Was ist die Apokalypse? Was die „Apokalypse des Johannes“ im Neuen Testament?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 11.3.2022.

Die aktuelle Situation:

Das Ende naht, meinen viele, angesichts des Krieges Putins gegen die Ukraine. (Vom bevorstehenden Ende wegen der Klimakatastrophe einmal abgesehen). Nichts ist ausgeschlossen in diesem Krieg an unberechenbarer Aggressivität durch den russischen Diktator. Und so wird jetzt, wie oft in Krisen und Katastrophen, das Stichwort Apokalypse verwendet als „Verstehenshilfe“ für die aktuelle Situation. Und gemeint ist mit „Apokalypse“, sozusagen „populär“, die von Menschen, etwa von einem Diktator, bewusst inszenierte Zerstörung weiter Teile der Erde und der Menschheit.

Wenn man Apokalypse hingegen im ursprünglichen Kontext verstehen will, und dies ist der biblische, auch der neutestamentliche Kontext, dann muss man beachten: Der im biblischen Text erwartete Untergang der Welt und der Übergang in Neues, Besseres, wird einzig als Tat Gottes erzählt. An diese Differenz im Verstehen des Begriffes Apokalypse sollte man sich erinnern.

Der folgende Hinweis verdeutlicht einige zentrale Aspekte der Apokalypse des Johannes. Es lohnt sich zumal für alle nicht so sehr mit den biblischen Erzählungen Vertrauten, wieder einen Blick in diese befremdliche Welt der Johannes-Apokalypse zu werfen. Dabei muss jede Leserin feststellen: Die Bibel ist gerade hier ein befremdliches Buch, sie ist kein populärer Schmöker, keine unmittelbare, griffige Lebenshilfe. Auch das Neue Testament enthält Erzählungen, wie die Apokalypse des Johannes, die nicht unmittelbar aktualisiert werden können.
Weil dieser Text einem frommen Autor namens Johannes sozusagen göttlich direkt übermittelt wurde, sprechen die Kirchen auch anstelle von Apokalypse des Johannes von „Offenbarung des Johannes“. Klingt weniger bedrohlich vielleicht.
Dieser Beitrag erschien schon in etwas erweiterter Form anläßlich der Veranstaltung des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin am 22.11.2019!

 ERLÄUTERUNGEN zum Buch „Apokalypse“:
1.
Apokalyptisches Denken bezieht sich im Neuen Testamen auf den Glauben der ersten Christen. Sie waren nach dem Tod Jesu von Nazareth überzeugt: Dieser Jesus lebt unter uns auf neue Weise „anders“ weiter, sie nannten diese Erfahrung: Auferstehung Jesu. Und dieser „auferstandene Neu-Lebendige“ wird wieder kommen auf diese Erde, um die Gläubigen in die Auferstehung, also das nicht mehr endliche, das ewige Leben zu geleiten.

Diese Erwartung des wiederkehrenden Jesus ist prägend bis ins Jahr 95, als der Autor Johannes auf Patmos seinen Text schrieb. Im heutigen Erleben der meisten Christen und ihrer Theologie spielt diese „Naherwartung“ des bald wiederkommenden auferstandenen Jesus Christus keine Rolle mehr. Man glaubt an eine allgemeine Auferstehung, hält sich aber vernünftigerweise mit Detail-Beschreibungen zurück.
 Die Apokalypse des Johannes ist ein Text, eine Predigt, ein Brief, eine Prophetie, wie auch immer: Darin wird den von Verfolgung durch den römischen Staat bedrängten Christen gesagt: Ihr seid „letztlich“ geborgen in dem lebendigen Jesus Christus. Ihr seid, trotz aller Leiden, getragen von einem positiven Sinn-Grund. Ihr seid bestimmt von einer Hoffnung auf eine gerechte Erde und einen neuen Himmel, diese Hoffnung ist größer als alles Leiden unter dem römischen Imperium.
Der Text der Apokalypse will also vor allem betonen: Die göttlichen Kräfte sind stärker als das brutale Imperium mit seinen Allmachtsansprüchen und seiner religiösen Intoleranz gegenüber der Minderheit der Christen.
 Insofern ist das Buch Apokalypse des Johannes auch ein politischer Text: Ein Text des Protestes, der Freilegung der imperialen Macht Roms. Und in der Weise wird er vor allem in Lateinamerika heute unter Befreiungstheologen gelesen: Das Imperium der Diktatoren, auch das Imperium des neoliberalen Systems, auch das Imperium der USA, haben nicht das letzte Wort.

2.

Aber dass man diesen Text des Propheten Johannes einen Text des Widerstandes nennen könnte, ist meines Erachtens falsch. Widerstand ist aktives Handeln gegen ein Unrechtsregime, dazu waren die wenigen Christen in Kleinasien gar nicht in der Lage. Sie konnten von Johannes, dem Autor des Briefes nur zum Durchhalten aufgefordert werden,  auch zum Erleiden, zur freiwllig akeptierten Tötung. Diese Empfehlung ist keine Aufforderung zum Widerstand.

Die Apokalypse des Johannes bedeutet also vor allem Freilegung, Offenbarung, Entbergung der wahren Verhältnisse inmitten des Imperiums Rom. Das ist die formale Seite.
 Aber diese Freilegung geschieht in einer Sprache, die extrem verschlüsselt ist und geheimnisvoll, nur für Insider damals verständlich, um die Gemeinden in Kleinasien, also der heutigen westlichen Türkei, zu schützen vor dem Zugriff des Imperiums der Kaiser in Rom.

3.

Aber das ist entscheidend: Das Buch der Apokalypse ist ein Buch für eine ganz bestimmte Zeit, für ganz bestimmte Leute, die sich zudem auskannten in religiösen Symbolen etc. Die Aussagen der Apokalypse, vor allem ihre Aufforderung, mit Zahlen und Daten zu arbeiten, um irgendwelche historischen Berechnungen des Endes und der Erretteten zu erreichen, sind zeitgebunden. Den Fehler des unmittelbaren Verstehens der Apokalypse im wortwörtlichen Sinne begehen Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas, die Mormonen, die Adventisten und andere…Sie müssen ständig die von ihnen berechneten Daten des Weltuntergangs korrigieren und verzichten nun angesichts der falschen Ankündigungen überhaupt auf Datenberechnungen des Untergangs, insofern haben diese Gemeinschaften doch einen Teil der vernünftigen Reflexion in ihre Spiritualität übernommen…

Nebenbei: Auch in der katholischen Kirche gibt es Orte und Gruppen, die stark im apokalyptischen Denken verwurzelt sind, also in der Vorstellung, bald droht das Ende, und so werden Drohungen an die Menschheit verbreitet: Etwa im Wallfahrtstort Fatima, Portugal, oder im Wallfahrtsort La Salette, Frankreich; oder es gibt Gruppen, wie das katholische „Engelwerk“ und den Kreuzorden, die immer an einem Verbot durch den Vatikan vorbei „geschrammt“ sind…

4.

Warum finde ich den Text „Apokalypse des Johannes“ im NT viele Aussagen problematisch?
 Der Text enthält seitenweise Bilder des Schreckens, die mit einer Symbolik arbeiten, die heute kein Leser versteht. Das heißt: Dieses Buch der Bibel ist ohne einen ausführlichen Kommentar gar nicht zu verstehen. Das mag für andere Texte des NT auch gelten, aber da sind doch auch Erzählungen enthalten, wie die vielen schönen Gleichnis Reden Jesu, die sich einem unmittelbaren Verstehen erschließen.
 Die Apokalypse des Johannes hingegen ist hoch komplex, und manche Symbole, wie die Zahl 666 im Buch, ist selbst für gediegene Forscher, wie die Bibelwissenschaftlerin Prof. Schüssler Fiorenza, nicht mehr „entzifferbar“.
 Aber das ist noch das geringste Problem, das ich mit dem Text habe:
 Das Denken des Autors Johannes ist von absoluten Gegensätzen geprägt: Es gibt “die” Guten und “die” Bösen, es gibt keine Mischformen: Es gibt die Hure Babylon, sie steht der heiligen Stadt Jerusalem gegenüber.
In den 7 Gemeinden in Kleinasien, an die sich Johannes mit seinem Brief wendet, gibt es unterschiedlichen Formen im Umgang mit der römischen Herrschaft: Aber da duldet der Autor keine Kompromisse: Entweder sollen die Menschen in ihrem Denken heiß oder kalt sein, die Mischform lau wird nicht geduldet. Kompromisse sind ausgeschlossen. Abweichler vom offiziellen Glauben werden verdammt. Wer sich nicht verfolgen und töten lassen will vom Imperium, ist in der Sicht des Johannes kein guter Christ.

Immerhin gibt es in der Geschichte der Interpretation und Rezeption des 20. Kapitels der Johannes Apokalypse eine Möglichkeit, doch aktiv tätig zu werden: Da ist die Rede vom „1000jährigen Reich“. Der Engel Gottes wird Satan für 1000 Jahre wirkungslos machen. Dieses 1000jährige Reich wurde dann als die große Heilszeit gedacht. Die Gerechten stehen wieder auf aus dem Tod, es gibt ein neues Glück auf Erden. Das Tausendjährige Reich als Bild wurde dann auch wieder politisch missbraucht, wie überhaupt dieser mysteriöse Text der Apokalypse zu wilden Spekulationen Anlass bietet, die vielleicht in der Seele der Menschen ohnehin angelegte Ängste und Untergangsstimmungen bestätigt.
Schon die ersten Christen sahen das Buch der Johannes Apokalyse als problematisch an. Und sie wollten es nicht in den Kanon des NT aufnehmen. Noch im 3. Jahrhundert war man nicht bereit, die Apokalypse in den offiziellen Kanon aufzunehmen! 
Etwa im Jahr 367 wurde der NT-Kanon festgelegt. In der Ostkirche wurde die Apokalypse noch bis ins 17. Jahrhundert verworfen! (Dazu mehr bei Albert Schweitzer, „Werke aus dem Nachlass,“ Straßburger Vorlesungen).

5.

Es ist das Gottesbild des Buches der Apokalypse, das von mir abgelehnt wird: Gott kann fürchterlich und grausam auf dieser Welt agieren, ehe er für einige Erwählte die Rettung bringt. Und vor allem dies: Gott findet das meiste und die meisten in dieser seiner eigenen Schöpfung schlecht und zur Zerstörung bestimmt. Hat Gott also eine missratene Schöpfung geschaffen?
 Erst eine totale Neuschöpfung mit dem Untergang der bösen alten Welt ist die Erlösung. Auch diese Vorstellung hat sich populär durchgesetzt, auch politisch bei Rechtsextremen, die erst nach einer totalen Zerstörung (dem Endkampf) das „Heil“ für möglich halten. Da sieht man die untergründigen Wirkungsgeschichten dieses biblischen Textes. Er stiftet auch politisch Verwirrung und lähmt viele Gutwillige Leute, noch aktiv vernünftig gestaltend zu handeln.
Also auch politisch wird das Buch der Apokalypse missbraucht: Etwa in der Rede vom Armageddon. Dazu gibt es zahlkreiche Bücher, vor allem in den USA. Die These der (rechts)extremen Evangelikalen ist: Erst wenn Israel stark ist, kann der Messias kommen. Weil die vielen Feinde Israel zerstören werden. Dies gilt diesen Christen als der Beginn der Endzeit, bei der nur die bekehrten Juden Rettung finden….Man lese dazu die Studie des Religionswissenschaftlers Prof. Hans G. Kippenberg (Bremen-Erfurt) „Außenpolitik und heilsgeschichtlicher Schauplatz. Die USA im Nahostkonflikt“ in dem Buch „Apokalyptik und kein Ende“, Göttingen 2007, 7 Euro!) auf Seite 290 zitiert Kippenberg entsprechende kritische Äußerungen von jüdischen Forschern zu diesem sich pro-Israel gebenden Konzept, das tatsächlich aber verdeckt antisemitisch ist.
 Man kann auch zur Erstinfirmation wikipedias Stichwort „Reich des Bösen“ lesen; darin wird u.a. deutlich: „Die verkaufsstarken Romane von Hal Lindsay oder Timothy LaHaye sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es den evangelikalen Eliten gelang, apokalyptische Vorstellungen aus den Kirchen in die Populärkultur zu transportieren. Lindsay verbreitete Anfang der 1970er Jahre sein Buch „The Late Planet Earth“ (Titel in deutscher Übersetzung von 1971: „Alter Planet Erde wohin? Im Vorfeld des Dritten Weltkrieges“), das bis 1990 in 91 Auflagen erschien, in Supermärkten und Flughäfen auslag, über 28 Millionen Mal verkauft wurde und bis in die höchsten Regierungskreise der Reagan-Administration Einfluss entfaltete.
Auch von Steve Bannon, Katholik und (EX)-Berater von Trump wäre zu reden, der meint, erst eine totale Zerstörung der Welt kann einen Neuanfang bringen….

