Ludwig Wittgenstein – in einem neuen Handbuch umfassend dargestellt.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.9.2022

Das aktuelle Motto, ein Zitat Wittgensteins: “Soweit Sie und ich das wissen können, wird die Religion der Zukunft ohne Priester und Geistliche auskommen. Eines der Dinge, die Sie und ich lernen müssen, ist, dass wir ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer Kirche leben müssen.“ (Siehe Nr. 4 in diesem Hinweis)

1.
Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) ist einer der denkwürdigsten und einflußreichsten Philosophen. Dabei fällt er sozusagen aus dem Rahmen der üblichen „Philosophie-Professoren an Universitäten“. Nicht nur, weil er nur ein Buch zu „Lebzeiten“ veröffentlichte. Vor allem: Für ihn war persönliches Leben und philosophisches Denken in einer spannungsreichen Verbindung. Wittgenstein schwankte existentiell zwischen einer üblichen Laufbahn an einer Universität und einem schlichten Alltagsleben, auch als Grundschullehrer.
Wittgenstein hinterließ einen großen Umfang an Studien und Notizen, die seine ständige philosophische Selbstkorrektur und Entwicklung dokumentieren. Er war äußerst vielseitig begabt, manche nennen ihn ein Genie, kompetent in der Mathematik und Logik, aber auch im Maschinenbau und als Architekt, er schätzte Literatur, Musik und Kunst und auch zur Religion hatte er einen eigenen, besonderen Zugang entwickelt.
2.
Philosophisch gebildete Kreise können nun ein anspruchsvolles „Wittgenstein -Handbuch“ für ihr Studium, auch als Einstieg, nutzen, ein Handbuch, das umfassend den ganzen Wittgenstein und sein vielfältiges Werk darstellen und erklären will. Das Buch hat 482 Seiten, umfasst 94 Kapitel, neben einer ausführlichen Biographie vor allem Hinweis zu seinem umfassenden Werk, auch zum Briefwechsel. Herausgegeben ist dieses Buch von den Wittgenstein-Spezialisten Stefan Majetschak (Kunsthochschule Kassel) und Anja Weinberg (Uni Wien). Das Buch wird in der Fülle der äußerst vielen speziellen Wittgenstein Studien, auch angesichts der verschiedenen Wittgensteingesellschaften in Norwegen, England, Österreich usw., sicher die Bedeutung einer wichtigen Erstinformation wie auch eines grundlegenden Nachschlagewerk haben.

3.
Ein solches umfassendes Wittgenstein-Lexikon kann selbstverständlich nicht in wenigen Worten „besprochen“ werden.
Den Schwerpunkten unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin entsprechend, interessierte uns besonders das Kapitel „Religion“, ein Thema, das für Wittgenstein auch lebensmäßig alles andere als marginal ist. Der Philosoph Ludwig Nagl hat den entsprechenden Beitrag im Handbuch verfasst. „Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders: Ich sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt“, so Wittgenstein in einem Gespräch mit Maurice Drury. Ob Wittgenstein „wirklich“ kein religiöser Mensch war, wird heftig diskutiert, zu deutlich ist in seinen Notizen persönliche Betroffenheit von religiösen Aussagen, zumal des Neuen Testaments (Ludwig Wittgenstein wurde katholisch getauft). Wichtig ist seine Erkenntnis, dass die Sinnfrage nicht wissenschaftlich beantwortet werden kann, sondern ins Religiöse, in den Glauben, weist. „Wie soll ich leben“, bleibt die zentrale Frage Wittgensteins. Schon in jungen Jahren las er Tolstoi, Dostojewski, vor allem Augustinus schätzte er sehr und Kierkegaard. Gerade die Auseinandersetzung mit Augustin und Kierkegaard führte Wittgenstein zu theologischen Aussagen, die stark an die dialektische Theologie etwa eines Karl Barth erinnern, darauf weist Ludwig Nagl leider nicht hin. Von einer „vernünftigen Theologie“, im Katholizismus mit der Pflege der Gottesbeweise üblich, hielt Wittgenstein gar nichts! Wegen des Dogmas des 1. Vatikanischen Konzils, dass die Existenz Gottes „durch die natürliche Vernunft bewiesen werden kann“, war es ihm „unmöglich, Katholik zu sein“ (S. 365 im Handbuch).

4.
Je mehr sich Wittgenstein von den Erkenntnissen seines frühen Werkes, des „Traktates“, löste, um so deutlicher wurde sein Interesse für Religion und die Frage „Was ist Glauben“. Für ihn war in der persönlichen Bindung an Christus nicht der Glaube, sondern die Liebe entscheidend. Aber für die religiöse Haltung gilt wohl insgesamt: Sie „ist nicht verständlich, es ist aber auch nicht unverständlich“ (S. 365 im Handbuch), ein typischer Wittgenstein Satz, möchte man meinen, der sich um „extreme“ Differenzierung bemüht.
Dass die christliche Religion zur Institution, also zur Kirche wurde, findet Wittgenstein sehr problematisch: „Zu seinem Freund Drury sagte er: „Soweit Sie und ich das wissen können, wird die Religion der Zukunft ohne Priester und Geistliche auskommen. Eines der Dinge, die Sie und ich lernen müssen, ist, dass wir ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer Kirche leben müssen“ (S. 365 im Handbuch).

5.
Auch das Stichwort Glauben und Wissen in der Rubrik „Begriffe und Themen“im Handbuch ist für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon von großem Interesse. Deutlich zeigt Nuno Venturinha ,dass Wittgenstein an dem Thema schon sehr früh arbeitet, später aber den „überkommenen (also vom Menschen nicht abzuschaffenden, C.M.) Hintergrund” des menschlichen Geistes verteidigt: Übersetzt heißt dies: Es gibt geistige Strukturen, die niemals durch Lernen und Unterricht erworben werden, sondern die vorgefunden und da sind, wie etwa die Form des Glaubens. Glauben ist für Wittgenstein in seinen Hinweisen „Über Gewissheit“ grundlos im Menschen „vorhanden“. Wir Menschen haben also etwas Vorgegebenes, „das weder wahr noch falsch sei“, wie Wittgenstein in „Über Gewissheit“ schreibt (S. 205). Da hätte mich interessiert, ob eine Verbindung zu Kant gegeben ist, etwa hinsichtlich dessen Erkenntnis des „Faktums der Vernunft“.

6.
In dem Zusammenhang ist es erstaunlich, was der katholische Religionsphilosoph, der Jesuit Prof. Friedo Ricken, München, etwa zu den „Vermischten Bemerkungen“ Wittgensteins zur Religion betont: „Sie gehören für mich zum Tiefsten, was ich in der neueren philosophischen Literatur zu diesem Thema gefunden habe, aus ihnen sprechen ein tiefer Ernst und eine überzeugende Ehrlichkeit”.(Friedo Ricken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Stuttgarrt, 2003, S. 29).

7.
Man wird in dem „Handbuch“ die Erörterung der Stichworte Politik, Gesellschaft oder Staat vergeblich suchen, darf man daraus schließen, dass diese Themen Wittgenstein philosophisch nicht interessierten?

8.
Soweit ich sehe, wird in dem „Handbuch“ nicht explizit von einer homosexuellen Neigung Wittgensteins gesprochen, die vielfältigen Freundschaften mit jungen Männern werden ausgeführlich angesprochen. Entsprechende Behauptungen zur Homosexualität Wittgensteins vonseiten des Biographen William Barley (von 1973) gelten wohl jetzt als übertrieben. Hingegen hat der Wittgenstein Forscher Ray Monk später noch einmal diskret davon gesprochen, im Personenregister des Handbuches wird Monk nicht erwähnt. Und es ist sicher gar kein Zufall, dass eine große Wittgenstein Ausstellung unter dem Titel „Verortungen eines Genies“ (Ausstellung 18. März bis 13. Juni 2011) ausgerechnet im „Schwulen Museum“ , damals noch in Berlin-Kreuzberg, stattfand. Der Junius-Verlag hatte ein reich mit Fotos ausgestattetes, hervorragendes Begleitbuch publiziert. Justus Noll hat in dem Buch einen Artikel über „Schüler, Freunde und Liebhaber“ verfasst.

9.
Wittgenstein bleibt ein zweifellos einseitiger, aber außergewöhnlich inspirierender Philosoph, auch, weil er sein Denken mit seinem eigenen Leben und Leiden aufs engste verbunden hat. Peter Sloterdijk hat schon recht, wenn er in seiner kleinen Skizze über Wittgenstein (in „Philosophische Temperamente“, München 2009) schreibt: „Es tritt das Profil eines Denkers an den Tag, der unzweifelhaft zu den Sponsoren der künftigen Intelligenz gehören wird. Noch in ihren logischen Härten und menschlichen Einseitigkeiten hält Wittgensteins Intensität Geschenke von unabsehbarer Tragweite an die Nachwelt bereit“ (S. 128 f.)

10. Zugänge zu Wittgensteins Werk:
„Im deutschsprachigen Raum veranstaltet die Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft (http://www.alws.at) seit 1976 internationale Wittgenstein-Symposien in Kirchberg am Wechsel in Niederösterreich, einem Ort nahe Trattenbach, in dem W. einen Teil seiner Zeit als Volksschullehrer verlebte. Die Vorträge dieser Symposien werden in zwei Buchreihen, den Contributions of the Austrian Wittgenstein Society sowie den Publications of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society – New Series veröffentlicht (letztere Reihe enthält auch weitere Publikationen; https://www.degruyter.com/serial/PALWS-B/html).
In Fortsetzung der in den 1990er Jahren von der Deutschen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft begründeten digitalen, seinerzeit im Diskettenformat verbreiteten Zeitschrift Wittgenstein Studies gibt deren Nachfolgeorganisation, die Internationale Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e. V. (ILWG) (http://www.ilwg.eu) seit 2010 die Reihe Wittgenstein-Studien. Internationales Jahrbuch für Wittgenstein-Forschung sowie die Buchreihen Über Wittgenstein (deutsch) und On Wittgenstein (englisch) heraus“. (Zitat aus dem „Handbuch“)

11.
Im März 2016 hat Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Hinweis zum Thema „Wittgenstein – ein religiöser Philosoph“ publiziert.

LINK

2011 hat Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Hinweis publiziert zum Thema: „Das Mystische und das Unaussprechliche“ (Zu Wittgenstein).

LINK

Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.)
Wittgenstein-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
J. B. Metzler Verlag, 2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Es ist ein Wahn, dass der Papst und die Kirchenführung noch am Zölibat festhalten“.

Ein Hinweis auf einen wichtigen Film von ARTE

Von Christian Modehn

1. Man denke bloß nicht, das Thema Pflichtzölibat für den katholischen Klerus sei heute ein Randthema. Das Thema Zölibat gehört ins Zentrum, wenn man die katholische Kirche verstehen will. Etwa 400.000 katholische Priester gibt es heute weltweit. Solange es die römisch-katholische Kirche in West-Europa noch gibt, wird man sich als philosophisch Interessierter mit dieser Institution befassen müssen, schon um der Pflicht zur Religionskritik zu entsprechen.

2. Eine ausführliche Dokumentation von ARTE beweist: Es sind die wenigsten Priester, die dem Zölibatsgesetz Folge leisten. Bischöfe und Päpste wissen das, aber sie unternehmen nichts, um den Gegensatz zwischen offiziellem Kirchengesetz und lebensmäßiger Realität unter den Priestern aufzuheben: Das heißt, das Zölibatsgesetz aufzuheben. In dem ARTE Film nennen diesen Zustand gebildete, d.h. kritische Theologen die „katholische Schizophrenie“.

3. Papst Franziskus wird in die Geschichte eingehen, als ein Papst, der – nach der so genannten „Amazonas-Synode“ in Rom (im Oktober 2019) – das Zölibatsgesetz hätte aufheben können. Aber er tat es nicht. Weil er Angst hat vor der Macht der reaktionären Vatikan-Kardinäle. Oder weil er viel zu sehr selbst noch traditioneller Kleriker ist?

