Das Buch „Sodom“ von Frédéric Martel

Macht, Doppelmoral, Homosexualität im Vatikan heute
Eine Buchhinweis von Christian Modehn

1.
(Homo)sexuelle Orientierungen und „Praktiken“ bestimmter Berufsgruppen heute ausführlich und öffentlich „freizulegen“, passt eigentlich nicht in die demokratische Kultur. Solche Untersuchungen lieben absolute Herrscher in Diktaturen, etwa der arabischen und asiatischen Welt, um besser Homosexuelle als angeblich „Perverse“ zu „greifen“, zu quälen, auszugrenzen, zu töten.
Trotzdem ist es sehr berechtigt, dass der französische Journalist und Soziologe Frédéric Martel eine umfangreiche, gründliche Studie vorlegt zu dem Thema: „Das homosexuelle meist versteckte Leben und mühevolle Lieben der Kardinäle, Bischöfe, Prälaten, Priester, Theologen im Vatikan und in anderen Zentren der katholischen Kirche“. Der Titel des Buches heißt provokativ „SODOM“. Auf Deutsch ist diese äußerst umfangreiche, international weit verbreitete und weit geachtete Studie als Übersetzung aus dem Französischen erschienen im S. Fischer Verlag im September 2019.
2.
Frédéric Martel ist in Frankreich als Autor soziologischer Studien bekannt geworden. Sein neues Buch ist eine Art „Meisterwerk“ der geduldigen, Jahre langen Recherchen nicht nur im Vatikan, sondern in vielen Ländern. Dieses Buch ist ein Beispiel der groß angelegten Forschung mit einem Team von 80 Mitarbeitern. Ein Konsortium von 15 Anwälten begleitet – sicherheitshalber – diese umfassende und sicher einmalige Arbeit, die einen Höhepunkt darstellt in der Kritik am römischen Katholizismus heute. Wer als Mitglied der katholischen Kirche(nleitung) dieses Buch gelesen hat, hat die Wahl: Entweder die römische Kirche sofort von Grund auf erneuern (eine neue Reformation) mit der Abschaffung des Pflichtzölibates oder diese Kirche resigniert … zu verlassen. Und den eigenen Weg zu gehen.
3.
Martel kennt die katholische Kirche seit seiner Kindheit, er nennt sich heute „katholischer Atheist“ oder „Atheist mit katholischer Bildung“ (S. 656), ohne dabei militant antireligiös zu sein. Er bemüht sich, seine eigene Meinung zum Thema zurückzuhalten, auch wenn er seine persönliche Betroffenheit „ich selbst bin schwul“ schon auf der Umschlagseite des Buches unter seinem Foto mitteilt. Er schildert ausführlich sein Arbeiten, nennt alle Gesprächspartner in 30 Ländern: U.a.: 41 Kardinäle, 52 Bischöfe, 45 päpstliche Nuntien, über 200 Priester usw… Die verdrängte Homosexualität äußert sich sehr oft in heftigen Feindseligkeiten gegen offen lebende Homosexuelle. Darum gilt die Grundregel: Die heftigsten Schwulenfeinde sind selbst homosexuell…Das gilt vorzüglich und besonders in katholischen, vatikanischen Kreisen, zeigt Frédéric Martel in seiner Recherche.
Martel respektiert deren Wunsch, wenn sie sich gelegentlich nur anonym oder unter Decknamen äußern wollen. Aber manchmal ist die Wut über die Scheinheiligkeit hochrangiger Kardinäle beim Autor zu spüren, etwa wenn er auf den extrem verlogenen homosexuellen Kardinal Lopez Trujillo aus Kolumbien zu sprechen kommt: Dieser Kardinal war ja bekanntlich einer der schlimmsten Feinde der Befreiungstheologie, ein Feind des heiligen Erzbischof Romero, El Salvador. Lopez Trujillo war auch angesehener Mitarbeiter eines von dem deutschen Hilfswerk ADVENIAT begründeten Arbeitskreises „Kirche und Befreiung“; er war später der militante Propagandist gegen den Kondomgebrauch zum Schutze vor AIDS; er war der heftigste Feind gegen die Gleichberechtigung der Frauen. Zudem war er eng verbunden mit den kolumbianischen Drogenkartellen und ihren Paramilitärs (S. 358). UND vor allem dies ist unserem „Fall“ wichtig: Er war einer der ständigsten Kunden von Strichern schon in Medellin, später auch in Rom, als er dort Chef des „Päpstlichen Rates für Familien“ (sic!) war: Auf seinen vielen Reisen war er stets auf der Suche nach Strichern. Fast möchte man hier den bekannten Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec aus seinem Buch „Unfrisierte Gedanken“ zitieren: „Er war stets von Sodom nach Gomorrah gezogen“. Martel schreibt in seinem Buch: „Lopez Trujillo bezahlte die Stricher, aber dafür mussten sie Prügel einstecken. Aus reinem Sadismus schlug er sie nach dem Geschlechtsverkehr, versichert Martels kolumbianischer Gewährsmann Alvaro Leon“ (S. 365). Martel schreibt weiter: „Wenn in diesem Buch jemand erbärmlich ist, dann er, Lopez Trujillo“ (ebd.). Und auch an anderer Stelle kann sich Martel seines Zorns nicht mehr enthalten: “…Diese Weihwasserschwuchtel, diese Diva des sterbenden Katholizismus. Dieser Teufelsdoktor und Antichrist: Seine Eminenz Alfonso Lopez Trujillo“ (S. 370). Nebenbei: Im Vatikan schlagen heute noch nachdenkliche Priester die Hände über den Kopf zusammen, wenn sie allein den Namen dieses großen Günstlings des polnischen Papstes hören. Wie viel theologischen Unsinn hat dieser korrupte „Sexkardinal“ angerichtet, wie Leid unter den wirklich gläubigen Katholiken verursacht. Wie viele vernünftige Katholiken haben seinetwegen die Kirche verlassen…
Das Paradoxe ist: Diese hohen Kleriker des Vatikans und die Kardinäle und Nuntien sind als Bürger des Vatikans von der italienischen Justiz nicht zu belangen, sie besitzen Immunität, wenn sie etwa mit minderjährigen Strichern in Rom erwischt werden oder in Crusing-Gebieten der römischen Parks auffällig werden. Auch darauf weist Martel hin, und man begreift einmal mehr, warum die Existenz des Zwergstaates Vatikan-Stadt doch noch einen weiteren Sinn hat…Es ist die Immunität seiner höchsten Bewohner, davon hat schon der korrupte US amerikanische Kardinal Paul Marcinkus – auch er Mitglied der versteckten und verklemmten Gay-Priester-Gemeinde profitiert.
Zurück zu Kardinal Lopez Trujillo, et machte als im Vatikan selbstverständlich bekannter, aber nie so benannter Schwuler eine Riesenkarriere. Er wurde von Papst Johannes Paul II. gefördert, weil er ebenfalls ein strammer Anti-Sozialist und Anti-Kommunist war und … über viel Geld verfügte, das im „Kalten Krieg“ nach Polen zur Gewerkschaft Solidarnosc floss.
4.
Frédéric Martel bietet andere extreme Beispiele: Er erinnert an den Gründer der Ordensgemeinschaft „Legionäre Christi“, den Mexikaner Marcial Maciel. Zusammenfassend nennt Martel diesen Ordensgründer und Ordenschef „die teuflischste Gestalt, die die katholischen Kirche in den letzten 50 Jahren hervorgebracht hat und groß werden ließ“ (S.291). Nebenbei, damit wir uns richtig verstehen: Martel und auch der Autor dieses Textes haben überhaupt gar nichts gegen gelebte Homosexualität. Beide haben nur sehr viel dagegen, wenn ganze Netzwerke homosexueller Kleriker ihre hohe Position ausnutzen, um verlogen die Gläubigen zu betrügen: Man denke daran, der Ordenschef Pater Maciel schrieb ein Buch mit dem hübschen Titel „Christus ist mein Leben“, während er sich Strichjungen und Seminaristen hingab, sie in sein Bett schleppte und auch erstaunlich sogar sich mit älteren Frauen sexuell „abgab“, dies freilich nur. um Kinder zu zeugen, die er auch missbrauchte und in vorgetäuschter Liebe finanzieller Nutznießer der betrogenen, selbstverständlich sehr reichen Ehefrauen zu sein. Die Millionen Dollar flossen da nur so.
Eine Geschichte, wie ein Krimi, der leider noch nicht gedreht wurde. Ich habe auf meiner website schon vor 10 Jahren begonnen, kritische Beitrag zu den Legionären und ihrem „Generaldirektor“ Marcial Maciel zu publizieren. Dort kann man sich ausführlich informieren. Das sexuelle total gewordene Treiben und die maßlose, betrügerische Gier nach sehr viel Geld des Marcial Maciel fand erst unter Papst Benedikt XVI. ein gewisses Ende. Als Kardinal in Rom wusste er wie alle Kardinäle und der Papst von dem Treiben dieses Priesters, der den Zölibat gelobt und Keuschheit versprochen hatte. Er hatte dieses Gelübde total „abgelegt“. Papst Benedikt nannte ihn dann einen Verbrecher. Aber der Papst hat Maciel nicht den staatlichen Behören in Rom übergeben, sondern wie unter klerikalen Brüdern damals üblich, sehr freundlich zu einem zurückgezogenen Leben in Buße aufgefordert. Daran dachte der Legionärsgründer Pater Maciel überhaupt nicht: Er setzte sich, schon krank, ins schöne Florida ab, wurde dann 2006 in seiner Heimat Cortija de la Paz versteckt und verschämt von den Seinen bestattet. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre und kein Papst ihn in letzter Minute ausgegrenzt hätte, sollte dort eine Art Wallfahrtsort zum heiligen Pater Marcial Maciel entstehen.
Und dies kann man als Skandal bezeichnen, den leider Martel nicht erwähnt: Der Orden der Legionäre Christi (mehr als 1000 Mitglieder) und die von Maciel gegründete weltweite Laiengemeinschaft Regnum Christi (etwa 70.000 Mitglieder) bestehen nach wie vor weiter: In diesen Kreisen der verklemmten Maciel – Freunde erwähnt man offiziell den verbrecherischen Ordensgründer klugerweise nicht mehr, seine Fotos sind von den Wänden verschwunden, wie in einer Art Entstalinisierung, man tut so, als hätte es ihn nie gegeben. Und alles geht seinen üblichen Gang des Vergessens. Warum? Weil beide Gemeinschaften extrem konservativ sind, weil sie enorm viel Geld haben, weil sie immer junge Priester stellen in einer Kirche, die in Europa fast nur noch ältere und greise Priester kennt. Hauptsache also, der Klerus in der alten zölibatären Form bleibt stark. Das ist ja wohl auch auch die Devise von Papst Franziskus.
5.
Es ist nicht Aufgabe dieser knappen Buchempfehlung, alle Details vorweg zu beschreiben. Die Studie enthält vier Kapitel, das erste bezieht sich auf die schwulen Umtriebe am Hofe von Papst Franziskus, die weiteren widmen sich den entsprechenden Geschehnissen am Hofe Papst Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI., wobei unter und mit diesem Papst die heftigsten Anti-Homo-Attacken verbreitet wurden… und Joseph Ratzinger in dieser Homo – Hinsicht sich persönlich in einer gewissen „Grauzone“ bewegt..
Es werden von Frédéric Martel auch einige wenige vernünftige, angstfreie katholische Theologen genannt, etwa der einstige Generalprior des Dominikaner-Ordens, der Engländer Timothy Radcliffe, wobei natürlich den kenntnisreichen Kritikern deutlich ist, dass auch die homosexuellen Netzwerke in den einzelnen Orden hätten freigelegt werden können. Wobei der Dominikaner – Orden für eine deutliche Liberalität in dieser Hinsicht – Gott sei Dank sagen manche – bekannt ist. Wie sehr sich junge homosexuelle Männer gerade in den rigiden (christlichen) Regimen Afrikas förmlich als Mitglieder in die katholischen Klöster und Orden in den großen Städten Afrikas als flüchten, deutet Martel nur an, viele von ihnen hoffen dann nicht ohne Grund, in „priesterlosen“ Gemeinden Europas tätig zu werden…
Zentral bleibt die Erkenntnis, dass eine ganz überwiegende Mehrheit des Klerus homosexuell ist, vor allem im Vatikan. Der Vatikan als Sodom, dies ist die zentrale Aussage der bestens belegten Studie.
Der Vorwurf heißt: Diese schwulen Kirchenführer tun nichts, um im Sinne der Botschaft für die Gleichberechtigung und für den umfassenden Respekt homosexueller Menschen einzutreten. Sie sind selbst derart verdorben und verklemmt, dass ihnen dieser Dienst zugunsten der universalen Menschenrechte gar nicht in den Sinn kommt. Sie leiden unter dem Eingezwängtsein durch das offizielle Zölibatsgesetz, sie wenden alle ihre Energie nur darauf, wie sie ihre Homosexualität bloß nicht nach außen zeigen. Und wie sie in den Abendstunden und Nachts eine andere Identität sich zulegen, um in Rom und anderswo auf die Suche nach Sexkontakten zu gehen.
All das wird von Martel ausführlich dokumentiert. Nicht um die Neugier zu befriedigen, sondern um zu zeigen, zu welchen Irrwegen und zu welchem ja durchaus auch seelischem Leiden das völlig sinnlose und total falsche Zölibatsgesetz führt!
Eine ähnliche Studie würde im Falle der doch immer noch aktiven heterosexuellen Priester zu ähnlichen Ergebnissen der Verlogenheit kommen. Man müsste dann nur deutlich von Alimenten sprechen, die die Bischöfe zu zahlen haben oder von Vergewaltigungen von katholischen Nonnen, etwa in Afrika und Indien, durch katholische Priester. Oder von der Tatsache, dass in Afrika und Lateinamerika auf dem Land, in den Dörfern, die heterosexuellen Priester selbstverständlich mit einer Frau zusammenleben. Alles andere würden die Menschen dort gar nicht verstehen.
6.
Ich habe den Eindruck: Frédéric Martel befindet sich mit seinem wichtigen Buch in interessanter, möglicherweise „guter Gesellschaft“: Papst Franziskus hat schon ein Jahr nach seiner Wahl zum Papst am 22. Dez. 2014 die Kurienkardinäle aufs Allerschärfste sehr allgemein kritisiert; noch einmal am 20.Okt 2017 und im Oktober 2018 „Der Papst gibt den konservativen Gegnern seines Pontifikats zu verstehen, dass er über ihr Doppelleben Bescheid weiß“ (S. 98).
Nebenbei: Sehr spannend lesen sich Kapitel, in denen Martel von seinen Recherchen im die Strichermilieu rund um den Bahnhof „Roma Termini“ berichtet und dabei von der klerikale Kundschaft (S. 163 ff) spricht. Auch über den Zusammenhang von sexueller Gier und materieller Gier unter den Kardinälen und Prälaten schreibt Martel ausführlich. Denn, so der Autor, Luxus – Stricher sind teuer, viele Kardinäle zahlen dann gern im Gebrauch allgemeiner Konten des Vatikans und seiner Behörden, so der Autor.
Dabei nennt der Autor durchaus seltene Beispiele einer menschlich gestalteten Homosexualität unter den Klerikern, aber es sind eben wenige, die so viele Nerven haben, mit ihrem Freund zusammenzuleben. Oft übersieht der Vatikan sogar dieses „Fehlverhalten“, solange kein Betroffener davon öffentlich spricht.
7.
Diese Studie von Frédéric Martel zeigt eindringlich: Das Modell der katholischen Kirche als Zölibats-Klerus-Kirche ist am Ende, diese Kirche ist faktisch noch vorhanden, zum Teil mit Milliarden Euro Summen ausgestattet, aber moralisch und spirituell ist sie ausgelaugt. Die Lösung wäre: Abschaffung des Pflichtzölibats und selbstverständliche Akzeptanz von heterosexuellen wie homosexuellen Priestern. Diese homosexuellen Priester können dann selbstverständlich in einer Partnerschaft oder Ehe leben.
8.
Dies ist die „bleibende Erkenntnis“ dieses Buches: Es sollte ein Ende damit gemacht werden, dass diese sexuell gierigen, sexuell frustrierten, einsamen und wegen ihrer zu bezahlenden Stricher auch Geld-gierigen Prälaten, Kardinäle und Nuntien den Katholiken und der Welt vorschreiben, wie sie, die anderen, zu leben haben. Dieser arrogante Wahn der sexuell Frustrierten sollte sofort ein Ende haben. Hätte denn sonst dieses Buch von Frédéric Martel ein greifbares Ergebnis? Das ist doch die Erkenntnis, die nach der Lektüre dieses wichtigen Buches bleibt. Aber: Welcher Leser glaubt ernsthaft daran, dass sich das klerikale verlogene Zölibatssystem auflöst? Dass es, wie 1989 in dem ähnlich verfassten Regime des „Ostens“, zu einer Wende kommt? Daran glaubt meines Wissens kein Katholik. Die Mauern des Vatikans sind bekanntermaßen wirklich mehrere Meter dick. Die kann niemand stürzen. Der Geist der Tradition ist ebenso kaum zu kippen, weil zu viele Kleriker davon profitieren…
9.
Kardinal Walter Kasper, den der Frédéric Martel besonders schätzt wird in dem Buch zitiert: „Die Leute scheinen auch ohne Gott glücklich zu sei. Das ist die große Frage, die ihn beschäftigt. Wie wir Gottes Weg wieder finden sollen?, fragt der Kardinal Kasper. Er habe das Gefühl, es sei vorbei (mit der Kirche und ihrer alten Gotteslehre, muss man ergänzen). Die Schlacht sei verloren“ (S 161).
10.
Das Buch hat einen einzigen Nachteil: Es enthält kein Namensregister.