6.

Die Apokalypse hat meiner Meinung nach heftige mentale Schäden angerichtet. Und man hat auch heute oft den Eindruck, die Menschen befassten sich mehr mit der Apokalypse und ihren diffusen Bildern besessener als mit Bergpredigt und den Gleichnissen Jesu.
 Mit dem Buch der Apokalypse lässt sich keine menschenfreundliche Spiritualität und Theologie gestalten. Von dem z.T. grausamen Gottesbild und der offenbar missratenen Schöpfung Gottes war schon die Rede.
Aktuell hat das Buch Apokalypse des Johannes keine größere Relevanz. Der Appel bis zum Tod durchzuhalten hat allenfalls für die wenigen Christen in Nordkorea Sinn.
Sonst sollten Christen wo auch immer zugunsten der Gerechtigkeit handeln und sich niemals einreden lassen „Es gibt keine Alternative“.

7.

Noch ein Hinweis zu den Christenverfolgungen in den ersten drei Jahrhunderten: Sie verliefen in unterschiedlichen Phasen von unterschiedlicher Grausamkeit.
 Die Juden wurden im römischen Imperium nicht verfolgt, sie waren eine bekannte, „andere“, nicht heidnische, also monotheistische Religionsgemeinschaft.
 Die ersten Christen waren zunächst noch Mitglieder der römischen Synagoge. Dann konnten Juden diese Gruppe der Christen in der Synagoge nicht mehr ertragen. Paulus selbst wurde im Jahr 53 aus der Synagoge in Ephesus rausgeschmissen und fand dann erfreulicherweise Zuflucht bei dem dortigen Philosophen Tyrannus und seiner Schule!
 Der Staat sah also in den Christen zurecht eine eigenständige, aber staatskritische religiöse Gruppe.

Der Text der Johannes-Apokalypse ist bezogen auf die Christenverfolgungen unter Kaiser Domitian, um 95. Und in Erinnerung an Kaiser Nero… Damals schon sagten Historiker: „Diese Christen sind gefährlich“. Das sagten Tacitus, auch Sueton, später auch Kelsus: Christen seien eine Stimme des Aufruhrs; Christen reißen sich von anderen Menschen los, machen nicht mit im „System“ der Herrschenden. Weil sie den Kaiser nicht für göttlich hielten, wuden die ersten Christen „atheoi“, also Atheisten, genannt. Ein hübscher, nachdenkenswerter Titel – auch heute? Gegen welche Götter sind denn heutige Christen? Ist z.B. die westliche Wachstumsideologie ein Gott, gegen Christen und Kirchen und Bischöfe entschieden kämpfen? Wohl kaum.
Aber interessant ist doch die Pluralität der Theologie schon in der frühen Kirche: Was hatte da doch Paulus in seinem Römerbrief etwa 30 Jahre vorher gesagt: «Jedermann ordne sich den staatlichen Behörden unter, die Macht über ihn haben. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben wäre, die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt.» (Römer 13, 1)
Diese Pluralität der Theologien ist bemerkenswert: Sie zeigt, wie unterschiedliche Theologen auf gegebene Verhältnisse reagieren…

8.

Für die eigene Lebensphilosophie bleibt angesichts dieser Überlegungen die Frage:
Gibt es auch eine persönliche, individuelle Apokalypse? Diese Frage wird vor allem deswegen interessant, wenn man den Begriff des Gerichts durch Gott in eine philosophische – anthropologische Überlegung übersetzt: Wie beurteile ich mich, durch mein Gewissen, durch meine Selbstkritik, wie beurteile ich mein Leben? Auch wenn das eigene Ende bevorsteht? Aber diese Überlegung muss ja nicht am Ende des Lebens geschehen. Es geschieht wahrscheinlich sowieso oft inmitten des Lebens, als Impuls zur Korrektur, zum neuen Beginnen und zum Eingeständnis von Schuld. Über diese Frage der individuellen Apokalypse, also meines Endes, müsste als philosophisches Thema weiter nachgedacht werden.

Nebenbei: Die bekannte Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff (Berlin) sprach kürzlich in einem Interview mit „Christ und Welt“, der Beilage der ZEIT, am 20.2.2022 angesichts ihrer Krankheit von ihrer Angst vor dem Gericht Gottes „post mortem“: “Mich beschäftigt die Angst, wegen meiner Sünden gerichtet zu werden”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die katholische Kirche ist am Ende

Ein Hinweis von Christian Modehn am 21.1.2022

Schon 2019 habe ich darauf hingewiesen, dass die römisch katholische Kirche de facto am Ende ist. D.h. : Sie kann institutionell zwar noch fortbestehen, weil es noch sehr viele Festangestellte gibt, die sich zur Kirche nach außen hin bekennen müssen. Aber innerlich “bewegt”, geschweige denn vernünftig überzeugt, sind wohl die wenigsten.

Es ist der Ballast der KirchenLEHRE, es sind die Dogmen, die Gesetze, die das spirituelle Leben behindern. Diese Lehren und Gesetze treiben die Gläubigen aus der Kirche. Vor allem  Abergläubische und Wundergläubige (Verehrung heiliger Knochen (Reliquien), heiliger Wasser, “Heiliger Väter” etc.) bleiben noch in dieser Institution. Über die umfassende Reduzierung der Lehre, der Dogmen, wäre endlich zu sprechen! Zum Beispiel: Weg mit dem Dogma von der Erbsünde.

Aber es wird immer noch kleine fundamentalistische Gruppen geben, die sich gern dem Klerus unterwerfen. Diese Kreise meinen, Jesus von Nazareth selbst habe diese Kirche, so, wie sie ist, begründet und damit auch den Männer-Klerus als ewige Institution gewollt. Aber solche Überzeugungen und fundamentalistischen Bibelinterpretationen in katholischen Kreisen werden in Europa und Amerika minoritärer werden, aber sie bleiben einflussreich im Vatikan usw.

Die vielen Skandale zur Korruption des Klerus (sexueller Missbrauch, Bereicherung etc.) führen über die Kirchenaustritte zur globalen Veränderung des religiösen Bewusstseins, ein Thema, das genauso wichtig ist wie die Korruption des Klerus , der Korruption … bis hin zum “Ex-Papst”, der bald endlich ein Ex-Ex-Papst sein sollte.

Warum haben die Kardinäle eigentlich 2005 einen solchen “Typen”, salopp gesagt, zum Papst gewählt? Dachten sie auch so wie er? Wahrscheinlich.

Ich empfehle meinen Beitrag zur Debatte: “Die Katholische Kirche ist am Ende”. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Russisch-orthodoxe Putin-Kirche: 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion dem Herrscher ergeben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.12.2021

1. Vor 30 Jahren, am 26. Dezember 1991, wurde offiziell die Sowjetunion beendet, die Rote Fahne wurde durch die Russische Flagge ersetzt. Verschwunden ist der Ungeist der Sowjetzeit bis heute nicht. Wie sollte auch Menschen so schnell Demokraten werden können, Menschen, die von der kommunistischen und stalinistischen Diktatur drangsaliert wurden und zuvor Jahrhunderte unter der Zarenherrschaft, als „Leibeigene“, galten. Die europäische Aufklärung hatte bekanntlich nur eine Minderheit der Russen geprägt. Selbst Dostojewski war im Alter ein Verteidiger der „russischen Idee“ zur Rettung Europas.

2. Über das offizielle Ende der UDSSR vor 30 Jahren wird viel veröffentlicht. Ein wichtiger, in Deutschland leider eher als marginal betrachteter Aspekt, ist die „Russisch-Orthodoxe Kirche“ mit dem Patriarchen von Moskau. Diese sich stolz „rechtgläubig“ nennende kirchliche Organisation hat seit 1992 eine rasante Entwicklung gestalten können: 30.000 Kirchen wurden im ganzen Land eröffnet, es gibt mehr als 50 theologische Seminare zur Ausbildung der Popen, sehr viele Russen nennen sich „russisch-orthodox“. Der Wunderglaube ist weit verbreitet. Die Reliquien des heiligen Nikolaus, als Leihgaben nach Moskau gebracht, wollten unbedingt zweieinhalb Millionen Menschen sehen. Allerdings ist der Anteil der regelmäßigen Teilnehmer an den Sonntags-Liturgien eher sehr gering (Fußnote 1, siehe unten). Kein Wunder, die weihrauch- geschwängerten Gesänge und Gebete werden in der heute kaum verständlichen  “Kirchenslawischen Sprache” vorgetragen, kaum jemand unter denGläubigen versteht das, so bleibt nur das permanente Rufen „Herr erbarme dich“ und das ständige demütige Sich-Bekreuzigen. Das Bekenntnis zur Kirche ist einerseits Folklore. Andererseits lässt sich die Russisch-orthodoxe Kirche sehr gern als ideologische- nationalistische Stütze von Putin und dem Putin-Regime gebrauchen. Zumindest die oberen Bischöfe und der Patriarch vor allem haben davon enorme finanzielle Vorteile, der Patriarch selbst gilt als Multi-Millionär (zu den Auseinandersetzungen darüber: https://g2w.eu/news/697-russland-russische-orthodoxe-kirche-weist-behauptungen-ueber-reichtum-von-patriarch-kirill-zurueck). Über die wirtschaftlichen “Akivitäten” der Russisch-Orthodoxen Kirchenführer berichtete schon im Frühjahr 2004 Aleksandr Soldatov in Lettre International, S. 78f. Von merkwürdigen kirchlichen Wirtschaftsunternehmen ist in dem wissenschaftlichen Beitrag die Rede, etwa vom kirchlchen Trinkwasser “Heiliger Quell”, es wedn Unmengen von sogen. Messwein produziert, auch habe sich ein weites Netz von “Milchkiosken”  und “orthodoxen Apotheken” in Moskau gebildet…

3. Die Russisch-Orthodoxe Kirche soll sozusagen die traditionellen Werte Russlands vertreten und verteidigen, das religiöse Opium liefern, von dem dann das Putin Regime sehr gern Gebrauch macht zur Festigung des eigenen Systems. Putin will in seiner zur Schau gestellten Nähe zur Kirche als Mann des russischen Volkes erscheinen. Darum nimmt er immer wieder an den Liturgien teil, etwa zu Ostern in “Christus Erlöser Kathedrale”. Die Freundschaft zwischen Patriarchen und Herrscher lohnen sich für die Kirche: Priester geben nun Kurse zur „Orthodoxen Kultur”  in den Schulen. Ganz sanfte Distanz deutet sich an, wenn nun der Patriarch doch davon absehen will, in Zukunft auch die Massenvernichtungswaffen Russlands zu segnen. Hingegen  sollen die Soldaten und ihre Herren Generäle den kirchlichen Segen nach wie vor erhalten.

Der Historiker Heinrich August Winkler betont den geschichtlichen Hintergrund für dieses “Kirche-Staat-Verhältnis”: “Anders als im europäischen Okzident des Mittealteres hatte es in Russland keine Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt gegeben. Vielmehr blieb die geistliche Gewalt der weltlichen stets untergeordnet, weshalb die orthodoxe Kirche nie zu einem Korrektiv der jeweiligen Staatsmacht wurde.” (“Werte und Mächte, C.H. Beck Verlag München 2019, S. 638).

Nebenbei: In Paris wurde 2016 die neue russische Kathedrale Sainte Trinité eröffnet, eine imposante Architektur mitten in Paris.

4. Leider ist die Kenntnis der aktuellen religiösen Zustände, also das Leben der Russisch-orthodoxen Kirche, in West-Europa, auch in Deutschland, sehr unterentwickelt. Diese Kirche ist Staatskirche, bzw. präziser, eine Art Putin-Kirche, ihm, dem Herrscher, fast völlig ergeben. Kürzlich wurde in Moskau eine monumentale neue Kathedrale für die Russische Armee eingeweiht. Ein riesiges Mosaik als Wandschmuck zeigt den Diktator Stalin, anlässlich der Militärparade zum Sieg der Armee über Nazi-Deutschland. Eigentlich hätte nach kirchlicher Vorstellung auch Putin auf diesem Gemälde „verewigt“ werden sollen, aber der fand dann doch diesen Ruhm im Augenblick für etwas übertrieben.(So im Artikel des Russland Spezialisten Emmanuel Grynszpan am 4. Mai 2020 für die Genfer Tageszeitung Le Temps: https://www.letemps.ch/monde/staline-va-orner-murs-dune-cathedrale-orthodoxe-moscou).