4. Das Thema Pflichtzölibat für Priester führt tatsächlich in die Abgründe der Verlogenheit, in die Abgründe der offiziell-klerikalen Ignoranz zu (weiblicher) Erotik und Sexualität und der maßlosen Sturheit alter Herrscher im Vatikan und in den Bistumsleitungen: Das ist der Tenor aller Interviewpartner aus zahlreichen Ländern, den der ARTE FILM „Zölibat – der katholische Leidensweg“ vorstellt. Sehr oft haben einige vernünftige katholische Bischöfe gefordert, das Zölibatsgesetz abzuschaffen? Aber sie jammerten nur, und taten nichts. Was würde denn passieren, wenn Bischof X in seinem Bistum verheiratete Männer und Frauen einfach so zu PriesterInnen weiht? Das kann er doch tun. Würde Rom einen aufmüpfigen Bischof gleich wieder exkommunizieren? Wäre eine mögliche Spaltung der Kirche so schlimm, die doch de facto längst gespalten ist?

5. Die Leidenswege von Priestern werden in der ARTE Dokumentation in vielen ausgezeichneten O-Tönen dargestellt, von Priestern, die die Liebe zu einer Frau oder einem Mann entdecken und auch leben, und die dann entweder permanent ein Doppelleben führen, was von den Kirchenoberen geduldet wird. Denn die Bischöfe brauchen jeden verfügbaren Priester, um das System zu erhalten. Wenn die Priester aber den Klerusstand verlassen, wenn sie ihre Liebe also endlich offen leben…kommen sie oft materiell oft ins Schleudern. Denn welchen „weltlichen“ Beruf können denn Männer ausüben, die nur katholische Theologie (recht und schlecht) studiert haben? Auch der Leidensweg der Kinder des katholischen Klerus wird in der ARTE Dokumentation dargestellt.

6. Das Festhalten am Pflichtzölibat führt dazu, dass immer weniger Männer sich ein solches verlogenes Leben im Verzicht auf sexuelle Liebe antun wollen. Diese Entwicklung ist an sich positiv zu bewerten. Der Nachteil ist: Katholische Gemeinden ohne Priester sind bis jetzt kaum vorstellbar. Denn allein die zölibatären Priester haben das Privileg, die Eucharistie zu feiern. Indem die Dogmatik des Vatikans lehrt, die Eucharistie sei das Wichtigste im katholischen Leben, macht sich der Klerus selbst zum Wichtigsten und Unersetzbaren! So zerfällt aufgrund des Priestermangels nicht nur das spirituelle Leben einer Gemeinde, es zerfällt oft auch das soziale Miteinander der Gemeindemitglieder, wenn Gemeinden aufgegeben werden.

7. So kann man durchaus treffend von einem moralischen Niedergang der offiziellen katholischen Kirchenführung auf verschiedenen „Ebenen“ sprechen, verursacht durch das theologisch längst als Unsinn erwiesene Zölibatsgesetz. In einem Interview für ARTE bezeichnet ein Jesuit aus Belgien das päpstliche Festhalten am Zölibat, diese permanente klerikale Verlogenheit, als Todsünde. Der Jesuit wusste schon, was er sagen durfte…
Allen, die den moralischen Niedergang der katholischen Kirche verstehen wollen, sei diese umfassende, objektive Dokumentation von Eric Colome und Rémi Benichou empfohlen: Der Film (100 Minuten) wurde auf ARTE am 13.9.2022 zum ersten Mal gesendet, er liegt noch bis 11.11. 2022 in der ARTE-Mediathek vor.vor: https://www.arte.tv/de/videos/097605-000-A/zoelibat-der-katholische-leidensweg/. LINK

8. Leider zeigt der Film nicht die wahren historischen Wurzeln des Zölibatsgesetzes. Ausschlaggebend dabei ist nicht nur die Verachtung von Frauen und von weiblicher Sexualität durch den Klerus. Genauso wichtig: Dieses Zölibatsgesetz wurde einst aus ökonomischen Gründen von Päpsten eingeführt, aus Geldgier könnte man sagen.
Das Zölibatsgesetz wurde in der westlichen, der römischen Kirche in den Bestimmungen des 2. Laterankonzils von 1139 offiziell verfügt, faktisch aber selten respektiert. Den Päpsten kam es nur darauf an, Priesterkinder nicht als Erben der Priester gelten zu lassen. „Die Kirchengüter sollten über das Zölibatsgesetz bewahrt und vermehrt werden. Das Hab und Gut alleinstehender Kleriker fiel nach deren Tod der Kirche zu.“ Quelle<: https://www.planet-wissen.de/kultur/religion/das_christentum/pwiederzoelibat100.html

Der Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf schreibt in seinem empfehlenswerten Buch „Zölibat“ (München 2019) in dem Kapitel „Ökonomische Wurzeln“: „Die entscheidende Frage lautet: Wie kann man legitime Priesterkinder und damit die Existenz erbberechtigter Nachkommen am wirkungsvollsten verhindern? Indem man der Zeugung solcher Kinder die Voraussetzung entzieht … und Ehe und Priesteramt für unvereinbar erklärt“ (S. 58). Also das heißt: Indem man das Zölibatsgesetz erfindet … und behauptet, Gott und Jesus Christus wollen das. Dadurch konnte sich die päpstliche Macht gegenüber der weltlichen Macht materiell stark entwickeln. Von dem vielen Geld und Eigentum profitierten nur Päpste, Bischöfe, Äbte und Prälaten, nicht aber die „einfachen“ Pfarrer auf dem Lande.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Die Russisch-orthodoxe Kirche ist seit Jahren schon eine Putin-Kirche. Sie sollte also nicht länger Mitglied sein in „Ökumenischen Räten“ Europas und dem „Weltrat der Kirchen” in Genf.

DAS MOTTO: Das es ist eine Schande der Christen und der Kirchen, wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche noch länger Mitglied der weltweiten christlichen Ökumene ist.

Ein  Hinweis von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht im März 2022. Überarbeitet am 24.8.2022, wegen des 11. Welt-Treffens des „Ökumenischen Weltrates der Kirchen” (ÖRK)  in Karlsruhe (31.8. bis 8.9.2022.)

Erstens: Zunächst einige Fakten  zur Teilnahme der russisch-orthodoxen Kirche an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates ÖRK in Karlsruhe:

1.
Die Russisch-orthodoxe Kirche wird eine Delegation nach Karlsruhe senden, dem Tagungsort der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Konkrete Namen wurden bis jetzt (Stand: 25.8.2022) nicht genannt. Wie sich die Teilnehmer aus der Ukraine in Karlsruhe zu ihren russischen Glaubensbrüdern verhalten, könnte spannend werden.
Einige Beobachter sprechen davon, dass etwa 20 (zwanzig) Delegierte der Russisch – orthodoxen Kirche in Karlsruhe dabei sein werden. (Quelle. https://www.sonntagsblatt.de/artikel/kirche/osteuropa-expertin-russische-kirche-weltkirchenrat-nicht-isoliert)

2.
Die EKD Ratsvorsitzende Annette Kurschus sagt:
“Wie die Delegation der russisch-orthodoxen Kirche zusammengesetzt ist, können wir nicht beeinflussen. Aber wir hoffen sehr, dass Menschen dabei sind, die der russischen Kriegsführung kritisch gegenüberstehen, die also nicht die Haltung des Moskauer Patriarchen Kyrill vertreten“. Und weiter sagt die EKD Vorsitzende: “Ich erhoffe mir, dass auf kirchlicher Ebene eine Kommunikation möglich wird, die auch politisch etwas austrägt“. (Quelle: https://www.ekmd.de/aktuell/nachrichten/praeses-annette-kurschus-oekumene-gipfel-soll-friedensimpuls-in-ukraine-senden.html, vom 22.8.2022.

Nebenbei: Wenn diese von Frau Kurschus erwarteten kritischen Russen in Karlsruhe tatsächlich Klartext reden, also die Verbrechen Putins und seines ideologischen Hefters Kyrill benennen, können sie als Asylsuchende gleich in Karlsruhe bleiben. Dann hätte Frau Kurschus noch eine weitere Aufgabe, diese kritischen Russen unterzubringen.

3.
Klare und deutliche Worte, unseres Erachtens sehr richtige Worte, äußert Magdalena Zimmermann, von der weltweiten Organisation „Mission 21“ der Reformierten Kirche in Basel und Basel Land: „Die russische Orthodoxie bildet unter Kyrill ein System mit Putin. Der Patriarch unterstützt das autokratische System und erhält dafür Privilegien. Einem solchen System kann man mit Vermittlung nicht beikommen. Man kann es nur klar ablehnen“.
Der Moskauer Patriarch Kyrill ist zur Vollversammlung in Karlsruhe eingeladen. Doch ob er kommt, bleibt fraglich. Magdalena Zimmermann findet es falsch und realitätsfremd, mit Kyrill das Gespräch zu suchen. «Die russische Orthodoxie bildet unter Kyrill ein System mit Putin. Der Patriarch unterstützt das autokratische System und erhält dafür Privilegien. Einem solchen System kann man mit Vermittlung nicht beikommen. Man kann es nur klar ablehnen.» Der Weltkirchenrat habe eine prophetische Aufgabe, betont sie. «Eine Kirche, die sich auf das Evangelium beruft, kann nicht schweigen und auch nicht neutral sein, wenn ein wesentlicher Repräsentant einer grossen Kirche wie Kyrill die Religion instrumentalisiert und missbraucht.» (Quelle: https://reformiert.info/de/recherche/oekumenische-vollversammlung-klare-worte-gegen-den-krieg-in-der-ukraine-21297.html) publiziert am 22.8.2022.

4.
Die russisch-orthodoxe Kirche mit mehr als 160 Millionen Mitgliedern ist seit 1961 Mitglied im ökumenischen Dachverband des Wellrades der Kirchen in Genf, dazu gehören 352 verschiedene Kirchen mit über 580 Millionen Christen.

5.
Jede Mitgliedskirche zahlt in den großen Topf des Budgets des ÖRK in Genf einen Beitrag ein,:
Im Jahr 2020 zahlte die Russisch orthodoxe Kirche 10.229 Schweizer Franken sozusagen als Mitgliedsbeitrag in Genf ein.
Im Jahr 2021 waren es 10.618 Schweizer Franken. (Quelle. https://www.oikoumene.org/resources/documents/wcc-financial-report-2020)
Wenn man bedenkt, dass Patriarsch Kyrill von Moskau nachweislich Multi-Millionär ist, sind diese Einzahlungen seiner Kirche doch sehr bescheiden.
Es kann also nicht sein, dass der ÖRK in Genf unbedingt aus finanziellen Gründen an der Mitgliedschaft der russisch – orthodoxen Kirche hängt. Warum aber dann?

6.
Ist ein ÖRK ohne die russisch-orthodoxe Kirche etwa nicht denkbar, vielleicht, weil russische Metropoliten schon in der Zeit des Sowjetkommunismus gern gesehene Vertreter ihrer Kirche waren. Nur ein Hinweis:
Die 3. Vollversammlung fand vom 19.11.-5.12.1961 in Neu-Delhi / Indien unter dem Thema statt:
“Jesus das Licht der Welt”. Diese Vollversammlung brachte vielfältige Veränderungen. 23 neue Mitgliedskirchen konnten aufgenommen werden. Unter ihnen die Russisch-Orthodoxe Kirche. Die theologisch konservativen Kirchen des Ostblocks vertraten politisch die Interessen der Sowjetregierung. Fortan wurden die politischen Stellungnahmen immer einseitiger zugunsten der Sowjets. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde die von Kritikern der Ökumene schon lange ausgesprochene Vermutung bewiesen, daß viele orthodoxe Mitarbeiter, die im Stab des Ökumenischer Rat der Kirchen in Genf tätig waren, dem KGB angehörten. Quelle: https://handbuch.bibel-glaube.de/Oekumenischer_Rat_der_Kirchen.html. Gelesen am 25.8.2022.

7.
Die Russisch – orthodoxe Kirche aus dem ÖRK ausschließen? Ist das rechtlich möglich? 
Auf die Frage, ob der ÖRK die russisch-orthodoxe Kirche aufgrund der Haltung des Patriarchen als Mitglied ausschließen oder die Mitgliedschaft suspendieren könne, erklärte Peter Prove vom ÖRK
“Nur der ÖRK-Zentralausschuss kann so etwas unter ganz bestimmten Bedingungen beschließen. Wenn die theologischen Positionen einer Mitgliedskirche nicht mit der fundamentalen theologischen Grundlage für die ÖRK-Mitgliedschaft vereinbar sind, dann liegt ein solcher Fall vor“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Zweitens: Das Plädoyer für den Ausschluss der Russisch Orthodoxen Kirche aus den ökumenischen Gremien der demokratischen Welt:

Ich habe auf dieser website seit etlichen Jahren die Entwicklung dieser Putin-Kirche (d.h. der Russisch-Orthodoxen Kirche –  mit dem einstigen KGB Mann, Patriarch Kyrill I.) dokumentiert, siehe am Ende dieses Beitrags die entsprechende Liste!