Frédéric Martel, Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 671 Seiten, 26 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Be

Die Ehre – das veräußerliche Leben. Das Gegenteil von Würde.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Warum soll man sich mit dem Begriff und der Wirklichkeit der EHRE und der EHR-ERBIETUNG befassen? Wenn Ehre und Ehr-Erbietung zum Mittelpunkt des Lebens werden, wird das Leben selbst völlig veräußerlicht, oberflächlich, unpersönlich. Nicht alle wollen so leben. Deswegen sollten wir uns mit der Ehre und der Ehrerbietung befassen. Etwas anderes ist hingegen die Ehrfurcht.

1. Würde ist mehr als Ehre
Dem Begriff der Würde eines jeden Menschen steht scheinbar der Begriff der Ehre und des Ehrgefühls nahe. Aber nur scheinbar!
Denn Würde ist eine innere Dimension der menschlichen geistigen personalen Existenz. Sie ist eine (meine, deine, unsere) Dimension, die letztlich von keinem anderen Menschen zerstört werden kann. Denn bekanntermaßen können noch unter unmenschlichen, unwürdigen Bedingungen die Opfer ihre innere Würde bewahren und sich so inmitten der Unmenschlichkeit wenigstens seelisch, menschlich retten. Was nicht bedeutet, nicht gegen unmenschliche Zustände aufzustehen und zu rebellieren!

2. Nur der einzelne selbst kann seine innere Würde verlieren.
Die eigene unantastbare Würde kann nur vom einzelnen selbst in seinem eigenen würdelosen Verhalten zu einem gewissen Verschwinden gebracht werden. Ob die „innere Würde“ eines Menschen jemals von ihm ganz zu „töten“ ist, bleibt die Frage. Die KZ-Mörder, ein klassisches Beispiel, wurden im Nazi-System geehrt. Sie haben aber als Menschen, die sie ja waren, fast ganz ihre innere Würde – durch eigene Tat – verloren. Und diese Würde ist vor allem eine „innere“ Realität, im Geist, in der Seele, im Gewissen zu spüren. Vielleicht kann eine gewisse Fürsorge der KZ Mörder noch für die eigenen Kinder als ein kleiner Restbestand von eigener Menschenwürde deuten. Das würde meiner These entsprechen, dass kein Mensch seine Würde total verlieren kann. Dies ist auch ein Argument gegen die Todesstrafe: Man hofft immer noch auf eine gewisse Resozialisierung selbst de Mörders…

3. Veräußerlichtes Gefühl, „geehrt zu werden“
Ehre und Ehrgefühl des einzelnen sind äußerliche Zuschreibungen anderer. Die Literatur des 20. Jahrhunderts ist voller Darstellungen dieser „Ehren-Problematik“ bzw. Sucht, als ehrenwerter Mensch angesehen zu werden. Man denken nur an Hermann Broch und vor allem an den ersten Teil seiner „Schlafwandler-Trilogie“.
Das ist typisch: In einer hierarchisch verfassten Gesellschaft bzw. einem hierarchisch geprägten Staat (und diese gibt es immer) werden bestimmte „hohe“ Amtsträger wie automatisch von anderen als „ehrwürdig“ betrachtet und angesprochen. Zum Beispiel: So müssen wohl oder übel die demokratischen Politiker bei Staatsbesuchen etwa bei Mister Trump oder Mister Orban oder bei afrikanischen bzw. arabischen Despoten gewisse „ehrerbietige“ Höflichkeitsregeln befolgen, obwohl die genannten Herren diese Ehre eigentlich nicht verdienen. Aber die Diplomatie schreibt Verlogenheit vor. Aber die Überzeugung, dass es sich bei den Genannten (Trump usw.) um würdelose Wesen handelt, ist doch sehr zurecht angesichts von deren Taten und Worten sehr weit verbreitet. Hinterlässt aber bei der demokratischen kritischen Bevölkerung immer noch Hilflosigkeit. Diktatoren lieben das Ostentative, die Monumentalität etwa in ihren Bauvorhaben. Dieses sollen die Ehre, das Prestige erhöhen. So nimmt etwa Erdogans Palast das Vierfache des Schlosses von Versailles ein und das Fünfzigfache des Weißen hauses in Washington. Bezogen auf Erdogan, Türkei, schreibt der Philosoph Marcel Hénaff: “In vielerlei Hinsicht konnte man diese Art Pathologie (des Monumentalen-Wahns) bereits im Monumentalismus bei den Nationalsozialisten, Faschisten und Stalinisten beobachten” (Lettre International, Frühjahr 2018, S. 77).

4. Respekt und Achtung
Achtung gebührt dem (gerechten) Gesetz, wie Kant treffend bemerkte. Und wenn man eine „Amtsperson“ achtet, dann nur wegen des (gerechten) Gesetzes, „wovon jene Person uns das Beispiel gibt“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten).
Respekt bezieht sich auf den Umgang mit anderen Menschen. Dieser Respekt gilt prinzipiell jedem Menschen, darin drückt sich die Anerkennung der Würde, des „Wertvollen im Menschen“, aus; diese Würde ist etwas Unantastbares, einem jeden Menschen „Innerliches“.

5. Der gute Ruf und die bürgerliche Moral
Wer hingegen geehrt werden will, ist bedacht auf seinen (angeblichen) guten Ruf. Er will nach außen hin, bei anderen, „etwas“ gelten, als etwas Besonderes erscheinen. „Mehr Schein als Sein“ ist das unzerstörbare Lebensprinzip dieser „Ehrenvollen“. Man freut sich etwa über Auszeichnungen. Die können im Falle für sportliche oder für künstlerische Leistungen sinnvoll sein; selbst wenn diese Auszeichnungen oft eher durch zufällige (auch parteipolitische) Konstellationen oder „connetions“ zustande kommen. Sehr oft wird bei einer Ehrung nicht die Person als solche hervorgehoben oder gar als Vorbild gepriesen. In der Ehrung wird das von der Person immer noch verschiedene künstlerische, literarische „Werk“, die „Leistung“, geehrt. Ist die Leistung etwa durch Doping betrügerisch erschlichen worden, wird auch die Person eher höchst kritisch betrachtet. Und von der Masse der Enttäuschten geächtet.
Diese Ehrungen in der Kultur, vor allem in der Politik sind oft sehr problematisch, weil übereilt: Man denke an angebliche „Friedenspolitiker“ wie Obama, er erhielt 2009 den Friedensnobelpreis. Man denke auch daran, welche merkwüridgen Gestalten etwa auf die „Ehre der Altäre“ als Heiliggesprochene und ehrenvolle Vorbilder erhoben wurden: Etwa der Scharlatan und Volksheilige Pater Pio in Italien oder der reaktionäre Papst Pius IX. oder der Gründer des katholischen Geheimclubs „Opus Dei“, Pater Escriva y Balaguer… Zu diesen so ehrenvollen Herren sollen also die frommen Katholiken um himmlischen Beistand bitten!