5. In jedem Fall zeigte das Moskauer Patriarchat durch die Komposition des Mosaiks eine gewisse Nähe ausgerechnet noch zum Stalinismus, was erstaunlich ist, wurden doch viele tauend Priester und Gläubige unter Stalin, dem ehemaligen Priester-Kandidaten aus Georgien, aufs übelste verfolgt und gequält und umgebracht. Aber Stalin ist bei der akuellen Verehrung seiner Person wieder „am Kommen“.

Und nebenbei: Einigen russisch-orthodoxen Kirchenführern (wie die Patriarchen Pimen I. oder Alexius II.) wurde nach 1989 mit guten Belegen eine Mitarbeit für den KGB-Agenten nachvollziehbar vorgeworfen. Die Sehnsucht der römisch-katholischen Kirche nach einer freundschaftlichen Ökumene mit “den” Orthodoxen, auch mit dem Moskauer Patriarchat, müsste hier ausfühlicher kritisch dargestellt werden. Die Führer der meisten orthodoxen Kirchen sind theologisch extrem konservativ, in der Sexual – Ethik schlicht und einfach verkalkt, sagen Beobachter. Mit diesen Herren eine tiefe, freundschaftliche und lernbereite Ökumene zu pflegen, führte die römisch-katholische Kirche noch weiter in konservative Positionen jenseits heutiger Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen. Selbst Papst Franziskus sucht immer wieder die Nähe zum Moskauer Patriarchen. Franziskus trifft sich oft mit dem führenden Mitarbeiter des Patriarchen, mit Erzbischof Hilarion.

6. Aber “die Zeiten ändern sich”…Der Parteiführer der immer noch bedeutenden “Kommunistischen Partei Russlands”, Guennadi Ziouganov, nennt sich jetzt „gläubiger orthodoxer Christ“ und … treu ergebener Putin Oppositioneller. (Quelle: Emmanuel Grynszpan, 2020.)

7. Von Kritikern an diesem System einer regimefreundlichen orthodoxen Kirche wäre ausführlich zu berichten. Etwa von dem Diakon Andrei Kouraiev:“ Für den Patriarchen Kyrill zählt einzig sein Ansehen bei den Führern der Macht, der Sicherheit und den Ideologen des Patriotismus”. An den ermordeten oppositionellen Priester Alexander Men erinnern noch einige Oppositionelle…

8. HINWEISE AUF FRÜHERE, NACH WIE VOR RELEVANTE TEXTE des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin zum Thema “Russische Orthodoxie”:

Der Moskauer Patriarch glaubt an Putin: Veröffentlicht 2012. Siehe: LINK

Wer sind die Gotteslästerer?, Veröffentlicht 2013: LINK

Fußnote 1: In der Zeitschrift “Archives de Sciences sociales des Religions” (juillet-septembre 2021) berichtet Kristina Kovalskaya zu der Frage: Wie genau ist die Russisch-orthodoxe Kirche Russlands heute statistisch erfasst?  Bis jetzt werden von der Kirchenleitung selbst nur die Anzahl der Priester, die Anzahl der Gemeinden und die Zahl der Riten bzw. Liturgien genannt. Die Politiker der Regierung sagen einfach nur wie üblich: “Die Orthodoxie ist die Religion der Mehrheit in Russland”. Die wirkliche „innere“ Verbundenheit dieser Mehrheit mit der Kirche wird dabei nicht erfasst. Fest steht wohl: Zwischen 63 und 69 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als „russisch – orthodox“, dabei sind unter diesen Leuten auch Nicht-Getaufte oder Menschen, die sich als Ungläubige verstehen. Man spricht unter Religionssoziologen dabei von „kulturellen Orthodoxen“. Wirklich verbunden mit dem kirchlichen Leben (d.h. wenigstens einmal pro Monat (!) Teilnahme an der Liturgie in der Kirche) sind hingegen nur 13 Prozent der Russisch-Orthodoxen. Quelle. Religioscope, 6 décembre 2021!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ein christlicher Glaube, befreiend, kein Opium: Vor 50 Jahren erschien das Buch „Theologie der Befreiung“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.11.2021.

Siehe auch eine wichtige, am 9.6.2025 publizierte Ergänzung zum Werk von Gustavo Gutiérrez unter Nr.20 , da wird deutlich die gehorsame Abhängigkeit des peruanischen Befreiungstheologen von der römischen Zentrale (Glaubenskongregation, Ratzinger usw.). Aufgrund dieser von Rom eingeforderten Korrekturen im Denken von Gutierrez erscheint sozusagen sein ganzes Werk in neuem Licht: Der alte Theologe Gutiérrez (geb. 1928) ist also müde geworden…und Kardinal Müller (sein “Freund”) wird Gutiérrez in der Rom – Treue bestärkt haben… 

1.Der große Inspirator: Gustavo Gutiérrez

Die christlichen Kirchen erleben außerhalb Europas – zahlenmäßig – einen „Boom“. Sie zeigen eine bunte, verwirrende und manchmal widersprüchliche Vielfalt christlichen Glaubens. Dies betrifft vor allem die „unglaublich“ vielen charismatischen, pfingstlerischen und evangelikalen Gemeinschaften. Aber es gibt auch eine Minderheit: Christen und vor allem katholische Gemeinden, die sich dem politischen Projekt einer ganzheitlichen Befreiung der Armen aus Elend und Ausbeutung verpflichtet wissen…und entsprechend handeln! Und diese Minderheit der „links-politisch“ Frommen haben eine Theologie: Die „teologia de la liberacion“, die Befreiungstheologie. Sie ist unter diesem Namen auch mit verschiedenen neuen Ansätzen, etwa zur Ökologie oder zum Feminismus, lebendig. Ihr „Gründervater“ bzw. Initiator ist der Peruaner Gustavo Gutiérrez (geb. am 8.Juni 1929 in Lima). Zur Biografie nur ganz kurz: Gutiérrez hat neben Philosophie und Theologie auch Medizin und Sozialwissenschaften, vor allem in Lyon und Louvain, studiert, er ist katholischer Priester, Autor zahlreicher Studien zur Befreiungstheologie, vielfach mit Ehrendoktoraten geehrt, sowie im Jahr 1975 Gründer des befreiungstheologischen Studienzentrums „Bartolomé de las Casas“ in Lima-Rimac. Mit dem dort rigoros-engstirnig herrschenden Kardinal Cipriani vom Opus Dei hatte auch Gutiérrez viele heftige Konflikte durchzustehen.

2.Regionale Herkunft-universale Bedeutung

Die „teología de la liberación“, die Befreiungstheologie, ist zwar regional in Lateinamerika entstanden und verwurzelt, sie hat aber universale Bedeutung nicht für Christen, sondern für alle, denen eine gerechte Welt als politische Ziel der Menschheit wichtig ist. Begrenzter Herkunftsort und universale Bedeutung schließen sich bekanntlich nicht aus, siehe die Herkunft der universal geltenden Menschenrechte aus Europa…

Diese Theologie der Befreiung hat nun sozusagen einen Geburtstag, einen wichtigen Gedenktag: Als dieser gilt der 1. Dezember. Vor 50 Jahren wurde das grundlegende und international verbreitete Buch des peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez mit dem Titel „Theologie der Befreiung“ veröffentlicht. Es kann hier nicht der gesamte Inhalt dieses wichtigen Buches zusammengefasst werden, das zudem 1992 in seiner 10. Auflage gewisse Korrekturen des Autors aufweist, etwa hinsichtlich der Einschätzung der sozialwissenschaftlichen Dependenztheorie.

Anlässlich des „Gedenktages“ soll nur auf einige besonders relevante und „auffällige“ und nach wie vor aktuelle Themen hingewiesen werden, um Interesse zu wecken an der Lektüre des Buches…

3.Gutiérrez und seine vielen MitstreiterINNEN

Das erste große Werk von Gustavo Gutierrez, die „Theologie der Befreiung“ , ist 1973 auch auf Deutsch erschienen, in einer Übersetzung des Lateinamerika-Spezialisten Horst Goldstein. Inzwischen liegt das Buch in 20 Sprachen vor. Es geht auf Vorträge zurück, die Gutiérrez einige Jahre zuvor etwa in Montréal gehalten hatte und dann auch in Chimbote, Peru. Auch andere Theologen, wie der gleichermaßen bedeutende Juan Luis Segundo SJ aus Uruguay (1925-1996), hatten schon vorher von „Befreiungstheologie“ gesprochen. Aber Gustavo Gutiérrez war eben mit seinem Buch von 1971 etwas Grundlegendes, bei einem Umfang von 288 Seiten, gelungen. Seitdem ist die Liste der tatsächlich berühmten Befreiungstheologen lang, Leonardo Boff, Frei Betto, Pablo Richard, Elsa Tamez, Jon Sobrino, Franz Hinkelammert und so weiter. Wichtig ist auch: Einige Bischöfe waren mit der Befreiungstheologie verbunden, wie der in Deutschland leider unbekannte Pedro Casaldaliga, der Mystiker und Poet aus Sao Felix, Brasilien.  LINK:

4.Das zentrale Bild: Reich Gottes

Die zentrale Erkenntnis der Befreiungstheologie, auch im Sinne von Gutiérrez, heißt: Der von Jesus von Nazareth verkündete Sinn und das Ziel des Lebens der Menschen ist in dem Bild „Reich Gottes“ ausgedrückt, als eine Art erstrebenswertes Ideal der Gerechtigkeit für alle, auch und vor allem für Arme, der gelungenen Versöhnung der Menschen untereinander und mit dem, was religiöse Menschen die göttliche Wirklichkeit nennen. Die Armen und ihre Lebensrechte stehen im Mittelpunkt dieser Theologie. Den Armen gilt die Befreiung … hin zur Freiheit, zum realen Erleben der Gültigkeit der Menschenrechte auch für sie. Und dies nicht als frommer Traum oder als Vertröstung auf etwas Jenseitiges. Das Reich Gottes kann und soll reale, auch materielle, auch politische Wirklichkeit werden. Vorbei also sind die Zeiten, als Glaube nur etwas Spirituelles, nur etwas Seelisches war. Diese „innere“ Dimension bleibt bestehen, aber sie wird eingefügt (und dadurch relativiert) in den Rahmen des politischen Eintretens für Befreiung der Armen.

5. Auch die Unterdrücker müssen befreit werden

Wer den Spuren Jesu von Nazareth als seiner „Lebensphilosophie“ folgt, d.h. wer also religiös glaubt, ist berechtigt, die Erlösung schon hier, auch irdisch, in weltlichen – politischen Zusammenhängen, zu erleben, vor allem in demokratischer Verfassung, in Gleichheit der Menschen….  Das „gute Leben“ der Ernährung, der Bildung für alle, des humanen Wohnraums außerhalb der Dreckhütten, der Abwehr von krimineller Gewalt der Banden und der Herrscher, all das ist ein Anspruch, den der christliche Glaube als Heil und Erlösung predigt und fordert. Dabei ist für Gutiérrez klar: „Wer von Klassenkampf spricht, propagiert ihn nicht etwa! Nein, er stellt einfach eine Tatsache fest“ (S. 261). „Alle Menschen lieben heißt nicht, Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen und eine fiktive Harmonie aufrechterhalten. Universale Liebe bemüht sich vielmehr, in Solidarität mit den Unterdrückten auch die Unterdrücker von ihrer Macht, ihren Ambitionen und ihrem Egoismus zu befreien“ (S. 263). „Die Befreiung von Armen und Reichen ist ein gleichzeitiger und wechselseitiger Prozess“, betont in diesem Sinne auch der katholische Theologe Jules Girardi“ (ebd.)

Aber dabei bleibt es nicht: Inmitten der zerrissenen und ungerechten Welt kann Friede und Gerechtigkeit wenigstens fragmentarisch erfahrbar werden.  Dies ist eine, man könnte sagen, optimistische Sicht, angesichts der grausam – und meist hoffnungslosen Kämpfe um eine gerechte, auch ökologisch gerechte Welt.