Die Erkenntnis und die Forderungen:

1.
Die Russisch-orthodoxe Kirche mit ihrem allmächtigen Patriarchen Kyrill I. an der Spitze ist seit Jahrzehnten schon eine „Putin-Kirche“. Auch im Krieg Putins gegen die Ukraine hat die Russisch-orthodoxe Kirche als eine einflußreiche Organisation in Russland (ca. 60 % der Russen gelten als Mitglieder) bisher nur allgemeine Floskeln zum Krieg Putins geäußert. Die Russisch-Orthodoxe Kirche in der Ukraine hat sich von ihrem Moskauer Patriarchen inzwischen getrennt! Einige wenige russisch-orthodoxe Popen im Ausland, etwa in Frankreich und Holland, denken wohl anders als der Patriarch und seine gehorsamen Bischöfe.

2.
Die Forderung ist klar: Eine Kirche, die sich – wie üblich – nur in Worten und feierlicher Liturgie auf das Evangelium Jesu Christi bezieht, aber de facto zur nationalistischen Putin-Kirche entartet ist, gehört nicht mehr in repräsentative christliche ökumenische Gremien (in Genf, auf Landesebene in Europa oder in Landeskirchen/Bistümern).

Diese Kirche kämpft – sehr gut seit Jahrzehnten wissenschaftlich dokumentiert – gegen alle Freiheiten der Bürger, der Frauen, der sexuellen Vielfalt, der Künstler. Und einige ihrer Popen wollen sogar „Väterchen“ Stalin in den Rang eines Heiligen erheben. Das ist kein Witz! Eine solche Organisation sollte von demokratischen und christlich gesinnten Kirchen nicht mehr zu einer christlichen Ökumene gehören, falls diese noch den Anspruch Evangeliums und der Menschenrechte praktisch respektieren will.

3.
Die Forderung also ist: Die Russisch-orthodoxe Kirche sollte – mindestens bis zu der von Russland ausgesprochenen Garantie des unabhängigen Staates Ukraine durch Putin oder dessen alsbaldigem Nachfolger – aus allen ökumenischen, christlichen Gremien entfernt werden.

4.
Ich weiß, Christen schätzen heute nicht den Bruch, die Trennung von einer Kirche aus der Ökumene, denn viel zu lange wurden Ketzer verfolgt von den herrschenden Kirchen. Man könnte – etwas polemisch – meinen, heute herrscht in der evangelisch-bestimmten Ökumene (Genf etc.) das Motto. „Friede-Freude-Eierkuchen“. “Immer nur lächeln, immer nur nett sein“… auch zu Kriegstheologen und Kriegstreibenden Bischöfen. Aber übermäßiges und langes Hoffen auf die Kraft der Vernunft in dieser Putin Kirche Kirche ist naiv. Haben denn die Dialoge in Genf und anderswo mit den Vertretern der Russisch-orthodoxen Kirche nachweislich konstruktive Ergebnisse in Richtung Frieden und Respekt der Menschenrechte gebracht?? Mir ist das nicht bekannt. Fall diese Dialoge stattfanden, sie waren wohl eine Art Dialog-Spielerei.

5.
Es kann also nicht sein, dass die Ökumene der christlichen Kirchen in der demokratischen Welt eine kriegerisch – nationalistische orthodoxe Kirche als Teil der christlichen Welt gelten lässt. Die Sanktionen gegen Putin Russland durch die Wirtschaft, Kulturinstitutionen etc. sind bekannt, sie wirken zum teil, sie isolieren Russland und fördern dadurch hoffentlich den Widerstand der nachdenklichen Russen gegen das Putin Regime. Warum sollte dies bei einer Isolation der Russisch Orthodoxen Kirche anders sein, vielleicht trennen sich dann einige vernünftig gebliebene Fromme von dem einstigen KGB Mitarbeiter Patriarch Kyrill?

6.
Die zentrale Erkenntnis ist: Es muss ein neues Denken beginnen, was Ökumene der vielen verschiedenen Kirchen eigentlich bedeutet, es muss genau gefragt werden, wer dazu gehört und wer eben nicht. Kriterium der Mitgliedschaft einer Kirche kann nicht einfach nur sein, dass diese sich christlich nennt. Kriterium muss sein, dass die Praxis dieser Kirche auch dem Geist und dem Buchstaben der Menschenrechte entsprechen. Nicht nur der Bezug auf das Neue Testament also ist ökumenisch entscheidend, sondern vor allem auch der praktische Respekt der universalen Menschenrechte.

7.
Der Hintergrund: Alle demokratischen Staaten und Gesellschaften bewerten heute den Krieg Putins gegen die Ukraine als eine „Zeitenwende“, als ein Bruch mit bisherigen Üblichkeiten, Mentalitäten und Denkzwängen in den Demokratien.
Die frühere Naivität im Umgang mit Putin wird von den demokratischen Gesellschaften und Staaten überwunden. Sie wissen jetzt: Aus dem Gegner Putin von einst ist jetzt der Feind Putin geworden. Und dieser Feind darf keine Macht mehr behalten.

8.
Ich weiß, bei dem Zustand der Ökumene mit dem Motto „Immer nur lächeln und alles verzeihen“ sind diese Vorschläge natürlich illusorisch. Die Christen und die Kirchen weltweit sind eingeschüchtert und irenisch, d.h. sie wollen Streit und Distanz und Rauswurf um jeden Preis vermeiden, sie werden es doch ihren „Brüdern“ und „Schwestern“ nicht antun, auch einmal eine Strafe auszusprechen. Der Rauswurf der Russisch-orthodoxen Kirche aus den ökumenischen Gremien würde eher dem Frieden dienen, also den Zusammenbruch des Putins Regimes befördern.

9.
ABER: Bei der Mentalität der Kirchen werden diese die einzige gesellschaftliche Gruppe bleiben, die angesichts des Mordens durch Putin keine praktischen Konsequenzen ziehen; sie werden jammern und klagen, aber keine Konsequenzen ziehen, die wirklich den Titel „Zeitenwende“ verdienen. Von Zeitenwende, von einem Umschwung und Umbruch, reden alle Organisationen in den demokratischen Staaten. Nur die Kirchen verschlafen diese Zeitenwende. Sie sind ja, wie sie so gern sagen, mit der Ewigkeit verbunden. Was ist da schon die Zeit?

10. Am Rande noch notiert:
Die Krise der Theologie des Bittgebetes ist evident!
Es kann deutlich werden, welchen Sinn und auch welchen Unsinn bedeuten die Bitt-Gebete und die Bitt-Gottesdienste um Frieden. Verändert der liebe Gott im Himmel die Weltpolitik, je nachdem wie intensiv da Gebete wird? Was für eine blasphemische Vorstellung! Wem soll Gott denn folgen, etwa den betenden Russen oder den betenden Ukrainern?
Gebete um Friede können einzig und allein den einzelnen seelisch stärken, um ihn zur politischen Aktion zugunsten der Menschenrechte zu motivieren. Aber bloße Bitt – Gebete um Frieden werden niemals politischen Frieden bewirken. Zu diesem kritischen Bewusstsein müssen die Kirchen endlich finden.

11.
Und was passiert, wenn Papst Franziskus auch noch einmal (wie schoin einmal in Kuba) Patriarch Kyrill treffen wird? Das ist ja nicht ausgeschlossen, dass die beiden Greise sich in Kasachstan irgendwann im Herbst treffen. Und einander uzmarmen, wie üblich, mit einem Küßchen… Die Päpste lechzen förmlich nach einer „Versöhnung“ mit der Orthodoxie, diese Sehnsucht hatte unter Papst Johannes Paul II. einen Höhepunkt, er sprach von den zwei „Lungen“ „der“ Kirche, die eine Lunge eben katholisch, die andere orthodox. Die protestantischen Kirchen hielt er wohl er für den Blinddarm. Aber Ironie beiseite: Die Versöhnung mit den orthodoxen Kirchen ist gefährlich für Kirchen, die noch den Anspruch haben, dass Menschenrechte genauso wichtig sind wie die Weisheiten der Bibel.

DAS MOTTO: Das es ist eine Schande der Christen und der Kirchen, wenn die “Russisch-Orthodoxe Kirche” noch länger Mitglied der weltweiten christlichen Ökumene ist.

Hinweis auf ältere Studien, “Hinweise” genannt:

Am 11.4.2022: Patriarch Kyrill muss endlich verurteilt werden:

Patriarch Kyrill muss endlich verurteilt werden.

Am 1.4.2022: Jegliche Beziehung mit dem Moskauer Patriarchen abbrechen:

Jegliche Beziehung mit dem Moskauer Patriarchen abbrechen!

Am 10.3.2022: Patriarch Kyrill ist ein Kriegstreiber:

Patriarch Kyrill ist ein Kriegstreiber: Die Fratze der russisch-orthodoxen Hierarchie.

Am 23.2.2022: Putins Aggression: Seine wichtigste Stütze, der Patriarch von Moskau:

Putins Aggression, seine wichtigste Stütze: Der Patriarch von Moskau und die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Am 19. Dez. 2021: Russisch orthodoxe Kirche, 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion – dem Herrscher ergeben:

Die Russisch-orthodoxe Putin-Kirche: 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion dem Herrscher ergeben.

Unter den zahlreichen älteren Beiträgen nenne ich hier noch den

Beitrag vom 3. Okt. 2013:
Wer sind denn die Gotteslästerer? – Zu den Pussy Riots… :

Wer sind die Gotteslästerer? Zu einer Stellungnahme des Moskauer Patriarchats.

Am 19.8.2012: Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin:

“Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin”: Religionskritische Hinweise zum Moskauer Schauprozeß im August 2012

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ludwig Feuerbach: „Der Mensch erschafft sich Gott“!

Wie aktuell ist der radikale Überwinder einer christlichen Theologie? Ludwig Feuerbach am 13.9.1872 gestorben.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Der Ausgangspunkt:


In der Erinnerung an den Philosophen Ludwig Feuerbach wird deutlich: Philosophische Reflexionen, zugespitzt auf griffige Formeln, werden weit über die eher kleine philosophische Fachwelt hinaus verbreitet, sie können dann das Denken und Fühlen weiter Kreise bestimmen. Ludwig Feuerbachs Formel „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“ gehört zu diesen Slogans wie auch seine Behauptung: „Die Vernunft, die an Gott glaubt, glaubt nur an sich selbst, also an die Realität ihres eigenen unendlichen Wesens“. Solche Sprüche haben sich durchgesetzt und wurden wiederum nur geglaubt und wie für selbstverständlich gehalten. Die breite Wirkungsgeschichte gerade des Buches „Das Wesen des Christentums“ ist paradox, betonte doch Feuerbach darin ausdrücklich, sein sehr umfangreiches Werk sei vor allem für die gebildeten Kreise bedeutsam. Dennoch haben sich bestimmte publikumswirksame Thesen der Religionskritik Feuerbachs schnell weit verbreitet …und werden wie Dogmen geglaubt.

1.Der große Umbruch der Mentalitäten

Nach dem Tod G.W.F. Hegels im Jahr 1831 spürten die Intellektuellen, wie sich der geistige Horizont veränderte, wie sich ein Umbruch in der Mentalität ereignete, nicht nur unter den genanten gebildeten Kreise in Deutschland. Was Feuerbach entwickelte, war eine Revolution des Denkens, der Normen, der Werte, des politischen Handels, der Bindung an die Kirchen usw. Diese grundstürzende Veränderung nahm ihren Ausgangspunkt an der Kritik der spekulativen Philosophie, zumal der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels. Dieser geistige, philosophische und religiöse Umbruch fand statt inmitten der Etablierung der politischen Reaktion im so genannten „Vormärz“ (1815-1848). Vielleicht war Feuerbachs philosophisches Bemühen der Versuch, etwas – mindestens philosophisch Revolutionäres – der reaktionären Welt entgegen setzen.