6. Der gute Ruf als Ehre in der Familie
Spielt die Ehre noch im alltäglichen Familienleben eine Rolle? Vielleicht ist das Insistieren auf der Bedeutung der Ehre für die Familie in nicht-muslimisch geprägten Familien West-Europas nicht mehr so groß wie noch vor 60 Jahren: Als etwa die braven, (klein)bürgerlichen Eltern den Kindern extravagante Kleidung oder Rock-Musik oder Formen der sexuellen Freiheit verboten hatten mit dem Argument: Wer das tut, schädigt den guten Ruf, die Ehre der Familie. Wie oft hörte man das Argument: „Was sollen denn dann die Nachbarn denken?“
Die Ehre wird selbst noch in Deutschland heute verteidigt, man denke daran, dass es christlich geprägte Familien für eine Schande halten, wenn der Sohn oder die Tochter sich öffentlich als homosexuell outen.
In muslimisch geprägten Kulturen spielt die Bewahrung der Ehre (also das äußerlich korrekte Verhalten nach den Geboten der Traditionen) eine sehr große Rolle, aber das ist ein eigenes Thema. Ein Stichwort wären: Ehrenmorde. Oder die „arrangierten Ehen“, die die Würde der Mädchen und Frauen verletzen. Ehre zeigt sich hier besonders als Ausdruck einer grausamen „Macho-Religion“.

7. Die Ehre als Mittelpunkt
Die Ehre war vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Europa eines der „höchsten Güter“. Es war eine Art „symbolisches Kapital“, wie es in der „Geschichte des privaten Lebens“ (Band IV, S. 270) heißt. Je mehr Ehre einem Menschen, einer Familie oder einer Firma zugesprochen wurde, um so bedeutender und erfolgreicher konnte man gelten und leben. Aber dieses Kapital der Ehre war stetst gefährdet, durch üble Nachrede konnte es zerstört werden. Davon handelten die ständigen, heftigen Streitereien der Menschen, etwa schon in Paris des 18. Jahrhunderts. Da gab es die staatlich angestellten „commissaires“, an die sich die Beleidigten wenden konnten, um die verlorene Ehre rechtlich wiederherzustellen.
Man wollte ja schließlich wieder „angesehen“ zur „Gesellschaft“ gehören.

8. Das Duell
Auf die lange Jahrzehnte dauernde, beinahe übliche Praxis des Duells kann hier nur hingewiesen werden, erst nach 1918 wurde das Duell verboten, 1970 gab es noch ein Duell in Uruguay.
Man bedenke aber, dass in dem allgemein bis zum 2. Vatikanischen Konzil verbindlichen „Handbuch der katholischen Moraltheologie“ von Heribert Jone (Paderborn 1953), das Duell noch als erlaubt galt, wenn denn dadurch das Gemeinwohl geschützt werden kann. So in § 216, S. 180 in diesem Buch, das den ganzen Klerus bis ca. 1965 prägte. Hingegen wird das nur aus privaten Gründen praktizierte Duell als schwere Sünde bezeichnet: Wobei unklar bleibt, ob nicht auch das private Duell irgendwie dem Allgemeinwohl dienen kann. Man denke etwa an den Wahn, mit dem sich die katholischen Feinde des (jüdischen) Hauptmanns Alfred Dreyfus ins Duell stürzten, in der Überzeugung, dadurch der Nation Frankreich zu dienen und den Juden Dreyfus zu bekämpfen….Nebenbei: Für diese Moraltheologie von Heribert Jone ist hingegen, so wörtlich, „ein Kampf mit Stöcken und Ruten noch kein Duell“, also erlaubt (S. 180 in Jone). Diese kirchliche Duldsamkeit fürs Schlagen mit Stöcken wurde gelegentlich in kirchlichen und staatlichen „Elite“-Schulen und Internaten angewendet. Schlagen war ja offiziell kirhlich nicht verboten. Man sieht hier die ideologische Abhängigkeit kirchlicher Moralvorstellungen von der herrschenden, aber verblendeten Moral. Der Theologie fiel es immer sehr schwer, selbstkritisch diese ideologischen Bindungen überhaupt zu erkennen. Man hielt das Gesagte oft genug für „Gottes-Wort“.

9. Das 8. Gebot
Die Ehrerbietung, also die Praxis der Ehrenbezeugung, spielt in den Religionen immer noch eine große Rolle.
Dass im 8. Gebot, von Gott an Moses angeblich übergeben, auch die Ehre von Vater und Mutter eine zentrale Rolle spielt, sollte weiter untersucht werden. Wenn man den häufigen Umgang heutiger Söhne und Töchter mit den alten Eltern betrachtet, meint man, in einer gottlosen Zeit zu leben..

10. Der Kult der Ehrerbietungen:
Der Dalai Lama wird auch hierzulande mit „Seine Heiligkeit“ angesprochen. Der Papst wird selbst in weltlichen Medien „Heiliger Vater“ genannt. Wer wagt es schon, etwa im Interview Papst Franziskus einfach und normal mit „Herr Bergoglio“ anzusprechen. Ehrerbietung und Achtung vor dem Amt spielen da fast zwanghaft zusammen. Katholische Pfarrer hießen und heißen in manchen Gegenden immer noch „Hochwürden“, Nonnen werden „ehrwürdige Schwestern“ genannt. Wer sich mit den Katholikentagen der neunzehnhundertfünfziger Jahre befasst, etwa mit dem Berliner Katholikentag 1958, wird immer wieder auf die Anrede „Seine Durchlaucht“ stoßen als Anrede für den obersten katholischen Laien damals, einen gewissen Karl Fürst zu Löwenstein. Ich habe als Kind damals so oft das Wort „Durchlaucht“ gehört und dachte, es handle sich dabei um ein Schiffbrüchigen oder vom Hochwasser Durchspülten
Die Ehre, die für die Frommen einzig dem transzendenten Gott selbst zukommen sollte, wurde und wird also pervertiert angewandt auf Menschen. Nebenbei: Welcher klerikale Hochwürden hat schon einmal einen Armen, der sich durchs Leben recht und schlecht kämpfen muss, wegen seines ungebrochenen Lebenswillens „Hochwürden“ genannt. Der Arme und die Bettlerin hätten diesen Titel verdient.

11. Jesus – der Mensch ohne Ehre
Es kann hier nur daran erinnert werden, dass die Gestalt des Propheten Jesus von Nazareth von den Herrschenden als ehrlose, störende Gestalt gewertet wurde. Aber dieses Lebensmodell Jesu war gerade seine Würde. Sein Tod und die Form seiner Hinrichtung sind das Ehrloseste, das in der damaligen Gesellschaft gab. Christen verehren also zunächst einmal den „Ehrlosen“, der sich dann aber in der Überzeugung der Gemeinde als der Würdevollste, überhaupt zeigte: In dem Selbstbewusstsein der Gemeinde wuchs die Überzeugung: Gerade dieser Mensch Jesus birgt förmlich Göttliches in sich, also Ewiges, das den Tod überdauert. Und dieses Ewige, so wuchs die Überzeugung, gilt für alle Menschen. (Als dringende Buchempflehlung: “Der schwierige Jesus“ von Gottfried Bachl, Tyrolia Verlag 1996. Bachl war Theologieprof. (Dieses Buch, nur 100 Seiten, ist antiquarisch noch vorhanden. Besonders die Kapitel „Der nackte Jesus“ und „Der hässliche Jesus“ geben zu denken.)

12. Ehrfurcht und Gehorsam geloben
Der Kult um die Ehre und damit die Ehrerbietung der Hierarchen ist ungebrochen im römischen Katholizismus. Das sei allen gesagt, die irgendwie von einem fortschrittlichen, d.h. vernünftig-human gewordenen Katholizismus träumen. Bestes Beispiel, das die seelische Prägung der Priester insgesamt betrifft: Die jungen Männer, die sich im Dom vom Bischof zu Priestern weihen lassen, legen sich als Zeichen der Unterwerfung ganz flach auf den steinernen Boden. Sie sollen förmlich als Nichts, als Untertane, als Staub gelten.
Dann versprechen diese neu geweihten Prister auch dem Bischof, als ihrem Vorgesetzten, ausdrücklich „Ehrfurcht und Gehorsam“: Die Priester, alle Priester des römischen Systems, sollen ihrem Chef, voller Ehrfurcht und voller Gehorsam begegnen. Ob sie das dann de facto auch tun, ist eine andere Frage. Aber: Ehrfurcht, Zuweisung von Ehre und auch Angst vor der Amtsperson gehören zentral ins innere Gefüge der römischen Kirche.
Sicher kennen auch andere große hierarchische Organisationen solchen Zwang zur Ehrerbietung gegenüber dem Chef. Die Untertanen gehen dabei selbst seelisch sozusagen vor die Hunde, weil sie buckeln müssen und ergeben erscheinen müssen. Auch die Mafia kennt solche Bindungen durch Ehrerbietung und Gehorsam. Und sie erzeugt dabei ein tödliches System.

13. EHRFURCHT vor dem Leben
Wie der Begriff schon andeutet, ist in der Haltung der Ehr-Furcht auch die Haltung der FURCHT enthalten. Ob Furcht in Angst übergeht, ist eine andere Frage: Angst vor der zu ehrenden Person, das gibt es ständig: Einer „hohen“ Person soll also dem Begriffe nach voller Furcht begegnet werden, weil sie Macht hat. Man soll förmlich erschaudern vor dieser „Amtsperson“.
Da muss aber wieder die bleibende Einsicht Kants ins Spiel kommen: Nicht die Person wird ehr-fürchtig verehrt, sondern das (gerechte) Gesetz, das sie repräsentiert.
Ehrfurcht gegenüber Menschen sollte es also eigentlich nicht geben. Kant sagte ja in seinem berühmten so viel zitierten Satz: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und EHRFURCHT: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir (also der kategorische Imperativ).“
Albert Schweitzer sprach von der „Ehrfurcht VOR DEM LEBEN“, also vor der Natur als der geschenkten Schöpfung sollen wir uns ehrfürchtig, also nicht herrschsüchtig, nicht destruktiv, verhalten. Ein Beispiel für unsere Welt ohne Ehrfurcht: Das verbrecherische Abholzen etwa der Amazonas Wälder durch den rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro in Brasilien, von evangelikalen Kirchen dort heftig unterstützt, widerspricht total der Ehrfurcht vor dem Leben. Dieser von den Einwohnern gewählte Präsident – “Diktator” ist schon fast würdelos: Er will wie ein Rassist das Leben der indigenen Völker am Amazonas offenbar vernichten und einzig aus ideologischer Verblendung und Frauenfeindlichkeit das „ungeborene Leben“ schützen…Das schon lebende personale Leben ist diesem Rechtsextremen und seinen frommen Anhängern egal. Und die Bewahrung der Natur, „Schöpfung“ eigentlich in seiner religiösen Ideologie, sowieso, solange sie Geld bringt und die reichen Nationen durch das verbrecherische Abholzen der Wälder mit Soja und Rindfleisch versorgt.
Das Motto dieser evangelikal frommen Leute und Diktatoren ist: „Nach uns die Sintflut“. Oder „Sünd-Flut“, als Flut unserer Sünden ? …
Warum ist die demokratische Welt nicht in der Lage, einen solchen Politiker in dauer-hafte Pension zu schicken?

14.
Ehre und Würde sind doch gelegentlich verbunden
Tzvetan Todorov schreibt in „L Honneur“ (Paris 1991, S. 221 ff.) über den Aufstand im Warschauer Getto 1943 und der Stadt Warschau 1944: Immer wieder betonen dort die Widerstandskämpfer, sie wollten in Ehre sterben. Ehre heißt: Kämpfen bis zum Ende. Sich nicht wie geduldige Schafe töten lassen“. Selbst an den Häuserwänden im Getto stand: „Sterben in Ehre, ehrenvoll sterben“. Ehre hieß: Das Aussichtslose tun.
Ehre erscheint als einziger Wert in dieser Situation:
Ehre ist hier auch bezogen auf die Wahrnehmung anderer: Sie sollten, wenigstens später, nach dem Grauen, sehen, dass Juden sich wehrten.
Aber hier ist dieser „Ehr- Begriff“ auch stark verbunden mit der Würde: Diese Widerstandskämpfer wollten in ihrem Tun ihre menschliche Würde bewahren. .

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Den Zölibat abschaffen. Hubert Wolf schreibt 16 Thesen über den Zölibat: Die sexuelle Liebe und die Ehe sind verboten.

Das neue Buch von Hubert Wolf „Zölibat. 16 Thesen“

Ein Hinweis von Christian Modehn. Dieser Text fiel etwas länger aus, weil auf grundsätzliche, aber kaum diskutierte Probleme hingewiesen werden musste.

Und dem Text ist ein Motto vorangestellt, von Christian Pfeiffer, Kriminologe, der den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands untersuchen sollte, aber wegen eines Konflikts mit den alles bestimmenden Bischöfen seine Arbeit beendete. Er sagt:
Das Verbieten von Sexualität (für Priester) ist ein Grundfehler und hat massiv zum Missbrauch beigetragen. Die ständige Lüge von der Enthaltsamkeit vergiftet die Kirche von innen her”. (Die ZEIT, 17.4.2019, Seite 48).Und weiter: “Nirgends wurde bislang nur ansatzweise eine solch hohe Quote mutmaßlicher Täter erreicht wie Priestern”. (ebd.).