6. Erlösung soll – wenigstens als „Vorschein“ -materiell/politisch erfahrbar sein

Gustavo Gutiérrez schreibt (S. 148 in der deutschen Übersetzung): „Wer gegen eine Situation des Elends und der Ausbeutung kämpft und eine gerechte Gesellschaft aufbaut, hat ebenfalls teil an der Bewegung der Erlösung, die freilich erst noch auf dem Weg zur Vollendung ist…“ Und zuvor hat Gutiérrez geschrieben: „Wer arbeitet und diese Welt verändert, wird mehr Mensch, trägt zur Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft bei und – wirkt erlösend“. Die so genannte Heilsgeschichte, also die Geschichte Gottes mit den Menschen, und die politische Geschichte sind also eng verbunden.  Für eine Trennung von „Zwei-Reichen“, das eine Reich ist weltlich, das andere, das religiöse, daneben und getrennt, gibt es also keinen Platz! Es gibt nur die eine Geschichte der Menschheit, nur die eine Geschichte von Heil und Unheil, an der die Menschen verantwortlich beteiligt sind.

7. Es gibt nur die EINE Geschichte der Menschen

Es ist entscheidend zu sehen, dass diese Theologie, die für ein materiell erfahrbares „religiöses Heil“ bzw. eine materiell historisch-politisch Erfahrung von Erlösung eintritt, auch von dem großen europäischen Theologen Edward Schillebeeckx (1914-2009) – er lehrte in Nijmegen (NL), unterstützt wird.

Dabei ist zweifelsfrei: Die umfassend und ganze heile und gerettete Menschheit ist in dieser Ganzheit eine Utopie: Sie vollständig „durchsetzen“ zu wollen, wäre ein totalitärer Wahn. Andererseits ist auch zweifelsfrei: Der religiösen Erlösung, allein als seelischen Gewinn oder fernes, himmlisches Ziel zu verkünden, widerspricht einerseits: Dass es die Erfahrungen des Guten und Erfreulichen („Heilen“) im privaten wie im gesellschaftlichen Leben – wenigstens kurzfristig – gibt. Und dass andererseits auch im politischen und ökonomischen Zusammenleben doch noch positive, humane Erfahrungen, also ein humaner Fortschritt, erlebbar sind, zwar selten, aber immerhin.

Schillebeeckx schreibt also in seinem Aufsatz „Befreiende Theologie“ (in „Mystik und Politik“, 1988): „Die Spur des Handelns Gottes muss auch auf der gesellschaftlich-politischen Ebene lesbar sein…Es besteht die Hoffnung, Fragmente des Heils hier und heute schon in unserer Geschichte anzusiedeln“ (S. 70). Mit anderen Worten: Der Katholik Schillebeeckx wehrt sich gegen die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, „die der Einheit der Geschichte widerspricht“, sagt Schillebeeckx (S. 71).

8. Die strukturelle Sünde

Dem entsprechend erhält der alte und belastete, oft nur moralisch verwendete Begriff der Sünde eine neue, politische und ökonomische Bedeutung. Gegen Sünde, das lehrten ja auch die europäischen klerikalen Theologen, soll der Glaubende kämpfen. So auch in der Theologie der Befreiung: Denn sie wissen, das inhumane Verhalten („Sünde“ ) so vieler verfestigt sich in der Welt, in den Strukturen der Gesellschaft und des Staates. Es gibt also ganz offensichtlich eine „strukturelle Sünde“. Gutiérrez schreibt: „Sünde wird greifbar in unterdrückerischen Strukturen, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Beherrschung und Versklavung von Völkern, Rassen und sozialen Klassen“ (S. 169). Und, wie gesagt, gegen diese Strukturen, also inhumaner, „sündiger“ Strukturen, hat die Kirche und mit ihr die Theologie zu kämpfen.

9. Karl Marx und Thomas Müntzer und die anderen

Selbstverständlich wird an dieser zentralen Erkenntnis der Befreiungstheologie deutlich, wie stark sie sich auf die Gesellschaftskritik bezieht, die Karl Marx vorgetragen hat (siehe etwa die Verweise  auf Marx in den Fußnoten 96 und 98, s. 169 f.) Und dieser Hinweis auf Marx ist sehr treffend und selbstverständlich berechtigt, will doch die Befreiungstheologie anknüpfen an die großen berechtigen, philosophisch formulierten Sehnsüchte auch nach Erlösung inmitten dieser als grausam erlebten Welt. Kein Wunder, dass sich einige Befreiungstheologen auf einige Einsichten des Reformators Thomas Müntzer beziehen, wie etwa der katholische Priester und Theologe Hugo Echegaray, Lima, Peru (1960-1979): „Christus spricht nicht von Tugenden, es geht nicht um Tugendmoral, sondern um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ (in: Alejandro Zorzin, „Thomas Müntzer in Lateinamerika“, 2010, S. 14). Das Thema müsste vertieft werden, auch die Beziehungen zur Philosophie von Ernst Bloch müssten erörtert werden, an die Gestalt des revolutionären kolumbianischen Priesters Camilo Torres (1929-1966) hat der Religionsphilosophische Salon Berlin kürzlich erinnert: LINK

10. Lebenserfahrungen poetisch zur Sprache bringen

Die Befreiungstheologie ist also keine Schreibtischtheologie von hochbezahlten Professoren an gut ausgestatteten Universitäten, wie üblich in Europa, viele BefreiungstheologINNEN arbeiten in sehr bescheidenen, finanziell auf Spenden angewiesenen wissenschaftlichen Instituten. Die Befreiungstheologie ist keine bürgerliche Theologie im Sinne der üblichen „Spiegelung des Glaubens gut-situierter frommer Christen“. Sondern eine Theologie, die inmitten der Armen und Arm-Gemachten lebt. Diese Theologie hat eine eigene Spiritualität, aber diese ist Ausdruck der politischen wie der religiösen Erfahrungen und der Bibel-Lektüre der Armen und Unterdrückten. Man denke etwa an das bekannte Buch „Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über das Leben Jesu, aufgezeichnet von Ernesto Cardenal“, Band 1, Wuppertal 1976.

Befreiungstheologen sind mit dem politischen Befreiungskampf der Armen verbunden, und sie bringen deren Lebenserfahrungen gern zum Ausdruck. Ihre theologischen Reflexionen leben von der dichten Verbindung mit dem verzweifelten Kampf um Gerechtigkeit. Deswegen wurden und werden Befreiungstheologen verfolgt wie ihre Freunde, die Armen in den Slums oder den entlegenen Dörfern, inmitten der abgefackelten Urwälder oder den Hungerzonen in den Metropolen. Diese TheologINNNEN sind genauso bedroht wie ihre Companeros/Companeras: Sie reiben sich auf im Kampf um elementare Menschenrechte, werden von Herrschenden bedrängt und …ermordet, siehe Guatemala, Honduras, Nikaragua, Brasilien usw. Zur Befreiungstheologie gehört immer auch die Märtyrer-Erfahrung. Wer als Theologe kein religiöses Opium verkauft, das den Herrschenden gefallen würde, lebt gefährlich. Man denke an die Ermordung der Jesuiten in El Salvador im November 1989, etwa an den Befreiungstheologen Pater Ignacio Ellacuria. Oder an die Ermordung des befreiungstheologischen Erzbischofs Oscar Romero schon 1980. Die Mörder waren bekennende rechtsextreme Katholiken ebenfalls aus El Salvador, die Waffen lieferten „Ausbildungszentren“ in den USA… Wer ermordete Erzbischof Romero: LINK

11. …und die TheologInnen Europas?

Die Befreiungstheologie muss als ein radikaler Einschnitt verstanden werden innerhalb der — bis 1970 – europäisch zentrierten und europäisch beherrschten Theologien bzw. klerikalen theologischen Ideologien. Europäische TheologInnen stehen meist zu den herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnissen in einvernehmlichem oder moderat kritischem Verhältnis. Sie wollen schließlich nicht ihren gut bezahlten Job verlieren.

12. Die Angst der Hierarchie vor Basisgemeinden

Ihren inspirierenden Ort fanden und finden Befreiungstheologen in den Basisgemeinden. Sie waren und sind Zusammenkünfte von Katholiken in Städten wie auf dem weiten Land, sie fühlen sich als Christen zurecht berufen, selbst und eigenständig ihre Gemeinden zu gestalten, gerade weil kein Priester für sie zur Verfügung stehen. Indem aber der Vatikan den Laien es untersagte, Eucharistie zu feiern oder Frauen von vorrangigen Funktionen in der Gemeinde ausschloss, waren viele tausend kleinen Basisgemeinden aufgrund des rigiden Verhaltens des Papstes nicht von langer Dauer. Viele tausend frustrierte Katholiken sind zu den charismatischen evangelischen Gemeinden übergewechselt, in etlichen lateinamerikanischen Staaten (wie Guatemala oder Chile) sind Katholiken längst nicht mehr die zahlenmäßig stärkste Konfession. Dass Lateinamerika nun aufhört, als katholischer Kontinent zu gelten, ist auch die Schuld der dogmatisch rigiden katholischen Kirche. Mit ihrer Kritik an der Befreiungstheologie ging immer die Kritik an selbstständigen Laien-Basis-Gemeinden einher. Wer noch im Sinne der katholischen Kirche denkt, muss also sagen: Die Führung der katholischen Kirche ist für ihren eigenen Niedergang in Lateinamerika verantwortlich. Die große Amazonas-Synode im Vatikan (2019) hätte eine Korrektur bewirken können. Die weitrechenden Reformvorschläge wurden aber von Papst Franziskus zurückgewiesen, wie die Aufhebung des Zölibates wenigstens für Priester in der Amazonas-Region…

13. Die Feinde der Befreiungstheologie, das Opus Die, die Legionäre Christi, Sodalicio usw.

Man muss die globalen Zusammenhänge vor Augen haben, um das Besondere der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zu verstehen. Diese anti-bourgeoisen katholischen Theologen und Theologinnen wurden auch vom Vatikan, dem Papst und vielen Bischöfen drangsaliert, der Häresie angeklagt, als Kommunisten bezeichnet, um so die aggressive Aufmerksamkeit des antikommunistischen CIA auf diese Christen zu lenken. Das Image der Befreiungstheologie und der mit ihr verbundenen Basisgemeinden der Armen wurde jedenfalls von Anfang an ramponiert, und zwar durch die Kirchenführer selbst, allen voran von Kardinal Ratzinger und Johannes Paul II. im Verbund mit Reagan und Co. Sowie später setzte sich die Diffamierung kirchenoffiziell fort, etwa durch die den Studienkreis „Kirche und Befreiung“, gegründet 1973, inszeniert von Bischof Franz Hengsbach, Essen, und Erzbischof Lopez Trujillo, Kolumbien, später Vatikan. Von Bischof Franz Hengsbach ist das skandalöse Wort überliefert: „Die sogenannte Theologie der Befreiung führt ins Nichts. In ihrer Konsequenz liegt der Kommunismus…“ (KNA, 13.5.1977). Der Erzbischof und spätere Kardinal Lopez Trujillo war in diesem Kreis zweifelsfrei einer der übelsten Hardliner des reaktionären Flügels der römischen Kirche. Er war als definitiver Feind der Befreiungstheologen ein Freund von Johannes Paul II. und,so wird berichtet, der Drogenmafia. Über seine privaten Leidenschaften hat der Pariser Soziologe Frédéric Martel geforscht, siehe sein Buch „Sodom“, 2019, dort die Recherchen zu Kardinal Lopez Trujillo, Seite 358 und bes. S. 365. LINK

14. Zur Wirkungsgeschichte

Hier wurde mit Nachdruck an den großen Inspirator der Befreiungstheologie Gustavo Gutiérrez erinnert. Aber, wie gesagt, gehören zur Befreiungstheologie viele andere TheologInnen, sie haben weitere Akzente gesetzt, etwa zum Feminismus oder zur Ökologie (wie etwa die letzten Bücher von Leonardo Boff), auch vorsichtige Ansätze einer schwul-lesbischen lateinamerikanischen Befreiungstheologie machen sich bemerkbar, siehe etwa die Studien von André Sidnei Musskopf, Brasilien. Und vor allem: Auch in Afrika und Asien haben sich eigene Formen der Befreiungstheologie entwickelt. In Europa müsste eine Befreiungstheologie eine Befreiung der Kirche aus dem Kapitalismus sein, aber zu einer solchen Theologie ist nur sehr marginal die Rede.