2.Biographischer Hinweise

Ludwig Feuerbach starb vor 150 Jahren, am 13.9.1872, in Rechenberg bei Nürnberg, geboren wurde er am 28.7.1804 in Landshut. Er hat ein umfangreiches religionskritisches Werk verfasst, er war ein kenntnisreicher Theologe, vor allem: er war ein Schüler Hegels an der Berliner Universität. Wenige Jahre nach Hegels Tod (1831) setzte sich Feuerbach entschieden von seinem Lehre ab, den er bis dahin seinerseits auch in Vorlesungen erklärte. In seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“ (1839) behauptet Feuerbach, Hegel verbreite den „Unsinn des Absoluten“ , die Philosophie Hegels sei völlig haltlos, ohne Verbindung mit der realen Welt, sie bewege sich in einer reinen Welt der Begriffe. Nun aber, so Feuerbach, sei eine neue Epoche angebrochen, in der die Welt, die Natur, die realen, leibhaftigen Menschen nicht nur Ausgangspunkt der Philosophie sein müssen, sondern auch oberste Prinzipen und Normen darstellen.
Feuerbach war ein Gegner der politischen Restauration in Deutschland, die im „Vormärz“ das Leben bestimmte, einschränkte, kontrollierte. Die reaktionären Fürstenstaaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts legitimierten sich durch theologische Argumente. In Preußen gab es eine starke Verbindung von Thron und Altar, protestantische Theologen hatten einen enormen Einfluss auf die Gestaltung der Bildung, auch in den Universitäten. Wer evangelischer Theologe wurde, hatte die Gewissheit, berufliche Karriere im Staat zu machen. Schon Feuerbachs frühe Schrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ von 1830 brachten ihm Probleme mit der Obrigkeit, im Revolutionsjahr 1848 musste er wegen seiner politischen Haltung alle Hoffnungen auf eine Professur aufgeben, er starb zurückgezogen und verarmt.

3. War Hegel ein Pantheist?


Hegel wusste, dass die christliche Religion, auch der in den Kirchen gelehrte Glaube, in der Form der dogmatischen Behauptungen mit ihren historischen Details keine Überlebenschancen („Akzeptanz der Menschen“) mehr hat. Er wusste: Die dogmatischen Formeln werden noch nachgesprochen, aber sie finden kein Echo im Denken der sich noch nach außen hin kirchlich gebenden Leute. Hegel zeigte in den Berliner Jahren an der Universität einen Ausweg: Der Inhalt der christlichen Lehre (Dogmatik) wurde in seiner Philosophie „aufgehoben“, wurde also in wesentlichen Aussagen bewahrt, aber eben auch verändert („erhoben“ ins philosophische Denken): D.h.: Die dogmatischen Lehren wurden aus der Anschaulichkeit der Gottesdienste und Bilder, der Wallfahrten und der Überordnung des Klerus über die Laien befreit: Die dogmatischen Glaubensbekenntnisse wurden in die Form philosophischer Begriffe erhoben und deswegen für alle Vernünftigen auch vernünftig erklärt. Gott ist dann also kein heiliger „Gegenstand im Himmel“, auch keine „Person“, sondern er ist absoluter Geist, der sich aber in das Andere seiner selbst, in Welt und Mensch, entäußert, also als göttlicher Geist in Welt und Mensch lebt.
An dem göttlichen Geist hat jeder Mensch Anteil. Der göttliche Geist ist in der Welt, aber die Welt ist nicht Gott. Hegel war kein Pantheist, wie Feuerbach behauptete, darauf hat der Philosoph Wilhelm Weischedel (in: „Der Gott der Philosophen. Erster Band“, Darmstadt 1972, Seite 390) hingewiesen. Hier liegt der entscheidende Fehler in Feuerbachs Verständnis der Philosophie Hegels: Feuerbach behauptet, Hegel sei als Pantheist ein Denker, der „das göttliche, absolute Wesen nicht als ein von der Welt Verschiedenes, als jenseitiges, himmlisches Wesen, sondern als ein Wirkliches mit der Welt identisches Wesen erfasst“ (Band II der Gesamtausgabe Feuerbachs, S 379).
Hegel denkt hingegen Gott als absoluten Geist sozusagen auch „außerhalb“ der Welt, aber eben doch auch in der Welt, in der Lebendigkeit endlicher Menschen. Wenn man schon einen griffigen Begriff will: Hegel war Pan – en -Theist. Das heißt: Hegel dachte auch die Gestalt der Religionen in der Welt als Ausdruck des göttlich-menschlichen Geistes, also auch als Ausdruck der göttlichen Schöpferkraft, die sich mit den Menschen „äußert“, also institutionelle „äußere“ Realität wird.

4. Hegel – Feuerbach – Marx


Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie fand den leidenschaftlichen Widerspruch unter seinen Schülern. Sie litten förmlich unter der Übermacht der Geistphilosophie und der Degradierung des Sinnlichen, des Leiblichen, also dessen, was sie die wirkliche Welt nannten. Wirklichkeit sollte ausschließlich die empirische und über die Sinne erfahrene Realität sein. Dass diese irdische Realität in geistigen Begriffen ausgesagt werden musste, störte die Leidenschaft dieser Verteidiger der ausschließlich irdischen Wirklichkeit gar nicht.
Ludwig Feuerbach, einer aus dem Kreis der Anti-Hegelianer, auch „Linkshegelianer“ (oder „Junghegelianer“) genannt, setzte sich mit rigorosem Nachdruck für das Irdische, Menschliche, Sinnliche als Prinzip der Philosophie ein. Er wurde dadurch zum „Freund der Menschen“. Der übliche christliche Gott der Tradition wurde von ihm als Illusion abgetan, als Produkt des noch nicht zum richtigen Verstand gekommenen Menschen gedeutet. Den Begriff „Illusion“ wird später Freud in dem Zusammenhang verwenden! Das Christentum und seine Theologie wurde also wirklich abgeschafft, als Wunsch-Projektion der Menschen disqualifiziert. Aber Feuerbach wusste, dass seine radikale Leidenschaft für die Welt und den Menschen nur ein Ausgangspunkt, ein Anfang, einer neuen Epoche sein konnte.
In der Hinsicht entwickelten Karl Marx und Friedrich Engels nach ihrer Lektüre von Feuerbach ihre politische und ökonomische Gesellschaftskritik. Nicht vom abstrakten Menschen und seiner Sinnlichkeit (wie bei Feuerbach) war bei ihnen die Rede, sondern von der Überwindung der ungerechten politischen und ökonomischen Verhältnisse, in denen Menschen leben müssen. Revolutionär war also nicht mehr die Behauptung Feuerbachs, Gott sei eine Illusion des Menschen. Revolutionär war nun die Lehre, dass Menschen, die Proletarier, im politischen Kampf ihr Leiden zugunsten einer gerechten Gesellschaft überwinden sollen. Philosophie als Form der vernünftigen Selbstverständigung konnte es unabhängig vom Klassenkampf nicht mehr geben. Und die Gottesfrage war für Marx und Engels durch Feuerbach „erledigt“.
Diese Skizze des großen Umbruchs der Mentalitäten in der Mitte des 19. Jahrhunderts führt also zu Feuerbach, der in der Mitte steht zwischen dem Philosophen Hegel, der das Christentum denkend retten wollte und den Gesellschaftskritikern Marx und Engels, für die Religion und Kirchen „Opium des Volkes“ waren.

5. Das Zentrum der Philosophie Feuerbachs:


Ludwig Feuerbach ist in „weiten Kreisen“ noch heute bekannt: Mit einer gewissen Leichtigkeit verbreitete sich seine These, die dann geradezu populär wurde: Was die Menschen Gott nennen, ist kein Urgrund, keine himmlische Person, sondern ein Bild des idealen, des vollkommenen Menschen. Die Erkenntnis Gottes ist nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Menschen. Theologie wird also für Feuerbach zur Anthropologie, der Mensch ist für ihn das höchste Wesen. „Das Höchste ist für den Menschen der Mensch“, so Karl Löwith, einer der Feuerbach – Interpreten im 20. Jahrhundert („Von Hegel zu Nietzsche“, Fischer Verlag 1969, S. 95).
Die Feuerbach Spezialistin Prof.Ursula Reitemeyer schreibt: „Ist Gott aber nur das Produkt menschlicher Phantasie, die Projektion einer Allmachtsidee im Angesicht menschlicher Ohnmacht, dann verkünden das Dogma und die sie stützende spekulative Logik, nur relative, vom Zeitgeist abhängige Meinungen, aber keine absolute Wahrheit. So trennt sich im Zuge von Feuerbachs Hegelkritik die Philosophie nicht nur ein weiteres Mal von der Theologie, sondern zugleich von der Macht der Meinungsmonopole. Dadurch wird Religionskritik zur Ideologiekritik.“ (https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/ueber/index.html).
Gott als personales Wesen als Idee, absoluter Geist außerhalb der Menschenwelt, wird von Feuerbach beseitigt, aber die Prädikate, die Gott einst schon auszeichnen, Güte, Liebe, Gerechtigkeit, Weisheit bleiben als absolute Werte erhalten, auch wenn es Gott als Person, dem einst diese Prädikate zugesagt wurden, nicht mehr „existiert“. Es geht Feuerbach also um ein merkwürdiges Fortleben göttlicher Prädikate bei einem verstorbenen Gott. So kann Feuerbach behaupten, Atheist sei nur der, der die Bedeutung der Prädikate Gottes (Güte, Liebe etc. ) leugnet. „Güte und Gerechtigkeit sind keine Chimären, selbst wenn die Existenz Gottes eine Chimäre ist“ (VI. Band der Sämtlichen Werke Feuerbachs, S. 26). Tugenden werden also von Feuerbach vergöttlicht, und dies kann der Mensch durchaus leisten, meint er, weil im Menschen doch noch eine gewisse Unendlichkeit lebt: „Es gibt eine Unendlichkeit des Denkvermögens“… „fühlst du das Unendliche, so fühlst und betätigst du das Unendliche“ (VI. Band, S 10). Diese Ambivalenz als Ja und Nein zum Unendlichen, als Ja und Nein zu etwas Göttlichem…. ist typisch für Feuerbach.

6. Was ist Wirklichkeit?


Mit allem Nachdruck muss unterstrichen werden, dass der Übergang von Hegel zu Feuerbach sich an der unterschiedlichen Erfahrung und Wertung des Wirklichen festmachen lässt. Das Christentum und seine klassische Theologie war bis ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) durchaus ein Feind der sinnlichen, irdischen, leiblichen und sexuellen Erfahrung. Die entsprechenden moralischen Abweisungen des Irdischen, Sexuellen etc. des Apostels Paulus und seiner Schüler, formuliert in den zum Neuen Testament gehörenden Briefen, sind bekannt. Die Philosophin Ursula Reitmeyer fasst Feuerbachs Position zusammen: „Erst mit der Etablierung des sinnenfeindlichen Christentums, das den Verlust der sinnlichen Vernunft durch eine Ästhetik des Übersinnlichen kompensiere, habe sich formelhaftes Wissen an die Stelle eines lebensweltlichen Materialismus gesetzt. Folge sei, daß der wirkliche, real arbeitende Mensch, ebenso entmündigt wie entleiblicht, seine Existenz kaum fristen könne, während sich das System und mit ihr die Elite permanent reproduziert. (Ursula Reitemeyer, in dem Beitrag „Über Feuerbach“, https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/ueber/index.html).