Wie schon oft gesagt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie muss sich auch mit dem realen Zustand der Religionen und Kirchen heute befassen, um zu erkennen, zu welchen Verirrungen auch Religionen/Kirchen neigen. Das Zölibatsgesetz für Priester in der römischen Kirche ist dafür ein heftiges Beispiel. Es ist ein Symbol für Herrschaft des Klerus, Engstirnigkeit und vor allem: Bindung an ein Weltbild, das spätestens mit der Aufklärung überwunden wurde.

Über das Zölibatsgesetz für den römisch-katholischen Klerus und die Ordensleute dieser Kirche sind nach meinem theologischen Gefühl mindestens 100 Bücher in den letzten 50 Jahren erschienen. Wenn diese Bücher dem Anspruch kritischer Wissenschaft verpflichtet sind, heißt ihr eindeutiges Urteil: Das Zölibatsgesetz ist kein „ewiges“ Dogma der Kirche. Es könnte deswegen im Grunde sofort aufgehoben werden, durch einen Papst, der noch Mut hat und Verantwortung für die Zukunft dieser Kirche kennt. Und keine Angst hat vor den Cliquen der Kardinäle, der offiziellen, aber nicht immer auch faktischen Zölibatsfreunde, die den Vatikan beherrschen.
Aber die Abschaffung des Zölibates geschieht nicht, obwohl Umfragen zeigen: Die so genannten Laien wollen gern mehrheitlich verheiratete Priester in ihren Gemeinden erleben. Warum wird dieses Zölibatsgesetz nicht rigoros und sofort abgeschafft? Weil für den zölibatären Klerus als den Herrschern über diese Kirche der Zölibat als eine angebliche „Wesenseigenschaft“ ihrer Kirche erscheint. Und weil diese Herren selbst vom Zölibat als ihrer angeblich herausragenden Lebensform gegenüber dem Plebs, dem Volk Gottes, also den Laien, profitieren. Auch finanziell, und vom Lebensstil her. Sie haben eine extravagante Sonderrolle und profitierten, mindestens bis jetzt, etwa von der eigenen Rechtssprechung der Kirche, die sie, bis vor kurzem noch, von staatlicher Bestrafung im Falle von sexuellem Missbrauch befreite. Als „ehrwürdige Patres und hochwürdige Pfarrer“, mit demütigem Knicks ängstlich verehrt, und als Eminenzen und Exzellenzen mit dem Kuss des Ringes, dem so genannten „anulus (!) pontificalis“, förmlich ins Himmlische gehoben.

Der bekannte und vielfach prämierte Kirchenhistoriker Hubert Wolf, katholischer Priester und auch Mitglied im offiziellen „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“, (ZdK), ist Professor an der theologischen Fakultät der Universität Münster, er legt jetzt in 16 Thesen noch einmal auf knappen 190 Seiten die alte Erkenntnis dar: Das Zölibatsgesetz könnte abgeschafft werden. Es ist nicht teil der „göttlichen Offenbarung“ Jesu Christi, sondern Menschenwerk, d.h. für diese Kirche eben immer: Kleruswerk. Dieses Gesetz stört nicht nur die weitere Entwicklung der Gemeinden, die immer mehr mit dem Mangel an zölibatär lebendem Klerus konfrontiert sind, sondern vor allem: Weil das Zölibatsgesetz für die betreffenden Priester meistens wie ein zwanghaftes Korsett wirkt, das eine normale seelische Entwicklung der Betroffenen meistens verhindert.
Vieles, was Hubert Wolf schreibt, ist also bekannt und wie gesagt, tausendmal ergebnislos gegenüber der allmächtigen Zentralgewalt im Vatikan vorgebracht worden. Wichtig ist in Hubert Wolfs Studie die umfangreiche historische Dokumentation zum Thema, auch dadurch wird das Buch besonders lesenswert. Tatsache ist: Selbst einzelne Bischöfe sind offiziell gegen das Zölibatsgesetz, aber dieses ihr „mutige“ Geplaudere ist wirkungslos. Sollten sie doch selbst heiraten und mit gutem Beispiel vorangehen. Macht aber niemand dieser „Mutigen“, die finanzielle großartige Versorgung ist wichtiger als die theologische Ereknntnis…

Der Reiz dieses Buches sind, wie gesagt, die vielen historischen Details zum Thema: Treffend für heute zitiert der Autor den einflussreichen Kurien Kardinal Lazzaro Opizio Pallavicini aus dem Jahre 1783: „Wenn man den Geistlichen die Ehe gestattet, so ist die römisch-päpstliche Hierarchie zerstört, das Ansehen und die Hoheit des römischen Bischofs verloren; denn verheiratete Geistliche werden durch das Band mit Weibern und Kindern an den Staat gefesselt, hören auf, Anhänger des römischen Stuhls zu sein“ (S. 146).
Hubert Wolf sagt es mit seinen treffllichen Worten: “Der Zölibat ermögliche die Sozialkontrolle, und die Priester könnten von den Bischöfen „wie Figuren auf dem kirchlichen Schachbrett“ hin und her geschoben werden“ (ebd.).
Interessant ist auch, dass noch im 19. Jahrhundert Priester, die homosexuelle Handlungen begangen hatten oder sexuellen Missbrauch an Kindern, Knaben, getan hatten, in so genannte kirchliche „Korrektionshäuser“ verbracht wurden, auch „Demeritenhäuser“ genannt, also so genannte „Priestergefängnisse“ der Kirche, so wurden sie vor der Justiz des Staates entzogen (S. 129).
Die 16 Thesen gegen das Zölibatsgesetz sind klar formuliert und einleuchtend, sie könnten Pflichtlektüre in allen Gemeindekreisen und Priesterkonferenzen werden. Der Verlag oder der Autor sollten so großzügig sein und jedem deutschsprachigen Bischof das Buch zusenden.
Meine Kritik: Ich hätte mir noch ein paar weitere Thesen gewünscht:
Etwas ausführlicher zu den „Priesterkindern“ (und den Priester-Freundinnen), die ihr Leben lang unter der Verschwiegenheit gelitten haben, weil sie kaum öffentlich bekennen konnten: „Mein Vater ist ein Pater“ oder: „Mein „Mann steht sonntags am Altar“. Man hätte sich nur umsehen müssen, etwa unter den Krankenhausseelsorgern der siebziger Jahre: Da waren doch viele Väter als Patres tätig. Selbst der berühmte Jesuit Rupert Lay, einst Philosophie Professor an der Hochschule Sankt Georgen und anerkannter Autor zahlreicher theologischer und philosophischer Studien, hat 1996 in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ gestanden, einen Sohn, Rupert Dietrich, zu haben, „mein Mündel“, wie der Jesuit sagte. Pater Rupert Lay ist bis heute Mitglied des Jesuitenordens, er wohnt aber „wonders“, wie die Website des Ignatiushauses der Jesuiten in Frankfurt am Main lapidar mitteilt. Es ist also möglich, als Priester zu zeugen und trotzdem Priester und Mitglied einer Ordensgemeinschaft zu bleiben. Das ist doch eine erstaunliche Liberalität…Wie es auch viele Witwer, ehemalige Priester, gibt, die nun nach dem Tod der Gattin wieder als Priester arbeiten dürfen. Die Phase ihrer „sexuellen Verunreinigung durch den Verkehr mit Frauen und den Samenerguß”, ist ja nun wohl vorbei, um einmal die klassische Begrifflichkeit der Kirche zu zitieren, über die auch Hubert Wolf kritisch schreibt.
Inzwischen haben sich die französischen Bischöfe im Juni 2019 zum ersten Mal mit „Priesterkindern“ ganz offiziell getroffen. Deren Organisation hat etwa 70 Mitglieder, aber die Anzahl der Betroffenen liegt bei mindestens 1000. Die katholische Tageszeitung La Croix und France Culture berichteten darüber. In Deutschland hätte sich doch wenigstens die Nachfrage gelohnt, wie viele tausend Euros Alimente die Bistümer und Ordensgemeinschaften jährlich zahlten oder zahlen.
Ich hätte mir mehr empirische Belege gewünscht: Etwa zur Tatsache, dass, nach etlichen Berichten von Theologen in Lateinamerika, behauptet wird. Die (Welt)Priester seien de facto verheiratet. Prima, denke ich. Und die Gemeinden sind wohl glücklich! Über den Begriff und die tatsächliche Bedeutung der “Haushälterin” von Pfarrern wäre auch historisch – kritisch nachzudenken. In München wurde etwa in den siebziger Jahren ein bekannter “Stadtpfarrer”, der Jahre lang mit seiner Freundin im Pfarrhaus bekanntermaßen zusammenlebte (und nebenbei noch eine Haushälterin hatte), sogar noch mit dem Titel “Dekan” und “Geistlicher Rat” ausgezeichnet. Welche Anerkennung!

Noch einmal zum Buch selbst: Ich hätte mir mehr also tatsächlich empirische Belege gewünscht, auch für das seelische Leiden der zölibatären Priester, etwa im Rahmen einer Alkoholerkrankung, die etwa den Klerus in Polen heftig betrifft.
Ich hätte mir mehr Informationen gewünscht, wie durch die Krankheit AIDS viele hundert Priester in Europa und den USA gestorben sind. Die Zeitung „The Star“ in Kansas City hatte z.B. im Januar 2000 berichtet, dass „hunderte katholischer Priester in den USA in aller Stille“, so wörtlich, „an AIDS gestorben sind“. „Hohe Würdenträger der amerikanischen Katholiken bestritten die Ergebnisse nicht. Es zeige, dass Priester auch nur Menschen sind, deute allerdings auf schwere Versäumnisse bei der Sexualerziehung der Priester hin, hieß es“. Wenn Priester aber auch „nur Menschen sind“, warum verbietet man ihnen dann die Sexualität, und im Falle von AIDS, die selbstverständliche Verwendung von Kondomen. Wie viele Priestet könnten noch leben, hätten sie Kondome verwenden wollen und dürfen…

Selbst wenn in absehbarer Zeit das Zölibatsgesetz aufgehoben wird: Wie geht man dann mit den Priestern um, die nicht heiraten wollen, sich also nicht mit einer Frau verheiraten wollen? Einige wenige werden sicher als besonders begabte Zölibatäre gelten können. Aber die anderen: Sie werden, zumal die jüngeren Priester, als homosexuell gelten, was nach neuesten Schätzungen sicher zutrifft: Mehr als 50 Prozent des jüngeren Klerus sind homosexuell. Wird der Vatikan ihnen auch die Homo-Ehe erlauben? Das wäre ja großartig, ist aber eher ein Thema etwa fürs Jahr 2200.

Noch viel wichtiger ist das theologische Argument, ob man diese Gestalt der Priester, ob zölibatär oder nicht, überhaupt für eine christliche Gemeinde braucht. Priester bleiben immer in diesem Denken “Mittlerwesen” zwischen Gott und den Menschen. Sie sind die angeblich einzig kompetenten Mittler, die Brot und Wein auf “wunderbare Weise” in den Leib und das Blut Christi verwandeln. Das zeichnet sie aus, ob zölibatür oder nicht. Aber ist diese merkwürdige, vernünftig kaum noch vermittelbare Funktion des “Irdisches in Göttliches wandelnden Priesters” theologisch und biblisch notwendig? Nur wenn man in diesen Kategorien denkt, bleibt auch die Eucharistiefeier, wie ständig vom Klerus und seinen Dienern eingehämmert, “absoluter Mittelpunkt der Gemeinde”. Man macht die Eucharistiefeier absolut wichtig, um an der absoluten Bedeutung des Priesters festhalten zu können. Darüber sollte doch mal diskutiert werden!
Sollten nicht heute dringend anstelle der ewig gleichen Gestalt der Messe (überall die gleiche, z.T.langweilige Form in unverständlicher Floskel-Sprache des Mittelalters) neue Formen der religiösen Zusammenkunft, “Gottesdienst”, praktiziert werden: Gespräche ohne hierarchische Führung, Meditationen, Austausch, Musik, Tanz, Lektüre der Bibel und anderer humaner (religiöser) Texte… und eben auch manchmal das Teilen von Brot und Wein als Ausdruck dafür, dass Menschen vom Teilen wesentlich leben. Welch eine politische Deutlichkeit würde davon ausgehen. Diese Fixierung auf die absolute Bedeutung der “wandelnden” Eucharistie stärkt nur die Rolle des Priesters, ob zölibatär oder nicht. Diese Fixierung auf die herausragende Rolle des Priesters verhindert das wirkich gelebte allgemeine Priestertum aller Glaubenden und aller Menschen. Leiter der Gottesdienste können prinzipiell alle werden, eine gewisse theologische Kompetenz und psychologische Bildung vorausgesetzt. Da würde Kreativität wieder in die christlichen Gemeinden einziehen und viele würden sich angesprochen fühlen, weil es in diesen Feiern tatsächlich um ihr Leben geht und nicht um die Teilnahme, das Absolvieren, an einer fernen Floskelsprache, die entstanden ist, weil man wortwörtlich aus dem Lateinischen die Gebete und Sprüche in die jeweilige Landessprache übersetzt hat.