15.Kritisches zu Gutiérrez

Aber bei allem Respekt vor dem Werk von Gustavo Gutierrez: Er hat sich theologisch und kirchenpolitisch weit nach vorn gewagt, aber, offenbar um zu überleben in dieser Welt feindlicher Systeme, hat er sich auch nicht zu weit nach vorn gewagt: Ein treffendes Beispiel für die Ängstlichkeit vor der klerikalen Hierarchie ist sein Verhalten anlässlich eines Vortrages 1970 in Corodoba, Argentinien, für die Gruppe der „Priester für die die Dritte Welt“. Bei diesem Vortrag hatte sich Gutierrez die Anwesenheit des inzwischen mit einer Frau zusammenlebenden EX-Bischofs von Avellaneda, Jeronimo Podestá (1920-2000 ) ausdrücklich verbeten. Jeronimo Podestas Frau, Clelia Luro, hatte sich später noch einmal klagend wegen dieses Verhaltens an Gutierrez gewandt. Quelle: https://es.wikipedia.org/wiki/Gustavo_Guti%C3%A9rrez_(te%C3%B3logo)

Im Unterschied zu dem bedeutenden und für ökologische Fragen äußerst anregenden Befreiungstheologen Leonardo Boff aus Brasilien hat sich Gutiérrez eher selten über die unterdrückerischen Strukturen der hierarchisch verformten Katholischen Kirche geäußert. Vielleicht ließ man ihn deswegen im Vatikan weithin „in Ruhe“. Deswegen muss mit Nachdruck auf Boffs Buch „Kirche – Charisma und Macht“ empfehlend hingewiesen werden.

16. Der Freund, Kardinal Gerhard Ludwig Müller

Und merkwürdig erscheint auch die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller (Regensburg-Vatikan) viel beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez. Natürlich kann jeder mit jedem befreundet sein, warum nicht ein sehr Rechter und ein Linker? Für katholische Verhältnisse bleibt es aber erstaunlich, wenn ein theologisch bekanntermaßen sehr europäischer und sehr konservativer Theologe, also Müller, mit einem doch eher linken und Befreiungstheologen, befreundet sein könnte. Aber vielleicht hat diese Freundschaft Gutierrez vor Verfolgungen durch den Vatikan bewahrt…

Erstaunlich ist auch, dass Gutierrez im Alter von 72 Jahren (im Jahr 2001) dem Dominikanerorden beigetreten ist, ein ungewöhnlicher Vorgang; manche vermuten, dass die Spannungen mit dem reaktionären Opus-Dei – Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani, zu stark wurden, so dass sich Gutiérrez förmlich in den relativ selbständigen und oft eher aufgeschlossenen Orden der Dominikaner flüchtete.

17.Ein Kongress in Lima

Vom 25. bis 29.Oktober 2021 fand in Lima, Peru, ein internationaler Kongress statt, anlässlich von „50 Jahre „teología de la liberación“. Referenten aus Europa waren nicht dabei. Siehe, auch mit einem Statement von Gustavo Gutierrez: LINK

https://bcasas.org.pe/mensaje-de-gustavo-gutierrez-al-clausurar-seminario-internacional-sobre-teologia-de-la-liberacion/

18. Die Kirche in Deutschland hält sich ans Spenden. Nicht an die Kapitalismus – Kritik

Hat die lateinamerikanische Befreiungstheologie die römische Kirche zum Beispiel in Deutschland verändert? Schwer zu sagen, wie die indirekten Wirkungen aus Lektüre und Begegnungen zu bewerten sind. Aber das Verhältnis der Kirche in Deutschland etwa gegenüber Lateinamerika und seiner Kirche ist weiterhin vom Geist der Spenden, der begrenzten Hilfsbereitschaft und der marginal bleibenden Studien bestimmt. Die grundlegende Kritik an den Zusammenhängen von Ausbeutung (Europa) und Unterdrückung (Lateinamerika) wurden im Sinne der Befreiungstheologie auch in Deutschland artikuliert, aber die große Wende einer Parteinahme der ganzen Kirche in Deutschland für die globale Gerechtigkeit hat nicht stattgefunden. Die Kirche in Deutschland ist und bleibt ein Teil der reichen Welt, und verhält sich auch entsprechend in ihrer repräsentativen Selbstdarstellung. Die Art, katholische Kirche zu sein, bleibt eher unberührt von der Befreiungstheologie. Basisgemeinden finden in Deutschland kein Wohlgefallen in der Hierarchie, Kapitalismuskritik (etwa auch Kritik am Kirchensteuersystem) schon gar nicht. Man schämt sich als Kirchenführung nicht, über 6 Milliarden Kirchensteuer pro Jahr zu haben. Dabei erleben die Kirchenführer hilflos, wie die Katholiken zu Hunderttausenden aus dieser über Milliarden verfügenden Amts-Kirche austreten. Die offizielle Antwort der Kirchenführungen auf das Elend weltweit heißt: Spenden, Almosen geben. Diese sind natürlich angesichts des realen Elends nett, aber strukturell wirkungslos.

19. Auch in Lateinamerika jetzt eher marginal

Aber man mache sich auch keine Illusionen: Die Befreiungstheologie ist auch im lateinamerikanischen Katholizismus eher ein marginales Phänomen geworden. Die charismatischen Katholiken werden beliebter und offiziell propagiert, man schätzt eher das fromme Tralala und Alleluja-Singen, also letztlich das religiöse Opium, das für kurze Zeit Glücksmomente beschert in einer eigentlich hoffnungslosen Gesellschaft gravierender Ungerechtigkeit.

Der größte Skandal ist wohl, dass viele brasilianische Bischöfe Bolsonaro unterstützen. Ein angesehene Politiker,der wahrscheinlich künftige Präsident Luiz Inacio Lula, ist ein alter Freund der Befreiungstheologen. Er nennt Bolsonaro explizit „einen Verbrecher und Faschisten“. (Tagesspiegel, 16.11.2021). Und den unterstützen die Reichen Brasiliens, die man naiv „Eliten“ nennt.

20.

WICHTIGE ERGÄNZUNG am 9. 6.2025: Der katholische Theologe und Spezialist der Befreiungstheologe, der Schweizer Urs Eigenmann, weist in seinem Beitrag “Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit” in dem Buch “Der himmlische Kern des Irdischen” (Luzern, Münster 2025, S. 198 ff.) auf eine tiefe ZÄSUR im Denken von Gustavo Gutiérrez hin: In der 10., neu bearbeiteten Auflage seines Buches “Theologie der Befreiung”, diese 10. Aufl. erschien auf Deutsch 1992, verändert Gutiérrez unter dem Einfluß der vatikanischen Glaubenskongregation etliche Aussagen seines ursprünglichen Textes. So wird etwa der ursprüngliche Abschnitt “Christliche Brüderlichkeit und Klassenkampf”  nun unter dem abschwächenden Titel “Glaube und gesellschaftlicher Konflikt” neu geschrieben. (Eigenmann, S. 198). Gutiérrez sagt selbst: Er hätte die jüngsten Verlautbarungen des Lehramtes respektiert und einige Texte neu geschrieben. Beispiel: Ein Zitat von Karl Marx wird von Gutiérez gekürzt, auf den umstrittenen Marx-freundlichen Theologen Giulio Girardi wird nicht mehr verwiesen, der Marxist Louis Althusser wird nicht mehr erwähnt, hingegen zitiert Gutiérez nun die Päpste PIUS XI, Pius XII. und Johannes Paul II: (Eigenmann S,. 199). In seinem Buch “Salz der Erde” (1996) lobt Kardinal Ratzinger ausdrücklich die Korrekturen des Befreiungstheologen Gutíerrez als Respekt vor der römischen Glaubensbehörde (S. 201 Eigenmann). Die viel besprochene Freundschaft von Gutiérrez mit Kardinal Gerhard Müller muss auch in diesem Zusammenhang der “Korrekturen” im Werk von Gutiérrez gesehen werden. Urs Eigenmann kommt zu dem Ergebnis: Gutierrez verät mit seiner “Korrektur”  und dem Gehorsam gegenüber dem päpstlichen Lehramt (Ratzinger/Müller) das prophetsisch -messianische Christentum und orientiert sich deswegen (Bindung an die römische Macht!) an der “imperial – kolonisierenden Christenheit” (Eigenmann, S. 203). In dem Buch “Auf der Seite der Armen” (2004) bestätigen Kardinal Müller und Gustavo Gutiérrez ihre gemeinsame rom- freundliche und rom- gehorsame Befreiungstheologie.(Eigemann, S. 202).

21.  Ein Hinweis zum Autor dieses Hinweises. 

Der Autor dieser kurzen Hinweise, Christian Modehn, hatte bereits im Juni 1973 in St. Augustin bei Bonn die erste große internationale Tagung in Deutschland über die Befreiungstheologie angeregt und mit-gestaltet, er war damals Theologiestudent innerhalb des Ordens „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD. Zum Tgungsbericht in Orientierung, Zürich: LINK. 1975 verfasste er eine erste kleine Einführung in die Befreiungstheologie „Der Gott, der befreit“, 1977 veröffentlichte er zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ „Befreiende Theologie“, (Kohlhammer Verlag) als Sammelband mit Beiträgen u.a. von Jon Sobrino, Juan Carlos Scannone, Leonardo Boff, Michael Göpfert, Miguel Manzanera und anderen. Das Buch fand viel Interesse und die erste (und einzige) Auflage war schnell vergriffen. Vor allem Horst Goldstein (1939-2003) hat sich als einer der ersten als Übersetzer und Autor um die Rezeption der Befreiungstheologie in Deutschland verdient gemacht. Wichtig sind für den deutschen Sprachraum die zahlreichen, auch befreiungs-philosophischen Studien von Raul Fornet-Betancourt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.de.

“Eigentum ist Diebstahl“ (Proudhon, 1809 – 1865)

Über den Philosophen Pierre-Joseph Proudhon
Von Christian Modehn, im August 2021.

Ein Motto eines Kirchenlehrers, des Hl. Johannes Chrysostomos: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”.

Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (aus dem Jahr 2020), mit dem Titel: “Über die Geschwiserlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Dort die Nr. 119, zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (344-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt…

Das aktuelle Thema:
Das Thema „Eigentum ist Diebstahl“ hat, wie alle wissen, eine aktuelle Bedeutung. Es geht z.B. um das Monopol einiger Pharmakonzerne, etwa der Corona-Impfstoff-Hersteller Pfizer und Moderna. Deren Jahresumsatz 2021 wird auf 50 Milliarden Dollar geschätzt. Die Konzerne haben den Preis trotz aller Gewinne für eine Dosis erhöht, Moderna von 19 Euro auf 21,60 Euro, Pfizer von 15,50 auf 19,50 Euro. Die demokratischen Regierungen der reichen Länder nehmen das gelassen hin. Die armen Länder gehen leer aus, so verbreitet sich dort das Virus – auch mit neuen Varianten, die dann auch die reichen Länder der Reichen erreichen…
Jetzt sind wir beim Thema: “Eigentum ist Diebstahl“. Die Hersteller der Impfstoffe beharren absolut auf den Patenten ihrer Impfstoffe, sie wollen deswegen unerhörten Gewinn weiterhin machen, schützen also ihr so genanntes geistiges Eigentum. Dabei ist die Impfstoff-Forschung auch von der Allgemeinheit, auch von Steuergeldern, bezahlt worden.
Aber das Eigentum, den Profit, maßen sich die Aktionäre an, es allein genießen zu dürfen. Denn in der kapitalistischen „Ordnung“ ist Eigentum, auch so genanntes geistiges Eigentum, absolut heilig. Sogar die Regierung eines ultra-kapitalistischen Landes, die USA, plädieren nun für die Freigabe dieses so genannten geistigen Eigentums „Impfstoff“. Die US-Regierung wünscht, dass die Armen in den armen Ländern doch ein bisschen mehr Impfstoff abbekommen. Anlagen für die Produktion von Impfstoffen könnten – wie schon in Deutschland, siehe Biontech in Marburg – auch in armen Ländern in kurzer Zeit gebaut werden.

Zu Pierre-Joseph Proudhon:

Interessant ist in dem Zusammenhang das Studium des äußerst umfangreichen Werkes Pierre – Joseph Proudhons (geboren 1809 in Besancon, gestorben 1865 in Paris), es ist inspirierend aus politischen, ökonomischen und religionskritischen Gründen. Neben Babeuf ist Proudhon wohl der einzige Begründer eines Sozialismus, der als Autodidakt handwerklichen und bäuerlichen Kreisen entstammt.
Wichtiger aber ist: Proudhon ist einer der ersten Denker des 19. Jahrhunderts, der die absolute Gültigkeit des Privateigentums (etwa vertreten durch John Locke im Jahrhundert) kritisiert hat und ablehnt und Alternativen zeigt, die in die Richtung der heute diskutierten COMMONS gehen.

1.
Der französische Philosoph und Ökonom Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) ist meist nur wegen seiner These „Eigentum ist Diebstahl“ bekannt. Diese von ihm inhaltlich begründete Erkenntnis wird wie ein Slogan benutzt und nicht in den Kontext des Denkens von Proudhon gestellt. So wird diese Erkenntnis wie eine Waffe gegen ihn verwendet von fanatischen (meist religiösen, meist chriostlichen) Verteidigern „des“ „heiligen“ Eigentums.
Das Zitat „Eigentum ist Diebstahl“ wurde in Proudhons Schrift „Was ist Eigentum?“ im Jahr 1840 veröffentlicht.

2.
Dass die Auseinandersetzung mit der These „Eigentum ist Diebstahl“ aktuell ist, muss nicht erklärt werden.

Auch heute ist die Vorstellung von der Unantastbarkeit, wenn nicht der „Heiligkeit“ des Privateigentums in der kapitalistischen Welt allgemeines Dogma: Weil alles der Logik des Marktes unterworfen werden darf, ist alles für Privatleute wie für international agierende „Firmen“ käuflich und damit in Privat – Eigentum verwandelbar: Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Wasser, Wald, also auch die der Menschheit als Menschheit gegebene Natur im ganzen.

Einige tausend Menschen wurden und werden bei dieser totalen Käuflichkeit von allem zu erfolgreichen Eigentümern und zu Dollar Milliardären. Diese auf die Weltbevölkerung bezogen verschwindend kleine Minderheit (abgesehen von den hunderttausenden von Dollar Millionären) verfügt in vielen Ländern schon weit über die Hälfte des gesamten Einkommens. Das hat „Financial Times“ berichtet, die ZEIT zitiert: „So ist die Anzahl der Superreichen im Pandemiejahr von 2.000 auf 2.700 weltweit gestiegen. Eines der schillerndsten Beispiele ist der Tesla-Gründer Elon Musk, der 2020 sein persönliches Vermögen von 25 Milliarden auf 150 Milliarden Dollar gesteigert hat. Aber er ist keine Ausnahme. Es gibt mit Amancio Ortega in Spanien (Inditex-Modekonzern), Carlos Slim in Mexiko (Telekommunikation) oder Bernard Arnault in Frankreich (Luxusmode) sogar einzelne Personen, deren individuelle Vermögen mehr als fünf Prozent der Wirtschaftsleistung ihres eigenen Landes ausmachen. Und in Deutschland: So zeigen die Berechnungen der Financial Times, dass die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre hierzulande um 29 auf 136 Personen gestiegen ist. Deren Vermögen sind im Jahr 2020 um mehr als 100 Milliarden Euro oder drei Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands angewachsen. (Die Zeit, 20.5.2021). Nebenbei: Der mexikanische Milliardär Slim ist ein enger Freund des katholischen Ordens der “Legionäre Christi”, der seinerseits über viele Millionen Dollar Eigentum verfügt…und einen nun auch päpstlich anerkannten Verbrecher als Ordensgründer hat, den Sexualverbrecher Pater Marcial Maciel.

3.
In einer Welt, die die universal geltenden Menschenrechte wenigstens noch verbal in einigen Staaten anerkennt und faktisch wohl auch manchmal noch durchsetzen möchte, muss die ungleiche Verteilung des Eigentums debattiert und, im Falle von monströs großem Eigentum,  auch aufgehoben werden. Heilig ist nicht das Milliardeneigentum einzelner, sondern einzig das voll entfaltete Leben aller Menschen. Diese Erkenntnis ist ethisch korrekt und wahr, sie wird leider eher selten ausgesprochen und debattiert, etwa in Zeiten des Wahlkampfes 2021 gar nicht. Selbst sich noch links nennende Parteien haben Angst vor politisch wirksamer „Milliardärs-Kritik“.

4.
Diese Angst hatte der Philosoph Proudhon nicht. Eigentum, begrenzt für den persönlichen Gebrauch in der Gestaltung des eigenen Alltags, ist für Proudhon selbstverständlich legitim, zur Entfaltung der einzelnen Menschen kann darauf gar nicht verzichtet werden. Eigentum an Produktionsmitteln ist etwas anderes als Besitz von Dingen des täglichen Bedarfs. Jeder Mensch braucht zum Leben Besitz, Dinge, die den Alltag und die Lebensgestaltung ermöglichen.
Aber dann fährt Proudhon fort: Maßlos ist das Eigentum einzelner Millionäre, es kann nur zustande gekommen sein als „Diebstahl“, wie Proudhon ausführt, also durch Ausbeutung vieler anderer.

Es geht darum: Aus dem Eigentum an Produktionsmitteln maßlosen Profit zu machen, aktuell: ohne für diesen Gewinn bestenfalls nur einen Finger am Computer-Bildschirm krumm zu machen, also ohne persönlich zu arbeiten… dies ist für Proudhon aus ethischen und politischen Gründen verwerflich und zu überwinden. Werte und Eigentum werden nur durch Arbeit geschaffen. Das gilt für alle Menschen: „Dieses Eigentum ist unmöglich, weil es die Verneinung der Gleichheit ist“, betont Proudhon. Der gierige „homo oeconomicus“ (also der ganz aufs Ökonomische und den Profit fixierte Mensch) ist ein „Zerrbild der Menschlichkeit, ebenso wie eine Eigentumsmarktgesellschaft, deren öffentliche Räume zerfallen“ (so der Philosoph Helmut Rittstieg, Artikel „Eigentum“, in: Enzylopädie Philosophie, Band I, S.453).

Man könnte von einem Einkommen ohne Arbeit, also einem „arbeitslosen Einkommen“, sprechen. “Der Eigentümer erntet, ohne zu säen”, betont Proudhon. Und dieser Geld-Gewinn ist nur möglich, weil andere Menschen von dem Eigentümer ausgebeutet werden.

5.
Proudhon lässt sich in seiner Kritik am Eigentum von der grundlegenden Idee der universalen Gerechtigkeit leiten, Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt seiner Argumente ! Sogar der katholische Theologe Henri de Lubac hat sich in seiner Studie „Proudhon et le christianisme“ (Paris 1945) mit dieser zentralsten Idee Proudhons befasst: „Er war nicht weit davon entfernt, die Gerechtigkeit wie ein sakrales Erlebnis zu deuten und die Gerechtigkeit zu lieben wie eine Person“. Proudhon sagt: „Wir, die wir eine dem Menschen eingegebene, „immanente“ Moral zusprechen, wir, die wir wollen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, wir sind überhaupt keine Atheisten. Wir setzen die Gottheit nur um“ (Carnets, II, 178). D. h.: Wir setzen also an die Stelle des kirchlichen Gottes die Gerechtigkeit.

Und schon in seiner Schrift „Was ist Eigentum“, betont er: “Gerechtigkeit als „Gott“, nichts als Gerechtigkeit, das ist das Resumé meines Vortrags“. Dabei spielt die religiöse Überzeugung eine entscheidende Rolle: Proudhon kannte die katholische Kirche und die Theologie seiner Zeit sehr genau. Aufgrund seiner Tätigkeit, schon als Schriftsetzer las er Theologen wie Boussuet, Calmet, Fenelon und andere. Die Bibel in lateinischer Sprache hat er stets bei sich gehabt. Auch das Wörterbuch von Bergier („Dictionnaire théologique de Bergier“) wurde von ihm gelesen. Aber den kirchlichen Glauben an Gott im Jenseits hat Proudhon entschieden abgelehnt, die Kirche erschien als ideologische Stütze der bourgeoisen Eigentums-Fixierung. Aber er lobt die Gestalt Jesu, ist angetan von Jesu Geist der Revolte gegen allen Dogmatismus. Darin eröffnet er eine Tradition religionskritischer Denker, die Jesus von Nazareth aus dem dogmatischen Korsett der Kirche befreien und als ein Vorbild preisen, wie auch später Nietzsche, Agamben usw.
Proudhon betont: “Religion ist für den Menschen, nicht aber der Mensch für die Religion (Kirche) geschaffen“. Sein bedeutendstes Werk heißt “De la Justice dans la Révolution et dans l’Eglise” (1858; „Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche“). Es wurde von den reaktionären, herrschenden Kreisen als antiklerikales Buch wahrgenommen, Proudhon musste nach Belgien fliehen.

6.
Ob man Proudhon „Atheist“ nennen sollte, ist fraglich, eher würde das Stichwort „radikaler Agnostiker“ und“ Kirchen-Feind“ passen. Denn vom Phänomen des Religiösen kommt er bei aller Fraglichkeit nicht los. Er meine sogar, jede Kirche könnte ein Fragment der einen universalen Religion enthalten. Es ist nicht erstaunlich, dass Proudhon sich in einer Freimaurer Loge wohlfühlen wollte, 1847 wurde er in der Loge der „Sincérité, Parfaite Union et Constante Amitié, Orient de Besançon“ aufgenommen.

7.
Wenn Eigentum unter dem Maßstab universaler Gerechtigkeit steht, muss also das Eigentum verteilt werden. Das Eigentum an Grund und Boden muss in der Verfügung der staatlichen Gemeinden bleiben, die den Grund und Boden befristet den Pächtern übergeben.
Proudhon hat als Ziel seiner Kritik alles andere als den Kommunismus (marxistischer Prägung) vor Augen: Wenn im Kapitalismus die wenigen Starken mit ihrem Eigentum die vielen Schwachen ausbeuten, so dreht sich im Kommunismus das Ganze bloß um: „Der Kommunismus ist die Ausbeutung der wenigen Starken (Enteignungen) durch die vielen Schwachen (unter Führung einer zentralistischen Partei)“. Deswegen kam es auch 1847 nach ersten Anzeichen von Sympathie von Karl Marx für Proudhon zu einem Zerwürfnis zwischen beiden. Proudhon wird also eher der „anarchistischen“ Tradition zugerechnet. Im Russland des 19. Jahrhunderts spielte er eine inspirierende Rolle, etwa bei Tolstoi oder Dostojewski (siehe Fußnote 1) Bakunin war den Ideen Proudhons eng verbunden. Proudhon wird zurecht der „anarchistischen Bewegung“ zugerechnet, weil er die staatliche Herrschaft und Macht durch ein vertraglich festgelegtes Netzwerk gesellschaftlicher Organisationen ersetzen wollte.

8.
Proudhon setzt im Unterschied zu den Marxisten-Kommunisten auf radikale Reformen, und dabei suchte er nach alternativen Konzepten. Der die Produktionsmittel Besitzende soll dann nur über so viel verfügen dürfen, wie er selbst für sich bzw. seine Familie braucht. Viele dieser nur noch besitzenden Produzenten sollen dann im Austausch miteinander arbeiten; sie sind nicht einander Konkurrenten oder gar Feinde. Der Gedanke der wechselseitigen, gegenseitigen Hilfe („Mutuellisme“) ohne eine allmächtige Zentralregierung war für Proudhon zentral. Von der Diktatur einer Klasse, etwa der Proletarier, hielt er gar nichts. Er wollte das System, in dem sich der Eigentümer von der Arbeit fremder Arbeiter bereichert, unterbrechen und abbrechen. 1849 gründete Proudhon eine „Banque Populaire“, also eine „Volksbank“, sie sollte zinslose Kredite an Arbeiter gewähren. 1848 wurde Proudhon als Sozialist in die Nationalversammlung gewählt. Als Kritiker Napoléon Bonapartes musste Proudhon viele Jahre im Gefängnis verbringen.

9.
Proudhon hat also in der politischen Debatte und der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus eine gewisse Rolle gespielt. Für religionsphilosophisch Interessierte lohnt sich die Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zur katholischen Kirche seit der Kindheit, und vor allem zu seiner religiös geprägten Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit.

Zu diesen und anderen zentralen Ideen Proudhons hat die „Société P.-J.Proudhon“ in F- 72320 Courgenard hervorragende Studien als PDF-Dateien gratis zur Verfügung gestellt. (https://www.proudhon.net/)

10.
Es wäre eine weitere Arbeit zu zeigen, wie die von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten angestoßenen Debatten über das Privateigentum auch gewisse sanfte lehramtliche Veränderungen in der katholischen Kirche bewirkt haben. Da wird gelegentlich das Gemeinwohl über das Recht auf Privateigentum gestellt, so im § 2403 des offiziellen katholischen Katechismus von 1993. Im § 2406 heißt es noch sehr allgemein und vorsichtig: „Die staatliche Gewalt hat das Recht und die Pflicht, zugunsten des Gemeinwohls die rechtmäßige Ausübung des Eigentumsrechtes zu regeln“… Wohlgemerkt: Es geht um rechtmäßige Ausübung, nicht um gerechte Ausübung des Eigentumsrechtes!

Man bedenke, dass in dem noch bis ca. 1960 üblichen Handbuch katholische Moraltheologie“ von Heribert Jone (15. Auflage 1953) unter Verweis auf das Naturrecht der „gemeinsame (!) Besitz der irdischen Glücksgüter viele Unzuträglichkeiten“ nach sich ziehen würde (S. 204). Und weiter heißt es dann: „Demnach sind die Lehren …der Sozialisten und Kommunisten falsch“. Aber immerhin: „Nur in äußerster Not darf sich jedermann etwas von den Gütern des anderen aneignen“! (ebd.). Dies gilt nur in „äußerster Not“, nicht etwa allgemein schon in schwerer Not“, wie in § 331 betont wird….Jedoch: “Güter von geringem Wert aber dürfe sich ein Armer aneignen, wenn er sich so leicht aus schwerer Not erretten könnte und auf Bitten nichts erhalten würde“. Wenn aber sehr viele Arme sich Güter aneignen, dann könnte ja vielleicht eine kleine Revolution passieren oder? Daran denkt der Autor, der Kapuzinerpater Jone, nicht…
Es gibt darüber hinaus noch reaktionäre katholische Kreise, die sich unter dem Titel der internationalen „Bewegung für Tradition, Familie, Privateigentum“ zusammenfinden. Diese Bewegung wurde von dem Brasilianer Plinio Correa de Oliveira begründet, sie hat in Deutschland ihre Zentrale in Bad Homburg (Leitung: Martin von Gersdorff). LINK in dem Beitrag „Das reaktionäre Christentum der AFD… dort das 5. Kapitel.

Von anderer Seite kann man sich dem Thema Eigentum nähern: Über die Bedeutung des Verzichtens als Tugend, LINK

Fußnote 1:
Zur Beziehung Tolstois zu Proudhon:
Schon 1857 las Tolstoi Werke Proudhons, wahrscheinlich “Was ist Eigentum”. Die Notizen Tolstois aus der damaligen Zeit beweisen einen Einfluß Proudhons auf Tolstoi.

„Anfang 1862 wich Tolstoi auf einer Reise nach Westeuropa von seiner geplanten Route ab, um in Brüssel Proudhon zu besuchen. Sie sprachen über Erziehung – womit er sich damals sehr beschäftigte -, und Tolstoi erinnerte sich später, dass Proudhon “der einzige Mensch war, der in unserer Zeit die Bedeutung des öffentlichen Erziehungswesens und der Presse verstand”. Sie unterhielten sich auch über Proudhons Buch „La guerre et la paix“ , „Der Krieg und der Frieden“, das bei Tolstois Besuch kurz vor der Vollendung stand; es besteht wenig Zweifel, dass Tolstoi wesentlich mehr als nur den Titel seines größten Romans von dieser Abhandlung übernahm, in der argumentiert wird, dass die Entstehung und die Entwicklung des Krieges eher in der Psyche der Gesellschaft zu suchen seien als in den Entscheidungen politischer und militärischer Führer“.
Quelle: https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/leo-tolstoi/8124-george-woodcock-leo-tolstoi-ein-gewaltfreier-anarchist

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Macron und die Muslime: Was er schon 2016 sagte und was heute (Februar 2021) gelten soll.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 16. Februar 2021 soll in der “Assemblée Nationale” in Paris ein neues Gesetz verabschiedet werden: Es soll den “Separatimus”, wie Staatspräsident Macron sagt, also den “Sonderweg” von Muslimen in Frankreichs Staat und Gesellschaft beenden. Vorausgesetzt wird von ihm – nach den schlimmen Erfahrungen islamistischen Terrors in Frankreich – die These: Der Islamismus ignoriert die für alle Bewohner Frankreichs geltenden republikanischen Gesetze einer “Republique Laique”. Manche Beobachter meinen, damit werde auch “der” Islam unter den Verdacht “antirepublikanischer” Gesinnung und Haltung gestellt.

Die jetzt von Macrons Regierungspartei (LREM) vorgeschlagenen Gesetze erinnern stark an Macrons Ausführungen schon im Jahr 2016 unter dem hübschen Titel “Revolution”. Es ist interessant, die Identitäten und Verschiedenheiten, damals und heute, in der Auffassung Macrons vom Islam und dem IS herauszustellen. Die Kontinuität der politischen Auffassung ist allerdings dominant!

Beachten auch meine Hinweise vom 8.5. 2017 über Macrons Religiosität, seine Spiritualität sowie seine Verbindungen mit der Philosophie, darin werden auch seine Einschätzungen zur “laicité” deutlich. LINK:

1.
Das erste weit verbreitete Buch von Emmanuel Macron hatte den typisch französischen Titel, möchte man meinen, nämlich “Revolution“. Es wurde veröffentlicht, als sich Macron im November 2016 als Präsidentschaftskandidat präsentierte. Der Untertitel dieses “Revolutions”-Buches war: “Reconcilier la France”: “Frankreich versöhnen”.
2.
Von den 16 Kapiteln ist im Augenblick besonders wichtig das Kapitel 16, wegen der aktuellen heftigen Debatten und der bevorstehenden parlamentarischen Abstimmungen zur Rolle des Islams in Frankreich. Das Kapitel trägt den eher unscheinbaren, keineswegs auf den Islam in Frankreich sofort verweisenden Titel „Vouloir la France“, „Frankreich wollen“, gemeint ist wohl „Frankreich bejahen“ (S. 167 – 1799, hier zitiert nach der Taschenbuch Ausgabe XO Editions, 2017, zum Preis von 5 Euro!).
Es lohnt sich, in aller Kürze einige zentrale Aussagen zu unterstreichen und zusammenzufassen, gerade im Blick auf die aktuellen Debatten im Februar 2021.
Gleich am Anfang betont Macron: „Ja, Frankreich ist ein Wille“ (167). Gemeint: Ein Wille, der den Menschen zur Zustimmung führen sollte.
Aber gleich danach spricht Macron von dem drohenden „Bürgerkrieg“ (168). Von jenen geführt, die „gegen die Gewissensfreiheit sind, gegen die gemeinsame Kultur und gegen eine fordernde und wohlwollende Nation“ sind (ebd.) Der Feind wird DAESH genannt, das ist die Abkürzung für den Islamischen Staat.
Dann spricht Macron ziemlich unvermittelt zum ersten Mal von der sozialen Spaltung (offenbar in den Banlieues sichtbar), die das Feuer legt, das auf Identitäten allen Wert legt. Macron spricht dann von Massenarbeitslosigkeit und wahrhaftigen Gettos „in unseren Städten“ (169). Gemeint sind, immer noch nicht explizit genannt, muslimische Bewohner bzw. muslimische Franzosen in den Banlieues.
Dann folgt wieder unvermittelt ein Absatz über die viel und ständig besprochene laicité, um die es ja jetzt extrem geht, Mitte Februar 2021. Da sagt Macron: „Die Laicité ist eine Freiheit, bevor sie ein Verbot –„interdit“ – ist“. Also, hier schon hoch interessant: Laicité ist eben auch ein Verbot! (S. 169). Und dann folgt: Es gibt eine Unnachgiebigkeit hinsichtlich des Respekts der Gesetze der Republik, und diese Unnachgiebigkeit ist absolut. (S. 170): „In Frankreich gibt es Dinge, die nicht verhandelbar sind“.
Dann folgt eine ziemliche Verfälschung der Geschichte Frankreichs, bezogen auf die Geschichte der Juden: „Wir haben es verstanden, anderen Religionen ihren Platz in der Republik zu geben. Das Judentum hat sich in Frankreich entwickelt im Respekt und der Liebe der Republik. Ein schönes Beispiel dafür, was unsere Geschichte und unsere politischen Entscheidungen zu tun wussten“ (S. 179). Was für eine gewagte These: Da wird die Judenverfolgung unter Pétain unterschlagen, der Faschismus, der damals herrschte, von der Dreyfuss Affäre der Republik ganz zu schweigen.
Und dann folgt wieder die unvermittelte Ermahnung: Bitte nicht in den Bürgerkrieg eintreten, in den uns IS treiben will. Aber: Es ist eben eine Kriegsdrohung. (Mit Kriegen haben bekanntlich immer schwache Regierungen argumentiert, die in einem blinden Nationalismus befangen waren, das am Rande).

3.
Auf Seite 171 kommt Macron endlich zur Sache und er nennt den Hauptfeind, „den radikalen Islam“ (S. 171). Und interessanterweise sagt er in dem Text von 2016: Es geht „nicht darum, neue Texte und neue Gesetze vorzuschlagen“, „wir haben diese“. (S. 171). Jetzt, Mitte Februar 2021, geschieht genau das Gegenteil.
Dann kommt Macron wieder auf die prekären, aber von ihm so nicht genannten Lebensverhältnisse, vor allem der muslimischen Bevölkerung zurück: “Wir müssen unsere Wohnviertel (sic, nos quartiers) neu gestalten und den Bewohnern Möglichkeiten der Moblität und der Würde zurückgeben“, (172) Also: Fehler wurden gemacht, die Elendsquartiere sollten würdiger gestaltet werden. Hier klingt an, dass das Problem Islam und Islamismus ein soziales Problem ist und nicht (nur) ein religiöses!
Und dann kommt der „Knaller“ für einen Politiker eines Staates, der allen Wert darauf legt, sich als Staat gerade nicht in die inneren Angelegenheiten der Religionen einzumischen. Macron hingegen sagt: „Wir müssen dem Islam helfen, seinen Platz in der Republik aufzubauen“. (173)
Es komme alles darauf an, dass der Islam dann „die Werte Frankreichs will“! Diese sind nicht verhandelbar, niemals“ (178) “Frankreich ist groß, wenn es seine Freiheiten denen bietet, die sich Frankreich anschließen wollen“. (178) Aber nur diesen Willigen.
Zuvor hatte Macron noch davon gesprochen, dass wahre Flüchtlinge einen Platz in Frankreich finden können. “Aber alle Personen, die nicht die Berufung (sic) haben (qui n ont pas la vocation..), in Frankreich zu bleiben, weil sie kein Recht auf Asyl haben, müssen wieder zur Grenze zurückgeführt werden“ (177).

4.
Dieses Kapitel über den Islam zeigt: Für Macron ist klar: Islam kann zum Islamismus werden, diesem Islamismus muss der Krieg erklärt werden. Aber über die vielen anderen Muslime spricht Macron nicht. Er erzeugt damit eher Angst vor „dem“ Islam. Wer als Muslim in Frankreich leben will, muss sich anpassen, da ist Macron knallhart. Und paternalistisch hilft der französische Staat, obwohl laique, dass die Muslime sich mit ihren verschiedenen Gruppen bitte schön zu einem einzigen Dachverband vereinigen, damit der Staat besser mit ihnen verhandeln kann und sie besser überschaut.
Insgesamt aber zeigt Macron hier ein Frankreich, das wie ein starres und fixes Werte-System erscheint; das sich nicht dialogbereit und lernbereit zeigt. Warum eigentlich können nicht kluge und liberale Muslime etwas Vernünftiges dem französischen Staat und seinen Bürgern sagen? Macron ist ein Euro-Zentriker, und obwohl nicht konfessioneller Christ, ein Anhänger eines christlichen Frankreich, bei allem Respekt vor den Franzosen, die nicht religiös sind.
Mit anderen Worten: Dieses Kapitel zeigt einen kriegerischen (wie oft ist von Krieg in dem Kapitel die Rede!) und einen ziemlich bornierten und eher traditionellen Geist.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Reichtum einschränken. Christian Neuhäusers neues Buch.

Ein neues Buch von Christian Neuhäuser: „Wie reich darf man sein?“
Eine Buchempfehlung von Christian Modehn, noch einmal empfohlen am 6.November 2020, zuerst veröffentlicht am 10.9.2019.