7. Kritische Hinweise zu Ludwig Feuerbachs Philosophie:


Feuerbach hat das leidenschaftliche Interesse, an die Stelle der Theologie die Anthropologie zu setzen, und dabei musste er bei seinem auf Sinnlichkeit fixierten Anthropologie – Begriff unbedingt auf metaphysische Spekulationen – etwa im Sinne der Vernunftphilosophie seines Lehrers Hegel – verzichten. Bei diesem radikalen Bruch in der Geschichte des Denkens hat Feuerbach bestimmte Differenzierungen und Nuancen übersehen. Abgesehen davon, dass Feuerbach Aussagen in „Das Wesen des Christentums“ durchaus sehr langatmig und gedehnt erscheinen, der Philosoph Walter Schulz nennt sie vornehm „weitausholend“ („Philosophie in der veränderten Welt“, Neske Verlag, 1980, S. 371). Wichtiger sind inhaltliche, philosophische Vorbehalte zu einigen zentralen Thesen Feuerbachs im „Wesen des Christentums“: „Feuerbach hat die (zentrale) These, dass der Mensch ein sinnliches Wesen sei, zwar propagiert – seine Schriften sind, wie die Titel zeigen, zumeist überhaupt Programmentwürfe – aber nicht wirklich reflektiert“ (, so Walter Schulz a.a.O., S 376). Walter Schulz meint, Feuerbach habe einfach die traditionelle Überzeugung, dass die Vernunft das Herrschende sei, in ihr Gegenteil verkehrt: “Der Mensch ist wesentlich NICHT von der Vernunft, sondern vom nichtvernünftigen Willen, dessen Träger der Leib ist, bedingt“ (a.a.O.).
Von Gott kann sich Feuerbachs Anthropologie auch nicht ganz befreien, auch daran muss noch einmal nachdrücklich erinnert werden: Feuerbach muss zur Bewertung des Menschen und die Bindung des einzelnen an die Gattung des Menschen dann doch auf Qualitäten des Göttlichen zurückgreifen: Der abgeschaffte Gott hinterläßt der gottlosen Menschheit die Bindung an die göttlichen und heiligen Prädikate des göttlichen Wesens. Denn bestimmte gute Eigenschaften hatte die Menschheit Gott zugeschrieben, jetzt sollen diese Eigenschaften allein als göttlich gelten. Der Mensch kommt also für Feuerbach nicht vom Göttlichen los, das kann daran liegen, dass, wie Hegel richtig sah, das schöpferische Göttliche (absoluter Geist) eben doch im Menschen wirkt. Religionen sind dann also Ausdruck der Geistigkeit des Menschen. Das deutet Feuerbach selbst an, wenn er Vernunft, Wille, Liebe, als Kräfte bezeichnet, die der Mensch nicht gemacht hat, die also „göttliche, absolute Mächte sind, denen der Mensch keinen Widerstand entgegensetzen kann“ (zit. in Weischedel, a.a.O, S. 400, auch Feuerbach Sämtliche Werke, Band VI 3f.).
Karl Löwith schreibt in seinem Buch „“Von Hegel zu Nietzsche“ (S. 96). „Gemessen mit dem Maß von Hegels Geschichte des Geistes muss Feuerbachs massiver Sensualismus gegenüber Hegels begrifflich organisierter Idee als ein Rückschritt erscheinen, als eine Barbarisierung des Denkens , die den Gehalt durch Schwulst und Gesinnung ersetzt“ .

8. Das Ende der Philosophie?

Feuerbach selbst betonte, sein Denken als ein Denken der Sinnlichkeit, der sinnlichen Wirklichkeit von Welt und Mensch, sei bereits eine Negation der Philosophie, also der klassischen, Hegelschen Philosophie. Feuerbach meinte sogar, „sein Denken sei gar keine Philosophie mehr“. Die spekulative Philosophie sei – so wörtlich- eine betrunkene Philosophie. „Die Philosophie muss daher wieder nüchtern werden“, also nicht spekulativ, sondern sinnlich werden. (zit bei Weischedel, a.a.O., S. 392). Dabei sind viele Formulierungen Feuerbachs, leidenschaftlich und polemisch, alles andere als Ausdruck einer „nüchternen Philosophie“.
Nur in dieser Haltung glaubte Feuerbach, den „Menschen zur Sache der Philosophie zu machen“, eine Philosophie, die wie gesagt, die ihr eigenes Ende einläutet, also explizit sich selbst aufheben will und dies behauptet. Feuerbach sagt: „Die wahre Philosophie ist die Negation der Philosophie, ist keine Philosophie“ (Feuerbach Sämtliche Schriften, II, 409 f., zit auch bei Weischedel, a.a.O. 395).
Tatsächlich aber waren die Gedanken Feuerbach dann doch wieder Ausdruck von Philosophie, wie sollte es auch anders sein, man denke an Feuerbachs Reden von der Unendlichkeit des menschlichen Bewusstsein oder von der Göttlichkeit der menschlichen Prädikate Gottes.
Ludwig Feuerbach ist der durchaus irritierende, wenn nicht verwirrende Philosoph bzw., wie er selbst sagt „Nicht-Philosoph“, der wegen seiner populär verbreiteten Slogans eine enorme Wirkungsgeschichte hat. Aber eins ist sicher: Atheist – als heftiger Feind alles Göttlichen- war Feuerbach sicher nicht, wie auch Vittorio Hösle betont, und Feuerbach war kein heftiger Feind des Christentums und der Kirche, wie Nietzsche. Feuerbach bleibt ein Denker der „Zwischenstellung“, zwischen klassischer, sich noch fürs Christliche interessierenden Philosophie und der radikalen Gesellschaftskritik bzw. dem radikalen Atheismus. Für ihn ist Gott keine „himmlische Person“, die Abwehr der göttlichen Person verbindet ihn zwar mit Hegel, hingegen hielt Hegel bekanntlich an einer eigenständigen Wirklichkeit des „absoluten Geistes“ fest.

9. Gott ist die Liebe. Die Liebe ist göttlich.


Man darf nicht vergessen: Feuerbachs Grundsatz war: „Gott ist die Liebe“, verstanden als „Die Liebe ist göttlich“. Also das Höchste, Wichtigste überhaupt. Die Liebe sei zudem der Maßstab im Leben Jesu Christi. Daraus schließt Feuerbach: „Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt … der ist Christ, der ist Christus selbst“ (zit. In Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“, S. 172). Diese selbstverständlich erotische, sinnliche Liebe zum Menschen, zeichnet diesen irritierenden religiös – atheistischen Denker Ludwig Feuerbach besonders aus. Er versuchte im 28. Kapitel seines „Wesen des Christentums“ die anthropologisch (!) relevante Dimension der kirchlichen Sakramente aufzuzeigen, etwa das christliche Abendmahl, verstanden als das Essen und Trinken als ein „Mysterium“ (S. 409 ff, in Reclam Ausgabe, 1971).
Feuerbach beendet diese seine umfangreiche Studie mit einer Übersetzung des christlichen Abendmahls in eine noch mögliche weltliche Bedeutung mit den Worten: „Heilig sei darum das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser! Amen.“ Das Amen beendet dieses grundlegende religionskritische Werk! Der Philosoph Vittorio Hösle findet dieses „Amen am Ende des Buches nicht aufgesetzt“ (a.a.O. . 172). Das Amen ist sicher Ausdruck des irritierend frommen wie religionskritischen Denkers Feuerbach. Glaubte er mit seinem Opus eine neue, anthropologische Predigt gehalten zu haben? Vielleicht!

Ich empfehle die Studien der „Arbeitsstelle Internationale Feuerbach-Forschung“ in Münster zu beachten, mit der Prof. Ursula Reitemeyer. Siehe: https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/forschungsstellen/feuerbach/index.html.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ein “Legionär Christi” wird am 27. August 2022 feierlich zum Kardinal ernannt.

……Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer Kritik der Religionen, der Kirchen, deswegen dieser Hinweis:

Unter den neu ernannten Kardinälen (feierliche Ernennungszeremonie am 27.8.2022 im Petersdom) ist auch ein Mitglied des immer noch hoch umstrittenen Ordens “Legionäre Christi”.  Sein Name: Bischof Fernando Vérgez Alzaga, ein Finanzfachmann im Vatikan! Der äußerst finanzstarke Orden, gegündet von Pater Marcial Maciel, den sogar viele Kirchenleute wegen sehr vieler heftiger sexueller Schandtaten als Verbrecher bezeichnen, wird durch diese Kardinalsernennung sozusagen “normalisiert”, also ins Übliche des Klerikalen erhoben.

An ihren verbrecherischen Ordensgründer erinnern die “Legionäre Christi” (und die Laien vom “Regnum Christi”) explizit auch nicht mehr, die vielen Fotos ihres “Vaters” wurden aus den vielen Legionäre-Christi-Residenzen längst entfernt. Sozusagen eine Art “Entstalinisierung” auf Katholisch.

Vielleicht ist der nächste Papst ein “Legionär Christi”? Prinzipiell ist dies nun möglich, ausreichend Geld steht dem Legionär Christi ja im “Vorfeld” zur Verfügung…

Es ist Papst Franziskus persönlich, der ausgerechnet einen Legionär Christ zum Kardinal ernennt, ist dies ein Ausdruck der Dankbarkeit für die Finanzgeschäfte des spanischen Legionärs?

Wer wagt es noch, Papst Franziskus einen Progressiven, einen Reformer zu nennen? Er ist eher ein Jongleur, der es allen Tendenzen im Vatikan und der römischen Kirche irgendwie recht machen will.

LINK

Copyright: Christian Modehn,. Religionsphilosophischer Salon Berlin

Struktur und Verfassung der katholischen Kirche sind Menschenwerk. Und deswegen wandelbar und korrigierbar.

Kritik und Zurpückweisung der klerikalen Ideologie, vertreten durch Kardinal Ludwig Müller.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Kardinal Ludwig Müller (Rom) behauptet im Juli 2022: „Der Grund (meiner Ablehnung tiefgreifender Kirchen-Reformen) ist, dass die Kirche von Jesus Christus eingesetzt und entworfen worden ist. Wir haben keine Vollmacht, diese Ordnung zu verändern“.

2.
Das sagt Kardinal Ludwig Müller (74 Jahre), von Papst Franziskus als Chef der obersten Glaubensbehörde im Juli 2017 abgesetzt. Seitdem ist er heftiger Gegner von Papst Franziskus.
Müller wohnt in der einstigen großzügigen Wohnung seines alten Gönners, Kardinal Joseph Ratzinger, ganz dicht am Vatikan. Er verbreitet seine Theologie, die vor wissenschaftlichen Standards keinen Bestand hat. Müller will tiefgreifende Reformen des römischen klerikalen Systems mit einer falschen Theologie bremsen und verhindern.
Theologisch nicht gebildete Leute fallen auf Müllers Sprüche rein. Sie wissen nicht, dass die oben zitierten Aussagen des Kardinals, der als Theologieprofessor in München arbeitete und Priester ausbildete, schlicht und einfach überholt und falsch sind. Es steht fest: Die katholische Theologie ist eine kritische Wissenschaft, falls sie sich nicht gängeln lässt von uralten Vorgaben und Kontrollen der kirchlichen Herrschaft. Auch eine freie und umfassend kritische katholische Theologie also erkennt Falsches und Wahres, wissenschaftlich Erwiesenes und in der Phantasie Erdachtes.
Müllers oben zitierte Abweisung von tiefgreifenden Kirchenreformen, wie sie der Synodale Weg in Deutschland vorschlägt, sind also Ausdruck einer uralten klerikalen Ideologie, die nur dazu dient, den Status quo zu schützen und zu erhalten. Trotz der theologisch – wissenschaftlichen Inkompetenz Ludwig Müllers lässt er sich als Kardinal „Eminenz“ anreden, in der offiziellen Vatikan-Sprache ist er also ein „Herausragender“, eine „Hoheit“. Und diese Eminenz äußerte sich also in dem genannten Zitat, es wurde veröffentlicht im „Tagesspiegel“, 1.8.2022, S. 4 oder in der „Süddeutschen Zeitung“, 1.8.2022, Seite 6.

3.
Die theologischen Fehler in der Argumentation Müllers wenigstens in Grundzügen darzustellen, ist alles andere als eine theologische Spitzfindigkeit, und keineswegs nur wichtig für einige Spezialisten. Daran sollten doch weite Kreise interessiert sein: Es geht um ein wissenschaftlich korrektes, also ein vernünftiges Verstehen von dem, was katholische Kirche eigentlich ist. Sie ist ein Werk von Menschen und deswegen stets reformierbar, also korrigierbar. Nur wenn man, wie die Klerus-Herrschaft es versucht, die katholische Kirche als Gottes Werk ( oder auch Christi Werk) versteht, wird sie wie Gott in die Ewigkeiten der Unwandelbarkeit erhoben. Und der Klerus kann seine Allmacht bewahren. Um dieses Problem also geht es!

4.
„Jesus Christus“ also soll – so Eminenz Ludwig Müller – die katholische Kirche „eingesetzt und entworfen haben“.
Der Fehler beginnt ganz entschieden damit, dass Müller von „Jesus Christus“ in einer Weise spricht, als wären beide Namen, also Jesus wie auch Christus, Eigennamen für eine historische Person, so, wie man etwa von einem „Hans Peter“ oder einem „Friedrich Wilhelm“ spricht.
Hingegen ist wahr: Eigenname als Vorname für eine historische nachweisbare Person ist allein der Name Jesus. Es ist Jesus von Nazareth, der jüdische Wanderprediger, der um 5 vor unserer Zeitrechnung geboren und im Jahre 30 in Jerusalem am Kreuz gestorben ist.
Die Bezeichnung „Christus“ ist hingegen kein Name, der eine historische Person nennt! Sondern Christus benennt nur eine besondere Qualität, in dem Fall die Qualität dieses Menschen Jesus von Nazareth. Die besondere Qualität „Christus“ bzw. „Messias“ im jüdischen Sinne meint keine göttliche Qualität, wie später die Kirchenführer behaupteten, sondern „Christus“ bzw. „Messias“ benennt nur eine besondere Auszeichnung eines Wanderpredigers als einem „Gesandten Gottes“ oder einem „König, der Heil bringt“.
Wer die Formel „Jesus Christus“ verwendet, meint also NICHT eine historische Person unter diesem Doppel-Namen. Sondern: Jesus von Nazareth, der nach etliche Jahre nach seinem Tod von Menschen gedeutet wurde als der „Christus“ bzw. (synonym) „Messias“ bzw. „der Gesalbte“. Aber diese Qualitäten werten diesen Jesus von Nazareth NICHT als Gott oder Gottes Sohn auf.

5.
Paulus, einst der Pharisäer Saulus, hat Jesus von Nazareth nicht persönlich gekannt, die 4 Evangelien konnte er nicht kennen, weil sie zu seinen Lebzeiten noch nicht verfasst waren. Paulus spricht in seinen authentischen Briefen vom Messias Jesus oder auch von Jesus Christus, im Sinne, wie oben beschrieben, also von Jesus als dem Christus, als dem von Gott Gesalbten. „Wenn Paulus in Jesus Christus einen Gott (oder Gott-Sohn) gesehen hätte, wäre es völlig widersinnig, wenn Paulus wörtlich zugleich auch von einem „Gott unseres Herrn Jesus Christus“ sprechen würde. Denn das hieße zu behaupten, dass dieser (angebliche) Gott Jesus noch einen Gott über sich haben würde. (Hermann Baum, „Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht“, Düsseldorf 2006, S. 59). Jesus von Nazareth sah sich selbst nicht als ein ein göttliches Wesen oder gar als eine zweite Person einer göttlichen Trinität.

6.
Der historische Jesus von Nazareth hatte, wissenschaftlich eindeutig erwiesen, keine Ambition, eine Kirche zu gründen. Jesus war so sehr auf ein baldiges Ende der Welt fixiert, dass ihn eine Kirchenorganisation mit Klerus und Sakramenten gar nicht in den Sinn kam. „Mit der Naherwartung Jesu – also der Erwartung eines bevorstehenden Welten-Endes – lässt sich die Absicht, eine Kirche zu gründen nicht vereinbaren“ (Hermann Baum, a.a.O., S 80).

7.
Es sind Menschen, die ersten Gemeinden, die sich auf Jesus Nazareth als Messias beziehen und sich dabei als eigene Gruppe zuerst versuchsweise innerhalb des Judentums, dann neben dem Judentum explizit konstituieren, die ihren „Meister“ Jesus von Nazareth als eine besondere und einmalige Gestalt deuten …. bis hin zum Johannes Evangelium, das Jesus mit dem göttlichen (himmlischen) Logos identifiziert, Jesus als Logos und damit als Wirklichkeit des transzendenten Gottes. Diese ins Göttliche weisende Interpretation des Johannes -Evangeliums wurde 60 Jahre nach Jesu Tod verfasst. Der Theologe Tertullian (ca.160-220) spricht bereits explizit von „Jesus Christus unserem Gott, der die Apostel sandte zu predigen…“ (zit. in Maurice Sachot, „L Invention du Christ“, Paris 2011, S. 211).

8.
Mit dieser von Menschen geleisteten absoluten Höchststellung Jesu von Nazareth geht auch der Ausbau der Kirche- Institutionen einher, die immer mehr vom Klerus bestimmt und beherrscht werden bzw. In den ersten Jahrhunderten von den theologisch einflussreichen, christlich, kirchlich, gewordenen römischen Kaisern.
Diese Interpretation (Jesus als Gott) ist Ausdruck einer Machtpolitik: Indem die Hierarchie beanspruchte, einzig kompetent die Bibel zu deuten und die Dogmen zu lehren, zog sie ihren Gott Christus als ideologische Stütze auf ihre Seite, also den ewigen Gott innerhalb der Trinität, der als der Ewige (d.h. damals Unwandelbare) natürlich keine Veränderungen und Reformen „seiner“ Kirche wünscht. „Wie es war im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit, Amen“, heißt es so schön in einer beliebten Gebets-Formel, die eigentlich nur den göttlichen Stillstand und die Unwandelbarkeit formuliert. Erst wenn Menschen Jesus zum Gott Christus erklären, hat die Hierarchie Chancen, ihre Macht auszuüben.
Der Klerus, die Priester, verstehen sich in besonderer Nähe zu der göttlichen Wirklichkeit, nur sie allein können (und dürfen) Brot und Wein in Jesu Leib und Blut verwandeln, wie die katholische Kirche lehrt.

9.
Die Kirchenführer sind so klug, diese ihre Auszeichnung Jesu von Nazareth als des göttlichen Christus nicht als ihre menschliche Verfügung und Tat hinzustellen. Sie sagen: Jesus als den Gott-Menschlichen Jesus Christus zu bezeichnen ist gnadenhafte Tat des göttlichen Geistes, also Gottes selbst. Sie haben sich vorher theologisch abgesichert, indem sie behaupten: Gott selbst will, dass der Klerus dogmatischen Traditionen schafft, also das Dogma formuliert: „Jesus von Nazareth ist der Gott-Mensch Jesus Christus“.
Ob nun mit heiligem Geist oder bloß mit menschlichem Geist erdacht: Die Kirche ist ein Werk von Menschen. Sie ist nicht Tat einer imaginären Person „Jesus Christus“, Christus ist nur ein schlichter Ehrentitel, mehr nicht, Christus ist keine einzelne Person unter diesem Namen.

10.
Aber im Laufe der Kirchengeschichte hat sich populär und offiziell die Meinung durchgesetzt, Jesus von Nazareth sei von vornherein kein anderer als der Gott-Mensch Jesus Christus, oft nur Christus genannt. Man denke nur an den theologischen Unsinn populärer Weihnachtslieder mit ihrer Behauptung: Jesus sei in seiner Krippe zu Bethlehem ein „göttliches Kind“. „Des ewigen Vaters einig Kind, jetzt man in der Krippe findet“ usw…
Aber diese Theologie, die meint, es gebe eine historische Person mit dem Namen Jesus Christus wird auch bis heute offiziell verbreitet, etwa in der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ des 2. Vatikanischen Konzils (1962-65). Dieser zentrale Text stellt von Anfang an klar, dass eine Person, hier sogar nun kurz „Christus“ genannt, „das Reich der Himmel auf Erden begründet hat“ (§ 3). Unmittelbar daran anschließend ist von „Kirche“ (auch von dieser nur „Christus“ genannten Gestalt gegründet) die Rede. „Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi….“ (§ 3).

11..
Noch einmal zur Behauptung von Kardinal Müller.
Diese Analyse der Behauptung Müllers zeigt: Die katholische Kirche, wie alle anderen christlichen Kirchen, sind Werk von Menschen. Es ereignete sich keine Geheimoffenbarung in den Vatikanischen Gärten oder sonst wo, in der Gott selbst gesprochen hat, bestimmte auf ewig fixierte Kirchenstrukturen zu schaffen. Das Kardinalskollegium wie das Papsttum und die Sakramente und die Gestalt der Gottesdienste sind Menschenwerk, entstanden im Laufe der Kirchengeschichte.
Kardinal Müller aber behauptet in dem oben genannten Zitat: Dieser menschlich – göttliche Jesus Christus habe „DIE“ Kirche „eingesetzt“. Das Datum der „Einsetzung“ als angeblich historisches Ereignis wird nicht genannt und kann auch nicht genannt werden. Pfingsten hat kein Datum innerhalb der Weltgeschichte, die so genannte „Himmelfahrt Jesu“ auch nicht, in den fromm erdachten „Erlebnissen“ wurde jedenfalls noch nicht an die Struktur einer Klerus-Kirche gedacht.
Das Wort „Einsetzen“ wird von Müller verwendet, ein merkwürdiges Wort für die Kirchengründung. Müller hat offenbar doch Angst zu sagen, die Person Jesus Christus habe die Kirche gestiftet bzw. gegründet. Das kann selbst Müller als Theologieprofessor nicht meinen, er weiß doch in gewisser Weise: Jesus von Nazareth dachte nicht im entferntesten an eine Kirchengründung…
Die Behauptungen Kardinal Müllers werden noch irritierender:: Jesus Christus habe die Kirche, so wörtlich, ENTWORFEN. Was ist ein Entwurf? Eine Vorlage, der dann die Bauleute folgen. Also sind die gebauten Strukturen dieser römischen Kirche, so wie sie sind, von diesem Jesus Christus (wer immer das sein mag) irgendwie implizit doch gewollt? Damit wird wieder Tür und Tor geöffnet für die schon beschriebene Vorstellung: Diese Person, nun Jesus Christus genannt, wollte also diese faktische Klerusherrschaft, Jesus Christus wollte also diese Zölibats-Strukturen, die auch zu dem tausendfachen sexuellen Missbrauch durch Kleriker führten und führen? Jesus Christus wollte allen Ernstes, dass Frauen keine priesterlichen Ämter in dieser Kirche ausüben, nur weil die theologisch ungebildeten Kardinäle glauben: Aus der Berufung von 12 Männern zu Aposteln durch Jesus von Nazareth seien Frauen als Apostel ausgeschlossen…Das war Jesu „Entwurf“?

12.
Man denkt manchmal, wenn man die Texte Müllers liest, an Dogmen der neoliberalen Herrscher heute erinnert zu werden, vor allem an deren Aussage „There ist no Alternative“. Kardinal Müller scheint an diese Ideologie gebunden zu sein, wenn er allen Ernstes behauptet: „Wir (also Müller und der Klerus ) haben keine Vollmacht, diese Ordnung zu verändern“. Das ist es wieder: „There is no alternative!“. Eine erbärmliche Welt, eine erbärmliche Kirche, die keine Alternative sieht zu ihrer jetzigen Gestalt und Struktur.

13.
Man sollte daran erinnern, dass Eminenz Müller sich auch nicht dazu hinreissen lässt, zukünftige Reformen der Römischen Kirche als „Zugeständnisse an den Zeitgeist“ zu nennen. Aber: Was ist denn der Zeitgeist? Es ist der Geist dieser Zeit des 21. Jahrhunderts, ein Geist, eine Form von Mentalitäten und Überzeugungen, von denen Christen und theologisch Gebildete wissen: Es ist der Geist Gottes, der auch im 21. Jahrhundert irgendwie wirkt und „weht“. Demokratie, Menschenrechte, Frauenemanzipation, gleiche Rechte für Homosexuelle, Lebensrechte für die Armen, Aufteilung des Kirchenbesitzes zugunsten der Armen usw. sind der gute Geist der Zeit, theologisch gesehen: Ausdruck des heiligen Geistes.
Wer aber, wie seine Eminenz, Herr Müller, in Abrede stellt, dass jede Zeit, auch unsere Zeit, irgendwie und irgendwo doch noch vom göttlichen Geist durchweht ist, der wurde einst und wird heute Atheist genannt, also ein Mensch, der nicht mehr an die Wirkkraft des göttlichen Geistes in allen Zeiten glaubt.

14.
Diese Kleruskirche beansprucht eine „heilige Kirche“ zu sein.
Im offiziellen katholischen Glaubensbekenntnis, dem „Apostolischen Glaubensbekenntnis“ müssen die Glaubenden bekennen:“Ich glaube an die HEILIGE katholische Kirche“. Das genauso offizielle Glaubensbekenntnis des ökumenischen Konzils von Konstantinopel (381) formuliert: „Wir glauben an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“. Auch die Evangelische Kirche (EKD) hält fest am Apostolischen Glaubensbekenntnis, und formuliert: „Ich glaube an die heilige (!) christliche Kirche… Das „katholisch“ wurde ökumenisch weit durch „christlich“ ersetzt, das „heilig“ blieb erhalten..
Tatsache ist für jeden Christen: Heilig ist einzig und allein Gott. Außer Gott noch etwas oder jemanden heilig zu nennen, ist eigentlich eine Gotteslästerung. Aber diese Grenzüberschreitungen sind üblich, zumal im Katholizismus: Da gibt es den „heiligen Vater“, den Papst oder „die heilige Kirche“: Davon spricht das 2. Vatikanische Konzil ständig: In § 8 der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ wird Christus (nicht etwa Jesus Christus, sondern, Christus behauptet als selbständige Person ) als Gründer der Kirche wieder einmal genannt: „Christus hat seine HEILIGE Kirche hier auf Erden verfasst…“ Eine sehr mysteriös anmutende Erklärung für die Heiligkeit der Kirche bietet der offizielle katholische Katechismus (Vatikan 1993) im § 823 mit Verweis auf das genannte Dokument des 2. Vatikanischen Konzils: Als Begründung heißt es im Katechismus. „Christus der Sohn Gottes, hat die Kirche als seine Braut geliebt, indem er sich für sie (offenbar am Kreuz, C.M.) hingab, um sie zu heiligen“. Die Heiligkeit des Sohnes Gottes als Kirchengründer überträgt sich auf die Institution der Kirche, hier mal eine „Braut“ genannt. Die Institution, die Verfassung mit der Hierarchie usw., soll also heilig sein und heilig ist im klassischen Verständnis immer unwandelbar! Überhaupt nicht heilig sind hingegen die allermeisten Mitglieder dieser Kirche, sie sind Sünder, das wird offen von den Päpsten seit Johannes Paul II. zugegeben. Aber diese sündigen Mitglieder der Kirche belasten oder verstören bzw. zerstören diese Kirche als Institution ganz und gar nicht, so die offizielle Lehre. Die Kirche als Institution, als göttliches Projekt oder gar als „Idee“, bleibt ewig heilig, und das heißt immer auch unveränderlich., siehe die einschlägige Meinung Kardinal Müllers. Mit anderen Worten: Diese Art von Theologie als Ideologie des herrschenden Klerus kann eigentlich nicht aufgebrochen werden, sie ist in sich verschlossen, erratisch. In dem Sinne auch: Sie macht hoffnungslos.

15. Zusammenfassung:
„Das Christentum ist eine Religion, die nicht bereits von Jesus gestiftet und festgeschrieben worden ist, sondern das Ergebnis einer zweitausend jährigen Entwicklung, geprägt von Menschen, deren grundsätzliche Irrtumsfähigkeit außer Zweifel steht“ ( Prof. Hermann Baum, a.a.O., S. 221).

16. Ausblick:
Nur eine grundlegende Transformation der katholischen Kirche zu einer demokratisch verfassten Gemeinschaft, ohne allmächtige, angeblich gottgewollte Hierarchie, hat eine Zukunft. Natürlich, diese Kirche in der jetzigen Struktur kann wie ein steinernes Skelett noch lange fortbestehen, solange Menschen diese Herrschaft aus Autoritätshörigkeit und Angst finanziell unterstützen.
Aber: Diese neue Gemeinschaft wird im Rahmen der Transformation viele ihrer Glaubensinhalte endlich beiseite legen und dies als Befreiung erleben. Der offizielle katholische Katechismus wird von jetzt 2865 Paragraphen zu Dogma und Moral (2875 Paragraphen in der Ausgabe des Vatikans, 1993) auf vielleicht 50 reduziert. Viele nebulöse, mythologische, d.h. unwissenschaftliche Interpretationen der Bibel, die im Dienst der Klerusherrschaft stehen, werden dann ausgelöscht sein. Und diese Gemeinschaft hat dann vielleicht noch Chancen, Menschen spirituelle Impulse, politische Ideen zugunsten der lebendigen Menschenrechte, also Hilfe und umfangreiche Befreiung und Heilung anzubieten.

17. Weitreichende Konsequenzen
Wenn Jesus von Nazareth als der Messias, aber nicht als der zum Gott gemachte Christus, anerkannt wird:
Dann muss u.a. die Trinitätstheologie neu bestimmt werden, siehe auch die Abwehr dieser 3 Personen – Trinitätslehre durch den katholischen Theologen Edward Schillebeeckx…
Dann muss die klassische, sich orthodox nennende Erlösungslehre („erlöst durch Jesus Christus“) neu bestimmt werden. In keinem Fall ist dann noch Jesus Christus als der von Gott zum erlösenden Kreuzestod zu den Menschen entsandte Sohn Gottes relevant. Vielmehr: Jesus als der Messias (nicht der göttliche Christus !) ist in der neuen Theologie erlösend, befreiend, zum Frieden inspirierend als das befreiende Vorbild.
Dann wird auch die sich orthodox nennende Lehre von der Erbsünde („totale Verfallenheit aller Menschen an eine sich durch die Sexualität immer fortsetzende Sünde Adam und Evas) beiseite gelegt.
Dann wird neu nachgedacht werden über die spirituellen Versammlungen der Gläubigen (Gottesdienste, Messen, genannt), die selbstverständlich jeder und jede gut ausbildete Gläubige leiten kann…

18. Finis: Ein Zitat für bibelfeste und bibeltreue LeserInnen:

Im Zusammenhang der Klerus – Kritik lohnt es sich immer, das 23. Kapitel des Matthäus-Evangeliums zu lesen „Worte gegen die Schriftgelehrten und die Pharisäer“, also übersetzt gegen den heutigen Klerus und seine Theologen.
Ich zitiere zum Schluss den Vers 4: „Sie (die Kleriker) schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen“.
Und Vers 13 heißt. „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

450 Jahre Bartholomäus-Nacht: Theologisch-politischer Wahn in Frankreich.

Zur „Bartholomäus-Nacht“ vor 450 Jahren (am 23./24.8.1572).

Hinweise von Christian Modehn.

1.
Die Bartholomäus-Nacht in Paris als Massaker und Pogrom an der Minderheit der französischen Protestanten bleibt ein außergewöhnliches Ereignis, es ist die Nacht des Massenmordens vom 23. zum 24. August 1572. Anläßlich der Hochzeit des Protestanten Heinrich von Navarra und Margarete von Valois (der Tochter von Katharina de Medici, die damals als Königin die oberste Herrscherin war) wurde der zur Feier eingeladene Führer der Protestanten Gaspard II.(de Coligny ermordet, anschließend wurden einige hunderte Protestanten umgebracht. Dann kam es in der französischen Provinz zu weiteren Massakern mit vielen Opfern.
Der Spezialist für diese Zeiten, der Historiker Jean Delumeau, (1) nennt insgesamt acht Religionskriege gegen die Protestanten in Frankreich, der erste Krieg bereits 1562, der letzte von 1585 bis 1598. Ein „bißchen“ Religions-Frieden gab es nur zwischen 1564 und 1566 und um 1582.
Für die Massaker der Bartholomäus Nacht trägt Katharina de Medici und die Gruppe der extrem katholischen Guisen (Herzöge in Lothringen) die Verantwortung, so Jean Delumeau, (2)
Seitdem ist jegliches Vertrauen der französischen Protestanten in die Herrschaft des Königs zerstört. Sie versuchen nun, ihre eigenen Zentren im Süden auszubauen, etwa in Nimes und Montauban sowie auch in La Rochelle. Papst Gregor XIII. war über das Massaker der Bartholomäus-Nacht hoch erfreut und ließ zum Dank ein „Te Deum“- Lobgesang im Vatikan veranstalten. So pervers konfessionalistisch dachte dieser Papst, und bekanntlich nicht nur er…

2.
Das Ereignis der Bartholomäus-Nacht legt die Ausmaße des religiösen und konfessionellen Wahns frei. Die Ereignisse rund um diese Massentötungen der Minderheit der Protestanten sind also mehr als „historische Daten“. Sie sind Symbole dafür, wohin Herrscher und die ihnen ergebenen Untertanen in ihrem Fanatismus geführt werden, wenn sie meinen: Sie allein hätten die „allgemeine objektive und göttliche Wahrheit“. Die Theologie der Kirchen hat diesen irrigen Gedanken einer objektiven Wahrheit (die als „Welt-Mission“ dann verbreitet wurde) seit dem 4. Jahrhundert durchgesetzt. Die Vorstellung, dass die römisch katholische Kirche „die“ göttliche Wahrheit besitzt (vor allem in Gestalt des Papstes), ließ sich bis heute nicht überwinden. So bleibt aufgrund der „allein selig machenden Kirche“ immer eine gewisse Gefahr für den Frieden unter den Menschen, selbst wenn hinsichtlich des gelebten religiösen Wahns islamistische Gruppen heute viel heftiger und gefährlicher sind…

3.
Die Erinnerung an das Ereignis und das weite Umfeld der Bartholomäus-Nacht im Frankreich des Jahres 1572 führt also zu der Erkenntnis: Es kann, wissenschaftlich, philosophisch, erkenntnistheoretisch betrachtet, keine objektive, für alle Menschen aller Zeiten gültige religiöse/kirchliche inhaltlich bestimmte Wahrheit geben, und zwar auch um des Friedens willen unter den Menschen in Gesellschaft und Staat. Es kann nur die subjektiven religiösen Wahrheiten für den einzelnen geben, die dieser für sich lebt und auch für sich behält, ohne daraus, sogar noch in aggressiver Werbung, eine gültige Wahrheit für alle und für immer zu formen … oder gar auf die Idee zu kommen, seine individuelle religiöse Wahrheit nun auch noch politisch und ökonomisch „für alle“ durchzusetzen. Dieser Wahn lebt heute z.B. in Kreisen der Abtreibungsgegner („Pro-Life“ Militante) oder evangelikaler Fundamentalisten.

4. Die Bartholomäus-Nacht:
Die Könige Frankreichs in den Zeiten der Reformation bis zur Revolution von 1789 folgten der Überzeugung: Nur eine einzige Religion, der Katholizismus, darf ein Lebensrecht im Königreich haben. Pluralität der religiösen Meinungen, umfassende Meinungsfreiheit insgesamt, war für den totalen Herrschaftsapparat der katholischen Könige nichts als eine Bedrohung. Pluralität und Toleranz mussten ausgerottet werden. Die gelegentlichen königlichen Toleranzedikte gegenüber den Protestanten waren von kurzer Dauer. Das Toleranzedikt Edikt von Nantes brachte im Jahr 1598 eine gewisse Beruhigung im Abschlachten, in den Attentaten, Massakern, Belagerungen usw. Das Edikt von Nantes wurde durch König Ludwig XIV. wieder abgeschafft, 1685, im „Edikt von Fontainebleau“. Es war eine grausame Verfügung der Intoleranz: Nicht nur wurde der Katholizismus zur einzig zugelassenen Religion, Gottesdienste der Protestanten wurden verboten, protestantische Kirchen zerstört, die reformierten Pfarrer vertrieben. Etwa 200.000 französische Protestanten mussten das Land verlassen, sie fanden Zuflucht in der Pfalz, in Brandenburg, in Holland…

5.
Der französische Staat unter Führung des absolutistischen Ludwig XIV. ging aus den Schrecken, Vertreibungen, Verfolgungen der konfessionell bedingten Bürgerkriege nur scheinbar als Sieger hervor. Viele tausend gebildete und wohlhabende französische Protestanten, viele qualifizierte Handwerker usw. mussten das Land verlassen, nur so entgingen sie der Verfolgung oder der Zwangskonversion. Und der Katholizismus war ein staatlich, königlich, dominierter Glaube, er sollte so des Königs von Gott gegebene Allmacht demonstrieren, und diese Verhältnisse Gabe es schon seit dem 14. Jahrhundert ( 3.) „gallikanisch“ bestimmt, d.h.: Das letzte Wort in Kirchenfragen, etwa bei der Ernennung von Bischöfen, hatte nicht der Papst, sondern der französische König. Der Jurist Pierre Pithou (1539-1596, Konvertit zum Katholizismus) hat das dafür grundlegende Werk „Les Libertés de l église gallicane“ 1594 verfasst. 1682 verfestigte der französische Klerus seine kritische Haltung gegenüber dem Papst und drückte offiziell seine Unterstützung aus zugunsten des Kirchenführers, des Königs. Der König war selbstverständlich nur nach außen katholisch, die katholischen Moralgebote galten für ihn, siehe das bischöflich geduldete Mätressen-Wesen. Und in den üblichen Kriegen konnte er gewissenlos tausende seiner Landsleute in den Tod schicken.

6.
Aber die erwünschte weltanschauliche, religiöse Einheit und Einförmigkeit in Frankreich blieb eine Illusion: Militante Papst-ergebene Katholiken (die „Ultramontanen) machten der Königsherrschaft das Leben schwer. So wurde die Konversion von König Henri IV., ursprünglich Protestant, von Ultramontanen heftig bezweifelt. Sie propagierten immer wieder die Theorie des Königsmordes: Tatsächlich wurde wurde König Henri IV. 1610 von einem militanten Katholiken ermordet.

7.
Diese Politik der absoluten religiösen Einheit bzw. Einförmigkeit hatte trotz der versuchten Ausrottung des Protestantismus keinen Erfolg: Es bildeten sich Kreise der literarischen – philosophischen Libertins, also der Freidenker, und vor allem, Skeptiker melden sich zu Wort, wie sehr früh schon Michel de Montaigne. Und vor allem: Es organisierte sich innerhalb des königlich dominierten Katholizismus die strenge spirituelle Gegenbewegung des Jansenismus, der in seiner rigorosen Gnadenlehre in gewisser Weise Ideen der reformierten Theologie Calvins übernahm. Der Jansenismus ist benannt nach dem Bischof von Ypern, Cornelius Jansen, 1585-1638, er war ein Verfechter der extremen Interpretation der augustinischen Theologie.
Auch wenn Ludwig XIV. die spirituellen Zentren und Klöster des Jansenismus zerstörte und die führenden Köpfe dieser spirituellen Bewegung tötete: Die Ideen der Jansenisten (der Mathematiker und Mystiker Blaise Pascal gehörte zu ihnen) überlebten, Jansenisten waren die einflußreichsten ideologischen Widersacher des Gallikanismus („der König ist der Herr der Kirche, nicht der Papst“) und der damals als liberal („moralisch lax“) geltenden Jesuiten.

8.
Es entwickelten sich rund um die philosophischen Salons in Paris religionskritische Philosophien, die den Katholizismus insgesamt überwinden wollten, nicht nur zugunsten eines materialistischen Atheismus (Julien de la Lamettrie, 1751 in Berlin gestorben), sondern auch zugunsten einer einfachen Vernunftreligion, etwa im Denken Voltaires.
Die radikalen Kreise der Revolutionäre von 1789 förderten mit Gewalt die Entkirchlichung, den Abschied der Franzosen von der Kirche, der Haß der Katholiken auf die ultra-reichen Klöster und privilegierten Bischöfe war kaum zu bremsen, es gab die Zerstörungen von Kirchen und Klöstern, die Verfolgung von antirevolutionären Priestern. Aber die Revolution brachte endlich die Religionsfreiheit für die Protestanten und später auch für die Juden sowie die Abschaffung der Sklaverei.

9.
Mit anderen Worten. Der Wahn der französischen Könige, seit dem ersten Auftreten von Protestanten in Frankreich bedeutet: Die eine und einzige Religion, den Katholizismus, sollte gefördert und verteidigt werde. Diese Ideologie als Wahn endete – In der Sicht der Herrscher und bei dem Leiden der Menschen – mit einem Desaster: Die Pluralität der Meinungen ließ sich eben nicht definitiv ausschalten, insgeheim blieb die Pluralität der Überzeugungen erhalten.
Seit 1905 gilt das Gesetz der laicité, der Trennung von Kirchen und Staat. Der Staat ist religiös neutral, er lässt die verschiedenen Religionen leben und sich entfalten, solange sie in ihrer Praxis sich nicht gegen die Grundlagen der Menschlichkeit verhalten.
Und vor allem: Die Verfolgung Andersgläubiger brachte die Menschen dazu, letztendlich nur noch ein äußerst geringes Interesse zu haben für die Formen der christlichen Religionen. Dass sich heute (2022) noch nicht einmal die Hälfte der Franzosen als Katholiken bezeichnen, ist letztlich auch ein (fernes) Resultat dieses religiösen Wahns der Intoleranz der Königsherrschaft. Aber entscheidender ist: Die so genannte religiöse „Praxis“ der Katholiken (d.h für Religions-Soziologen die regelmäßige Teilnahme an der Sonntagsmesse) tendiert heute (2022) in vielen Gegenden (etwa Burgund, Bourges, Limoges, Gueret, Moulins, Nevers, Carcassonne usw.) gegen Null. Die französische katholische Kirche besteht zwar noch in ihren ziemlich aufgeblähten Strukturen, aber sie ist eine von der Hochschätzung her gesehen eher schwache Institution, schwach, auch finanziell ausgestattet, vor allem geistig ist sie weithin schwunglos und erstarrt, weil immer mehr die konservativen und reaktionären Bewegungen der „Neuevangelisierung“ bestimmend werden. Auch die vielen tausend „Fälle“ von sexuellem Missbrauch durch Priester in Frankreich lassen die Kirche der Kleriker immer unglaubwürdiger erscheinen.

10.
Was zeigt diese historische Erfahrung Frankreichs? Wenn eine Kirche politisch beherrscht wird, also Staatskirche ist, und wenn die Vernunft, also die Toleranz, eine untergeordnete Rolle spielen gegenüber den konfessionellen, theologischen Lehren, dann ist der Niedergang der Kirche und des kirchlich geprägten Glaubens vorgezeichnet. Die Gläubigen verzeihen es weder der Kirche noch dem Staat, wenn in der Kirche-Staat-Einheit auch Staatsbeamte den Gottesdienstbesuch kontrollieren und prüfen, welches Gemeindemitglied zur Osterbeichte gegangen ist (Siehe dazu die Studie von Jean Delumeau, „Le catholicisme entre Luther et Voltaire“, Paris 1985, S. 336 ff.).

11. Hinweise zur Frühgeschichte der französischen Protestanten:

Die ersten so genannten „Falschgläubigen“ (also Protestanten bzw. „Hugenotten“) in Frankreich konnten schon 1520 Bücher Martin Luthers in Frankreich erwerben. (5) verbreitet. Dadurch wurden zuerst Kreise erreicht, die gebildet waren, also mindestens lesen konnten, und das waren Menschen in großen Städten. Die ersten Gemeinden waren eher Hauskreise, und pro forma besuchten die ersten Reformierten noch die katholische Messe (6). Das erste protestantische Abendmahl wurde 1541in Sainte Foy gefeiert, danach 1542 in Meaux, 1545 in Pau und Tours. 1559 wurde die erste Nationalsynode in Paris organisiert und ein Bekenntnis formuliert. „Der Protestantismus war nun eine Kraft im Königreich mit Schwert – der Adel hatte sich dem Protestantismus angeschlossen – und einer strukturierten Lehre“ (7). Der Admiral und Hugenottenführer Gaspard II. de Coligny aus dem Hochadel zählte 1562 schon 2.150 reformierte Gemeinden und der Pfarrer von Provinz wusste zu der selben Zeit, dass ein Viertel der französischen Bevölkerung protestantisch geworden ist. Längst war die protestantische Bewegung über intellektuelle Kreise hinaus gewachsen.

12.
Schon 1523 wird der Augustinermönch Jean Vallière als Anhänger der Lehren Luthers, seines Ordensbruders, wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen in Paris verbrannt, er war der erste Märtyrer der Reformierten Kirche bzw. der damals Hugenotten genannten Christen. (9). In Metz wird der Laienprediger Jean Leclerc wegen Ketzerei hingerichtet. 1526 wird Jacques Pauvant in Metz als Ketzer hingerichtet, der Übersetzer Martin Luthers, Louis Berquin wird 1529 gefoltert…..

13. Ein Hinweis zum Profil des Reformators Jean Calvin (1509-1564):
Calvin ist der Inspirator der Reformierten Kirche in Frankreich, geboren in Noyon, in der nordfranzösischen Picardie, bestimmte er mit seinen Schriften und seiner Autorität von Genf aus die Entwicklung von Rom-unabhängigen Gemeinden. Bemerkenswert ist: Er war Jurist und Humanist, sein besonderes Interesse gilt der Nähe der Philosophie der Stoa zum Christentum). Der junge Calvin „glaubt, dass der Stoizismus im Verbund mit dem Humanismus eine Koalition eingehen könne mit dem Christentum gegen die Epikuräer, also gegen eine hedonistische, auf das individuelle Glück zielende Lebensdeutung“ (10.). Die Abweisung des Epikureischen blieb Grundbestand der Lehre und Moral Calvins. Er hat (katholische) Theologie studiert, ohne katholischer Kleriker zu werden. Es war die persönliche intensive Bibellektüre, die zum Bruch mit der römischen Kirche führte.. „Gut reformatorisch geschieht die Bekehrung im Akt des Lesens der Bibel“ (11).
Calvin bleibt ein umstrittener und eher auch fanatisch wirkender Reformator, hinsichtlich der Strenge seiner Lehre erscheint er as Kirchenerneuerer fremd und in gewisser Weise „überholt“. Er war es, der den Humanisten und Gegner des trinitarischen Glaubens, Michel Servet (1511 in Spanien geb.) 1553 auf den Scheiterhaufen in Genf zur Verbrennung führen ließ. Die Hinrichtung löste immerhin Diskussionen unter den reformierten in Genf aus. Vor allem durch diese Untat ist der ohnehin eher spröde wirkende Calvin niemals ein populärer Reformator geworden,. Die Charakterisierung als eines „säuerlichen Gelehrten“ hat sich durchgesetzt. Schlimmer noch empfinden viele kritische Menschen, damals wie heute, Calvins Prädestinationslehre, also die Ideologie, Gott habe im Himmel schon bestimmt, wer gerettet wird und wer nicht… Die freisinnigen Remonstranten („Arminianer“) haben sich dann 1618 von dieser strengen Lehre abgesetzt und für die Freiheit der Menschen auch Gott gegenüber plädiert.
Interessant bleibt, dass sich im Unterschied zur „Lutherischen Kirche“ heute kaum noch eine Kirche sich auf ihren „Stifter“ Calvin namentlich bezieht und „calvinistisch“ nennt. Es hat sich der neutrale Titel „Reformierte Kirche“durchgesetzt mit einem „Reformierten Weltbund“ mit Sitz in Genf. Er versammelt ca. 80 Millionen Gläubige in ca 225 verschiedenen eigenständigen reformierten Kirchen.

14.
Politisch inspirierend und aktuell sind manche Äußerungen Calvins: Etwa:
Für ihn sind Könige auch nur Menschen und als solche Sünder und deswegen auch korrupt: Calvin schreibt: „So ist es sicherer und erträglicher, wenn mehrere Herrscher das Steuerruder halten, so dass sie also einander beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen. Und wenn sich einer mehr als billig erhebt, eben mehrere Aufseher und Meister da sind, um seine Willkür im Zaume zu halten“.  (12)
Sätze, die den Königen in Frankreich gewiss nicht gefallen haben.
Calvin schwebt offenbar eine repräsentative Demokratie mit deutlich aristokratischen Anstrich – als der Herrschaft der Besten – vor, meint Klaas Prof. Huizing.

Quellangaben:

1:
Jean Delumeau, Histoire de la France, Larousse Paris, 1987, S 103.

2:
Ebd. S.105

3:
„Gegenreformation“ Von Ronnie Po-chia Hsia, (Prof. an der Uni New York, Fischer Taschwenbuch, 1998, S90.)

4:
Histoire de la France, S. 142

5:
Histoire de la France S. 143

6:
ebd.

7:
ebd.

8:
Ebd S. 139

9:
Klaas Huizing, Calvin, edition chrismon, 2008, S. 42

10:
ebd., S. 35

11:
ebd. S. 47.

12:
ebd.S 121, bezogen auf Calvins „Institiutio“, IV 20,8.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.