Früher hatte doch mal ein kluger Theologe den richtigen Satz formuliert: „Salus animarum suprema lex“, d.h. „Das Heil der Seelen, der Menschen, ist das oberste Gebot für die Kirche“.
Angesichts des fortbestehenden Zölibatsgesetzes wird dieses oberste Gesetz der Kirche von den Herrschern dieser Kirche absolut missachtet. Dies eine Schande zu nennen, sollte normal sein unter Theologen, die das Prädikat kritisch noch für sich gelten lassen. Mit anderen Worten: Wenn hoffentlich alsbald eine 2. Auflage des Buches des Priesters und Theologen Hubert Wolf erscheint, wünsche ich mir noch mehr kritische und angesichts des nun offenkundigen Zölibats-Gesetz-Unsinns (Wahns) noch mehr Deutlichkeit. Es gilt einen Wahn zu kritisieren, von einer Krankheit zu befreien…
Die Welt hat, nebenbei gesagt, ganz andere Probleme…

PS.
1. Man muss kein Eugen-Drewermann-Fan sein, aber erstaunlich ist: Hubert Wolf zitiert und bearbeitet nicht die große Drewermann Studie „Kleriker. Psychogramm eines Ideals“ (1989). Diese Nichtbeachtung Drewermanns ist ein Fehler meines Erachtens.
2. Viele Reaktionäre sagen: „Aber das Zölibatsgesetz wird doch freiwillig übernommen“. Dem Anschein nach stimmt das. Aber: Wer tatsächlich Priester werden will als wirkliche Berufung, MUSS das Gesetz übernehmen. Es gibt keinen anderen Weg. Dies ist eine Einschränkung des Menschenrechts der freien Berufswahl.

Hubert Wolf, „Zölibat. 16 Thesen“, 190 Seiten. C.H.Beck Verlag München. 2019. 14,95 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Glaube muss vernünftig sein! Forderungen eines äthiopischen Philosophen am 17. Jahrhundert!

Ein Hinweis auf das wichtige Buch des äthiopischen Philosophen
Zär ´a Yaqob (1599 – 1693).
Von Christian Modehn

1.

Den Versuch, den Glauben unter den Bedingungen des Christentums und der Kirchen vernünftig zu begründen und sich persönlich an diesen vernünftigen Glauben auch zu binden, hat es schon im 17. Jahrhundert gegeben. Nicht etwa nur in Frankreich oder in England, wo die rationalistische Theologie eine gewisse Rolle spielte. Sondern, ein Europäer glaubt es kaum, in Äthiopien: Zär´a Yacob heißt der Autor seiner „Untersuchung“. Dieser Text liegt auf Deutsch vor, er sollte viel mehr beachtet werden, nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen, sondern durchaus auch, weil er ein aktueller spiritueller Impuls ist. Erschienen ist der Text in der Edition Victoria, Wien.
Der Leser ist überrascht, wie modern die Erkenntnisse des äthiopischen Gelehrten sind. Er bietet Elemente der Reflexion für einen Glauben an die göttliche Wirklichkeit, einen Glauben, der ganz elementar ist, möchte man sagen, also ganz einfach, nachvollziehbar ohne Hinweise auf mysteriöse Ereignisse, Wunder, Heiligengestalten usw. Der Autor zeigt, dass die menschliche Beziehung zu Gott eher ein Wissen als ein Glauben im Sinne eines bloßen eher willkürlichen „Für-Wahr-Haltens.

2.

Zär´a Yacob war gründlich ausgebildet in den christlichen Traditionen, vor allem der koptischen Tradition, er kennt die Bibel, vor allem die Psalmen des Alten Testaments. Er zitiert auch Texte des Neuen Testaments, etwa aus dem Johannes-Evangelium. Er lebte zu einer Zeit, als in Äthiopien nicht nur die koptische Kirche stark war und dort Juden und Muslime lebten, sondern auch Katholiken ihre Mission, z.T. erfolgreich im Königshaus betrieben, bis hin zur Etablierung des Katholizismus („Frang“ in Äthiopien damals genannt) als Staatsreligion! In jedem Fall gab es viel Streit vor allem zwischen Kopten und Katholiken. Was ist die Wahrheit des Christentums?
In dieser Situation formuliert Zär´a Yacob seine Vorschläge, die auch dem Frieden in der Gesellschaft dienen sollten. Ihm geht es um eine universelle Wahrheit, die über den Konfessionen steht.

Aber der alles entscheidende Mittelpunkt seiner vernünftigen Theologie oder treffender Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist die Erfahrung der Welt als Schöpfung Gottes. Dies ist die alles entscheidende Basis seines Denkens und seines Lebens. Und zu der Erkenntnis gelangt Zär´a Yacob durch die alte metaphysische Überlegung, dass alles Gegebene dieser Welt endlich ist, also irgendwie gemacht sein muss von einem „Schöpfer“, der selbst nicht seinerseits auch noch geschaffen ist, sondern eben ewig und ungeschaffen.
Die einzige Frage ist: Sind wir bereit, diese Welt als Schöpfung Gottes, um bei dem Symbol-Begriff zu bleiben, zu verstehen? Alle weiteren theologischen Überlegungen ergeben sich dann von selbst. Es sind Überlegungen der Vernunft, die keine weiteren Wunder braucht als eben die Annahme des einen Wunder, dass „es diese Welt gibt“. Es ist die Vernunft des Menschen (als göttliche Schöpfungsgabe), die entscheidet, was vernünftig ist und menschlich. Dogmen werden so selbstverständlich zweitrangig, wenn nicht überflüssig. Auch die üblichen kirchlichen Gebräuche, wie das Leben im Kloster mit dem Verzicht auf gelebte Sexualität oder die rigiden Fastengebote auch im Islam, werden in Sicht Zär´a Yacobs überflüssig und unvernünftig. Er stellt die provozierende und durchaus mutige Frage: „Ist alles wahr, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht“? Und seine Antwort ist: Natürlich ist nicht alles wahr, weil es unvernünftig ist! „Wenn wir mit dem vernünftigen Licht unseres Herzens richtig umgehen, kann es uns nicht in die Irre führen“, schreibt Zär´a Yacob. Und dann folgt der entscheidende Satz: „Denn die Bestimmung dieses Lichts, der Vernunft, die uns unser Schöpfer gab, ist die: uns zu erretten und nicht uns zu verderben. Alles, was das Licht unserer Vernunft uns zeigt, stammt aus der Quelle der Wahrheit“. Das heißt: Die von Gott gegebene Vernunft im Menschen ist selbst rettend, hat also eine erlösende Bedeutung. „Unsere Seele besitzt die Fähigkeit, sich einen Begriff von Gott zu machen und ihn geistig zu erfassen“ (S. 29). Auch die Grundlagen der Ethik sind vernünftig erkennbar, etwa die „Goldene Regel“, die Zär´a Yacob ausdrücklich als Vorbild erwähnt (S. 31).

3.

Darum wundert man sich nicht, wenn von der besonderen Erlösergestalt Jesus von Nazareth in dem kleinen Text keine Rede ist . Zär´a Yacob denkt förmlich dialektisch: Der Mensch erlöst sich selbst kraft seiner Vernunft. Aber es ist die göttliche Gabe Vernunft, die da erlösend tätig ist. Insofern ist also auch Gott der letzte Grund der Erlösung durch die Vernunft und vernünftiges Handeln. Für die Hüter der wahren, weil alten Lehre sind diese Einsichten natürlich ein Skandal, wird doch die alte klerikale Ordnung erschüttert. Aber die Vernunft muss sich von Ketzerei-Vorwürfen nicht verwirren lassen. Was meint Zär´a Yacob? Zu Beginn der Kirchengeschichte waren die reinen Lehren des Evangeliums „nicht schlecht“, meint der Autor. Es war die Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit. Aber mit den machtvollen Konfessionen wurde dann „die vom Evangelium empfohlene Nächstenliebe beiseite geschoben und durch Hass, Gewalt ersetzt. Meine Landsleute haben ihren Glauben bis hinein in seine Grundlagen zerfetzt, sie lehren Eitelkeiten, sie tun Böses, und sie werden fälschlicherweise Christen genannt“ (S. 27)

Angesichts dieser Situation totaler christlicher Verlogenheit rettet nur die Vernunft Religion, meint Zär´a Yacob.

4.

Bezeichnenderweise konnte er diese Gedanken nur in der Einsamkeit, im Rückzug vor den bedrohlich konfessionalistischen Menschen in einer Höhle, entwickeln! Nur weniges, was er dort meditativ erkannte, schrieb er auch auf. Leider! Denn er sah sich bedroht und musste seine Erkenntnisse in der Öffentlichkeit verbergen und verleugnen. Aus dem einfachen Grunde, um nicht als Ketzer ausgelöscht zu werden. Man denke, in einer Parallele, etwa an Abbé Meslier (1664 – 1729) in Frankreich, der als katholischer Priester weiterhin die Messe las und predigte, obwohl er in seiner eigenen Theologie längst zum Atheisten geworden war. Siehe dazu meinen Aufsatz. Wie viele große Denker gab es und gibt es, die es nicht wagen, zu ihrer eigenen Erkenntnis und Konfession öffentlich zu stehen?
Zär´a Yacob hat diesen jetzt vorliegenden Text nur auf Bitten seines Schülers Waldä Heywat geschrieben! Auch von ihm ist in dem Buch ein weiterführender Text veröffentlicht, der allerdings meiner Meinung nach nicht die Radikalität seines Lehrers erreicht.

5.

Das Buch aus der „edition Victoria“ ist 2008 in Wien erschienen und noch immer, Gott sei Dank, im Buchhandel zu haben. Es wurde von Victoria Frysak und Bekele Gutema herausgegeben und hervorragend betreut, auch in der Übersetzung und den erklärenden Kommentaren.
„Zär ´a Yaqob. Eine äthiopische Weltanschauung“ ist der Titel des Buches. Es hat 134 Seiten und kostet 16,50 Euro!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Remonstranten und ihre wichtigsten Tugenden

Überlegungen anlässlich des 400 jährigen Bestehens der freisinnigen Kirche der Remonstranten
Hinweise von Christian Modehn

Anlässlich des 400 jährigen Bestehens der Remonstranten Kirche in den Niederlanden in diesem Jahr (2019) werden dort weitere Überlegungen publiziert zur Frage: Was ist den Remonstranten wichtig? Was ist für sie, bei aller Liebe zur eigenen innerkirchlichen Pluralität, entscheidend?
Zu der Frage ist jetzt eine Broschüre publiziert worden von fünf TheologInnen der Remonstranten zu fünf „Arikeln“, also Grundbegriffen, sozusagen „Kernwerten“, im Leben und Denken dieser freisinnigen protestantischen Kirche. Alle fünf Artikel bzw. Grundhaltungen beginnen interessanterweise mit einem V in der niederländischen Sprache. Es handelt sich um Vrijheid, Verdraagzaamheid, Verantwoordelijkheid, Vrede und Vriendschap. Also um Freiheit, Toleranz, Verantwortlichkeit, Friede und Freundschaft.
1.
Freiheit ist schon von der Geschichte der Remonstranten her eine zentrale Haltung/Tugend. Bekanntlich haben die ersten Remonstranten-Theologen stark die freie Mitwirkung des einzelnen Menschen in der Entscheidung für den christlichen Glauben betont! Eine absolut umfassende Vorherbestimmung der Glaubenden durch Gott lehnten sie vernünftigerweise ab und so wurden sie deswegen von der Mehrheit der strengen Calvinisten 1619 durch die Synode von Dordrecht ausgeschlossen, verfolgt und ausgegrenzt.
Ein Wunder, dass diese kleine Kirche über all die Jahre Bestand hatte. Sie ist etwas ganz Besonderes, Wichtiges, wohl auch „Einmaliges“ in der Hinsicht, in der weiten Ökumene, denke ich.
2.
Bei der Freiheit, die fürs theologische Denken typisch und normal ist, hätte man natürlich auch die sehr dringenden heutigen Tugenden Solidarität, Gerechtigkeit, Vielfalt als „Kernwerte“ nehmen können. Aber darüber kann man ja weiter sprechen…Die fünf „V“ als „Kernwerte“ haben natürlich einen eigenen Charme.
3.
Ich kann nur empfehlen, Niederländisch mal vorausgesetzt, diese Broschüre (42 Seiten) zu lesen. Ich will kurze Hinweise geben: Sigrid Coenradie, Theologin in Eindhoven, schreibt über „Freiheit“. Sie kümmert sich dort um Verbindungen von Menschen außerhalb und innerhalb der Kirche, ein neues Dialog – Projekt der Remonstranten. Keine Missionsveranstaltung, sondern eben Dialog! Und sie weist in ihrem Beitrag über die Freiheit auch darauf hin, dass die Remonstranten in der internationalen, interreligiösen Vereinigung IARF (International Association for Religious Freedem) vertreten sind. Zur Freiheit gehört, so Sigrid Coenradie, auch das Eintreten für die Menschen, die heute mit dem etwas seltsam anonymen Kürzel LHBTI beschrieben werden: Also das Eintreten für lesbische Frauen, homosexuelle Männer, Bisexuelle, Transgenders und intersexuelle Personen. Diese Menschen haben selbstverständlich ihren gleichberechtigten Platz in der Remonstranten Kirche.
4.
Koen Holtzappfel, Theologe und Pastor in Rotterdam, stellt in seinem Beitrag über Verantwortlichkeit kritische Fragen: „Fühlen wir uns als (Niederlande), Land verantwortlich für das, was in Srebrenica passierte? …Wie weit reicht unsere Verantwortlichkeit, wenn es um die Frage der Natur und des Naturschutzes geht. Nicht umsonst gehen uns heute Schüler voraus in ihrem Protest gegen die als zu sehr vom Kompromiss bestimmte Klimaverträge“.
5.
Ein Hinweis noch auf den Beitrag des Amsterdamer Theologen und Pastors Joost Röselaars über „Freundschaft ist Bruderschaft“. Er erinnert an den alten Titel der Remonstranten: „Bruderschaft“! Der Titel Bruderschaft wird vielleicht in feministisch geprägtem Denken als problematisch empfunden, deswegen spreche viele eher von Remonstranten – Kirche. Aber aktuell ist die Idee der gelebten „Bruderschaft“ nach wie vor, auch wenn man ihn in Richtung Geschwisterlichkeit weiten sollte. Joost Röselaars erinnert an Martin Luther King, der einmal sagte: “Ich habe einen Traum. Wir werden mit unserem Feind zusammensitzen.Wir sollen mit unserem Feind an einem Tisch, einer Tafel, zusammen sitzen…“ Und Röselaars nennt Beispiele: „Das ist vollkommene Bruderschaft: Der Türke sitzt mit dem Kurden an einem Tisch. Der PVV Anhänger (aus der rechtsextremen Partei von Wilders, CM) sitzt zusammen mit dem Flüchtling an einer Tafel“…
Wahrscheinlich ist die Wiederbelebung des Begriffes und der Realität „Bruderschaft“ auch zentral für die Zukunft der Remonstranten Kirche: Die sehnsucht der meisten Menschen, die noch eine christliche Gemeinde suchen, ist ja auch und oft vor allem dieses emotionale Sichwohlfühlen in der Gemeinde, so sehr man auch die intellektuelle, rationale Debatte pflegt. Kopfarbeit und „Seelenarbeit“ also sollten vielleicht stärker verbunden sein.

Die Remonstranten sind eine Kirche, die den theologischen Pluralismus sehr weit reichend auch für ihre eigenen Gemeinden, also für die Glaubensüberzeugung der einzelnen Freunde und Mitglieder nicht nur zulässt, sondern wünscht. Auf der Basis des kurzen allgemeinen Bekenntnisses: „Die Remonstrantische Bruderschaft ist eine Glaubensgemeinschaft, die – verwurzelt im Evangelium Jesu Christi und getreu der Freiheit und Toleranz – Gott ehren und dienen will“.
Diese innere Pluralität ist selbstverständlich im Alltag nicht immer einfach zu gestalten. Eine Glaubensgemeinschaft mit einer inneren Pluralität ist so selten, dass für die Mitglieder dieser Gemeinschaft der offene Dialog untereinander entscheidend ist. Sigrid Coenradie stellt in ihrem Beitrag dazu kritische Fragen.
Ich frage mich angesichts des Jubiläums, ob die Remonstranten eine fast ausschließlich auf die Niederlande begrenzte Kirche bleiben dürfen. Ist in Europa – und darüber hinaus in einer immer mehr fundamentalistisch werdenden Welt – eine freisinnige Kirche nicht enorm wichtig, selbst mit nur kleinen Stützpunkten, „Aktions-, Studien- und Debattenzentren?
Und ich frage weiter, ob die Remonstranten nicht viel mehr Menschen anderer Kulturen, allochthonen sagt man in Holland, und anderer Religionen und Weltanschauungen als Freunde und Mitglieder einladen und aufnehmen. Erst dann, vermute ich, finden die fünf Vs ihre umfassende Gestalt. Koen Holtzappfel gibt schon die auf Zukunft hin orientierte wichtige Antwort:“ Remonstranten können den Zusammenhalt begünstigen, indem sie ihre Türen öffnen und den anderen begegnen. Sie können ein Platz bieten, wo gleichsam Vögel mit unterschiedlichem Gefieder einander entgegenkommen, lernen Respekt für einander aufzubringen und gemeinsam erleben, wie bereichernd Begegnungen sein können…“

Zum Schluss noch ein Hinweis auf die Monatszeitschrift ADREM der Remonstranten. Da berichtet in der Ausgabe Mai 2019 Janny Harmsen von ihrer Gemeinde in Doesburg: Dort orientiert sich die Gemeinde neu, weil sie sehr bald keine eigene Pastorin mehr haben kann. „Darum haben wir eine liturgische Gruppe ins Leben gerufen, in der ich bis vor kurzem auch Mitglied war. Es ist schön, um out of the box zu denken über Liturgie, aber selbst predigen ist für uns möglich. Wir probieren viel Kunst und Poesie in den Gottesdienst zu bringen“.

Die Praxis, dass die Gemeindemitglieder (Laien oft genannt, sie sind aber keine „Laien“, CM) selbst liturgische Verantwortung übernehmen und predigen, wenn kein Pastor da ist, finde ich großartig, auch für die Zukunft der Kirche. Das ist die Grundidee der Basisgemeinden, von dort kann man noch viele gute Inspirationen holen. So braucht keine noch so kleine Gemeinde nur einmal im Monat Gottesdienste zu haben, wenn eben mal ein Pastor gerade da ist…. Die Gemeinde selbst gestaltet auch die Gottesdienste. Ein Projekt für die Zukunft. Sicher ganz dringend, auch was Bildungsmöglichkeiten für „Laien“ am Institut der Remonstranten an der Freien Universität von Amsterdam angeht.

Die Broschüre „de vijf artikelen van de remonstranten“ ist 2019 erschienen. 42 Seiten. Sie kann bestellt werden im Büro der Remonstranten, Nieuwe Gracht 271, 3512 Utrecht. www.remonstranten.nl

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin. Forum der Remonstranten Berlin.

Der Theologe Johann Baptist Metz: Ein Hinweis auf das Buch „Theologie in gefährdeter Zeit“.

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
1.
147 Professoren, zumeist Theologen, unter ihnen 12 Frauen, haben sich einladen lassen, kurze Beiträge über den „politischen Theologen“ Johann Baptist Metz zu schreiben. Anlass ist der 90. Geburtstag des von den Autoren in den meisten Fällen gelobten, wenn nicht bewunderten Theologen in Münster. Im Jahr 2018 feierte er seinen 90. Geburtstag. Herausgekommen ist also eine Art Metz – Schmöker, ein Buch von 580 Seiten Umfang, erschienen im LIT Verlag in Münster.
Niemand wird wohl in absehbarer Lese-Zeit ein vielschichtiges Opus so vieler Theologen angemessen „besprechen“ können.
Vorweg: Die „einfachen Leute“, die Arbeitslosen, die Obdachlosen, die Überlebenden der Elendsviertel, wird man in dieser “Festschrift” zugunsten eines sich „politisch“ nennenden Theologen unter den AutorInnen leider vergeblich suchen, auch „Menschenrechtler“ aus NGOs sind nicht dabei, nicht die Mitglieder militanter ÖKO-Gruppen, nicht die schwulen und lesbischen Aktivisten für die Ehe für alle, auch nicht die Leute der ökumenischen Basisgemeinden: Sie alle sind offenbar von der Metzschen Theologie nicht (so stark) berührt, eigentlich erstaunlich, wenn man an die von Metz selbst viel beschworene theologisch-spirituelle Leidenschaft für „die anderen“, die „Ausgestossenen“ bedenkt.
So also ist eher ein zwar theologiegeschichtlich interessantes Buch entstanden, aber ein Buch wohl von Theologen für Theologen; einige wenige jüdische Autoren sind dabei. Soweit ich sehe, ist aber kein buddhistischer oder muslimischer Gelehrter unter den Autoren oder gar ein expliziter Atheist oder Humanist..
Erstaunlich, wie oft Verehrung für Metz aus manchen Beiträgen vornehmlich katholischer Autoren spricht. Die meisten Autorinnen betonen den globalen und großen prophetischen Gestus ihres Anregers, Doktorvaters, „Meisters“. Rühmen seine Sensibilität, uralte katholische theologische Lehren (wie die Apokalyptik) auf politische Verhältnisse zu beziehen, vor allem aber: Die christliche Botschaft selbst im ganzen als politische Provokation zu deuten, etwa im Sinne eines Eintretens für die Opfer; mit der zentralen Frage, die Metz stets wiederholt: Wie kann man Christ sein und katholische Theologie „treiben“ im Angesicht des von Deutschen begangenen Massenmordes an den Juden. Das KZ Auschwitz wird dabei zum viel beschworenen Symbol für alle Juden-Vernichtung der Antisemiten und ihrer Millionen Mitläufer. Dieses Thema ist enorm wichtig, wird immer wichtiger. Gar keine Frage! Aber wer würde leugnen, dass auch viele andere ganz dringende Probleme, wie die Überwindung der Atomkraft heute, die Klimakatastrophen, die Frage der Geburtenkontrolle angesichts des enormen Bevölkerungszuwachses, oder die Schritte zu einer Überwindung des Neoliberalismus unglaublich viel (mehr) Aufmerksamkeit verdienten von den sich politisch nennenden Theologen. Aber diese Themen werden von Metz und seinen in dem Buch präsentiertem „Schülern“ kaum diskutiert. Insofern wirkt die politische Theologie von Metz doch thematisch sehr „eingegrenzt“.
2.
Hans Küng, nicht gerade ein Intimus von Johann Baptist Metz, weist mit Recht in seinem dann doch etwas – wohl ausnahmsweise – ausführlicheren Beitrag darauf hin: Metz hat sich für die innerkirchlichen Kirchenreformen, etwa zum Papsttum, zur synodalen Struktur der Kirche oder gar zum Zölibat kaum geäußert. Ein großer Kirchen-Reformator im engeren Sinne ist er wohl nicht. Er ist ein Mann der Visionen, der globalen Perspektiven, wie etwa sein Text für die längst vergessene und völlig wirkungslose bundesdeutsche Synode in Würzburg. Aufgrund dieser Begrenzung aufs “Globale”, wie die “Gotteskrise” konnte Metz Gesprächspartner der Hierarchen bleiben, etwa mit dem damaligen Kardinal Ratzinger.
Interessant ist, dass Jürgen Habermas, eigentlich ziemlich wohl gesonnen gegenüber Metz, auf die tiefe emotionale Bindung des Klerikers Metz an die römische Kurie hinweist: Wie Metz also bei einem Besuch von Habermas nervös, offenbar aber durchaus erfreut schien, weil er eine Einladung zu einer gemeinsamen Messe im Vatikan ausgerechnet mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. erhalten hatte (S. 159).
Die Vielfalt der Themen, die in dieser „Festschrift“ angesprochen werden, zeigt: Wahrscheinlich ist die entscheidende Leistung von Metz, neue Fragen in dem damals wie heute ziemlich verkrusteten und ängstlichen katholisch – theologischen Milieu gestellt zu haben. Seine Fragen und Visionen passten auch in die Mentalität der damals Studierenden, weckten die Zuversicht, dass mann/frau als katholische Theologin in moderater Form links sein könne. Obwohl, mit Verlaub gesagt, Metz als politischer Theologe und irgendwie dann ja doch wohl auch linker Theologe sich nie persönlich zu einer sozialistischen Position oder gar Partei bekannt hat. Es wäre wohl nicht so klug gewesen. Es ist auch nicht überliefert, dass Metz aktiv an Friedensdemonstrationen in den achtziger Jahren teilgenommen hat. Aber man kann wohl sagen, im katholischen Milieu herrschte (und herrscht) eine solche Tristesse, dass sich so viele leidenschaftlich an diesen so neuen, kreativen und irgendwie progressiven Denker banden und binden. Dabei bleibt Metz stets der Essayist, der Vortragende, der Herausgeber von Aufsätzen, von Fragen, Provokationen.
3.
Die politische Theologie von Metz hatte vor allem in Lateinamerika theologische und politische Auswirkungen, auch das wird in dem Buch (kurz) deutlich, etwa in dem Beitrag es Brasilianers Alberto da Silva Moreira. Einen Beitrag des Peruaners Gustavo Gutierrez (und Metz – Freundes) habe ich in dem Buch vermisst. Wer den grundlegenden theologischen Wandel eines anderen Metz – Freundes nachvollziehen will, lese den Beitrag des Brasilianers und einst führenden Befreiungstheologen Leonardo Boff: Er hat, endlich möchte man sagen, verstanden, dass es heute auf eine einfache, nicht mehr dogmatisch fixierte Theologie ankommt, sondern auf eine einfache spirituelle Lehre, die alle Menschen darauf aufmerksam macht auf die „Urquelle, aus der alle Menschen leben“ (S. 47). Das ist Weisheit, Theo-logia, in meinem Verständnis, für Menschen aller Religionen und Humanismen offen. Das hat Zukunft. Ob Metz und seine Getreuen da mitgehen, wage ich zu bezweifeln. Wahrscheinlich werden politische Theologen diese Position von Boff als „liberal-theologisch“ kritisieren…
Einzelne Beiträge finde ich besonders wichtig, wie den Hinweis zur Misere der „katholischen Soziallehre“, verfasst von Hermann-Josef Große-Kracht (S. 154). Ohne einen unmittelbaren Bezug auf Metz ist der Beitrag des Historikers Hans-Ulrich Thamer über den “Nationalsozialismus als politische Religion” lesenswert. Etwas verstörend und darin doch anregend ist der Beitrag von Hans Conrad Zander über den heutigen „Umgang“ mit Auschwitz…Immerhin fanden sich drei Bischöfe bereit, ein paar Zeilen über Metz zu schreiben. Der Bischof von Münster, Felix Glenn, bekannt sogar: „Ich habe als Student so intensiv (Metz) zugehört, dass ich im Anschluss an die Vorlesung Zeit brauchte, um wieder zu mir kommen“ (S. 144). War es eine politisch-theologische Trance, darf man fragen.
4.
Die Leser werden sich freuen, dass in der 2. Auflage ein kritischer Beitrag des bedeutenden Kenners der Theologie Karl Rahner vertreten ist, nämlich von Albert Raffelt: „Aufgrund eines redaktionellen Versäumnisses fehlte dieser Text in der ersten Auflage“, schreiben die Herausgeber( S. 384). Die Beziehung des Lehrers Rahner zu seinem Schüler Metz und umgekehrt war ja nicht ganz einfach. Rahner sprach in seinem Buch „Bekenntnisse. Rückblick auf 80 Jahre“ (Herold Verlag 1984, S. 37) ziemlich offen von einer gewissen Arroganz des politischen Theologen und Rahner-Schülers Metz ihm gegenüber, ihm, dem „transzendentalen“ (d.h. auch der philosophischen Tradition der Aufklärung verpflichteten) und spekulativen Theologen UND Kirchenreformer. Wahrscheinlich ist die Abwehr der Metaphysik, als “griechisch” fast denunziert, etwas, was mich am meisten an der politischen Theologie ärgert. Die Gottes-Rede einzig mit der Bibel, und dann noch ziemlich unvermittelt, zu begründen, kann meines Erachtens auch für eine christliche Theologie nicht gelingen. Was nicht heißt, dass ich mich jetzt als Ratzinger-Fan oute.
Da und dort sind noch heute TheologInnen tätig, die sich der Grundintention einer politischen Theologie von Metz in ihrem Denken und Handeln (!) bewusst sind. Wo diese etwas jüngeren TheologoInnen Spuren hinterlassen in ihrer Kritik des weltweiten sexuellen Missbrauchs durch Priester, ist unklar; wo sie Spuren hinterlassen in der exakten politisch-theologischen Recherche und Analyse der reaktionären Bewegungen in der römischen Kirche, ist auch unklar. Wo sie sich von Lobeshymnen auf Papst Franziskus, den „Progressiven“, verabschieden, ist ebenso unklar.
5.
War also politische Theologie im Sinne von Metz, trotz aller in dem Buch versammelten interessanten Denkanstöße, nur ein kurzes, kritisches Wehen? Wahrschienlich nicht! Hat „trotzdem“ die Reaktion in der römischen Kirche gesiegt? Ja. Diesen Sieg der politisch agierenden Reaktion im Katholizismus hat Metz nicht vorausgedacht.
Und ein gravierender Mangel dieser politischen Theologie von Metz und seinen Getreuen ist vor allem ihre polemische Abwehr eines liberal-theologischen Denkens, das eben betont: Viele der überlieferten Dogmen und Glaubenslehren sollten wir heute “als freie Christenmenschen” beiseite legen, zugunsten eines humanen, Sinn stiftenden Glaubens, der einfach ist. Welche Befreiung wäre das für die Christen, die in einem diffusen Wunderglauben und Heiligenkult noch verhaftet sind? Und immer noch Kirchenbindung mit Bindung an eine göttliche Wirklichkeit verwechseln….
6.
Was wir heute brauchen meiner Meinung nach, ist eine exoterische, d.h.von möglichst vielen Menschen vernünftig nachvollziehbare, einfache Theologie im Dialog mit anderen Religionen und Humanismen. Diese ist, noch einmal tatsächlich vernünftig, also nachvollziehbar,sicher nicht apokalyptisch aufgeladen. Warum sollten denn in christlichen Gottesdiensten nicht auch meditative Texte der Sufi-Tradition, von Laotse, oder Gedichte heutiger Autoren vorgetragen und meditativ erschlossen werden? Der christliche Glaube ist ein offenes, heilsames Geschehen und, wie viele Mystiker sagen, tatsächlich einfach, wahrscheinlich in drei Sätzen vernünftig sagbar und … wegen der inneren Wandlung des einzelnen dann auch politisch. Vielleicht wäre dies eine politische Theologie 2. Teil, selbstverständlich auch außerhalb der bestehenden römischen Kirche formuiert.
Insofern lohnt die Lektüre des Buches in jedem Fall, weil sie auf neue, bislang eher verdrängte, aber sicher produktive Gedanken bringt.

Hans-Gerd Janssen, Julia D.E. Prinz, Michael J. Rainer, „Theologie in gefährdeter Zeit“, Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz zum 90. Geburtstag“.
LIT Verlag Münster, 2. ergänzte Auflage 2019, 580 Seiten, 39,90€.

Geheimnis ein Thema der Philosophie und Theologie: Ein Kapitel philosophischer (Über)Lebenskunst

Hinweise von Christian Modehn

Es folgt, am Ende dieses Beitrags, eine Ergänzung der Künstlerin Ursula SAX, Berlin, die oft an unseren religionsphilosophischen Gesprächen teilnimmt.

Geheimnis ist nichts Mysteriöses. Manche Menschen tun aber geheimnisvoll, um ihre eigene Leere oder „Besonderheit“ zu betonen. Wer ein Geheimnis für sich beansprucht, fühlt sich wichtig. Geheimnisträger gibt es in der Diplomatie. Wie oft haben sie ihre Funktion missbraucht?
Es gilt, den sinnvollen Gebrauch der Rede vom Geheimnis zu erkennen. Da muss man wieder differenzieren: Was sind echte, bleibende Geheimnisse oder bloß neurotisch aufgeladene mysteriöse Dinge? Etwa Spuk oder fliegende Untertassen oder Geister, die in spiritistischen Sitzungen sprechen…
Mit jeder neuen Erkenntnis (der Natur) gibt es neue Fragen. Es gibt neue Probleme, die „gelöst“ werden müssen. Man nennt diese Probleme auch Rätsel. Naturwissenschaftler lösen nicht Geheimnisse, sondern Rätsel. Aber dann entstehen neue Rätsel.
Rätselhaftes ist nichts Geheimnisvolles. Diese Unterscheidung ist für mich grundlegend.
Geheimnisse entziehen sich dem verfügenden Durchblick, der alles umgreifenden Definition. Geheimnis ist etwas, das nie total durchschaut werden kann. Geheimnis berührt die Qualität unserer Beziehung zur Frage: Gibt es etwas Gründendes, Tragendes, Göttliches? Geheimnis ist ein Thema der Philosophie, der Kunst, der Literatur.
Wer vom Geheimnis spricht, der weiß also mit Ludwig Wittgenstein: Auch wenn alle unseren wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, bleiben doch die existentiellen Fragen. Und diese kann man nicht endgültig und ein für alle mal begreifend durchschauen: Dass es etwas gibt, ist (nicht nur für Wittgenstein) das entscheidende Geheimnis.
Drei Fragen stehen im Mittelpunkt unseres Salon-Gespräches am 15. 3.2019:
A)Was ist mein eignes, individuelles Lebensgeheimnis?
-Es ist über den Begriff der Intimität zu sprechen. Intimität nicht (nur) auf den erotischen, sexuellen Bereich bezogen. Es gibt eine personale Intimität.
Wir erleben heute total den Verlust der Intimität. Dies ist die freiwillige Preisgabe dessen, was mein Ich ausmacht. Man denke an bestimmte populäre Fernsehshows der „Privatsender“: Diese Shows zielen auf Verlust jeder Intimität: Etwa: „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (oft als Dschungelcamp bezeichnet). Im Januar 2019: 37 % Marktanteil der 19 bis 49 Jährigen. Und ca. 2,7 Millionen Zuschauer.
-Unsere Gesellschaft, regiert von Politikern, die sich auch oft gern „entblössen“, lässt kaum noch Intimität zu: Man denke auch an die Wohnverhältnisse. Man vergesse nicht die Millionen Hütten der Slums, dort kennen die Menschen keine Intimität. Die vielen Kinder schlafen im gleichen Raum wie die Eltern. Das betrifft viele tausend Millionen Menschen.
In Japan weichen Liebenspaare in „Liebeshotels“ aus. Weil die Wohnungen keine Intimität zulassen, es sind die „Love Hotels“. Diese sind nicht Orte der Prostitution.
-Es gibt andererseits eine falsche Tendenz im Verschweigen der Identität. Männer sprechen nicht von sich selbst und ihren „tiefen, verborgenen“ Problemen. Diese Sprechunfähigkeit hat nichts mit der Bewahrung eines Geheimnisses zu tun. Es ist oft schlicht die Unfähigkeit, aus sich herauszugehen, sich zu äußern.
Wann ist die Öffnung meines „Lebensgeheimnisses“ gegenüber Partnern, Freunden, Bekannten sinnvoll, wann eher für mich destruktiv?
Hinzu kommt: Der einzelne kann sich selbst auch nicht total durchschauen. Wir wissen nicht umfassend und total klar, wer wir eigentlich sind.
Aber: Die falsche Zurückhaltung, das je eigene Lebensgeheimnis wenigstens ansatzweise mitzuteilen, führt zu Spannungen und Krisen: Man denke an das Verschweigen der Nazi-Vergangenheit durch die Eltern. Das Verschweigen ist für betroffene Eltern selbst ein Leidensweg.
Dennoch lebt die Kommunikation gerade in der Liebe von einem Sich – Offenbaren, Sich Anvertrauen, das persönliche und je einmalige Gesicht zeigen.
Das Maß der Öffnung und des Verschweigens des je eigenen Geheimnisses zu erkennen, ist die große Lebenskunst. Das Maß der Öffnung des Geheimnisses zu erkennen, ist die große Lebenskunst.
Das Thema führt in die Ambivalenz der reflektierten Daseinsgestaltung im ganzen.
Der total für andere durchsichtige Mensch jedenfalls ist geheimnislos, er kann wie eine durchschaute Maschine benutzt werden. Und wird auch benutzt, etwa bei Wahlen, siehe Trumps Wahlkampf in den USA.
Der Umgang mit dem je eigenen Lebensgeheimnis ist ein ständiges Abwägen, ein Differenzieren, eine Suche nach dem Gleichgewicht.
B: Geheimnis und der Schutz meiner Privatsphäre heute.
Wir leben im Zeitalter der totaler werdenden Transparenz. Wir werden allmählich in der digitalen Welt total durchschaut, in Zeiten der Big Data. Der Imperativ lautet: „Alles muss Daten und Information werden“, so der Philosoph Byung-Chul Han. (in: “Psychopolitik“, S. 80) Er spricht von Dataismus: „Diese digitale Aufklärung, Dataismus, kann in Knechtschaft umschlagen“. D.h. Ich hinterlasse überall Spuren im Netz. Die digitale Welt weiß mehr von meiner Geschichte als Konsument als ich selbst (in meiner Erinnerung). Ich werde so total verfügbar. Dataismus verzichtet auf jeden Sinnzusammenhang. (81) Alle meine Daten werden vermessen und gesammelt und eingesetzt von der Industrie/Werbung/Politik als Diktatur…
Aber: Wir brauchen den Kampf um Transparenz, um die Restbestände von Demokratie zu schützen. Transparenz ist ein hoher politischer Wert.
Es ist soweit gekommen, dass demokratische Organe, etwa Justiz und Polizei, die umfassende Transparenz bereits behindern. Weil sie die Restbestände der Demokratie zerstören wollen.
Sehr beliebt ist in den sozialen Netzwerken, facebook, e-mail usw. die Verwendung der Pseudonyme. Man entscheidet sich – auch aus Angst – gegen die Klarnamen. Dann kann auch alles schreiben, was man will, dumme, gemeine Behauptungen etc. Man will sich verstecken. Aber: Geheimnisse erzeugen kann lebensrettend sein. Die geheime Wahl ist ein absoluter Wert.
Die Fake-News haben ihren festen Platz in der privaten Welt der Geheimnistuerei. Wir leben in einer Welt, in der der Grundsatz gilt: Der Schein trügt. Was du siehst und hörst von anderen, etwa im email Verkehr, stimmt oft wahrscheinlich nicht.
Diktaturen neigen zu Attacken auf die Anonymität, auf das Geheimnis. Aber Diktaturen machen aus diesen ihren eigenen Attacken wiederum ein Geheimnis.
Sie wollen Zensur durchsetzen, damit die Staatsgeheimnisse nicht öffentlich werden.
In China gibt es Zensurfabriken, eine große Mauer der Zensur wird um google, facebook in China gezogen. Es gilt dort nur noch das „innere Netz“.
C: Ein Hinweis zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Theologie:
Geheimnis als der einzig treffende Begriff, wenn wir von einem letzten Grund in unserem Dasein sprechen, einem Nichts oder einem Gott, je nach eigener Weltanschauung: Dieses Letzte, alles Gründende, das wir im Denken und Fühlen berühren, können wir, weil es das Letzte ist, niemals fassen, niemals be—greifen, nie definieren. Aber im konsequenten Denken sind wir dieser Wirklichkeit ausgesetzt. Was ist der tragende Sinn-Grund von allem? Mit dieser Frage erreichen wir das alles gründende Geheimnis.
Es gab einmal die Überzeugung, als würde die Menschheit einer geheimnislosen Zeit entgegen gehen. Der Soziologe Max Weber sprach von der „Entzauberung der Welt,“ in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ von 1919. Darin erklärte er „dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet die Entzauberung der Welt. ….Und er fährt fort: Man muss nicht mehr, wie der Wilde einst, zu magischen Kräften greifen, um die Geister zu beherrschen…“sondern technische Mittel und Berechnung leisten das“, das heißt, Max Weber verwechselt wissenschaftlich immer zu durchschauendes Rätsel und Geheimnis.
Eine total entzauberte Welt wird es nicht geben. Kann es nicht geben, so lange nach dem alles gründenden Sinn oder je nach Weltanschauung Unsinn gefragt wird. Bloß viele Leute plappern die These von der „entzauberten Welt“ gedankenlos nach.
Und die tiefste und wohl letzte philosophische Frage, die ohne Antwort bleibt, heißt: “Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?“ (Später dann auch bei Heidegger, Was ist Metaphysik, 1929)
Leibniz hat sich mit dieser Frage befasst, in seiner Schrift „Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade“ (1714, 1716 ist Leibniz gestorben)

Nach Leibniz muss es also einen Grund geben, warum es etwas und nicht vielmehr nichts gibt, doch muss dies ein Grund sehr spezieller Art sein, „der keines andren Grundes bedarf“ oder der „den Grund seiner Existenz in sich selbst trägt“. „Leibniz nimmt hier eine weit ältere Tradition der westlichen Philosophie wieder auf, denn seit frühester Zeit hat das Rätsel der Existenz die Menschheit zu einem Schöpfer hingetrieben, einem Wesen außerhalb dieser Welt, dessen Handlungen die Welt als Ganzes entstehen ließen“ (Blackburn S. (2011) Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?. In: Die großen Fragen Philosophie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg)

Bei Wittgenstein sollte man vor allem das Spätwerk beachten.
Etwa die „Vermischten Bemerkungen“: Dort ist ein „tiefer Ernst und überzeugende Ehrlichkeit“ zu finden, so Friedo Ricken in „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie“, S. 29.
Es geht nun Wittgenstein um das Durchbrechen der engen Sprachwelt der Wissenshaften. Ricken spricht in dem Zusammenhang, im Sinne von Wittgenstein, von Klaustrophobie: D.h. Wir können in einem engen Raum der Wissenschaften nicht leben. (S. 33 Ricken).

Der späte Wittgenstein bringt uns zu der Einsicht, dass es etwas gibt, das nicht gesagt werden kann. Aber dies wird verstanden: Im Sinne des klaren und eindeutigen Sprechens.
In den „Philosophischen Untersuchungen“ schreibt Wittgenstein, dass es für ihn unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort zu sagen, „was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet“.
Aber: Er weiß auch: Wir berühren das Unaussprechbare. Und sagen auch, dass es auch unaussprechbar ist. Dann können wir also doch andeutend etwas von dem Unaussprechbaren sagen?
„Das Unaussprechbare, /das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag/, gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt“ (in Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Nr. 472).

D: Zur Theologie:

Die katholische Kirche als dogmatische Institution ist die große Geheimnis-Erzeugerin und Geheimnis–Propagandistin: Sie ist die Förderin der Vorstellung, überall gebe es Mysteriöses, Verzaubertes, Zauberhaftes, Grauenhaft – Teuflisches. Aber viele sehen auch heute darin den „Charme“ des Katholizismus…

Die Lehre vom Teufel wird wieder zur Begründung von Verbrechen herangezogen (wie jetzt durch Papst Franziskus im Fall des sexuellen Mißbrauchs durch Priester).

Der Status des Klerikers gilt als erhoben über den anderen Gläubigen, auch dies ist etwas Mysteriöses, also von der Macht der Kirche gemacht. Ähnliches gilt von der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes.

Es gibt den mysteriösen Kult um Wallfahrtsorte, wo Maria persönlich erschienen ist usw.

E: Einige katholische Theologen zeigen den eigentlichen Geheimnis-Begriff:
Darum: Erinnerung an Karl Rahner. Er ist DER Theologe, der die Rede vom göttlichen Geheimnis im Christentum in den absoluten Mittelpunkt stellte: „Was sagt das Christentum? Was verkündet es? Es sagt trotz des Anscheins einer komplizierten Dogmatik und Moral eigentlich doch nur etwas ganz Einfaches. Ein Einfaches, als dessen Artikulation alle einzelnen Dogmen erscheinen.
Was sagt das Christentum eigentlich? Doch nichts anderes als: Das Geheimnis bleibt ewig Geheimnis. Dieses Geheimnis will sich aber als das Unendliche, Unbegreifliche, als das Unaussagbare, Gott genannt, als sich schenkende Nähe in absoluter Selbstmitteilung dem menschlichen Geist mitten in der Erfahrung seiner endlichen Leere mitteilen.“ (In: Karl Rahner, Lesebuch, S. 20).

Das Göttliche ist IM Menschen, die Konsequenz ist: dann „Wer sich selbst als Mensch annimmt, nimmt das ihn gründende Geheimnis seines Lebens auch schon mit an, er nimmt also indirekt und unthematisch Gott, mit an“. (S. 21).

Rahner: „Gott ist der, hinter den man prinzipiell nicht kommt“. (Lesebuch, S 143). Man kann von Gott nicht „exakt“ reden. Nur stammeln, nur indirekt reden.
Aber man darf von ihm nicht darum schweigen, weil man von ihm nicht „eigentlich“ und exakt reden kann.
Ein Auszug aus „Gott ist keine naturwissenschaftliche Formel,“ (https://www.einjahrzitate.de/?p=787) „Gott ist nicht „etwas„ neben anderem, das mit diesem anderen in ein gemeinsames, homogenes System einbegriffen werden kann. „Gott” sagen wir und meinen das Ganze, aber nicht als nachträgliche Summe der Phänomene, die wir untersuchen, sondern das Ganze in seinem unverfügbaren Ursprung und Grund, der unumfasslich, unumgreiflich, unsagbar hinter, vor und über jenem Ganzen liegt, zu dem wir selbst und auch unser experimentierendes Erkennen gehören. Und in jedem Leben, auch des exakten Naturwissenschaftlers und Technikers, kommen in die Mitte des Daseins zielende Augenblicke, in denen ihn die Unendlichkeit anblickt und anruft. Man kann das Leben, insofern man zwischen diesem und jenem hindurchfinden muss, mit Formeln der Wissenschaft meistern. Wenigstens auf weite Strecken mag das gelingen, und man greift glücklicherweise morgen noch ein gutes Stück weiter. Der Mensch selbst aber gründet im Abgrund, den keine Formel mehr auslotet. Man kann den Mut haben, diesen Abgrund zu erfahren als das heilige Geheimnis der Liebe. Dann kann man es Gott nennen“.
F: Auch der katholische Theologe Edward Schillebeeckx (1914-2009) spricht theologisch vom Geheimnis: Etwa in: Edward Schillebeeckx, „Im Gespräch“, Luzern 1994, S.112).
„Man kann nicht die Existenz Gottes beweisen…SONDERN: „Es geht nur darum zu beweisen, dass es rational begründet ist, von Gott zu sprechen. Man kann nur beweisen, dass es vernünftig sein kann, von Gott zu reden“ (112)
Es gibt ein rationales Fundament für die Beziehung des Menschen zu Gott. Die Rede von Gott ist nicht absurd.
„Der Mensch, der an Gott glaubt, weiß, dass Gottes Schweigen nicht seine Abwesenheit bedeutet“. 112.
Die absolute Gegenwart Gottes ist schweigende Gegenwart. 113. (Man kann also auch das Schweigen Gottes als Gottes Nichtexistenz deuten, so Schillebeeckx, S. 113.)
„Weder der Theismus noch der Theismus können bewiesen werden. Beide sind INTERPRETIERNDE Erfahrung der Wirklichkeit, (S. 113).
„Auch Atheisten sind Glaubende“ (nämlich an das Nichts Glaubende, CM) (S. 114.)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Beitrag von URSULA SAX:
Wie wir das Wort Geheimnis landläufig benutzen, ist nicht sehr geheimnisvoll. Es hat doch etwas Verborgenes, hat eine größere Dimension, als wir es kürzlich in den Fokus nahmen.
Wir sprachen von Familiengeheimnissen, z. B., die sind oft verhängnisvoll, für den einzelnen, doch sie sind von der Familie selbst gemacht, aus Scham oder anderen Gründen, sie wollen Umstände / Vorkommnisse verschleiern, zum Beispiel, um einen Image-Verlust zu vermeiden, wenn da etwas bekannt würde, das dem Ansehen der Beteiligten schaden würde.

Ich sehe das Geheimnis unpersönlicher – Universeller. Ist nicht unsere ganze Existenz ein Wunder und ein Geheimnis? Sind wir uns nicht selbst Geheimnis? Es ist mir selbst ein Geheimnis, dass sich bei mir künstlerische Ideen einstellen.
Manchmal völlig fertig, so dass ich sie nur noch zu machen brauche, manchmal schwer erarbeitet, Annäherung über längere, oder lange Zeit. Wir, unser ICH, ist völlig identifiziert mit unserem Körper und kritisiert ihn lieblos oder schämt sich seiner.
Wir behandeln uns oft schlecht, als ob wir uns selbst zu verantworten hätten – vor wem ? Vor den andern, die sich genauso irren in ihrer Person.

Ich war jetzt ein paar Tage lange schwer erkältet und hatte Zeit zum Nachdenken / Nachspüren: Wer bin ich ? Die uralte Frage. Die Antwort: Alles ist Geheimnis!
Ursula Sax am 1.4. 2019.