1.
Eine umfassende kritische Erforschung des Reichtums, also vor allem der Reichen, heute wie damals, in Europa und anderswo, gibt es bis jetzt eher nur fragmentarisch. Die Reichen selbst sind nicht gern Thema kritischer Studien, eher fühlen sie sich noch in der „Klatsch-Presse“ wohl. Anders die breit angelegte Armuts-Forschung: Die Zahl der Armen und Arm-Gemachten nimmt zu und deren Leben ist sehr prekär, wenn nicht oft – wie in Afrika – miserabel.

2.
Die absolute Zahl der Superreichen ist hingegen eher bescheiden: Laut „Forbes Wirtschaftsmagazin“ gab es 2.208 Milliardäre weltweit, sie besitzen durchschnittlich 4,8 Milliarden US Dollar. Mister Trump besaß 2018 nur 3,1 Milliarden Dollar, der Ärmste steht nur noch auf Rang 766 seiner Milliardärs-„Brüder“. Das Vermögen an Geld (auch Aktien, Immobilien usw.) dieser Herren ist immens, sie wissen schlicht nicht mehr wohin mit dem vielen Geld… und so ist deren politischer Einfluss ebenfalls riesig. Sie unterstützen Politiker, die den Milliardären nichts antun, sondern sie als „Mitbrüder“ durch ihre Steuerpolitik fördern. Charles und David Koch etwa (zusammen haben sie 120 Milliarden Dollar) unterstützten den Milliardär Trump in seinem Wahlkampf förmlich aus ihrer Portokasse mit bloß 400 Millionen Dollar.
In Deutschland leben 123 Milliardäre. Nur als Vergleich: Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung – 3,4 Milliarden Menschen oder 46 Prozent – müssen mit maximal 5,50 Dollar pro Tag auskommen. Sie müssen würdelos leben, etwa im Falle von Krankheit können sie sich, in extremer Armut lebend, ärztliche Pflege und Medikamente nicht leisten. Von Bildung, Zugang zum Wasser etc. wollen wir nicht reden: Die superreiche Welt hat sich daran gewöhnt, dass die Armen, das sind viele Millionen Menschen förmlich krepieren oder im Mittelmeer ertrinken…Von einem „Sterben in Würde“ kann ja nur in der reichen Welt die Rede sein oder in den Gettos der Reichen in den armen Ländern.

3.
Solche allgemeinen, „gesichtslosen“ Informationen kennen natürlich die Milliardäre und Millionäre. Aber sie streben voller Gier und ohne Mitleid, also ohne Sinn und Vernunft, und vor allem ohne Gespür für die allgemeine Würde aller Menschen, immer mehr nach ihre Milliarden/Millionen Profiten. „Das Vermögen der Milliardäre ist um durchschnittlich 2,5 Milliarden US-Dollar (2,19 Milliarden Euro) pro Tag gestiegen – ein Plus von 12 Prozent zum Vorjahr. Indes habe die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung 11 Prozent – 500 Millionen Dollar je Tag – verloren“. (Quelle:
https://www.wiwo.de/politik/ausland/oxfam-bericht-milliardaere-wurden-taeglich-um-2-5-milliarden-dollar-reicher/23889560.html). Und die Milliardäre begründen ihren irren Luxus wohl mit der alten These: „Eigentum ist etwas Heiliges für die Menschen“…Und man wundert sich, dass man diese Zahlen liest und sich eingestehen muss, dagegen eigentlich nichts mehr tun zu können. Die päpstlichen Appelle, etwa von Papst Franziskus, sind ja deswegen so albern, weil die Prälaten und Kardinäle etwa im Vatikan und in Rom alles andere als vorbildlich bescheiden leben. Die Kirchen sind also scheinheilig. Ihre kritische Armuts/Reichtums-Analyse ist weitgehend scheinheilig. Trotzdem fordert die Kirche (auch von spendablen Armen) immer mehr Spenden, etwa den Peterspfennig etc.) Man lese etwa die große Studie des römischen Recherche-Journalisten Emiliano Fittipaldi „Avaricia“, „Geiz“, über den Reichtum der Kirche in Rom; es ist bezeichnend, dass Fittipaldis Buch NICHT auf Deutsch erschienen ist! Schließlich verfügen die beiden Kirchen in Deutschland über 12,6 MILLIARDEN Euro Kirchensteuer im Jahr 2018. Und dies trotz der zunehmenden Kirchenaustritte! Nur ein Beispiel über die Gehälter des Nachfolger des armen Jesus von Nazareth: Kardinal Marx in München „verdient“ monatlich ein Grundgehalt (B 10) von
12.526 Euro. (Quelle: http://www.kath.net/news/61517). Zum Vergleich: Durchschnittlich (!) verdienen Münchner Bürger 4.169 Euro brutto monatlich im Jahr 2017. (Quelle: https://www.tz.de/muenchen/stadt/muenchen-ort29098/jeder-dritte-ist-gutverdiener-so-viel-gehalt-bekommen-muenchner-11866084.html)

4. In der Philosophie gibt es bis jetzt meines Wissens wenige Studien über den Sinn und vor allem den Unsinn (d.h. das politisch – ethisch Gefährliche) des Reichtums. Christian Neuhäuser, Prof. für praktische Philosophie an der TU Dortmund, kommt das Verdienst zu, jetzt in einer kleinen Schrift zu gerechtem Preis erneut wichtige philosophische, d.h. auch ethische Impulse zur Frage zu geben: „Wie reich darf man sein?“ (Reclam Verlag 2019) Das Buch kann ich für einen weitesten Leserkreis dringend empfehlen, für Gesprächsrunden, selbst für den Unterricht in den Schulen: Auch wenn nicht alle Aspekte ausgeleuchtet werden können bei dem geringen Umfang von 90 Seiten: Es ist ein Buch, das zu denken gibt und deswegen vielleicht auch zum Handeln führt. Weil die Reichen es sich angewöhnt haben, pauschal Kritik am Reichtum als „Neid“ der Armen, Unbegabten, Erfolglosen usw. zu bezeichnen, widmet sich Christian Neuhäuser in seinem Buch auch dem Thema Gier und Neid sehr differenzierend. Schlimm ist, grundsätzlich gesehen, immer Gier. Mit dem Vorwurf, jemand sei neidisch, hingegen muss man sehr vorsichtig und unterscheidend umgehen….
ABER: „Zurzeit ist kaum jemand stolz darauf, sich gegen sozioökonomische Ungleichheit und gegen schädlichen Reichtum stark zu machen“. Das ist die Diagnose des Philosophen Christian Neuhäuser in seinem neuen Buch „Wie reich darf man sein?“ (85). Aber vielleicht – so die Hoffnung des Autors – könnten sich die LeserInnen seines eindringlichen Buches gedanklich wie praktisch doch noch aufraffen: Und vom üblichen Lob des Reichtums lassen und umkehren zu einem Lob des gerechten Umgangs und der gerechten Umverteilung der großen „Vermögen“. Vielleicht gibt es eines Tages, so hofft der Autor, eine „Gerechtigkeitsbewegung“ (im Sinne der Überwindung des „schädlichen Reichtums“), so, wie sich – mühevoll ebenso – eine feministische oder eine ökologische Bewegung etablierte. In jedem Fall wird der Kampf gegen „schädlichen Reichtum“ zu neuen Lebensformen und zu „einem guten politischen Leben“ führen. Eine gewaltige Aufgabe, denn die meisten Menschen wollen immer mehr, immer mehr Geld, so wird ihnen permanent von den Reichen (deren Medien) selbst – werbewirksam – eingeflößt. „Geiz ist geil“ ist das Motto. Und die allgemeine Gier nach dem ständigen Wachstum ist längst eine staatstragende „Tugend“, deren Wahn kaum befragt wird. Profitmaximierung der Firmen der Reichen ist oberstes Gebot, dem sich gern die so genannten demokratischen Regierungen beugen.

5. Warum spricht Neuhäuser von “schädlichem Reichtum”? Das ist eine der zentralen Thesen des Buches, die hier nur angedeutet werden sollen: Reichtum ist schädlich, weil die Reichen, vor allem die Superreichen, längst das politische Leben auch in den Demokratien bestimmen, die man deswegen am liebsten nur noch so genannte Demokratien nennen sollte. Man denke nur an die Wahl von Mister Trump zum Präsidenten: Da haben 2 Milliardäre heftig finanziell geholfen. Und so können sie das Profil der gegenwärtigen Politik in den USA mitbestimmen. Die Autorin und Journalistin Jane Mayer, so Neuhäuser (S.72), sagt das, was so viele längst wissen: „Die USA sind aufgrund des politischen Einflusses der Reichen schon längst keine Demokratie mehr. Ein Nicht-Milliardär wird sich einen Wahlkampf als Präsidentschaftskandidat wohl kaum noch leisten können“. „Beschränkung von Reichtum ist für die Stabilität und Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung“ (79)
Eine weitere gut begründete These im Buch: „Die Reichen haben ihren Reichtum eigentlich nicht verdient“ (24). Nicht „verdient“ zunächst im moralischen Sinne, weil sie mit dem Reichtum meistens egoistisch in Saus und Braus leben und –polemisch zugespitzt – eher ein Hotel für ihre Hunde in New York bauen als eine Wohnsiedlung für Obdachlose. Diese könnten sie aus ihrer „Portokasse“ bezahlen und sich dann in den Medien als großartige Gönner feiern lassen. Und, zweitens, sie haben nicht durch eigene Leistungen und Anstrengungen ihre Milliarden und Millionen erwirtschaftet, d.h. selber verdient: Das könnten sie gar nicht allein schaffen, sie haben viele andere für sich arbeiten lassen oder sich der Finanzspekulation hingegeben. Viele haben Talente und Glück gehabt, und beide Gaben für sich radikal ausgenutzt, oder sie haben Unsummen geerbt, von Verwandten, die schon den Profit über alles setzten. „Die Reichen haben ihren Reichtum nie verdient“ (51 f., auch 49) …Denn Reichtum beruht nicht auf Leistung“ (52).

6.
Eine weitere These im Buch: Der Autor plädiert für einen maßvollen Abschied von den Superreichen und Reichen, indem diese sanft, wie es sich bei Forderungen braver demokratischer Bürger gehört, bloß mit zusätzlichen Steuern belastet werden sollen. Der Autor bietet zwar eine radikale Reichen-Kritik, aber er ist in den wenigen praktischen Vorschlägen alles andere als ein „sozialistischer Umstürzler“. Kann der einzelne noch etwas tun gegen die Allmacht der Reichen und Superreichen, gegen ihren verschwiegenen und nur mit Mühe freizulegenden Einfluss auf die Politik?

7.
Auch über Neid und Gier spricht der Autor, wobei er den Neid durchaus vor Missverständnissen verteidigt; ganz übel ist für ihn zurecht die Gier: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder alles haben will“.
Auch die These zur „sozialen Würde“ aller Menschen verdient viel Beachtung: Menschenwürde ist ja mehr als der Respekt vor der inneren unantastbaren Dimension des Menschen. Menschenwürde hat ein soziales Gesicht für eine Welt, in der nicht länger Millionen Menschen hungern und krepieren und einige hundert Milliardäre maßlos sich ihrer totalen Gier hingeben dürfen.

8.
Ich hätte mir noch mehr anschauliche Beispiele gewünscht, wie die Superreichen die Restbestände unserer Demokratie weiter verderben, durch ihre Lobbys, Einflüsse, Werbungen, und aktuell wieder einmal durch das schamlose Ausnützen der Armen in der so genannten 3. Welt: Etwa in der Kleiderproduktion unter sklavenähnlichen Bedingungen in Bangladesch z.B. Dies ist verbrecherisch auch, weil für die dortigen für Deutschland fabrizierenden Fabriken nicht deutsche Standards eingefordert und bei den deutschen/europäischen Firmen durchgesetzt werden. Diese Verbundenheit unserer Regierungen mit dem „Kapital“ entspricht der treuen Bindung an die herrschenden Unternehmer. So, wie die Verkehrspolitik in Deutschland eindeutig eine Politik zugunsten der Autoproduzenten ist usw.

9.
Noch einmal: Das Buch ist trotz seiner Kürze wegen der klaren Ausführungen sehr zu empfehlen und man wünscht ihm weite Verbreitung und viele LeserInnen, die zu weiterem Fragen und Forschen zum Thema angeregt werden. Die Literaturangaben im Buch sind da hilfreich!

Christian Neuhäuser, „Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit“. Reclam Verlag, Reclams Universalbibliothek Nr. 19602. 2019, 88 Seiten, das Buch kostet nur 6 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin