vertrauen, das total von diesem Klerus beherrscht wird.

Dieser Trend wird seit Jahrzehnten dokumentiert in zahllosen soziologischen Untersuchungen. Unser Thema ist also alles andere als ein „bloß-kirchliches“. Es ist ein Thema des kulturellen Umbruchs. Wohin dieser Abschied von den Kirchen führt, philosophisch: zu welchen neuen Göttern er führt, ist bereits sichtbar: Für die westliche Welt sprach bereits Pasolini vom all-herrschenden Konsumismus…Aber das ist ein anderes Thema.
Die Situation im Nachbarland Frankreich ist dabei besonders erhellend bzw. „dramatisch“, wenn man in einem kirchlichen Werte-System denkt. In Frankreich ist die entsprechende religionssoziologische Forschung seit Jahrzehnten sehr viel umfassender als etwa in Deutschland…

Vorwort 2:
Dieser Beitrag wurde von mir am 15.5.2023 verfasst, und am 26.5.2023 in der Zeitschrift „Publik-Forum“ (Seite 38 f.) veröffentlicht. Unter dem von der Redaktion bestimmten Titel „Die Katastrophen-Kirche“. Dieser Titel wurde durch ein Foto vom verheerenden Brand der Kathedrale Notre Dame de Paris illustriert. Dabei ging es mir nur um den Zusammenhang: Französische Kleriker in ihrer nun öffentlichen, nachweislichen Perversion zerstören diese Kirche, zerstören den katholischen Glauben…natürlich gilt dieses Urteil nur vorausgesetzt, man findet diese (Klerus-)Kirche noch persönlich relevant…
Vorwort 3:
Nach der Veröffentlichung in PUBLIK FORUM Ende Mai 2023 wurden immer mehr Untaten des französischen Klerus freigelegt … und neueste Umfragen dokumentieren weiter den Niedergang des französischen Katholizismus sowie den Trend zu einem konservativen, oft reaktionären frommen Club der „Tradis“, wie man in Frankreich sagt, also der „Traditionalisten“. Der weit gefasste Begriff „Tradis“ bezieht sich auf die Nostalgiker und Verteidiger der alten lateinischen Messe, der hierarchischen Ordnung, des Systems der Dogmen und katholischen Moral. Also der Begriff „Tradi“ ist weiter als der übliche Begriff der Traditionalisten, vertreten durch die Pius-Brüder: Sie folgen explizit zu den Überzeugungen des reaktionären Chefideologen und Konzils-Feindes Erzbischof Marcel Lefèbvre und seiner katholischen Sonder-Gruppe…

Intermezzo:
Wenn der Papst lieber tagelang in die Mongolei reist und nur einen einzigen Tag in Frankreich zu bleibt.
Es erstaunt, dass diese von Krisen zerrissene, theologisch gespaltene, personell völlig ausgelaugte Kirche von Papst Franziskus an einem einzigen Tag, am 23. September 2023, in Marseille, besucht werden wird!……Viele Beobachter schmunzeln heftig, dass Papst Franziskus die 1.300 Katholiken (sic) der Mongolei (3,5 Millionen Einwohner) 5 Tage lang (vom 31.8.bis 4.9.2023) besuchen wird, offenbar will er jedem der dortigen Katholiken persönlich die Hand schütteln etc. Oder er will in der Hauptstadt Ulaanbaatar, also in der Nachbarschaft Russland UND Chinas, seine exklusiv-päpstliche Friedensmission zugunsten der Ukraine (?) starten…
Aber in Frankreich müsste der Papst wohl ein Jahr bleiben, um den Niedergang seiner Kirche dort zu erleben… Mit diesen Worten ist selbstverständlich nichts gegen die Mongolei gesagt…Aber vieles gesagt über die gar nicht so heftigen Interessen des Papstes an Europa, etwa an Frankreich, Deutschland (die causa Woelki!) , die Niederlande usw.

Vorwort 4.
Der folgende Beitrag wird ergänzt durch Hinweise auf neueste Entwicklungen, diese Hinweise sind kursiv gesetzt. Die Fußnoten sind wie üblich als Belege der Authentizität gemeint.

Vorwort 5. Die ganze gegenwärtige Katastrophe wurde schon Ende des 20. Jahrhunderts sichtbar:

Es wird daran erinnert, dass im Jahr 2000 der Priester René Bissey zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde wegen heftigsten sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendichen. Bissey war Priester des Bistum Lisieux-Bayeux. 2001 wurde der dortige Bischof Pierre Pican zu drei Monaten Gefängnis (mit Aufschub, wie es in Frankreich heißt) verurteilt. Der Bischof hatte in vollem Wissen über die “Neigungen” Bisseys diesen immer wieder in andere Pfarrgemeinden versetzt. Der Leiter der päpstlichen “Kleruskommission” in Rom, Kardinal Castrillon Hoyos (aus Kolumbien) lobte explizit Bischof Pican für sein Verhalten! Pican berief sich auf das Beichtgeheimnis (!) als Grund, den Priester Bissey nicht angezeigt zu haben. Und Kardinal Castrillon Hoyos betonte überdies, dass Papst Johannes Paul II. ihn ermächtigt habe, diesen “Gratulationsbrief” an Bischof Pierre Pican zu senden. Es warals auch im Sinne des polnischen Papstes  richtig, dass Kleriker andere Kleriker schützen und deren Untaten vertuschen! (Quelle: Corrdo Augias, Die Geheimniss des Vatikan”, München 2011, S. 447).

Bischof Pican blieb trotz des damals schon heftigen Sklandals bis 2010 Bischof von Lisieux. Pierre Pican (aus dem Salesianerorden) war also munter weiter Teil der Bischofskonferenz, es blieb also alles “ganz normal”, wie gehabt in Kleruskreisen, der als Klerus nur das eine Ziel hat: Sich selbst in seiner über alles und alle erhobenen Sonderrolle zu schützen … und zusammenzuhalten. Die anderen Priester sind doch alle, so die offizielle Sprachregelung in diesen Kreisen, Mit-Brüder…Einen Bruder verrät man doch nicht. Das ist doch auch das Grundgesetz der Mafia…

Vorwort 6.

Der “Aufstand” die “Krawalle”, die Rebellion in Frankreich seit Ende Juni 2023 hat auch die Religionsführer zu Stellungnahmen veranlasst. Der Katholischen Bischofskonferenz fiel bis zum 3.Juli 2023 nichts anderes ein, als ein Gebet zu formulieren: Es soll in den Messen und privat gesprochen werden. LINK.

DER TEXT:
(Der Text, an PUBLIK-Forum übermittelt, vor der redaktionellen Bearbeitung!)
1.
„Die französische Kirche ist die älteste Tochter der Mutterkirche in Rom.“ Das war der Stolz von Frankreichs Katholiken: Diese gotischen Kathedralen, die Wallfahrtsorte, die MystikerInnen und MissionarInnen, man dachte an berühmte katholischen Dichter und Philosophen, an Konzils-Theologen und Arbeiterpriester: Alles galt als Beweis, dass Gottes Geist in dieser Kirche herrscht.
2..
Und jetzt scheint die „älteste Tochter der Kirche“ von guten Geistern verlassen zu sein, sie ist ausgezehrt und abgemagert. Diese Diagnosen stellen Religionssoziologen. Guillaume Cuchet gibt seiner neuesten Studie den Titel: „Hat der Katholizismus noch eine Zukunft in Frankreich?“ (1). Durchaus eine rhetorische Frage. Genauso der aktuelle Titel der Religionssoziologen Danièle Hervieu-Léger und Jean-Louis Schlegel: „Implodiert die Kirche?“ (2). Ihnen sagt eine Religionslehrerin: „Bei uns ist das Christentum am Ende“. Die Katechetin (73 Jahre alt) soll 1.500 SchülerInnen an staatlichen Schulen den Glauben lehren. Nur 11 haben sich angemeldet (3).
3.
Repräsentative Umfragen der Religionssoziologen zeigen ungeschminkt die Realität: 29 % der Franzosen bekennen sich 2023 zur katholischen Kirche, vor 12 Jahren waren es 64 % (4). Die stärkste „Konfession“ bilden jetzt Atheisten und Skeptiker, noch vor den Muslims. An der Sonntagsmesse nehmen regelmäßig 2 % der Gläubigen teil, vor 50 Jahren waren es 16 %. Die Kirche hat bald kein klerikales Personal mehr: Nur 130 Priester wurden 2022 geweiht, 800 sind in dem Jahr gestorben (5). Knapp die Hälfte der Kleriker ist jünger als 75 Jahre. Überleben können die Pfarrgemeinden nur durch den „Import“ von 2.000 Priestern aus Afrika. Auf dem Land versorgt ein Priester 20 Dorfgemeinden, „sie sind nur Mess-Feier-Stationen“ geworden. Priester werden im Stress krank: Eine Studie der Bischofskonferenz zeigt: Viele sind depressiv, Suizid gefährdet, neigen zum Alkoholismus, zur Fettleibigkeit…(6). Nur wenige Laientheologe arbeiten in den Pfarreien, ein angemessenes Gehalt können die Bischöfe nicht zahlen (8). Ohne Kirchensteuer, überlebt die französische Kirche durch Spenden. 650 Millionen Euro standen der ganzen Kirche Frankreichs 2020 zur Verfügung (7). Alle Diözesan-Priester, auch die 118 Bischöfe, erhalten das Einheits-Gehalt von etwa 1.600 Euro, eine Folge der Trennung von Kirchen und Staat. Aber diese „laicité“ wird als „Ausdruck der kirchlichen Freiheit“ von Bischöfen akzeptiert!
4.
Ideologische Angriffe hat die Kirche oft erlebt, jetzt häuft sich der Vandalismus in Gotteshäusern (9). Unklar ist: Sind Islamisten, Verwirrte, Atheisten die Täter? Aber Attacken sind Antworten auf Missstände innerhalb der Kirche! Die aktuelle Krise ist eine „innere Krankheit“, ein Zusammenbruch des „Leibes Christi“, so definiert sich ja der Katholizismus.
5.
Von „schweren Erdbeben“ (10) spricht Danièle Hervieu-Leger. Auf Dauer grundstürzend ist das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester, aber auch einige Nonnen. Die Studie einer kirchenunabhängigen (!) Kommission unter Leitung des Juristen Jean-Marc Sauvé hat 2021 dokumentiert: Mindestens 216.000 Kinder und Jugendliche wurden seit 1950 Opfer sexueller Gewalt durch etwa 3000 klerikale Täter (11). Die Antwort der Bischofskonferenz? „Das kirchliche System muss repariert werden“. „Reparaturen“ also, keine Reformation! Bis zu 60.000 Euro „Schmerzensgeld“ sollen die Opfer erhalten. Die Kirche könnte bald bankrott sein. Kaum zu heilen ist die Zerstörung des Vertrauens in „den“ Klerus.
6.
Das „Erdbeben“ hat Epizentren. Seit etwa 1980 ließen sich die Bischöfe begeistern von neuen „geistlichen Gemeinschaften“. Sie zeigten als Laien – Initiativen unter klerikaler Aufsicht einen charismatisch – pfingstlerischen Elan, immer freundlich-lächelnd, aber streng römisch. Ihre jungen Priester wandelten in der Soutane predigend an den Badestränden der Cote d` Azur oder sangen als „Missionare” fromme Liedchen auf den Champs-Elysées. Die exzentrischen Titel der Gemeinschaften: „Theophanie“, „Gemeinschaft der Seligpreisungen“, „Offenes Herz“, „Kleine Brüder der Ernte der Barmherzigkeit“, „Emmanuel“ usw…(12).
7.
In ihrer Sehnsucht nach Halt und Autoritäten meinten die Frommen endlich „Seelenführer“ zu haben: Aber viele Begeisterte wurden zu Opfern, missbraucht, erniedrigt von ihren Pères, den klerikalen „Vätern“! Jetzt klagen die Opfer an: Geistliche Meister seien „kranke Sexmonster“. Dem Missbrauch überführt wurden die Brüder Philippe, beide Dominikanerpatres, beide hoch verehrt und charismatisch angeblich begabt (13). In der Ordensgemeinschaft „St. Jean“ (14) wurden 27 Brüder des sexuellen Missbrauchs überführt. Der einst von Bischöfen hoch verehrte „Anti-Homo-Therapeut“, Pater Tony Anatrella (15), wurde wegen sexuellen Missbrauchs aus dem Priesteramt entlassen. So erging es auch dem Mystik-Spezialisten Pater Jean-Francois Six (16). Jean Vanier, wie ein Heiliger verehrt als Gründer der Arche-Gemeinschaften für Behinderte, wurde der sexuellen Belästigung überführt (17). Auch der bekannte Musiker und Komponist religiöser Lieder und Oratorien, Pater André Gouzes, Dominikaner, Leiter des bekannten Kulturzentrum Sylvanès, wurde der Vergewaltigung eines Kindes, Knaben, angeklagt. Pater Gouzes leidet seit 2018 an Alzheimer. Seine sehr in Mystische weisenden, sehr beliebten Kompositionen und Lieder, werden seit der Freilegung der Untat nicht mehr in den Kirchen gesungen, berichtet wikipedia France, …. ob dies nun eine richtige Reaktion ist, bleibt sehr die Frage! ( Fußnote 39)

Das Fazit: Geistliche „Führer“ sind oft Verbrecher, sie vertreiben Gläubige aus der Kirche.
8.
Der sexuelle Missbrauch durch Bischöfe ist alles andere als ein Einzelfall: Kardinal Philippe Barbarin (Lyon) wurde wegen Vertuschung der Verbrechen eines Priesters (Pater Bernard Preynat) zu 6 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, nach einer Berufung aber freigesprochen. Jetzt wohnt er bei den „Schwestern der Armen“ (18). Francois Ozon hat über den „Fall Barbarin“ einen großartigen Film gedreht (19).
Auch Jean-Pierre Richard, Kardinal emeritus von Bordeaux, wurde des sexuellen Missbrauchs überführt (20), ebenso der ehemalige Erzbischof von Straßburg Jean-Pierre Grallet (21). Der Bischof von Creteil, Michel Santier (22) wurde wegen Belästigungen junger Männer abgesetzt. Er ist Gründer der charismatischen Gemeinschaft „Freue dich“. Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit (23) wurde wegen einer Affäre mit einer Frau seines Amtes enthoben. Der Nuntius in Paris, Luigi Ventura (24) wurde wegen sexueller Aggression gegenüber jungen Männern angeklagt, er flüchtete in den Vatikan. Der Erzbischof von Straßburg, Luc Ravel (25), wurde abgesetzt wegen allzu autoritären Verhaltens, heißt es. Sein tatsächliches Vergehen ist eher sein frühes Eintreten für die rechtsextreme Ideologie der „Umvolkung Frankreichs durch Muslime“. Der Bischof von Fréjus-Toulon, Dominique Rey, steht wegen seiner extrem-konservativen Theologie und Pastoral im Visier einer Prüfungskommission des Vatikans! (26).
Die Konsequenz: Viele Gläubige sind „fassungslos“, entsetzt, schreien ihre Wut, sind aller Zuversicht beraubt.

Jetzt wird Bischof Hervé Gosselin (Angouleme) angeklagt, als verantwortlicher Priester eines „Foyer de Charité“ (in Tressaint) sexuelle Untaten gegenüber Frauen dort ignoriert und vertuscht zu haben. Diese geistlichen Zentren, „Foyers der Liebe“ ausgerechnet genannt, sind inspiriert von der angeblich stigmatisierten Frau Marte Robin, die wie eine Heilige und Wundertäterin verehrt wurde und noch wird. Aber nun haben Studien nachgewiesen, dass Madame Robin eigentlich eine Scharlatanin war. Auch Jean Vanier, der Gründer der Arche-Gemeinschaften, war mit Madame Robin befreundet…(Fußnote 35)
Bischof Georges Colomb (La Rochelle) hat jetzt sein Amt niedergelegt, nachdem bekannt wurde, dass er sexuellen Missbrauch an jungen Männern betrieben hat, die damals Gäste seines Hauses der Missionsgesellschaft „Mission Etrangères de Paris“ (MEP) in Paris waren. Colombo war spezialisiert auf umfassende Massagen an jungen Männern, das hat die katholische Tageszeitung „La Croix“ lang und breit jetzt dargestellt. ( Fußnote 36)
Ebenfalls der Missionsgesellschaft von Paris (sie entsandte Priester nach China, Japan, Thailand usw.) gehört der Weihbischof von Strasbourg, Mgr. Gilles Reithinger, an. Ihm wird vorgeworfen, ihm mitgeteilte Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs durch Georges Colombo ignoriert zu haben. Colomb war damals in Paris der oberste Chef der Missionsgesellschaft in der Rue du Bac, im 6. Arrondissement, mit einem der größten wunderbaren innerstädtischen Privat-ParkGarten, das nur nebenbei. ( Fußnote 37)

9.
Die traditionalistische Gemeinschaft der Pius-Brüder hat sich in Frankreich als Rom-unabhängige Parallelkirche umfassend stabilisiert, mit mindestens 100.000 Gläubigen. Ihre Verbundenheit mit Rechtsextremen ist evident. 40 % aller (!) Katholiken haben 2022 im 1. Wahlgang Le Pen und Zemmour gewählt! (34).
10.
Wer als junger katholischer Franzose die Menschenrechte genauso wichtig findet wie das Evangelium, hat die Kirche längst verlassen. Die katholische Linke, 1980 noch lebendig stark, ist fast verschwunden. Politischen Pluralismus gibt es kaum noch im französischen Katholizismus. Einst große Organisationen wie die Christliche Arbeiterjugend (JOC) haben noch 6.000 Mitglieder (27). Von der JOC geprägt sind die neuen linken Gewerkschaftsführer Sophie Binet und Laurent Berger (28).

Über „junge Katholiken in Frankreich“ fand kürzlich wieder eine repräsentative Umfrage statt: Einige Ergebnisse:
30.000 junge katholische Franzosen werden an den katholischen „Weltjugendtagen“ in Lissabon teilnehmen. Es sind vor allem sehr fromme, eher „Tradi“- Katholiken, die noch an der Messe teilnehmen und durchaus auch die alte lateinische Liturgie lieben.
Interessant ist die politische Orientierung dieser sich selbst sehr fromm nennenden jungen Katholiken:
1% optieren für die extreme Linke.
6% für die anderen linken Parteien
5% für die „Ökologen“
8% für das Zentrum
38% für dieRechten
14% für die Rechtsextremen Parteien!
28% haben keine präzise politische Meinung oder wollen sich nicht äußern.
Über die Hälfte der befragten praktizierenden jungen Katholiken hat also Sympathien für rechte und rechtsextreme Parteien. (Fußnote 38)
Die Tageszeitung „La Croix“ kommentiert am 25.5.2023 die große Umfrage unter den wenigen katholisch sich nennenden Katholiken: „Diese Umfrage zeigt tatsächlich, dass diese jungen Leute von der Kirche NICHT erwarten, dass sie sich verändert. Und die Rolle der ^Kirche in der Gesellschaft sehen sie so: 59% antworten, die Kirche solle ein Leuchtturm sein, die den Weg zeigt in der Finsternis (ténèbres). Das Vertrauen dieser jungen Leute in die kirchliche Institution scheint im Widerspruch zu stehen zu den vielfältigen Enthüllungen sexueller Gewalt (des Klerus) in den letzten Jahren“. Nur 12% der befragten jungen Leute meinen: Die Kirche soll eine Bewegung der Emanzipation sein, die den Sinn für die Verantwortung und des Kampfes gegen die Ungerechtigkeiten entwickelt“. Dazu passt auch die theologische Überzeugung dieser jungen Katholiken: Nur 14% meinen, dass Männer und Frauen total gleich (gleichberechtigt) sind, und das gilt auch für den Zugang zum Priesteramt.
11.
Vom „Erdbeben“ ihrer Kirche lassen sich nur die konservativen Katholiken nicht erschüttern. „Observanten“ genannt, beobachten und respektieren sie die Dogmen genau (29). Oft gehören sie gut-etablierten Kreisen an, aus ihren Familien stammen viele junge Priester. Sie sammeln sich in der konservativen Gemeinschaft „St. Martin“ (30). Wie die meisten praktizierenden Katholiken sind sie politisch militant (Anti „Homo-Ehe“, aber „Pro Life“), immer eng vernetzt mit rechten Parteien.
12.
Zum Niedergang ihrer Kirche äußern sich französische Theologen nur zurückhaltend. Ausgerechnet Anselm Grün ist in Frankreich der am meisten gelesene Theologe! (31). An 2 staatlichen Universitäten in Elsass-Lothringen wird Theologie gelehrt, sonst in kirchlich kontrollierten Instituten. Einige Theologinnen kämpfen noch für „synodale Strukturen“ (32).
13.
Der Katholizismus wird als kulturelle Tradition (Kathedralen, Klöster und geistliche Musik) weiterhin ein interessiertes Publik finden (33). Aber die Gemeinschaft der „Praktizierenden“ muss wählen: Will sie eine kleine, aber offene Minderheit sein … oder im Getto eine rechtslastige Sekte? Aber den Weg bestimmt, wie überall, auch in Frankreich der Klerus, nicht die synodale Gemeinschaft aller Glaubenden.

Christian Modehn hat als Journalist und Theologe viele Jahre, auch für PUBLIK-Forum und die ARD-Sender, über Frankreich berichtet. In seinem Buch „Religion in Frankreich“ (1993) fielen seine Analysen noch etwas zuversichtlicher aus.
COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Fussnoten:

1
Guillaume Cuchet „Le Catholicisme a-t-il de l avenir en France?“, Editions du seuil, Paris Sept. 2021

2
„Vers L implosion?“ Danièle Hervieu-Léger et Jean-Louis Schlegel, Editions du seuil, mai 2022,

3
Zit. S .165

4
https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391
Und :

Statistiques de l’Église catholique en France

5
So Jean-Louis Schlegel, in der Tages-Zeitung: „Ouest-France“, 28.3.2022,.
Zum Alter der Priester: L’âge médian des prêtres en France est supérieur à 75 ans. Autrement dit, il y a autant de prêtres ayant plus de 75 ans, que de prêtres ayant moins de 75 ans. Quelle: Quelle: https://synonyme-du-mot.com/les-articles/quel-est-lage-moyen-des-pretres-en-france

6
https://www.le figaro.fr/actualite-france/la-depression-n-epargne-pas-les-pretres-dans-l-eglise-catholique-20201126
Auch: https://www.la-croix.com/Religion/rapport-inedit-ausculte-sante-pretres-2020-11-25-1201126613

7
https://www.eurel.info/spip.php?article987&lang=fr

8
https://www.la-croix.com/Religion/Catholicisme/France/Dans-paroisses-salaries-comme-autres-2017-04-03-1200836870
Und:
https://www.la-croix.com/Religion/Catholicisme/France/Mieux-reconnaitre-role-laics-mission-ecclesiale-2020-03-16-1201084398

9
https://fr.aleteia.org/2023/03/28/vandalisme-deglises-en-ile-de-france-les-pilleurs-condamnes-jusqua-trois-ans-de-prison/

10
Zit. Seite 100 in „Vers l Implosion?

11
Viele Studien, Kommentare dazu, etwa: https://www.lemonde.fr/societe/article/2021/10/05/pedocriminalite-dans-l-eglise-330-000-victimes-estimees-depuis-1950-selon-les-travaux-de-la-commission-sauve_6097191_3224.html

12
Eine neue umfassende, aber oft persönlich gefärbte Studie über Missbrauch in den so genannten Geistlichen Gemeinschaften: Céline Hoyeau u.a., „Der Verrat der Seelenführer“, aus dem Französ., Herder – Verlag 2023.

13
Die beiden Brüder Philippe : beide Dominikaner. Viele Berichte, sogar kritisch vom Christlichen Radio RCF: https://www.rcf.fr/articles/actualite/les-freres-philippe-une-tragedie-chez-les-dominicains

14
Zur Gemeinschaft St. Jean, siehe etwa: S. 279 in Buch von C. Hoyeau.

15
Pater Anatrella: viele Berichte über diesen auch in Rom äußerst einflußreichen „Psychologen“ etwa: https://www.ouest-france.fr/faits-divers/violence-sexuelle/le-pere-tony-anatrella-psy-de-l-eglise-soupconne-d-abus-sexuels-condamne-mais-pas-defroque-f8891442-9697-11ed-a0e2-3c14145668d8
Auf Deutsch u.a.: https://vweb009.katholisch.de/artikel/43251-ordensmann-kirche-hat-ex-vatikan-berater-buchstaeblich-geschuetzt

16
Pater J.Fr. SIX, https://www.la-croix.com/Religion/Abus-sexuels-Jean-Francois-Six-definitivement-renvoye-letat-clerical-2022-06-21-1201221194, sehr viel mehr noch bei wikipedia France: https://fr.wikipedia.org/wiki/Jean-Fran%C3%A7ois_Six

17
Zu Jean Vanier siehe auch Fußn. 13, oder https://eglise.catholique.fr/espace-presse/communiques-de-presse/493611-revelations-jean-vanier/
Oder: BBC: https://www.bbc.com/news/world-51596516
Auch der Gründer der bekannten neuen Ordensgemeinschaft „Communauté de Jerusalem“ (etwa in der Kirche St.Gervais in Paris) Pater Pierre-Marie Delfieux wurde der sexuellen Belästigungen und des spirituellen Missbrauchs angeklagt…siehe: https://www.lavie.fr/christianisme/eglise/enquete-les-fraternites-de-jerusalem-affrontent-leur-histoire-marquee-par-les-abus-spirituels-69194.php

18
Zum Fall Kardinal Barbarin siehe auch das politische Magazin le Point 31.1.2021: https://www.lepoint.fr/religion/aumonier-en-bretagne-le-cardinal-barbarin-se-fait-oublier-31-01-2021-2411989_3958.php. Von 2019 auch interessant: Libération: https://www.liberation.fr/france/2019/03/07/cardinal-barbarin-un-retrograde-qui-a-pris-du-galon_1713721/

19
Der Film des bekannten Regisseurs Ozon: „Grace à Dieu“. Unter den vielen Würdigungen: https://www.leparisien.fr/societe/affaire-barbarin-le-film-grace-a-dieu-beni-par-le-clerge-06-03-2019-8026308.php. der Film lief auch in deutschen Kinos und im Fernsehen…

20
Kard. Richard : https://www.lepoint.fr/societe/le-cardinal-jean-pierre-ricard-au-coeur-d-une-nouvelle-affaire-07-11-2022-2496790_23.php

21.
Erzbischof Grallet, https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2022/11/27/qui-est-jean-pierre-grallet-l-ancien-archeveque-accuse-d-agression-sexuelle_6151824_4500055.html

22
Bischof Santier , https://www.liberation.fr/societe/religions/leglise-catholique-atterree-par-les-strip-confessions-de-leveque-santier-20221019_7HTTSYLIXNHT5IAL6IM5A67J4I/

23
Erzbischof Aupetit . Unter anderem: https://www.leparisien.fr/societe/comportement-ambigu-avec-une-femme-mgr-michel-aupetit-larcheveque-de-paris-a-presente-sa-demission-26-11-2021-OFB7SWTLRNGV7KEES3OWNGARTY.php

24
Nuntius Ventura . u.a.: https://www.liberation.fr/france/2020/07/28/affaire-du-nonce-ventura-un-proces-historique-a-paris_1795345/

25
Erzbischof Ravel https://www.la-croix.com/Religion/Diocese-Strasbourg-Mgr-Luc-Ravel-demissionne-2023-04-20-1201264241
Der Erzbischof vertritt die „Umvolkung“, Details https://religionsphilosophischer-salon.de/9423_rechtsextreme-ideen-werden-vom-strassburger-erzbischof-luc-ravel-propagiert_gott-in-frankreich. Beitrag von Christian Modehn

26
Bischof Rey ist eine Hauptfigur eines reaktionären Klerus, über seine Nähe zur damaligen Partei „Front National“wurde oft berichte . Er hat „sein“ Bistum Fréjus-Toulon zu einem Hauptquartier der extrem konservativen neuen geistlichen Gemeinschaft gemacht. Das wurde nun selbst dem Vatikan zu viel… https://www.liberation.fr/societe/religions/dominique-rey-eveque-reac-dans-le-collimateur-du-vatican-20220602_QVJD4K5UWVFEFHVVHSGNFLLYAA/
Auch: https://www.la-croix.com/Religion/Diocese-Frejus-Toulon-derives-locales-sanction-romaine-2022-06-13-1201219757

27
JOC, http://www.joc.asso.fr/

28
Die Gewerkschaftsführer Sophie Binet und Laurent Berger als Mitglieder der JOC:
https://www.ouest-france.fr/economie/social/la-joc-un-tremplin-pour-le-syndicalisme-lexemple-de-laurent-berger-cfdt-et-sophie-binet-cgt-5196b7e8-d2ba-11ed-8286-f025829e4b1d

29
Zu den „Observanten“, also den „strengen Beobachtern der Dogmen: Yann Raison du Cleuziou, „Le catholicisme observant, Une élite des familles engagées dans la restauration de l église et le la société française. In : „Ethnographies du catholicisme contemporain“ (Sammelband) Paris 2021, dort S.141 – 151.

30
Gemeinschaft St. Martin offizielle website sehr „hübsche“ Bilder. Diese konservative Kletiker-Gemeinschaft ist auch im Erzbistum Köln, in Nerviges, tätig, wie auch die oben genannte Gemeinschaft „Jerusalem“ in Köln.

Accueil – Communauté Saint Martin


Viele kritische Untersuchungen, etwa: https://www.rue89lyon.fr/2022/10/11/pas-si-tradi-la-communaute-de-saint-martin-le-progres-savance-un-peu-vite-et-se-corrige/
Auch: https://www.liberation.fr/societe/religions/les-cathos-identitaires-de-la-communaute-saint-martin-a-la-conquete-de-la-france-20220320_G4WJM2HQ2FHLXAM26IQVBGCM7A/

31
Zu Anselm Grün: Sie e dazu wiki France: ca. 40 Titel auf Französisch. https://fr.wikipedia.org/wiki/Anselm_Gr%C3%BCn

32
Theologinnen, Nonnen , u.a. Schwester Nathalie:. https://www.vaticannews.va/fr/eglise/news/2022-10/s-ur-nathalie-becquart-synode-synodalite-entretien.html

Den „Archaismus“ des synodalen Prozesses kritisiert Danièle Hervieu-Leger, s. 374 ff

33
Kulturkatholizismus, aktuell: https://www.vie-publique.fr/questions-reponses/286218-le-patrimoine-religieux-et-les-communes-le-point-en-cinq-questions

34
Pius Brüder in Frankreich: Offiziell:

Accueil

Unter vielen Kritiken: 
https://charliehebdo.fr/2022/11/societe/education/integrisme-fraternite-saint-pie-x-ecole/

https://www.nouvelobs.com/education/20170719.OBS2319/integrisme-racisme-j-ai-ete-eleve-a-la-fraternite-saint-pie-x.html

35

zu Bischof Gosselin:

https://www.la-croix.com/Religion/Mgr-Herve-Gosselin-accuse-davoir-couvert-abus-Foyer-Charite-Tressaint-2023-06-15-1201271664

36

zu Bischof Colomb:

https://www.la-croix.com/Religion/Abus-sexuels-Missions-etrangeres-Paris-chronologie-differentes-affaires-2023-06-14-1201271491

https://www.la-croix.com/Religion/Accuse-dagression-sexuelle-Mgr-Georges-Colomb-mettre-retrait-diocese-La-Rochelle-2023-06-13-1201271397

37 zu Bischof Reithinger:

https://www.la-croix.com/Religion/Abus-sexuels-Missions-etrangeres-Paris-chronologie-differentes-affaires-2023-06-14-1201271491

https://www.la-croix.com/Religion/Accuse-dagression-sexuelle-Mgr-Georges-Colomb-mettre-retrait-diocese-La-Rochelle-2023-06-13-1201271397

38

Junge Leute und Kirche:

https://www.la-croix.com/Religion/JMJ-jeunes-catholiques-fervents-contre-courant-notre-sondage-exclusif-2023-05-25-1201268810

39

Pater André Gouzes OP: https://fr.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Gouzes

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wozu gibt es einen „Heiligen Geist“? Der Geist des Menschen ist heilig!

Über die “Entrümpelung“ eines theologischen Dogmas.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Es findet jetzt – endlich – eine Art Entrümpelung dogmatischer kirchlicher Lehren im Katholizismus statt, und hoffentlich in allen Kirchen. Zum Beispiel: Das Dogma der Erbsünde in der klassischen Form (von Augustinus mit Gewalt durchgesetzt) ist zum Entstauben in einer Seitenkapelle abgestellt worden. Die Dogmen zur „Gottgewolltheit” der klerikalen Hierarchie glauben fast nur noch die in ihrem Klerus-Stand bevorzugten Priester. Hans Küng hat schon vor 50 Jahren am Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes heftig gekratzt. Und die lateinamerikanische Befreiungstheologie versteht Erlösung nicht (nur) als seelisches Geschehen, sondern auch als Erfahrung sozialer-politischer Gerechtigkeit für die Armen…

2.
Auch der Küng – Mitarbeiter, der kathoilische Theologe Prof. em. Hermann Häring (Tübingen), spricht Klartext: „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“, so in PUBLIK-FORUM Nr. 10/2023, Seite 36 f. Häring schreibt in dem Beitrag sehr treffend: „Die Trinität ist ein Glaubenskonstrukt“… „Fürs Verständnis Jesu braucht es keine Dreifaltigkeit…“ „Die Trinitätslehre ist ein unerträgliches Element“, Häring tritt für „eine Generalrevision unserer Glaubenskonstrukte ein“.

3.
Hier wird ein weiterer Beitrag zur dogmatischen Entrümpelung in gebotener Kürze publiziert: Meine Frage: Was passiert denn eigentlich mit dem „Heiligen Geist“, der so genannten dritten göttlichen „Person“ in der Dreifaltigkeit (Trinität), wenn nun das göttliche Mysterium auch ohne Dreifaltigkeit erlebt, verstanden, gedacht wird?“
Meine begründete These: Der Geist des Menschen – und das ist seine Freiheit und deswegen auch seine Vernunft und seine Sprache, klassisch auch seine „Seele“ – ist heilig. Eine eigenständige , imaginäre „Person“ Heiligen Geist (meist als Taube dargestellt) braucht man dann wirklich nicht zu glauben.

4. Soll es denn zwei Geister in einem Menschen geben?
Das muss gerade für theologische „Laien“ etwas entfaltet werden:
Der menschliche Geist als menschlicher (!) Geist ist heilig, weil er von Gott geschaffen ist. Und Gott, das Göttliche, der Ewige… ist im Menschen durch den von Gott geschaffenen endlichen, menschlichen Geist sozusagen als der Schöpfer von allem – indirekt – anwesend. Der Mensch hat also – schon aufgrund eigener Selbsterfahrung – einen einzigen Geist, und nicht etwa einen menschlichen und daneben oder darüber noch einen gelegentlich, bei besonderen Anlässen, wirkenden zweiten Geist, den göttlichen.
Zwei Geister in einem Menschen? Das ist Unsinn, stiftet Verwirrung, gibt Raum für Phantasie und wunderbare Gottes-Geistes-Verzückungen. Handelt ein Mensch wahrhaftig, gut, ethisch wertvoll, versucht er das göttliche Geheimnis zu erfahren und zu bedenken, dann ist es also immer der eine menschliche Geist, der von Gott dem Schöpfer gegeben, in dieser Fähigkeit lebt.

5. Biblische Erzählung: ein bilderreicher Mythos.
Warum aber wurde dann in der frühen Kirche (in der Apostelgeschichte nachzulesen) die Idee formuliert, es gebe einen eigenständigen heiligen Geist neben dem menschlichen Geist? Diese Frage berührt die exegetische und kirchenhistorische Forschung. Meine kurz gefasste Antwort: Die Gemeinde der Freunde des gekreuzigten Jesus von Nazareth kam gemeinsam zu der überraschenden Einsicht: Unser Freund Jesus von Nazareth lebt irgendwie „wunderbar“ in anderer Gestalt „weiter“: Und sie waren von dieser ihrer Einsicht so begeistert, dass sie meinten, nicht ihr eigener Geist in seiner schöpferischen Freiheit habe ihnen diese Einsicht geschenkt, sondern es sei ein zusätzliches wunderbares Eingreifen Gottes gewesen. Als wäre wegen dieser Einsicht vom „auferstandenen Jesus“ ein extra-heiliger Geist wirksam gewesen. Die Gemeinde misstraute also der schöpferischen Kraft ihres eigenen menschlichen, aber von Gott gegebenen menschlichen Geistes, also der Vernunft, der kreativen Freiheit des Denkens und Fühlens.

6.
Aber die Kirchen haben die schöpferische Kraft des Göttlichen IM menschlichen Geist immer übersehen und unterschätzt: Der Grund: Sie haben die Mythen der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis falsch verstanden und gemeint, der Mensch schlechthin und immer sei durch die Erbsünde verdorben, der Geist des Menschen sei durch die Erbsünde zerrüttet: Das bedeutet. Dann kann nur Gott immer wieder neu eingreifen mit seinem immer wieder willkürlich agierenden zusätzlichen göttlichen wunderbaren Geist. Weil diese Ideologie der Erbsünde nun aber endlich obsolet ist, im Rahmen der oben genannten Entrümpelungen, entfällt auch die Idee eines zweiten göttlichen Geistes, neben dem menschlichen Geist. Ohne Erbsünde kann es einen kreativen, auch guten menschlichen Geist geben und eine gute menschliche Vernunft, die nach dem Göttlichen fragt…

7. Wenn Charismatiker und Pfingstler “ausflippen”
Aber viele sich sehr fromm fühlende, „auserwählte“ Leute klammern sich noch immer an den zweiten Geist in sich selbst, sie verehren ihn als den separaten heiligen Geist. Es sind die so genannten Charismatiker und Pfingstler, die vom heiligen Geist öffentlich gern in „Zungen reden“, wie sie sagen, also in einer angeblich verzückten wunderbaren göttlichen Sprache des Blalaba und Trallatulla und so weiter. Und das Skandalöse ist, das die anderen Geist-Besessenen dann sagen: Auch wir verstehen das geistvolle Blalaba usw.
Ich habe diese Verzückungen erlebt in einer charismatischen Gebetsnacht der äußerst einflußreichen charismatischen Gemeinschaft Emmanuel in der Kirche „Trinité“ in Paris (9.Arrondissement). Dort hatte sich der charismatisch bekehrte, ziemlich bekannte Schauspieler Michel Lonsdale diesem Blalaba usw. sehr hingegeben, ich habe diese Szenen für meinen Film „Unter dem Himmel von Paris“ fürs ERSTE gedreht…

8.
Die Mehrheit der Christen wird sich wohl nun um ihren einen Geist, der als Geist und Freiheit heilig ist, kümmern. Das heißt: Der menschliche Geist und die Vernunft sind als das Auszeichnende aller Menschen absolut zu schützen und unbedingt als Gestaltungsprinzip des Lebens und der Politik durchzusetzen. In den Menschenrechten findet dieser Geist seinen lebendigen, leider eher selten respektierten Ausdruck. Aber das spricht gegen den Geist, sondern die Faulheit und den Egoismus vieler Menschen, den sie mit ihrem eigenen Geist auch überwinden können, wenn sie denn wollen.

9. Die uralten Pfingstlieder – eine unerträglich ferne Welt.
Bei dem immer noch klassisch, d.h. trinitarisch gefeierten Pfingstfest ist wenig bis gar nichts von dieser nachvollziehbaren, vernünftigen Deutung des menschlichen Geistes, des heiligen, zu spüren.
Man denke etwa an die Pfingstlieder im „Evangelischen Gesangbuch“: Darin sind von Nr. 124 bis Nr. 137, also 14 Pfingstlieder, versammelt. Die Texte haben Autoren verfasst, die zwischen 1524 und 1833 lebten, die jüngsten Pfingstlieder, es sind zwei, stammen aus dem 19.Jahrhundert! Alle anderen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Kein einziges Pfingstlied stammt aus dem 20. Jahrhundert. Wie schwer sich die „klassische“ dogmatische Kirche mit dem Dreifaltigkeitsfest (Trinitatis) tut, wird deutlich: Das Evangelische Gesangbuch von 1993 enthält zwei Trinitatislieder aus dem 16. und 18. Jahrhundert.
Das Katholische Gesangbuch „Gotteslob“ enthält 15 Pfingstlieder, sie stammen schon aus dem 10.Jahrhundert, aber auch aus dem Jahr 1941, getextet von Maria Luise Thurmeier. Sie verfasste den Text für das Lied Nr. 249 „Der Geist des Herrn erfüllt das All – mit Sturm und Feuersgluten“. Wie weltfremd und a-politisch (?) diese dichtende Dame war, ist deutlich: Sie schrieb ihr Gedicht im Jahr 1941, also schon mitten im 2. Weltkrieg… In der 4. Strophe heißt es: „Der Geist des Herrn durchweht die Welt, gewaltig und unbändig, wohin sein Feueratem fällt, wird Gottes reich lebendig“. Es geht also um Feuersgluten, um Sturm, und ein „gewaltiges und unbändiges Geschehen“… Die Kriegspropaganda der Nazis zeigt da ihre Wirkungen bis ins Gebet hinein. Was haben solche Poetinnen wie Frau Thurmeier in einem Gesangbuch zu suchen? Auf die gräßlichen Marienlieder von Frau Thurmeier habe ich schon früher hingewiesen. LINK.

10.
Zusammenfassung:
Es gibt also nur einen Geist im Menschen, er gehört zur Schöpfung des Menschen durch Gott/das Göttliche… Immer ist es der eine menschliche Geist des Menschen, der Leben gestaltet, Frieden schafft, Gerechtigkeit erkämpft. Wer auf Gottes direkten Eingreifen politisch hofft, will selbst tatenlos bleiben.
In der Praxis wird die unendliche Kreativität gespürt, die den menschlichen Geist auszeichnet, und es entsteht eine Dankbarkeit im Menschen, dass er in seiner Freiheit das Gute tun kann. In dieser Dankbarkeit kann sich der Mensch seinem Schöpfer, dem Göttlichen, zuwenden. Mit einem außergewöhnlichen und wunderbaren Eingreifen eines Heiligen Geistes rechnet dann kein spiritueller Mensch mehr: Gott ist ja immer schon „da“, in der Realität des Geistes, des menschlichen und seiner Freiheit.

11.
Die klassische Trinitätslehre ist also auch dadurch „überholt“, wie Hermann Häring sagt, weil es keine dritte Person in der Dreifaltigkeit – sehr anschaulich etwa in Gestalt einer Taube – geben kann.

12. Was wird aus “Gott Vater” mit dem Bart? Der Bart ist nun definitiv ab.
Aber was wird dann aus dem Bild, der Metapher, „Gott-Vater“, der ersten Person dieser drei Personen? Der mit dem Bart, sagen manche. Nun ist der Bart ab: Das Göttliche, Gott, der Ewige, die Göttin, Gott Vater , Gott – Mutter … wie auch immer: Diese Ideen sind nichts anders als Geist zu nennen, sie sind ja keine Materie, kein zu umgreifendes Etwas. Gott als Gott ist Geist. Mehr kann nicht gesagt werden. Aber der Bart des uralten Gottes ist ab. Endlich, ad aeternum hoffentlich. Kunsthistoriker werden dies bei ihren Barock-Studien berücksichtigen. Dieser Gott – Vater – Bart – Glaube ist jetzt vorbei.

13. Warum diese Reflexionen?

Einige LeserInnen fragen: Gibt es nichts Dringenderes? Natürlich, unmittelbar politisch, ökologisch, sozial…. gibt es sehr viele dringendere Themen. Aber der hier vorgeschlagene Verzicht auf einen religiös unkontrollierten Pfingst-Heilig Geist-Enthusiasmus, auf einen kindlichen Wunderglauben, der Verzicht auf ein schwärmerisches Ahnen  “Der heilige Geist wirkt ganz besonders (nur) in mir”: Dies kann zur Befreiung führen, im Sinne von Freimachen des eigenen Denkens für die genannten wirklich dringenden Aufgaben.

14.

Pfingsten und den Geist feiert man dann angemessen nicht mehr durch das Singen alter unverständlicher Pfingstlieder. Sondern in Gesprächen und Verabredungen, wie wir gemeinsam dem verheerenden Treiben, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, “Klerikalismus” in allen Religionen, Rechtsextremismus, Herrenmenschentum im Umgang mit den Arm-Gemachten in der “Dritten Welt” usw.  noch Einhalt gebieten können. Der wahre “Gottesdienst” (am Sonntag) wird dann zum Menschendienst.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Austritte aus der Katholischen Pfarrei St. Matthias in Berlin – Schöneberg: Ein Beispiel für religiösen Wandel in Deutschland.

Diese begrenzte, kleine Detailstudie ist wichtig zum Thema:
„Das – zahlenmäßige – Verschwinden der katholischen Kirche in Berlin”

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Siehe auch den aktuellen Beitrag zum Thema, publiziert am 15.4.2024 LINK.

1. Das Gemeindeblatt dieser Pfarrei St. Matthias hat manchmal Statistiken veröffentlicht, auch zur Zahl der „Austritte“, wie es in den Heften im Amtsdeutsch heißt. „Austritte“ ist ein Begriff, der für Sachen gilt. Es wurden nicht Menschen befragt, warum sie denn austreten. Es wurde nicht mitgeteilt, wie es mit Altersstruktur der „Austritte“ bestellt ist.

2.  Ich wohne (mit meinem Freund und Partner) als Laien-Theologe der katholischen Theologie und theologisch – philosophischer Journalist seit 1989 im „Pfarrbezirk“. Im Jahr 2010 bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten und Mitglied einer protestantischen Kirche der Niederlande geworden.

3. In dieser seit langer Zeit von sehr konservativen Priestern geprägten Gemeinde sind seit vielen Jahren auch jüngere Priester des Neokatechumenats (aus Polen, Lateinametrika, Italien aber auch aus Deutschland) tätig. Sie haben in der Abgeschiedenheit des eigenen Priesterseminars „Redemptoris Mater“ in Berlin-Biesdorf studiert…Diese Neokatechumenalen gelten im theologischen Verständnis als Sondergruppe, manche sagen als machtvolle Sekte in der katholischen Kirche. Ohne neokatechumenale Priester gäbe es wohl kaum noch jüngere Priester im Erzbistum Berlin, und ohne indische und afrikanische Priester gäbe es sicher keine “klerikale Versorgung” der kleiner werdenden Gemeinden in Berlin wie überall in Westeuropa….LINK.

4. Ich vermute, dass viele Katholiken aus dieser Gemeinde ausgetreten sind, die der schwulen und lesbischen Community angehören. Sie haben in dem Kiez von Berlin-Schöneberg ihre Treffpunkte und wohnen auch oft in dieser Gegend. Eine besondere „pastorale Offenheit“ für Gays habe ich in der Pfarrei St. Matthias überhaupt niemals gesehen. “Sie lebt förmlich auf dem Mond”, sagte mir ein lateinamerikanischer Theologe einmal, was die völlig ignorierte „Inkulturation“ angeht. „Messe lesen“ ist die Hauptsache der drei jetzt verbliebenen Priester, sie müssen vier Schöneberger katholische Kirchen (einst „Pfarreien) mit ihren Messen versorgen. Im Eucharistiefeiern, im Messelesen, wertet sich der Klerus absolut auf … wird unersetzlich, weil ja die Messe als „das Höchste“ im Katholizismus von den Priestern propagiert wird.

5.
Die Statistik:
Die erste Statistik wurde im Gemeindeblatt im März 2013 veröffentlicht, auf S. 24:
Im Jahr 2009: 178 Austritte (bei 10.477 Gemeindemitgliedern)
Im Jahr 2010: 201 Austritte
Im Jahr 2011: 187 Austritte
Im Jahr 2012: 193 Austritte bei 9.704 Gemeindemitgliedern.
In dieser Zeit wurden insgesamt 26 „Wiederaufnahmen“ (einst „Ausgetretener“, die diese Wiederaufnahme oft aus beruflichen Gründen tun) registriert und 10 Konversionen zum Katholizismus.

Die zweite Statistik, mit einer gewissen zeitlichen Lücke, betrifft die Jahre 2017 bis 2022, veröffentlicht in “Pfarrnachrcihten” im Frühjahr 2023, S. 43.
Im Jahr 2017: 150 Austritte
Im Jahr 2018: 207 Austritte
Im Jahr 2019: 312 Austritte
Im Jahr 2020: 297 Austritte
Im Jahr 2021: 475 Austritte
Im Jahr 2022: 411 Austritte.

Ergänzt am 17.4. 2025:

Im Jahr 2024: 398 Austritte (Pfarrnachrichten 1/2025, S. 44).

Das sind, von 2017 bis 2022 zusammen: 1.852 Austritte aus der Pfarrgemeinde St. Matthias, Berlin-Schöneberg.
Die Anzahl der „Wiederaufnahmen“ in diesen Jahren: 28.
Die Anzahl der Konversionen: 17 in diesen Jahren.
Die vier Schöneberger Kirchen sind nun zu einer Gemeinde zusammengefügt worden, und diese hat 16.079 Mitglieder im Jahr 2022.
Von den Gemeindemitgliedern sind 2.090 über 70 Jahre alt.

6.
Es wäre eine wichtige Aufgabe für Religionssoziologen und Mathematiker zu berechnen, wie viele Mitglieder diese Gemeinde in 20 Jahren noch zählt, berücksichtigt man einen Mittelwert der „Austritte“ und die Altersstruktur. Dann käme man – sozusagen von einem Nicht- Mathematiker hochgerechnet – auf eine Zahl der Gemeindemitglieder von ca. 7.000 Gemeindemitgliedern im Jahr 2043. Für diese geringe Anzahl – immer noch (???) mit vier Kirchengebäuden etc. (St. Matthias, St. Konrad, St. Dominikus, St. Elisabeth) – könnte dann gut ein einziger neokatechumenaler Priester – aus Polen, Italien oder Mexiko – die Messen lesen. Das könnte bei guter Gesundheit des Priesters klappen…

7.
Aber: Diese präzisen Hochrechnungen macht niemand, jedenfalls werden sie nicht publiziert. Genauso wenig wie die Anzahl der Priester in 20 Jahren, die immer noch und wohl ad aeternum alles beherrschen als unersetzliche Messeleser, ermittelt wird.
Auch das Durchschnittsalter der jetzt noch tätigen Priester wird nicht bekannt gegeben.
Es ist die Angst vor der Wahrheit, die sich da ausdrückt. Diese Wahrheit könnten die Religionssoziologie und die Mathematik, also Wissenschaften, mitteilen. Das will die Hierarchie aber nicht wissen…. So lebt der Katholizismus weiter im Nebel, aber „selbstverständlich“ in „guter Hoffnung“, hießt es.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Blaise Pascals 400.Geburtstag. Er analysiert das seelische Elend des Menschen, um für einen radikalen Glauben zu werben.

Größe und Grenzen des viel gerühmten Blaise Pascal (1623-1662)
Ein Hinweis von Christian Modehn

Über biographische Details informiert, unter anderen Publikationen, auch wikipedia. Wir konzentrieren uns auf einige zentrale philosophische und theologische Fragen.

1.

Viele Behauptungen Pascals sind populär, sie werden in Sonntagsreden und Feuilletons zitiert, sind manchmal schon zu schlichten „Wandkalender-Weisheiten“ geworden:
– „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.”
– „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass derjenige, der ihn zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht.“
– “Das Herz hat Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.“
– “Die Niedrigkeit des Menschen geht so weit, dass er sich den Tieren unterwirft bis zur Anbetung“

2.
Es gibt fast keinen Philosophen oder Schriftsteller „von Bedeutung“, zumal in Frankreich, der sich nicht ausführlich zu Pascal, meist lobend, geäußert hat. Es ist fast so, als gehöre es zum guten Ton, Pascal mit einem Hauch der Bewunderung zu erwähnen. Auch die Liste der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Philosophen, Schriftsteller und Laien-Theologen Pascal ist umfangreich.
Pascal als Naturwissenschaftler, Mathematiker, Erfinder ist nicht Thema dieses Hinweises. Er wurde in dem Zusammenhang oft ein Genie genannt, weil er seit seinen ersten Lebensjahren hervorragende naturwissenschaftliche und mathematische Kenntnisse und bis heute gültige Einsichten hatte und technische Erfindungen vorzuweisen hat… Aber nach seiner Bekehrung zu einer Form radikalen Christentums (d.h. Katholizismus als radikale Gnadenlehre) standen diese wissenschaftlichen Themen nicht mehr im Mittelpunkt seiner Interessen.

Und das Verwirrende an der Person Pascals ist: Er denkt naturwissenschaftlich – klar, aber im philosophische Denken, das für ihn ein bestimmtes theologisches Denken ist, ist er letztlich gebunden an Mythen und Dogmen. Klares Denken der Vernunft gibt es für ihn im religiösen Bereich nicht mehr. Existiert also eine gewisse Spaltung im Denken dieser einen Person Blaise Pascal? Diese Frage kann hier nur gestellt, nicht beantwortet werden. Wir weisen hier nur auf einige philosophische und theologische  Strukturen von Pascals Leben und Denken hin.

3.
Wer sich aber als Philosoph kritisch mit Pascal befasst und entsprechend äußert, wie Voltaire, dem werden „gehässige Äußerungen“ unterstellt oder gar „Angriffe“, weil er an „wesentlichen Gedanken Pascal vorbeigeht“, so die Voltaire-Kritik von Eduard Zwierlein in seiner „Skizze zur Wirkungsgeschichte“ (Pascals) in seinem Buch „Blaise Pascal. Gedanken“, Suhrkamp Studienausgabe, 2012, S. 286.
Aber es ist heute die Frage: Worin besteht denn die aktuelle Bedeutung, worin bestehen möglicherweise Pascals hilfreiche Erkenntnisse für die Probleme der Menschen der Gegenwart?

4.
Pascals Analysen und Interpretationen zum „Wesen“ des Menschen, zu seiner „Natur“, wie er sagte, konzentrieren sich auf die Schattenseiten menschlicher Existenz. Es geht Pascal vorrangig in seinen anthropologischen Hinweisen um die „zerrissene, zwiespältige Natur” „des“ Menschen, also des Franzosen und Europäers im 17. Jahrhundert.
Pascals ausführliche Analysen zum seelischen und geistigen Elend (und manchmal fehlen auch nicht Hinweise zum Elend der politischen Verhältnisse) sind heute selbstverständlich mit der üblichen Distanz, mit Abstand und Zweifel zu würdigen. Dies gilt vor allem von Pascals Grundidee, dieses Elend des Menschen in einem zweiten Schritt dann auf die Erlösung des seelischen Elends, der menschlichen Zerrissenheit zu lenken. Pascals sieht die Verwirrung und sogar die „Zerstörung“ des Menschen im Mythos der Erbsünde: Ob man sich diesem Kirchen-Dogma in einem kritischen theologischen Denken heute anschließen kann und darf, ist die Frage. Wir beantworten die Frage mit Nein.
Dies sind jedenfalls die zentralen Themen des Philosophen und Laien-Theologen Blaise Pascal unmittelbar nach seiner Bekehrung im Jahr 1654, die er als Bruch in seinem Leben verstand und als Abschied von dem ihm vertrauten und wohl auch geschätzten „mondänen Leben“ der feinen Pariser Gesellschaft.

5.
Blaise Pascals philosophisches – theologisches Hauptwerk, „Pensées“ genannt, scheint nach wie vor viele Menschen ins Nachdenken, in Erschütterungen, ins Grübeln zu führen über die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz.
Die „Pensées“ werden ein Buch genannt, das nach Pascals Tod im Jahr 1662 zum ersten Mal 1670 veröffentlicht wurde, das aber danach, zumal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, immer wieder neu in einigen historisch-kritischen Ausgaben herausgegeben wurde.
Hinterlassen hatte Blaise Pascal seine „Gedanken“ in vielen, meist noch ungeordneten Papieren, die erst nach seinem Tod entdeckt wurden. Seit 1656 arbeitete Pascal an diesen Notizen und kürzeren Texten, sie waren von ihm gedacht als eine „Apologie des Christentums“: Eine Form des radikalen Katholizismus verteidigen, für ihn werben, zu ihm hinführen, das war sein Thema seit seiner „mystischen“ und plötzlichen Bekehrung am 23. November 1654. Er stellte dann seine naturwissenschaftlichen Forschungen zurück, um sich ganz vorrangig dem „Studium des Menschen“ zu widmen. Aber diese Reflexionen zum Wesen des Menschen dienen der Hinführung zum katholischen Glauben. Die theologische Interessen des Laien-Theologen Pascal (er hatte sich bestimmte theologische Einsichten selbst angeeignet, viele wurden ihm im Gespräch mit Theologen erschlossen) belegen auch die Publikationen wie der „Dialog mit M. de Saci“ oder „Das Mysterium Jesu“. Hoch geschätzt, auch wegen der Kraft ihrer Sprache, sind Pascals „Lettres Provinciales“, die er 1656-1657 unter dem Pseudonym Louis de Montalte veröffentlichte, diese Briefe waren ein damals heikles Unternehmen: Denn sie kritisieren heftig und scharf die Theologie der damals einflußreichen Jesuiten. Sie gelten Pascal als zu liberal und zu mondän, im moraltheologischen Sinne als Laxisten. Im Jahr 1660 wird eine lateinische Ausgabe dieser “Lettres“ öffentlich in Paris verbrannt.

6.
Pascals Grundüberzeugung, wie sie in den „Pensées“ greifbar wird: Der Mensch ist in seinem Wesen immer widersprüchlich, zerrissen, verlogen, raffiniert, er ist verführt von Ablenkungen; der Mensch vernachlässigt die Pflege seiner Seele, sieht nicht, dass das Herz, das Gemüt, wichtiger ist als die Vernunft. Er ist den unendlichen Räumen des Weltalls hilflos und verlassen ausgesetzt. „Die Lage des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Ruhelosigkeit“.

7.
Pascal argumentiert in seinen gedanklichen Entwürfen, „Pensées“ genannt, durchaus philosophisch, er kennt die Philosophie Descartes und Montaigne, auch die Stoiker, wie Epictet, aber er ist insgesamt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Eigenständigkeit philosophischen Denkens bestimmt. Er kann zwar schreiben: „Das Denken macht die Größe des Menschen aus“ (NR 89, S. 50.) Aber er hat stets die Überzeugung, dass es nur ein einziges „richtiges“ philosophisches Denken gibt, und das ist ein Denken, das sich dem biblischen Gott hingibt, also im Sinne Pascal dann in dieser Selbstaufgabe „richtig denkt“. Und dem „Herzen“ als der Mitte der Gefühle allen Vortritt lässt. Das “Denken des Herzens” beansprucht Pascal für sich: Nur dieses Denken des Herzens nimmt wahr, so meint er: Das Elend des Menschen, es findet die Lösung, die Erlösung in der Gestalt Jesu Christi, im Glauben allein.

8.
Die Philosophie, meint Pascal, kann sich nicht selbst begründen, das Denken muss dem Glauben Platz machen, nur im Glauben wird Gott erreicht. Der christliche Glaube reinigt in gewisser Weise das Denken und damit auch das Verhalten der Menschen; sind die Menschen doch durch die Erbsünde verdorben: „Die Natur (des Menschen) ist verderbt. Der Mensch handelt nicht der Vernunft gemäß, die sein Wesen ausmacht“ .
Philosophieren hat also im Sinne Pascals nur den Zweck, die Grenzen des Denkens philosophisch aufzuzeigen, um dann den Sprung in den Glauben, d.h. in seine Form des radikalen katholischen Glaubens, zu fordern bzw. zu diesem Sprung aufzurufen.
Philosophie hält der sich philosophisch bildende Pascal für ungeeignet, zu Gott zur führen. Eine Ausnahme hat er gemacht in seiner umstrittenen WETTE, dazu ein Hinweis Nr. 14.

9..
Darin wird die Radikalität des religiösen Fanatikers Pascal deutlich, der das Elend der Menschen zeigt, um dann mit einer Art „Keule“ die Erlösung zu behaupten. Man fragt sich manchmal, ob alle die vielen, die voller Bewunderung „ihren „Pascal“ hoch loben, auch diese eher explizit theologischen Kapitel seines Werkes gelesen haben.
Schon 1646 lernt Pascal die radikale Gnadenlehre des katholischen Bischofs Cornelius Jansen von Ypern, 1585 – 1638 kennen, diese Theologie wurde deswegen auch „Jansenismus“ genannt. Die Theologie des katholischen Bischof Jansenius erweckte eine bestimmte Interpretation der Gnadenlehre des Augustinus zu neuem Leben, in der manche auch Anklänge an die radikale Gnadenlehre des Reformators Calvin entdecken wollen.

10.
Dennoch verkehrt Pascal nach 1646, dem Jahr der ersten Bekehrung, zunächst weiter in den „mondänen Salons“ von Paris und gibt sich allerhand Vergnügungen hin, angeblich gelangweilt, aber er ist dennoch dabei…
Ende 1653 beginnt Pascal, sich von dieser Welt der Freigeister zu distanzieren. Nach einem schweren Unfall, aus dem er sich wunderbar errettet fühlt, (Wunder sind DAS Lieblingsthema des frommen Pascal), erlebt er kurz danach, am 23.November 1654, in der Nacht,  eine Art mystisches Erlebnis der unmittelbaren Gottesverbundenheit. Er verfasst, dicht am mystischen Ereignis selbst, eine Art Erleuchtung, die als „Memorial“ auch heute bekannt ist. Er näht sich diesen Text in seinen Mantel ein, um ihn als eine Art Begleitschutz immer bei sich zu haben und niemals zu vergessen. Dies ist die Zeit, in der sich Blaise Pascal der Spiritualität des Zisterzienserinnen Klosters “Port Royal“ immer mehr annähert: Im Kloster lebt seine Schwester Jacqueline als Nonne, das Kloster denkt und lebt gemäß der strengen Gnadenlehre von Bischof Jansen und kommt deswegen in heftigste dogmatische Konflikte mit Pariser Theologen der Universität und der politischen Führung. Denn eine Art katholischer Sonderlehre stört den absoluten Herrschaftswillen des Königs: Er will eine einzige katholische Kirche beherrschen, nicht über mehrere Traditionen, die als Konkurrenz auftreten.
Pascal unterstützt den entscheidenden Theologen des Klosters Port Royal, Antoine Arnould (1612-1694) in seiner radikalen Gnadentheologie gemäß den Weisungen Bischof Jansens. Pascal verteidigt also offen den Jansenismus.
Der Kampf um die richtige Gnadenlehre eskaliert, der Papst zwingt die Nonnen, sich von den Lehre des Jansenius zu trennen, dem Befehl entsprechen sie auch. Pascal lehnt diese Leistung des Gehorsams  ab, er bleibt also Anhänger der jansenistischen Lehre.  Aber, und das ist erstaunlich, er kümmert sich gerade dann doch wieder um weltliche Dinge, diesmal um den Aufbau eines gemeinnützigen Transportunternehmens für die Stadt Paris… Schwer krank stirbt Blaise Pascal im Alter von 39 Jahren am 17. August 1662. Er wird in der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont begraben.

11.
Es geht also Pascal in der Suche nach Erlösung um einen Sprung: von der Erkenntnis des menschlichen Elends hinein in den Glauben an Gott: Aber dieser Sprung in Gott hinein ist für ihn keine Leistung des Menschen, sondern Gnade und Gabe Gottes allein. Pascal argumentiert dabei streng biblizistisch, er hält alle Aussagen des Neuen Testaments, so wie sie damals formuliert wurden, für Gottes Wort. Allein schon deswegen gilt es Abstand zu nehmen von jeglicher „Pascal-Begeisterung“. Um so mehr, als sein Verständnis von katholischer Kirche  heute an die Traditionalisten der Pius-Brüder des Anti-Konzils-Bischofs Marcel Lefèbvre erinnert. Der Philosophiehistoriker und Pascal-Spezialist Wilhelm Schmidt-Biggemann schreibt in seinem Buch „Blaise Pascal“ (C.H.Beck Verlag, 1999) auf Seite 145: „Da der Mensch (im Sinne Pascals) aus der Sünde nur durch die Gnade herausfindet, die Kirche aber die Gnadenmittel verwaltet, war die Zugehörigkeit des Gläubigen zur Kirche notwendig.“ Auch Schmidt-Biggemann nennt Pascal ausdrücklich „einen Jansenisten“ (S. 146), also einen Gläubigen im Sinne der strengen Sonder-Theologie des Bischofs Jansenius. Zur Wirkung der Jansenisten in Frankreich bis weit ins 19. Jahrhundert, siehe Nr. 16.

12.
Der Grund für die totale Unfähigkeit des Menschen, von sich aus zum Glauben zu kommen: Für Pascal ist es die totale Last der Erbsünde. Denn das ist heute so Befremdliche und so wenig Hilfreiche am Denken des Blaise Pascal: Diese Fixiertheit auf die totale Macht der Erbsünde ist heute höchst problematisch, weil die “Erbsünde,” im Paradies angeblich geschehen, ein Mythos ist, der dann vom „Kirchenvater“ Augustinus mit aller Macht durchgesetzt wurde, obwohl es begründeten Widerstand gegen das Dogma der Erbsünde gab. Im ganzen wird heute von kritischen Theologen diese Erbsünden – Lehre als der größte Schaden anerkannt, den ein Dogma jemals anrichtete.

13.
Voltaire und Pascal
„Der Kampf Voltaires gegen Pascal war ein Kampf um ein vernünftiges Verständnis des Christentums“, schreibt der Philosoph und Philosophiehistoriker Kurt Flasch in seinem Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (Frankfurt/M. 2008, S. 346). Zum Verständnis des menschlichen Wesens trage die Erbsündenlehre aber nichts bei, sie sei ein „theologischer Roman orientalischer Herkunft“, so fasst Kurt Flasch die Position Voltaire zum Thema zusammen. Alles, was die Erbsündenlehre zu erklären behauptet, “lässt sich aus der Betrachtung der menschlichen Natur, des menschlichen Wesens, verständlich machen“ (ebd.) In seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (Frankfurt/M. 2020) setzt sich Kurt Flasch sehr ausführlich mit Pascal auseinander: „Was war das Pascalsche Christentum der Gnadenschriften? Es war ernst, düster, streng, gewissenhaft, scholastisch kostümiert…er beschrieb drohend den Inhalt seiner Art von Christentum. …. Es werden nicht alle Getauften gerettet usw…“ (S. 154f.). Flasch fasst zusammen: „Das Pascalsche Christentum ist ein tristes Christentum“ (ebd.). „Er duldete im Christentum weder Vielfalt noch Wandel“ (S. 158).

14.
Einer der merkwürdigsten Texte Pascals ist der kurze Essay, der als „Wette“ bekannt wurde. Es geht um die Frage: Wer ist mehr im Vorteil, wer an Gott glaubt oder wer nicht an Gott glaubt?
Pascal, der sonst der Kraft philosophischer Reflexion gerade in Bezug auf die Gotteserkenntnis misstraut, wagt nun einen – für fromme Leute – geradezu gotteslästerlichen Vorschlag: Pascal sagt, ganz knapp zusammengefasst: es ist für jeden Menschen, selbst für den Ungläubigen, sinnvoller und vor allem vorteilhafter, an Gott zu glauben als nicht an Gott zu glauben.
Denn wenn man sich entscheidet, an Gott zu glauben, folgt man auch den ethischen Werten, die Gottes Kirche, also die Katholische, lehrt: Dadurch wird man tugendhaft und glücklich in diesem Leben auf Erden. Und wird dann nach dem Tod von Gott mit dem ewigen Leben im Himmel belohnt. Wer also glaubt, kann nichts falsch machen. Denn selbst wenn es Gott nicht gibt, was sich in Sicht Pascals erst post mortem feststellen läßt, hat doch immer ein schönes und gutes Tugend-Leben gelebt, also auch in der Hinsicht nichts falsch gemacht.
Wer als Atheist auf seiner Position beharrt, lebt nicht gemäß den glücklich machenden Tugendweisungen der Kirche. Er wird also auf Erden unglücklich sein. Und wenn es denn Gott gibt, kann der Atheist post mortem dann nur erleben, dass der strafende Gott ihn, den bösen Atheisten, in die Hölle stürzt.
Also, liebe Leute, möchte man sagen, seid raffiniert und glaubt an Gott und folgt der Morallehre der Kirche. So einfach ist das also. Eigentlich eine blamable Argumentation: Ist die Moral der Kirche wirklich so vieles an Glück bringend? Jedenfalls Pascal behauptet in dieser Wette: Nur einzig der glaubende Mensch ist in der „Wette“ der Gewinner…Wenn aber der Gewinner sein himmlisches Glück erst post mortem erlebt, ist dies nicht gerade die „feine Art“, für diese Wette zu werben…

15.
Was bleibt? Pascal war ein theologischer Fanatiker!
Kaum hatte sich Pascal dem christlichen Glauben zum ersten Mal intensiv zugewandt (1646), klagte er gleich den Theologen Jacques Forton der Irrlehre an, wegen „rationalistischer Ideen zur Menschwerdung Gottes“. Der Erzbischof von Rouen zwingt deswegen den Theologen zum Widerruf.
Pascal war ein religiöser Fanatiker von Anbeginn, schreibt später Voltaire über Pascal, sicher eine treffende Erkenntnis, wenn man an Pascals an glühendes Eintreten dann doch für für die rigorose Erbsündenlehre des alten Augustinus denkt. Auch Pascals „Lettres Provinciales“ waren als „Kampfschrift“ gegen die „liberalen“ Jesuiten gemeint, dabei waren die Jesuiten wie Pascal von den Grundeinsichten klassischen katholischen Erlösungslehre und der hierarchischen Kirchenleitung überzeugt, die Jesuiten waren alles andere „als humanistische-freidenkerische Theologen. Es waren also Streitereien um Details, in heutiger Sicht. Privat versuchte Pascal den radikalen Weisungen Jesu von Nazareth zu folgen, große Teile seiner Habe spendet er für caritative Zwecke und verlangt für sich ein „Armenbegräbnis“.

16.
Der Jansenismus hat die katholische Kirche Frankreichs viele Jahrzehnte belastet. Er bildete als Massenbewegung tatsächlich so etwas wie eine zweite katholische Kirche in Frankreich, offiziell von den Herrschern und den maßgeblichen Theologen verfolgt. König Ludwig XIV. ließ z.B. das berühmte Kloster Port Royal im Jahr 1712 zerstören, und als die Pariser Bischöfe, wie etwa Christophe de Baumont, die jansenistischen Priester dort ausgrenzten und deren Gläubige bestraften, „wird ganz Paris erst recht jansenistisch erweckt“, wie die Historikerin Monique Cottret betont. Pariser Politiker greifen ein und bestimmen, alle Gläubigen sollten die Sakramente oft im Alltag empfangen dürfen, während der Erzbischof dagegen ist, weil die Gläubigen nur unwürdige Sünder sind … Eine totale Verwirrung für die Glaubenden ist diese Verschiedenheit der Lehren, sie führt die einfachen Leute zur Verwirrung, letztlich auch zum Abschied von der Kirchenbindung. Die in Frankreich so oft dokumentierte „Entchristlichung“ bestimmter Regionen, wie in Burgund oder Zentralfrankreich (Bourges, Nevers, Albi, aber auch Limoges, Guéret usw.), wird oft mit der verwirrenden Vielfalt katholischen Glaubens, nach offizieller Art und nach jansenistischer Art, begründet, wobei der offizielle Katholizismus bis ins 19.Jahrhundert zudem eher „gallikanisch“, d.h. also ein französischer, nicht aber römisch-päpstlich bestimmter Katholizismus war.

17.
Es ist erstaunlich, dass bis heute so viele, auch sich atheistisch nennende Philosophen, von Pascal im allgemeinen geradewegs in Schwärmen kommen, wie der atheistische Philosoph André Comte-Sponville, er schreibt in „Le Magazine littéraire.Pascal“ November 2007, S. 58. „Er ist ein immenses Genie“. Der Soziologe und Philosoph Edgar Morin schreibt (in seinem Buch „Mes Philosophes“, Paris 2013, S.53 -62 vollere Lob: „Pascal ist von einer unerhörten Aktualität“ (S. 58). Am bekanntesten sind wohl die Bekenntnisses Albert Camus zu Pascal, den Camus „den Größten von allen, gestern und heute“ nennt. Und in seinen „Carnets“ gesteht Camus ein, zu den Menschen zu gehören, die von Pascal zwar erschüttert, aber nicht bekehrt werden“. (So die Notizen von Camus am 6.11.1956, siehe den Pascal-Beitrag in „Dictionnaire Albert Camus“, Paris 2009, S. 649).
Auch Friedrich Nietzsche hat sich mit Pascal befasst und ihn sogar gelobt, weil er als Christ sich redlich um Selbstkritik bemüht habe. Aber keineswegs will Nietzsche das Denken Pascals hochschätzen, denn Pascal betreibe den „Selbstmord der Vernunft“ (so in „Jenseits von Gut und Böse“, Nr. 45, 46,…), ein Abschied von der Vernunft, „inspiriert vom christlichen Glauben.“ Pascal selbst sei, so Nietzsche, „durch den christlichen Glauben als Philosoph psychisch vernichtet worden…“
Peter Sloterdijk hat in seiner Porträtsammlung „Philosophische Temperamente“ (München 2009) auch einige knappe Hinweise zu Pascal niedergeschrieben, immer in gewohnter globaler, sprachlich manchmal leicht verschlüsselter Einschätzung der Denker. Für Sloterdijk wird Pascal zu einem Autor „für nächtliche Lektüren und ein Komplize unserer intim gebrochenen Nach-Gedanken“, was immer das bedeuten mag ( S. 54). Ähnlich nebulös ist Sloterdijks Behauptung: „Pascal ist der erste unter den philosophischen Sekretären der modernen Verzweiflung“ (S. 56). Nebenbei: Der wievielte „Sekretär“ wäre dann Peter Sloterdijk?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Offene Kirchen contra verschlossene Religion? Aber: Wozu sind die „offenen Kirchen“ offen …. wenn sie denn offen sind?

Ein Hinweis zu den Dorf-Kirchen im Land Brandenburg
Von Christian Modehn

1.
„Was machen wir, wenn die Gläubigen wegbleiben? Müssen wir Dorf – Kirchen (in Brandenburg) verschließen, in eine Art Dornröschenschlaf versetzen in der Hoffnung auf wieder christlich engagiertere Zeiten? Oder können wir sie anders oder auch gewissermassen mit queren Ideen nutzen?“

2.
Solche Fragen, die zu „queren Ideen“, also provozierenden Vorschlägen, direkt auffordern, liest man nicht gerade oft in kirchlichen Publikationen. Diese Sätze stehen aber auf Seite 3 im Vorwort der Broschüre „Offene Kirchen 2023“, das Heft hat den Titel „Gotteshäuser im Wandel“, gemeint sind „Gotteshäusern“ auf den Dörfern der Mark Brandenburg.

3.
Zum Hintergrund:
Das Thema Dorfkirchen im Land Brandenburg ist alles andere als ein marginales, „bloß kirchliches“ Sonderthema. Diese Kirchengebäude, so klein, so bescheiden sie auch sein mögen, sind oft die einzige sichtbare und ästhetisch oft auch ansehnliche Erinnerung an „Kultur“ und kulturelle Traditionen in den Dörfern. Die Kirchen sind Zeugen einer religiösen Vergangenheit, die selten glorreich oder glanzvoll war in Preußen bzw. in Brandenburg. Aber immerhin, diese Gebäude aus alter Zeit, haben die DDR-Anti-Kirchenpolitik mehr schlecht als recht überstanden, auch die kirchenfeindliche Nazi-Zeit oder die problematische enge Verbindung der Kirche mit dem Staat im Kaiserreich usw.
Aber sie sind bis heute in gewisser Weise doch noch kleine „Lichtblicke“ in den sonst an kulturellen, architektonischen Höhepunkten sehr armen Regionen Brandenburgs. Dort freut man sich schon über gepflegte Ruinen von Zisterzienser-Klöstern (etwa in Chorin oder in Zinna) oder denkt an das von sehr konservativen österreichischen Mönchen wieder „belebte“ Barock-Kloster Neuzelle…LINK   Wie sollte auch die Kirche glänzen, wenn 2022 nur 14 % der Bevölkerung Brandenburgs sich evangelisch nennen und 3,6% katholisch, alle Mitglieder sind nicht mehr die Jüngsten. 2011 waren noch 17 % evangelisch und 3,0% katholisch. Das heißt, die Kirchenbindung wird in absehbarer Zeit nicht mehr deutlich wahrnehmbar sein. Ein Phänomen, das alle neuen Bundesländer besonders betrifft.

4.
Etwa 1.500 Dorfkirchen soll es nach ungefähren Zählungen im Land Brandenburg jetzt geben, etwa 850 dieser Kirchengebäude sind uralt, ursprünglich im 13., 14. Jahrhundert errichtet. Und es gibt verschiedene Initiativen, die sich um den Erhalt und die Renovierung dieser Dorfkirchen kümmern, bekannt ist der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“. Jährlich veröffentlicht er eine Broschüre, im Jahr 2023 mit dem Titel „Gotteshäuser im Wandel“. Aus dem Vorwort wurde schon am Anfang dieses Beitrags zitiert. Die Frage ist: Was wird aus den zum Teil mit viel persönlichem Einsatz und öffentlichen Geldern restaurierten Dorfkirchen und was aus den noch zu renovierenden?
Das Thema ist aber auch sozialwissenschaftlich relevant: Denn sind die Kirchen in den Dörfern nur Denkmäler aus vergangenen Zeiten, also äußerst selten genutzte, fast immer verschlossene Gebäude? Dann sind die Dörfer ein weiteres Mal wie tot erscheinende Orte mit einigen „Überlebenden“: Verschlossen sind schon fast alle Gaststätten von einst, nicht mehr vorhanden die kleinen Lebensmittelmittel-Geschäfte, kaum noch benutzt die Bushaltestellen der selten fahrenden Busse, weit entfernt vom Dorf die medizinische Versorgung, die Sparkassen usw. Schon jetzt ist es Tatsache: Eine gewisse Melancholie, manchmal eine Depression, kann den Besucher in dieser Gegend überfallen, wenn er diese Dörfer etwa der Uckermark besucht, er besucht sie, eingeladen von der Schönheit der Natur dort, den Alleen, der Stille.

5.
Wer einige „quere Ideen“ also theologisch-kritische Ideen formuliert, muss realistisch beginnen: Wer an diese Kirchen voller Neugier und auf der Suche nach Momenten spiritueller Sammlung herantritt, findet sie in Brandenburg jedenfalls meist verschlossen. Bestenfalls mit einer handgeschrieben Information, an der Kirchentür mit Reißnagel angeheftet: Bei Frau X Y im Dorf könne man sich ja den Schlüssel besorgen. Und sonntags um 10 Uhr? Da kann der Besucher lesen, dass der nächste Gottesdienst in dieser Kirche erst in 3 Wochen wieder stattfindet. Kein irgendwo ausliegendes Gemeindeblättchen hat den Mut, ehrlich mitzuteilen, wie viele Seelen denn an diesen Gottesdiensten teilnehmen. Wer dann zufällig in den Dörfern bei Gemeindemitgliedern nachfragt, erhält meistens als Antwort: „Na ja, Heiligabend ist die Kirche voll, sonst kommen so 8-10 Leute zum Gottesdienst“. Vom Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen ist auch keine Rede… Eine sterbende Kirche als in oft recht hübsch herausgeputzten kleinen verschlossenen Kirchen? Diese Erkenntnis sollte nicht verdrängt werden.

6.
Nun also die offiziell gewünschten „queren“, also kritischen Ideen.

– Die Gottesdienste: Nach wie vor finden evangelische Gottesdienste eher selten in den Kirchen der Dörfer statt. Und es sind Gottesdienste, die der üblichen, vorgeschriebenen liturgischen Ordnung folgen. Also mit all den inhaltlich kaum noch nach vollziehbaren Gebeten und Liedern. Solche Gottesdienste zu feiern ist freilich für viele PfarrerInnen einfacher als sich kreativ etwas Neues zu überlegen.
Es sind also fast immer herumreisende Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Gottesdienste etwa einmal im Monat in den jeweiligen Dorfkirchen halten, die zu ihrem „Sprengel“ „gehören“. Muss das so sein?

Die systematische Ausbildung von Laien als Gemeindeleitern und Gottesdienstleitern aus den Dörfern selbst gab es offensichtlich nicht. Sie könnten im Team oder einzeln wöchentlich einen Gottesdienst anbieten. Das hätte der Ausbau einer Basis-Laien-Kirche sein können. Aber dafür ist es wohl nun – aufgrund der Altersstruktur auf den Dörfern – zu spät. Die Kirche hat den Aufbau einer lebendigen Laien-Kirche verschlafen oder hat nicht im entferntesten daran gedacht. Basisgemeinden waren auf Kirchentagen etwas Bejubeltes für Lateinamerika, nicht für Brandenburg oder die Dörfer in der ganzen Republik. Diese „quere Idee“ können wir uns also abschminken, für eine Laien-Basis-Kirche ist es. – mangels Personal – wohl zu spät. Ein solcher Gedanke an kirchliches Versagen kann manchen Theologen in eine gewisse Trauer führen, wenn er auch bedenkt, wie viele Milliarden Euro in all den Jahren durch den kirchlichen Betrieb geflossen sind. Wohin bloß, in die Kosten für das etablierte Personal?
Lebendige Kirchengemeinden können nur entstehen, wenn endlich konsequent in den Gottesdiensten eine neue Sprache, begründet in einer neuen Theologie, praktiziert wird. Theologische übliche Floskeln, aus Gottesdiensten zu Heiligabend oder Karfreitag bekannt, sind verbraucht und leer: „Der Erlöser ist da“, „deine Sünden sind dir vergeben“, „Christi Blut rettet dich“, „Das Lämmlein geht und trägt die Schuld“. ….und so weiter…

Es müssen in diese Dorfkirchen explizit auch Dorfbewohner eingeladen werden, die nicht Mitglieder der Kirche sind. Sie könnten anstelle der üblichen Sonntagsgottesdienste zu „Lebensfeiern“, Meditationen, musikalisch – literarische Besinnung, Austausch über dringende (auch politische) Lebensfragen anstelle der üblichen Gottesdienste (zusammen mit Kirchenmitgliedern) eingeladen werden. Natürlich nicht um 10 Uhr wie üblich, sondern etwa um 15 Uhr mit anschließendem gemeinsamen Kaffeetrinken in der Kirche oder im Garten etc.

– In Berlin leben so viele Musik-Studenten, viele junge Künstler, viele junge Autoren, viele junge kreative Menschen aus ganz Europa und der Welt: Warum können die nicht regelmäßig – etwa zur Sommerzeit – in den renovierten Kirchen (mit den oft auch funktionierenden Orgeln und Instrumenten) auftreten und „Salon-Veranstaltungen“ gestalten, mit entsprechender Werbung in Berlin und in der Mark. Warum soll das scheitern? …
In Thüringen wurden einige kleine Kirchen als „Herbergskirchen“ umgestaltet, berichtet Elke Bergt in dem Heft „Gotteshäuser im Wandel“(S.10). Warum gibt es „Wohn – Herbergs-Kkrchen“ nicht auch in Brandenburg?

Es muss möglich sein, dass diese Dorfkirchengemeinden zu „ökumenischen Gemeinden“ offiziell erklärt werden: Die Katholiken könnten ihre äußerst wenigen Priester entlasten, die gestreßt von einer Kirche zur anderen hetzen, um ihre Sonntags-Messen zu lesen. Es müsste den Katholiken, ihren Bischöfen auch, klar sein: Soll der Glaube dort überleben, dann nur durch ökumenische Praxis. Also sollten Katholiken explizit zu den Gottesdiensten oder besonderen „Lebensfeiern“ in den evangelischen Dorfkirchen eingeladen werden, als gleichberechtigte ökumenische Gemeindemitglieder. Die Protestanten hätten dabei wohl die geringeren Probleme als die Katholiken bzw. deren auf die Reinheit der uralten Lehre bedachten Bischöfe. Aber warum könnte nicht wenigstens endlich einmal in einer Region als „Experiment“ Ökumene im vollen Umfang praktiziert werden? Ich vermute, die Protestanten hätten auch nichts dagegen, wenn gelegentlich die Katholiken in den Kirchen den dringenden Wunsch haben, eine Marien-Andacht in der einst evangelischen, nun aber ökumenischen Kirche zu feiern.Selbstverständlich müsste diese Kirche und müssten die Gemeinden als ökumenische Gemeinden offiziell gelten. Mit der Zahlung und Verteilung der Kirchensteuer käme man schon klar…Hier fehlt der Platz um dieses Modellprojekt „Ökumene in Brandenburg“ ausführlich darzustellen…

Selbstverständlich müssten diese Dorf-Kirchen auch offen sein für andere Religionen, etwa für Buddhisten oder Yoga-Übende oder für Freunde der Sufi-Mystik oder jüdischen Theologen, die die Bibel auslegen? Warum könnten einige Kirchen in den Dörfern, wo Literaten und Schriftsteller schon wohnen, nicht auch Literaturkirchen werden? Oder zentrale Treffpunkte für Menschen, die sich intensiv für die ökologische Wende einsetzen.
Vielleicht sollte die Kirche im nahegelegenen Berlin nach Kirchen-Paten suchen, die sich im Team um eine Kirche und die Gestaltung der Veranstaltung dieser ihrer einen Kirche kümmern, weil sie selbst in dem einen oder anderen Dorf oft zu Gast sind oder dort ihre „Zweitwohnung“ haben.

– Aber warum und zu welchem Zweck sollten denn die Dorfkirchen überhaupt tagsüber offen sein? So viele herausragende Kunstwerke gibt es ja dort nicht zu bestaunen, so viele wertvolle Kirchenfenster oder Taufengel auch nicht. Der einzige dringende Grund: Diese Kirchen sind Orte der Meditation, der Stille, der Einkehr, des Gebets. Deswegen sollten sie offen sein. Und ein Pfarrer könnte sich ja zweimal pro Woche in die Kirche setzen für eine Stunde setzen und mit den Besuchern Lebensfragen besprechen oder Hinweise zu Meditation und Gebet geben. In Frankreich sind die (katholischen) Kirchengebäude bekanntlich die Orte, wo Pfarrer anzutreffen sind, das ist ihr „Arbeitsplatz“ auch außerhalb der üblichen Sonntagsgottesdienste…

– Über die Frage: Müssen wirklich diese fixierten unbequemen Holzbänke in den Dorfkirchen stehen?  wäre nachzudenken. Oder können nicht auch bequeme, fürs Meditatieren und Beten geeignetere Sessel und Stühle oder Kissen diese ewigen “Kirchenbänke” ersetzen? Ich würd micht gern länger in einer Dorfkirche ausruhen, meditieren etc., wenn nicht diese Bänke herumstehen wü+rden. Oder ist das etwa alles vom “Denkmalschutz” geregelt?

– Aber noch eine Idee, eine „quere“ aber als eine“ queere“ Idee. Queer also: Warum können manche Dorfkirchen nicht gastfreundlich sein auch für queere Menschen, also etwa Sonntag mittags den Pfarrgarten und die Kirche öffnen für den queere Menschen und deren FreundInnen. Etwa auch für Gruppen aus Berlin, die gern einmal auf dem Land, in einem Dorf, Momente der Besinnung, der Erholung usw. suchen. Es wird doch nicht schon so weit gekommen sein, dass diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen wird, weil es auf den Dörfern schon so viele AFD Leute oder explizitere Nazis gibt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der “Förderkreis Alte Kirchen Berlin Brandenburg e.V.”,: www.altekirchen.de ;  altekirchen@gmx.de

Ein Orts-und Personenregister der “Offenen Kirchen” (Broschören) von 2000-2023: www. altekirchen.de/offene-kirchen/register

Siehe auch einen Beitrag von Chrostian Modehn über  “Theodor Fontane und seine Dorfkirchen”:  LINK

“Stille in leeren Kirchen” eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, NDR “Glaubenssachen”:   LINK

Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, “Leere Kirchen, lebendige Spiritualität”. LINK

Ein Buchhinweis, zu einem Foto-Buch, ein Dokument verfallener, verlassener Kirchen vor allem in Frankreich, eine Besprechung und Buchempfehlung von Christian Modehn  LINK

 

 

 

 

Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

„Himmelfahrt“ und Pfingsten vernünftig verstehen!

Christliche Feste vernünftig erklären. Für uns heißt das: „Undogmatisch“, also freisinnig verstehen.
Ein Hinweis von Christian Modehn

……. Wer sich sogleich für unsere Interpretation zu „Pfingsten“ interessiert: Siehe Nr. 8 f., besonders Nr. 17 und 18.

1.
Schwer tun sich die meisten – verständlicherweise – mit den Titeln (und der Bedeutung) christlicher und speziell katholischer Festtage: Von „Fronleichnam“ soll aber jetzt keine Rede sein. Auch nicht von „Allerheiligen“ oder „Allerseelen“. Von einer „Himmelfahrt“ soll gesprochen werden, aber nicht der Marias, der Mutter Jesu von Nazareth. Sie erlebte gemäß der Mythen und des Dogmas nicht eine „Himmel-Fahrt“, sondern eine „Aufnahme in den Himmel“ (Festtag 15.8.) Dabei sei Gott selbst tätig gewesen, sagte Papst Pius XII. Im Jahr 1950. Gott „nahm“ Maria in den Himmel auf… Jesus aber „stieg“/„fuhr“ – im uralten Bild – selbst in den Himmel.

2.
Hier geht es also um „Christi Himmelfahrt“. Ein religiöser Denk-Feier-Tag, der mangels tieferen Verständnisses säkular „Vatertag“ genannt wird. Populäre Ideen der Blumenhändler und Kneipiers: Die Mütter haben ihren Blumen-Feiertag, und die Väter bzw. Männer sollen doch bitte auch „endlich mal“ (?) ihren Feiertag haben. Jesus hat ja bekanntlich auch gern Wein getrunken, darin sehen „die“ Männer nun die Berechtigung, gerade an diesem berühmten Donnerstag, immer 10 Tage vor Pfingsten, einmal (un)ordentlich zu trinken. Für viele bleibt dies (leider) die einzige Verbindung zum Denken an die „Himmelfahrt Jesu Christi“.

3.
Der „Himmelfahrtstag“ meint also immer „Christi Himmelfahrt“, oder noch genauer: Die „Himmelfahrt“ Jesu von Nazareth, der von Christen als „der“ Christus, d.h. der Erlöser, verehrt wird.

4.
In den Himmel ist also Jesus „gefahren“: Was für ein merkwürdiges, ungeschicktes Bild, an dem die Kirchen dummerweise bis heute festhalten. Was ist damit in einer vernünftigen Theologie gemeint? Und nur um eine vernünftige Theologie kann es heute nur noch gehen, sie ist klar erklärend, Mysteriöses abweisend, Verstehen weckend. Und kann aber bei religiösen Themen, modern interpretiert, auch nicht auf neue Bilder, Symbole, Metaphern verzichten. Anders geht es nicht: Man hat philosophisch und theologisch nur die Wahl zwischen heute etwas verständlichen und heute sehr unverständlichen alten Bildern, Symbolen, Metaphern.

5.
Jesus von Nazareth ist, nach seinem Tod am Kreuz, als „Auferstandener“ nicht mehr sichtbar unter seinen Freunden gewesen, auch wenn die Evangelisten davon in Bildern, Mythen, voller Schwärmerei und maßlosen Übertreibungen sprechen und schreiben. Sie konnten 60 bis 80 Jahre nach Christi Geburt einfach nicht anders. „Weltbild gebunden“, sagen Theologen.

6.
Die Auferstehung Jesu bedeutet: Der Gekreuzigte liegt wie alle anderen Menschen als toter Körper im Grab. Aber eine Einsicht kommt seinen Freunden: Jesu Seele hat den Tod überlebt, den Tod überwunden: Man kann etwa sagen: Jesus lebt in der niemals zu zerstörenden Präsenz des Ewigen, dies ist eine transzendente Wirklichkeit. Das meint das uralte naive Bild: Jesus ist in den Himmel „gefahren“.
„Jesus ist nicht mehr hier“, sagt der Engel den Frauen am Grab Jesu (Markus, 16,6), d.h.: Er ist auf der Erde, irdisch, nicht mehr greifbar.
Der Glaube an eine geistige Nähe lieber Verstorbener ist ja eine weit verbreite Überzeugung, der sich niemand schämen muss.

7.
Wer also von der „Himmelfahrt Jesu von Nazareth“ spricht, muss zugleich von der Auferstehung Jesu von Nazareth reden. Und stellt dann fest: Beide Begriffe beschreiben die gleiche Erfahrung der Hinterbliebenen, also der Jesus-Freunde, der Gemeinde, die sich nach Jesu Tod versammelte. Beide Feste meinen das gleiche: Die Auferstehung Jesu IST seine „Himmelfahrt“. Nur diie bekannte Freude der Christen am Feiern erklärt die Verdoppelung des einen Gedenkens, des einen Feiertages. Und natürlich: das eigene „Kirchenjahr“ (es beginnt am 1. Adventssonntag) braucht auch verschiedene „Ereignisse“ und Feste…

8.
Und Pfingsten? Der tote Jesus ruht zwar im Grab, aber er ist als geistige, d.h. nicht zu greifende „Wirklichkeit“ mit der Gemeinde verbunden, im Geist, in der Erinnerung lebendig als der nun „Ewige“.
Diese Einsicht erlebt die Gemeinde als unverhoffte Erkenntnis, als außergewöhnliches Geschenk ihrer allen Menschen zugänglichen Vernunft. Die Freunde Jesu werden später diese besondere Einsicht ihrer Vernunft eine Gnade nennen.
Tatsächlich es ist ihr menschlicher Geist, der Jesus als auf andere Art als „lebendig“ erkennt, als Teil des Ewigen.

9.

Dieses „Ereignis“ der tieferen Einsicht meint „Pfingsten“: Jesus wird von der Gemeinde als „geistig lebendig“ erkannt und gefeiert. Diese Erkenntnis wertet die Gemeinde als überraschendes Geschenk, und: als Chance einer neuen, alle nationalen Identitäten sprengenden Gemeinschaft.

10.
Ostern – Jesu Himmelfahrt – Pfingsten, das ist die Folge der Feste im Kirchenjahr. Aber Pfingsten ist als das zeitlich letzte der drei Feste nun – logisch gesehen – das erste, d.h. das alles gründende „Ereignis“: Weil die Gemeinde der Freunde Jesu überhaupt um die Bedeutung Jesu von Nazareth ringt, kommt sie zur Einsicht: Jesus ist zwar körperlich tot – aber seine Seele, sein Geist, lebt. Und im Geist sind Gemeinde und Jesus also verbunden, diese Verbindung ist so außergewöhnlich, dass sie dann heiliger Geist genannt wird.

11.
Aber es bleibt ein Problem:
Wenn ich mit meinem menschlichen Geist, mit der Vernunft, über den „heiligen Geist“ nachdenke, ist es dann mein menschlicher Geist, der den heiligen Geist verstehen kann? Oder wirkt dann in mir, der Bibel und den offiziellen Dogmen folgend, irgendwie der besondere, der heilige Geist? Führt also nur der heilige Geist in die Höhen der Gotteserfahrung?
Noch einmal anders gefragt: Wenn ich mich mit religiösen Themen beschäftige, wirkt dann der „heilige Geist“ in mir? Aber wenn ich mich mit „weltlichen“ Problemen befasse, etwa mit der Gestaltung der Demokratie, der Solidarität oder meiner Gesundheit… , ist dann „nur“ mein menschlicher Geist tätig? Soll es also gleichsam zwei „Geister“ im Menschen geben, den üblichen menschlichen Geist, und parallel dazu, den gelegentlich wirkenden heiligen Geist?
Erlebe ich wirklich zwei Geister in mir? Der eine soll menschlich sein, der andere göttlich, heilig? Bedeutet dieser doppelte Geist nicht eine gewisse Form von Verwirrung, vielleicht von Spaltung, von Schizophrenie?

12.
Ich bin überzeugt, dass die Christen wie überhaupt alle Menschen nur einen einzigen Geist haben. Und dieser eine Geist, das Auszeichnende des Menschen, wird gelegentlich auch heilig genannt, erhaben, grundsätzlich unangreifbar. Dies ist die Leistung der Freunde Jesu, der ersten Gemeinde, in ihrer „Pfingsterfahrung“.

13.
Für die alltägliche Lebenspraxis bedeutet das: Etwas abstrakt formuliert: In der Kraft unseres Geistes, also auch der Vernunft und der Urteilskraft, können wir uns entscheiden für Gutes oder Böses in unserem Leben. Entscheiden wir uns für Gutes, etwa für den Respekt, das Mitgefühl, für die Förderung von Kunst und Literatur, für die Suche nach dem Göttlichen, dann erkennen wir: Der Geist kann in dieser speziellen Aktivität tatsächlich „heilig“, erhaben, ewig genannt werden, weil er hilft, den alltäglichen Egoismus und die Verkapselung ins Weltliche zu überwinden.
Das Böse als Tat ist genauso Ausdruck freier Entscheidungen, Ausdruck des Geistes, des Denkens. Haben wir uns für Böses entschieden, haben wir uns mit unserem Geist freiwillig (oder im psychischen Krankheitsfalle wie betäubt) gegen unser Gewissen entschieden. Aber immer ist es der eine Geist, der Geist der Freiheit, der uns zur freien Entscheidung führt.

14.
Eine weitere philosophische Überlegung:
Wenn man die menschliche Wirklichkeit mit dem Göttlichen in Verbindung bringen will, dann nur über die Erkenntnis: Das Göttliche hat die Evolution der Welt „geschaffen,“ darin entwickelt sich der Mensch als Geist und das heißt als Freiheit. Hätte der Mensch die Freiheit (die auch Freiheit zum Bösen ist) nicht, dann wäre er kein Mensch mehr, sondern ein Tier, das seinen Trieben folgt. Aber das Göttliche als „Schöpfer“ der Welt und des Menschen, hat mit seinem Geist das Geschaffene, den Menschen zumal, ausgestattet. Sonst wären die Welt und der Mensch außerhalb des Göttlichen, Gott hätte als Gott also eine Konkurrenz, er wäre nicht mehr Gott.
Der eine Geist, die eine Vernunft des Menschen ist wegen der engen Verbundenheit („Schöpfung“) mit dem Ewigen, dem Göttlichen also heilig!

15.
Durch diese Erkenntnis werden bestimmte uralte, aber immer umstrittene Dogmen in Frage gestellt. Darum ist diese hier skizzierte freisinnige theologische Erkenntnis für die dogmatisch verfassten Kirchensysteme erschütternd. Das Dogma der Erbsünde, das der Kirche von Augustinus (gestorben 430) gegen vernünftigen theologischen Widerstand aufgezwungen wurde, kann endlich beiseite gelegt werden. Fällt aber das Dogma der Erbsünde, fällt auch eine bestimmte kirchlich-dogmatische Vorstellung von „Erlösung“. Unvorstellbar wird dann das mittelalterliche Dogma, dass Jesu von Gott als dem Vater in den Tod geschickt, hingeschlachtet wird, um die Erbsünde bei den Menschen auszulöschen. Und das soll „Erlösung“ sein, diese Idee lebt leider bis heute in vielen kirchlichen Weihnachtsliedern oder Karfreitagsliedern weiter, gesungen von Leuten, die oft gar nicht verstehen, was sie da alles so singen…

16.
Jesus von Nazareth wird im neuen vernünftigen Denken zu einer Orientierung, zu einem Offenbarer, seine zentrale Lehre: Alle Menschen sind „Gottes Kinder“ – haben also den einen Geist in sich, er ist vom Ursprung her der heilige, göttliche und ewige Geist. Und die Menschen brauchen deswegen den Tod als das definitive Ende nicht zu fürchten.

17.
Und vor allem: Wenn alle Menschen „Gottes Kinder“ sind, wie das Bild richtig ausdrückt, dann ist jeder Mensch von absolutem Wert, dann sind alle Menschen untereinander Bruder und Schwestern. Daraus ergeben sich weitreichende politische Konsequenzen: Nämlich die Gültigkeit der Menschenrechte für alle, auch für die vom Kapitalismus arm Gemachten, die Hungernden, die Gefolterten, die Leute in den Lagern der Diktaturen usw.

18.
Pfingsten ist also auch ein politisches Fest, das Fest der absoluten Gleichberechtigung aller Menschen. Ein Fest mit einer Forderung also, ein Fest der Menschenrechte. Pfingsten hat also wenig zu tun mit dem Trallala des Alleluja – Enthusiasten, die sich “Charismatiker” nennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin