Das Gift der Rechtsextremen heute heißt Nostalgie

Ein Hinweis auf ideologische Elemente der Rechtsextremen und ihrer Parteien heute.

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 8.1.2024.

Am 19.12.2024 ergänzt: Uns freut, dass die Soziologin Eva Illouz in ihrem neuen Buch (Suhrkamp, Herbst 2024) “Explosive Moderne”, auch der politisch relevanten Nostalgie der Populisten und Rechtsextremen einige Hinweise widmet. Sie erinnert an “Make America Great Again” (“MAGA”) von Mister Trump und zitiert aus der New York Times: “Diese MAGA Typen neigen dazu, die 195oer Jahre zu idealisieren, weitestgehend auf Grundlage eines wahnhaften Bildes davon, wie das Leben damals wirklich war” (S. 255). Für die weithin geschätzte Soziologin Eva Illouz steht fest: “Nostalgie hat eine tiefe Affinität zu reaktionärer Politik” (S. 254).

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1. Zur Einführung
Rechtsextreme Parteien in Deutschland und Europa bewundern und lieben „Ideale“ der Vergangenheit. Sie sind nostalgisch bestimmt. Dabei bauen sie nicht eine monumentale Ideologie auf, etwa uralter (germanischer) Mythen. Ihre Parteiprogramme und ihr viel radikaleres politisches Handeln heute orientiert sich pragmatisch an abstrakten Prinzipen aus der politischen „Welt von (vor)gestern“. Und diese „Werte“ sind: Traditionelles Familienbild und traditionelle Rolle der Frauen, Abwehr der Gleichberechtigung sexueller Vielfalt etwa in „Homo-Ehen“, heftige Abwehr der Fremden, die die Reinheit des Blutes angeblich stören, und vor allem: die Nation als etwas Heiliges hochschätzen.
Die uralten „Werte“ bestimmten einst die politischen Zustände, die Zeiten des demokratischen Niedergangs, etwa in der Weimarer Republik, als rechtsradikale Parteien und die sie unterstützenden (!) rechts-konservativen Parteien (DNVP) das politische Leben, die Demokratie, die Menschenrechte auslöschten.
Die zerstörerische Kraft von Demokratiefeinden und Rechtsradikalen jetzt (2023/2024) wird sichtbar etwa in der Drangsalierung von Politikern. Die Meute ist gewalttätig nicht nur mit ihren permanenten Beleidigungen und Beschimpfungen. Der Ortsvorsteher Martin Klußmeier hat jetzt sein Amt in Otterberg – Drehenthalerhof (bei Kaiserslautern) aufgegeben, er hielt die ihm entgegengebrachte Verrohung einfach nicht mehr aus. Klußmeier spricht ausdrücklich von Verrohung. LINK    Und: LINK

Was ist Verrohung:

Es ist der freiwillige Rückfall der Menschen in ihr pures Naturwesen, man möchte sagen in die tierische Existenz des Beissens und … Fressens. Unter rohen Menschen (verrohten Menschen) ist der „Kampf aller gegen alle“ (so der Philosoph Thomas Hobbes, „Leviathan“) üblich.
Verrohung ist der Gegenbegriff zu Kultur, als dem Inbegriff menschlichen, geistvollen Lebens, eines menschlichen Lebens, das der Vernunft folgt und nicht blinden Gefühlen, wilden Emotionen, tödlichen Aggressionen der Meute.
Ein weiteres aktuelles Beispiel: „In Schlüttsiel zwingen mehr als 100 Demonstranten Bundeswirtschaftsminister Robert Hobeck zum Umkehren seiner Fähre. Die Regierung bezeichnet den Protest als beschämende “Verrohung der Sitten“. (Quelle: Die „Zeit“, 5. Januar 2024, 0:07 Uhr)

Ein Leben der Verrohung holt sich seine Power aus den imaginierten „Werten“ der Vergangenheit. Haben Krawalle des Pöbels gegen demokratische Politiker heute eine Art Vorbild in den Krawallen gegen Demokraten in der Weimarer Republik?

2. Details:
Die politische Ideologie der rechtsextremen Parteien im heutigen Europa hat vielfältige inhaltliche Fixierungen. Wichtig für rechtsextreme Parteien (AFD, FPÖ, Le Pen Partei „RN“, VOX in Spanien, PiS in Polen, „Brüder Italiens“ und Lega – Nord usw.) ist die deutlich propagierte Sehnsucht nach einer imaginierten heilen Vergangenheit. Nostalgie ist eine rechtsextreme Leidenschaft. Eine phantasierte, angeblich bessere, ideale Vergangenheit wird direkt oder indirekt beschworen und als erstrebenswertes politisches Ziel verbreitet. Die politische Realisierung dieser imaginierten Welt von gestern und vorgestern und deren alter „Werte” soll die Krisen der Gegenwart begrenzen, wenn nicht überwinden. Als könnten Modelle von einst hilfreich sein für die „Lösung“ heutiger Probleme in ganz anderen Konstellationen.

3. Nostalgie
Nostalgie: Das Wort stammt aus dem Griechischen: νόστος bzw. nóstos bedeutet „Rückkehr, Heimkehr“ und ἄλγος bzw. álgos „Schmerz“ .
NostalgikerInnen glauben an die Sehnsucht nach einer Heimat, nach einer Heimkehr in eine ideale Vergangenheit: Die Kindheit ist zwar fern, aber sie war – angeblich – so schön. Darum ist ja auch Weihnachten als Kinderfest der Regression immer noch populär. Die „Rolle rückwärts“ ist beliebtes Mittel der Fortbewegung.
Die alte Welt als ideologisches Refugium, das waren nicht nur die „rauschenden Bäche“ der Poesie der Romantik mit ihren klappernden Mühlen. Die alte Welt der Nostalgiker: Das waren immer auch Herrscher, Diktatoren, Krieger, nach außen hin ordentliche, brave und christliche Männer. Und falls sie Soldaten waren, mussten sie sich halt fürs Vaterland aufopfern.

4. Flucht in frühere Zeiten
Nostalgie als politische Haltung von Rechten und Rechtsextremen heute hervorzuheben, ist alles andere als ungewöhnlich. Nostalgie sei nicht nur eine individuelle Haltung, sozusagen eine private Spiritualität des einzelnen. In seinem Essay über Nostalgie (in der Zeitschrift „LETTRE international“, Winter 1999, Seite 74 ff.,) spricht der us-amerikanische Soziologe James Macdonald Jasper auch von der politischen Bedeutung der Nostalgie in seiner Jugendzeit in den USA. „Nie zuvor in der Geschichte haben die Menschen ein so dringendes Bedürfnis verspürt, sich eine beruhigende Vergangenheit zu schaffen“ (74). Sie wurde als ALTERNATIVE wahrgenommen: Die Nostalgiker wollen sich förmlich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit versetzen. Dabei wurde die Bindung an Mythen aktualisiert: In der Romantik stützten sich die Nostalgiker auf den Mythos der Nation: „Der eigenen Nation wurde eine Art kultische Verehrung zuteil“ (S. 75)… Die Nationalsozialisten pflegten einen „tödlichen Mischmasch von Nostalgien, die in beunruhigender Spannung zu Elementen der Moderen standen“ (S. 77). Es ging den Nationalsozialisten – wie allen Rechtsextremisten in ihrer wahnhaften Ablehnung der Fremden und der Angst vor „Umvolkung“ – „um die Reinheit des Blutes, der Abstammung, der wahren deutschen Kultur“ (S. 77), also um das Erstarken einer „Leitkultur“.

5. AFD -d.h. die AFD ist in Wirklichkeit: Eine Alternative anstelle von Deutschland (als Demokratie)
Man analysiere den Titel „AFD“, das Kürzel für die Partei „Alternative für Deutschland“: Damit ist gemeint: „Wir als AFD bieten eine gute Alternative für das bisherige Deutschland. Also für die bisherige Demokratie.“ Das FÜR im Titel der AFD bedeutet nicht zugunsten von Deutschland im Sinne der bestehenden Demokratie, sondern Für bedeutet „anstelle von“ Deutschland. Die AFD will – als Alternative – die bisherige Demokratie in Deutschland also ersetzen. Wodurch eigentlich? Durch ein autoritäres Regime.

6. Klares Denken
Das Parteiprogramm der AFD ist sehr aufschlußreich. Und man wünscht sich dringend, dass die Leute, die für die AFD stimmen, genau wissen, welchem Verein sie da politische Herrschaft zutrauen. Offenbar ersetzt die Wut „auf das System“ (also die Demokratie) das klare Denken. Kritisches Denken kann vielleicht noch einmal wiederkehren, wenn die AFD WählerInnen das alternative, d.h. undemokratische System von AFD Regierungen erlebt haben… und dann hoffentlich von einer Nostalgie nach der von ihnen per Stimmzettel abgeschafften Demokratie erfasst werden.

7. Immer wieder Feindbild: “der” Islam
Die offiziellen Partei – Programme der Rechtsextremen zeigen sich oft harmloser als die vielen alltäglichen Äußerungen und Praktiken ihrer führenden Politiker, man denke etwa an die Statements Björn Höckes (AFD). LINK
Aber schon im moderat klingenden Programm der AFD wird klar und deutlich: Diese Partei will zurück in die alte Welt einer angeblich guten nationalen Ordnung in dem Nationalstaat Deutschland:

Auch das wird konkret gefordert: Es soll keine umfassende Frauen-Emanzipation geben, Frauen sind die Gebärenden in einer ordentlichen Hetero-Familie. Familien von Homosexuellen werden abgelehnt. Das Christentum wird als ideologisches Schmiermittel einer „abendländischen, christlichen Kultur“ in Deutschland beschworen. Der Begriff „Heimat“, „unsere so schöne Heimat“, wird gepriesen und damit konsequenterweise im Parteiprogramm auch die „Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus“ hoch gelobt (Nr. 7.2. des Programms von 2016). Entsprechend in Punkt 7.6.1 des AFD Parteiprogramms heißt es rigoros: “Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Man möchte angesichts dieser pauschalen Verurteilung „des“ Islam und seiner Freunde sagen: Dann gehört die AFD auch nicht zu Deutschland…
Entsprechend sollen, laut Parteiprogramm, Flüchtlinge, zumal aus muslimischen Ländern, schon an der Grenze kontrolliert und abgeschoben werden. Diesen Forderungen der AFD hat sich nun auch die EU und auch Deutschland angeschlossen. Man sieht: Die Angst vor der AFD hat Wirkung in demokratischen Gremien. Man hat den Eindruck: Die AFD beginnt zu herrschen, indem demokratische Parteien Teile des AFD Programms übernehmen…
Jegliche „Umvolkung“ soll laut AFD verhindert werden. Das heißt: Das deutsche Blut soll nicht verunreinigt werden. Deswegen darf Deutschland auch nicht als Einwanderungsland verstanden werden, obwohl Millionen Fachkräfte dringend in Deutschland gebraucht werden…Weil der Nationalstaat wieder absolut im Mittelpunkt steht, soll auch die EU weitgehend geschwächt werden. Sollte man sich anschauen:  LINK:

8.
Ein Blick auf die psychischen Voraussetzungen von Nostalgie: Sie ist, wie schon gesagt, die emotionale und auch intellektuelle Bindung an die Vergangenheit in dem Sinne, dass die Vergangenheit und deren Werte bzw. Lebensformen, Gesetze und Gebote nicht nur als hilfreich, sondern als wegweisend, als aus der Krise führend, angesehen werden. Der Psychotherapeut und Philosoph Erich Fromm hat durch seine Studien zum nekrophilen Charakter darauf hingewiesen: Nekrophile (also das Tote liebende) Menschen haben ein besonderes Interesse an allem, was nicht mehr lebt, sich nicht mehr entwickelt, was erstarrt ist, schreibt Erich Fromm in seiner Studie „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1973, Band 7 der Gesamtausgabe 1980, Seite 307): “Der nekrophile Charakter erlebt nur die Vergangenheit und nicht die Gegenwart oder Zukunft als ganz real. Das, was gewesen ist, das heißt, was tot ist, beherrscht sein Leben: Institutionen, Gesetze, Eigentum, Traditionen und Besitztümer…Das Tote beherrscht das Lebendige. Im persönlichen, philosophischen und politischen Denken des Nekrophilen ist die Vergangenheit heilig,… eine drastische Veränderung ist ein Verbrechen gegen die `natürliche` Ordnung“ (ebd.).

9.
Die rechtsextremen Parteien in ihrer nekrophilen Liebe zur Vergangenheit, also zur „Nostalgie“, werden unterstützt von religiösen und kirchlichen Gruppen, die sich ebenfalls der Ideologie der „so viel besseren Vergangenheit“ und damit der bösen Gegenwart hingeben.
In der katholischen Welt sind die so genannten „Pius-Brüder”, also die Traditionalisten, gegründet von Erzbischof Marcel Lefèbvre (1905-1991), die deutlichste Bewegung katholischer Nostalgiker, auch hier lebt die Nekrophilie: Lefèbvre und die Seinen lieben über alles die lateinische Messe im alten Ritus (des 16. Jahrhunderts), Lefèbvre beschwor ständig „l église de toujours“, die “Kirche von immer“, wie er sagte, und er meinte damit immer auch: Die Messe in der jeweiligen Landessprache, vom 2. Vatikanischen Konzil beschlossen, sei ein Verbrechen gegen Gott und die Menschen. Bei Lefèbvre und den Seinen ist diese Ideologie bis heute gültig genauso wie die Verachtung der Menschenrechte, etwa die Religionsfreiheit. Sie hassen die Lebendigkeit, den Wandel, die Reform, die Reformation.
Auch diese religiöse Nostalgie kommt wie jede Nostalgie nicht ohne Feinde aus: Wie oft hat Erzbischof Lefèbvre in seinen Predigten „die Protestanten, die Freimaurer, die Liberalen“ verurteilt: Und auch: Moderne Katholiken, Anhänger des 2. Vatikanischen Konzils, hätten nichts anderes im Sinn als die Freiheit der Menschen…und diese sei doch teuflisch, führe in den Abgrund. Nur die Bindung an undemokratische Autoritäten helfe den Menschen: Darum war Erzbischof Lefèbvre ein Freund der Diktatoren in Argentinien; darum waren und sind die Pius-Bruder in Frankreich (dort unter den Laien sehr stark vertreten mit mehr als 100.000 Anhängern) auch die engsten Freunde des rechtsradikalen Führers Jean-Marie Le Pen und seiner Partei Front National: Wie oft waren die Pius-Brüder als Priester bei den Le Pen Veranstaltungen und Kundgebungen zu Ehren der heiligen Jeanne d Arc liturgisch tätig: Sie wird in rechtsextremen Kreisen Frankreichs als Heilige verehrt…, auch, weil sie Ausländer, damals waren es Engländer, besiegt und vertrieben hat.

10.
Marion Maréchal, die Nichte von Marine Le Pen, der Chefin des „Rassemblement National“, „RN“, der Nachfolgepartei des Front National von Jean-Marie Le Pen, ist eng mit den Traditionalisten und Pius – Brüdern als „praktizierende Katholikin“ verbunden. Marion Maréchal tritt nun als Europa – Kandidatin 2024 auf … für die extrem-rechte Partei des jüdischen Parteigründers Eric Zemmour: Seine Partei hat den Titel „Reconquete“, also „Zurückeroberung“. Ein Programm, das an die Zeiten der spanischen Reconquista im Mittelalter erinnert, als über einige Jahrhunderte mit vielen Kriegen die Präsenz der Muslims im katholischen Spanien beendet wurde, und die der Juden übrigens auch, falls sie nicht konvertierten… : „Vertreibung“ könnte man also auch die Partei Zemmours nennen, die beim ersten Wahlgang für die Präsidentschaftswahlen 2022 immerhin 7 % der Stimmen erhielt, in katholisch – konservativ geprägten Vierteln Versailles und des Départements Yvelines noch viel mehr. So gibt es also eine rechtsextreme „Ökumene” von einer rechtsradikalen Katholikin (Marion Maréchal) und einem rechtsradikalen Juden (Zemmour)… Im Parteiprogramm von Zemmours „Reconquete“ wird auch lang und breit ausführlich über die Befreiung Frankreichs von muslimischen Mitmenschen gesprochen.

11.
Über fundamentalistische Protestanten, also die vielen Millionen Evangelikaler, wäre zu sprechen und ihre Behauptung, in ihrem wortwörtlichen Verstehen der Bibel – Interpretation würde Jesus selbst, der Held von einst, zu ihnen sprechen … natürlich durch den Mund bestens bezahlter Pastoren und deren „Mega – Churches“. Vom Judentum wäre zu sprechen und den ultraorthodoxen Kreisen, die jede noch so detaillierte Bestimmung alter biblischer Lehren in ihr heutiges Leben umsetzen und sich in ein starres, für den einzelnen brutales Korsett von Gesetzen und Vorschriften von einst begeben. Im Islam sind es die fundamentalistischen Gruppen der Islamisten, die behaupten: Die soziale und politische Ordnung die – angeblich – Mohammed zu seinen Lebzeiten forderte und auch gestaltete müsse auch unter allen Umständen heute wieder in gleicher Weise durchgesetzt werden, und zwar auch mit tötender Gewalt gegen die Feinde dieses Glaubens.

12.
Die rechtsextremen und rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien können vielleicht noch gestoppt werden: Wenn die Menschen begreifen: Die Ideologie dieser Gruppen und Parteien ist nicht nur zerstörerisch für die beste aller nur denkbaren Staatsformen, also die sich immer weiter entwickelnde Demokratie. Wer diesen rechtsradikalen Parteien folgt, zerstört auch sich selbst, lässt sich ein auf ein nekrophiles Leben. Diese rechtsextreme Ideologie ist schädlich für das, was den Menschen als Menschen auszeichnet, also für seinen Geist und seine Seele. Nostalgie ist Gift, weil sie zur Liebe zum Toten, Vergangenen, Verblichenen, zu allem Verstorbenen und Verwesenden führt.

13.
Kriege sind immer Geschehen, die das Tote und die Toten produzieren, und manche Diktatoren in Russland und anderswo sind froh, dass sich so viele ihrer Landsleute hinschlachten lassen. Putins tödliche Ideologie lebt von Versatzstücken einer „Philosophie“ der „russischen Welt“. Und Putins ideologische Stütze, der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau, Kyrill I., befeuert nicht nur den Krieg Putins, er ermuntert den Staatschef und Kriegsherrn, der Nostalgie eines „russischen Imperiums“ unbedingt und tötend Folge zu leisten.
Es ist die Liebe zum Tod und zum Toten und Töten, die letztlich hinter nostalgischen Schüben in der Politik steht. Es ist die perverse Liebe zu „meiner Nation“, deren sich der Nostalgie bedient, die die Welt zerrüttet.

14.
Welche Bedeutung hat die Vernunft noch in diesem Jahr 2024 angesichts des Niedergangs vernünftigen, demokratischen Lebens? Eine Frage, die wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin weiter diskutieren werden, zu Ehren von Immanuel Kant: Am 22. April 2024 feiern wir Kants 300. Geburtstag, selbstverständlich beginnen die „Feierlichkeiten“ jetzt.

15.
Aber was sind „philosophische Feierlichkeiten“ für den einzelnen und für Gesprächs-Gruppen? Denken und Lesen und Diskutieren und gemeinsam Speisen (wie Kant in seiner berühmten Mittags-Runde bei Wein und Fisch). LINK.

PS.:

Für das Kulturradio des RBB gestaltete ich ein Feature, das versucht, einige Erkenntnisse Immanuel Kants sozusagen unter das gebildete Volk zu bringen. Diese Ra­dio­sen­dung von 2010 fand ein großes Echo. Sie gehört in eine Reihe von mir gestalteter imaginärer Salon-Gespräche etwa zu Hegel, Heidegger, Schleiermacher usw.. Ich biete hier noch einmal den Text dieser Radio – Sendung über Kant, auch anläßlich seines 300. Geburtstages am 22.4.: LINK:

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

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Leidenschaftlich für die Menschenrechte: Kardinal Álvaro Ramazzini, Guatemala

Ein anderes Gesicht der katholischen Kirche heute
Ein Hinweis von Christian Modehn

Einen Hinweis auf eine religionsphilosophische Reflexion zum Thema “Religiöse Verteidiger der Menschenrechte”  finden Sie unter Nr.10.

1.

In Deutschland und in ganz Europa sind die meisten Menschen auf ganz begrenzte Gebiete der Verletzung von Menschenrechten und damit von Unterdrückung und Krieg fixiert. Es gibt sozusagen wichtige Leidende und eher unwichtige Leidende. Selbstverständlich ist es keine Frage: Das Leiden der Menschen in der Ukraine oder in Israel und den Gebieten der Palästinenser ist heftig und brutal.
Aber es gibt Menschen, die in ihrem Leiden in der weiten Öffentlichkeit eher vergessen werden. Wenn man allein die Themen der Talkshows der letzten Monate wahrnimmt: Haben Sie in den letzten Monaten, ja in den letzten Jahren, einmal eine Talkshow in der ARD oder im ZDF gesehen, die sich mit dem Leiden und den Kämpfen der Menschen in El Salvador oder Guatemala beschäftigt hat oder vielleicht mit dem Elend und dem Sterben der Menschen in Haiti?

2.

Angesichts der vielen pädosexuellen Verbrechen des katholischen Klerus und der abzulehnenden hierarchischen Klerus – Struktur ignoriert die breite Öffentlichkeit auch die Tatsache: Es gibt auch einige Kleriker, sogar Kardinäle, die hervorragende und hochzuschätzende Verteidiger der Menschenrechte und der Menschenwürde sind. Das muss einfach um der Objektivität willen öffentlich gemacht werden.
Haben Sie etwa im Tagesspiegel jemals einen Bericht über Alvaro Ramazzini aus Guatemala gelesen? Den Namen sollte man sich merken, er ist Kardinal und Bischof in der Provinzstadt Huehuetenango… Bitte forschen Sie, wo und wie dieser hervorragende Kämpfer für die Demokratie und die Menschenrechte, zumal der Indigenas, lebt. Jahrzehnte lang wurden in Guatemalas Bürgerkrieg die einheimischen Bevölkerungen der Indigenas verfolgt und getötet.Mehr als zwei Millionen Guatemalteken sind unter schwierigsten Umständen durch Mexiko in die USA geflüchtet und die meisten leben dort ohne PapiereAuch Jugendliche und Kindern ohne Begleitung fliehen aus ihrer „Heimat“…   LINK

Nebenbei: Die Stadt Ravensburg hat mit Huehuetenago eine Partnerschaft!
Guatemala steht an 135. Stelle (von 191) auf dem„Index der menschlichen Entwicklung“.

Auch die Biographie von Alvaro Ramazzini sollte man studieren… LINK    Oder: LINK.  Oder: LINK.

3.

Hier nur einige Zitate von Kardinal Ramazzini aus der jüngsten Zeit, sie wurden in katholischen Publikationen – und damit eher für einen begrenzten Leserkreis – verbreitet.

4.

Kardinal Ramazzini sagte: „Wenn man die Zeitungen in Deutschland und anderswo in Europa aufschlägt, bekommt man leider den Eindruck, dass unser kleines Land für den Rest der Welt gar nicht existiert. Wir brauchen aber internationale Unterstützung im aktuellen Kampf für Demokratie und Gerechtigkeit. Dafür will ich werben. Die Welt darf uns nicht aus den Augen verlieren.“
Es gibt in Guatemala einen Pakt der Korrupten, diese Leute wollen niemals die Macht verlieren. Dazu sagt Kardinal Ramazzini:
„In erster Linie ist das Justizsystem gemeint, das nur noch wenig mit seinen eigentlichen Aufgaben zu tun hat. Mehrere Richter und Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft haben wegen ständiger Drohungen das Land verlassen. Nun erleben wir eine Hexenjagd der Justizbehörden gegen den neu gewählten Präsidenten und seine Partei. Das System wird offensichtlich von Kräften manipuliert, die keine Veränderung wollen.“ (Quelle KNA: 29.9.2023).
Die Amtsübergabe an den neuen, demokratischen Präsidenten Bernardo Arevalo und seiner Vizekandidatin Karin Herrera von der Semilla – Partei soll am 14. Januar 2024 stattfinden. Das Datum ist umstritten, weil die Generalstaatsanwaltschaft unter Leitung der Katholikin Consuelo Porras und dem Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft Rafael Curruchiche die Ergebnisse der Wahl diskreditieren! Die tun alles, dass die gewählten demokratischen Politiker ihr Amt NICHT antreten können.
Kardinal Ramazzini kämpft gegen die Willkür der Generalstaatsanwaltschaft! Der Kirchenzeitung „Tag des Herrn“ (17. Dezember 2023, Seite 5) sagte er: „In der Tat bin ich im Konflikt mit der katholischen guatemaltekischen Generalstaatsanwältin…In letzter Zeit bin ich mehrfach auf die Strasse gegangen und habe mit demonstriert für die Akzeptanz der Wahlergebnisse.“
5.

Ein ungewöhnlicher Kardinal: Er nimmt an politischen Protest – Demonstrationen teil: „Ich verstehe unter Politik alle Aktivitäten, die auf das Gemeinwohl zielen… Man kann es sich als Christ durchaus bequem machen und es sich in seiner Beziehung zu Gott gutgehen lassen…Der Apostel Jakobus hat die große Herausforderung des Christseins so beschrieben: Der Glaube zeigt sich in Werken, im Tun“. (Tag des Herrn, a.a.O).
6.

Es gibt nach wie vor viele tausend Flüchtenden aus vielen Staaten Lateinamerikas, die sich in den USA ein besseres Leben erhoffen. Die katholische Kirche hat Flüchtlingsherbergen in ganz Guatemala eingerichtet, sie gibt es zwischen der Grenze nach Honduras im Süden und der Grenze nach Mexiko im Norden… Aber unsere Hilfe reicht einfach nicht aus. Es gibt gefährliche Fluchtwege etwa zwischen Kolumbien und Panama. Der Kardinal berichtet: „Auf dem weiteren Fluchtweg Richtung Norden kommt es häufig vor, dass Flüchtlinge ausgeraubt, das Wegzölle von ihnen erpresst, dass Frauen vergewaltigt werden. Zu unseren Aufgaben zählt es, aufzuklären und zu beraten, wie man sich für den Fluchtweg wappnet. Wir empfehlen zum Beispiel Frauen Empfängnisverhütung , denn die Gefahr, auf der Flucht vergewaltigt zu werden, ist sehr hoch“ . Gegen die Gewalt dieser Verbrecher kann offenbar niemand etwas tun…

7.
Kardinal Ramazzini aus Guatemala kritisiert deutlich und angstfrei auch die ökonomische Vorherrschaft Deutschlands, Europas und der USA gegenüber seinem Land. „Bei allen Abkommen, die in den letzten Jahren zwischen einzelnen europäischen Staaten und der EU und den Ländern Lateinamerikas geschlossen wurden, standen die Interessen der europäischen Unternehmer, die mit uns Geschäftsbeziehungen haben, obenan. Die Förderung unserer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung steht stattdessen an letzter Stelle. Die Priorität müsste umgekehrt werden. Andernfalls sind wir immer die Verlierer. … Da Europa die Preise (für seine Exportgüter und für Kaffe und Bananen aus Guatemala) festsetzt, haben wir keine Chance aus der wirtschaftlichen Unterentwicklung herauszukommen. Verträge müssten so gestaltet werden, dass nicht immer wieder die Reichen begünstigt werden, wir müssen eine echte Chance bekommen. Und die Entwicklungshilfe stärkt bei uns immer wieder diejenigen, die viel haben, zum Beispiel die reichen Zuckerproduzenten in unserem Land. Die Arbeiter auf den Plantagen arbeiten unter entwürdigend en Bedingungen“ (Zit. Tag des Herrn, a.a.O:)
“Ich wünsche mir, dass die Deutschen ihren internationalen Einfluss geltend machen und die demokratischen Kräfte in unserem Land unterstützen.“ (Dom Radio a.aa.O:)

8.

„Dom Radio”, Köln, stellte am 4.12.2023 die Frage: “Will man Sie einschüchtern oder zum Schweigen zu bringen?“
Kardinal Ramazzini antwortet: „ In einem Land wie Guatemala würde das niemanden erstaunen. In den vergangenen Wochen wurden zahlreiche Studenten und Professoren der Universidad San Carlos verhaftet, weil sie gegen die Wahl des Universitätsrektors protestierten, dessen Gegenkandidaten im Vorfeld ausgeschlossen waren. Das ist also durchaus möglich bei uns.
DOMRADIO.DE: Es war auch nicht das erste Mal, dass Sie bedroht wurden, richtig? Ramazzini antwortet: „Ich habe schon Todesdrohungen bekommen. Vor Jahren gab es den Fall, dass man einem Mann 50.000 US-Dollar Kopfgeld für mich angeboten hat. Aber er nahm das Geld nicht an und machte die Geschichte öffentlich. Als ich Bischof von San Marcos war, wurde ich verfolgt. Aber seit ich im Bistum Huehuetenango bin, gab es keinerlei solcher Vorfälle mehr.“

9.

Ramazzinis Position: „Wir stehen an der Seite der Menschen und wir wollen, dass sich die Menschen begleitet und wahrgenommen fühlen. Denn das ist das zentrale Problem in Guatemala: Wir haben keine richtige Demokratie. Als Kirche wollen wir den Menschen vermitteln, dass sie nicht alleine sind und dass wir uns für ihre Rechte einsetzen… In einem Land, in dem sich die Politiker auf Kosten der Allgemeinheit bereichern, fühlen wir uns verpflichtet, die Hoffnungen des Volkes nicht zu enttäuschen. Die Menschen vertrauen uns und wir dürfen sie nicht enttäuschen.“ (a.a.O).

10.

Für Religionsphilosophen und Religionskritiker ist die Erkenntnis wichtig: Es gibt katholische Kleriker, sogar auch Kardinäle, die die Menschenrechte verteidigen, verteidigen in der Praxis und der Spiritualität. Das ist ziemlich neu, wenn man nur an die heftigen Polemiken der Päpste des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts GEGEN die Menschenrechte denkt!

Die Menschenrechte werden von Kardinal Ramazzini, Guatemala,  nicht aus einer theologischen Motivation verteidigt, sondern aus politischen Überlegungen, aus der völligen Zustimmung zu Demokratie und Menschenrechten aus vernünftigen, poilitischen Überlegungen. Insofern können religiöse Menschen auch zu Verteidigern der Demokratie werden, ein Thema, das Jürgen Habermas sehr beschäftigt.

Entscheidend bleibt in unserer Sicht: Die religiösen Menschen, auch die Kleriker, auch die Kardinäle, lassen sich als Menschen und als Staatsbürger von vernünftigen Überlegungen leiten. Sie wissen: Aus der Bibel (oder genauso auch aus dem Koran) lässt sich keine politische Struktur, keine Demokratie, keine Lehre der universell geltenden Menschenrechte aufbauen. Dazu braucht man die von religiösen Weisungen unabhängige Vernunft. Dass sich die Demokratie auch aus religiösen Weisungen dann unterstützen lässt, etwa dem Nächsten – Liebesgebot Jesu oder den Erzählungen Jesu vom “Barmherzigen Samariter” , ist auch deutlich.

Aber religiöse Weisungen und Weisheiten haben lediglich eine unterstützende Funktion in der Demokratie! Es gibt ja bekanntlich auch religiöse Weisungen und Weisheiten im Alten wie im Neuen Testament, die sehr konträr zur Demokratie und den Menschenrechten formuliert sind. Diese Unterscheidung zwischen guten und abzulehnenden religiösen Weisungen nimmt fraglos einzig die Vernunft vor, nicht etwa eine aus der Religion entnommene Lehre.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

Bittgebete: Sinn und Unsinn!

Ein Hinweis von Christian Modehn in Zeiten von Kriegen und Vernichtung. Am 2.12.2023.

Einen Kommentar zu diesem Text, verfasst von Heinz G. Liberda, lesen Sie bitte am Ende dieses Hinweises.

1.
Angesichts der vielen politischen Katastrophen, der Kriege, der Zerstörungen, von Politikern inszeniert, sind die Menschen meist sehr hilflos. Sie haben es wie so oft versäumt, in Zeiten, als die Waffen schwiegen, Friedenszeiten genannt, für den Erhalt des Friedens zu arbeiten, Friedenspädagogik zu leisten, Politikern auf die gierigen Finger zu schauen bzw. diese zur Vernunft zu rufen. Auch jetzt stehen die Menschen hilflos da. Oder sie protestieren auf der Straße. Immerhin, ein Zeichen des Widerspruchs, aber mehr wohl nicht.

2.
Fromme Leute, etwa Christen, sehen sich in solchen Situationen der politischen, ökonomischen oder klima-bedingten Hilflosigkeit oft spontan gedrängt, einen letzten Helfer zu mobilisieren: Den als Person gedachten Gott (Vater) im Himmel. „Manchmal hilft nur noch Beten“, heißt es dann oft in einem populären, aber nicht klugen Spruch.

3.
So auch in diesen Wochen des Krieges der Hamas gegen Israel und der folgenden Antwort der Regierung Israels als Krieg gegen die Hamas. In dieser Situation fordert der Papst, fordern Bischöfe, Theologen, zum Beten, zum Bitten, auf. DOM – Radio Köln etwa berichtet am 29.Oktober 2023: „Nach dem gemeinsamen Friedensgebet im Kölner Garten der Religionen mit Vertretern von Christen, Juden und Muslimen äußert sich Kardinal Rainer Maria Woelki zum Krieg im Heiligen Land. Gebete, betont er, seien stärker als alle Waffen.“ Er behauptete in seinem frommen Überschwang (oder auch in seiner theologischen Hilflosigkeit!) weiter: „Wir können nur den Himmel bestürmen, dass Gott ein Einsehen hat und unsere Herzen aus Stein erweicht und uns Herzen aus Fleisch gibt, die Herzen aus Liebe werden und die Herzen zum Frieden führen…Wo wir als Menschen darüber hinaus eben nicht mehr weiterkommen, und dies scheint mir zum Beispiel so eine Situation zu sein, da bin ich wirklich davon überzeugt, dass das Gebet im Letzten stärker ist als alle Waffen.“

4.
„Gebet ist stärker als Waffen?“ Das setzt aber voraus: Gott hat stärkere Waffen, wenn wir ihn im Himmel denn bestürmen… Dann greift er als Gott direkt ein und schafft Frieden. Aber die Wahrheit ist: Gott als Gott hat noch nie in diese Welt eingegriffen, geschweige als Gott direkt Kriege beendet.

5.
Es ist also vom vernünftigen Denken her, der Gabe des schöpferischen Gottes an die Menschen, undenkbar und unmöglich, an dieser durchaus klassisch zu nennenden , immer wieder aufgewärmten Gebetstheologie und Bittgebets-Theologie festzuhalten.

6.
Sind Bittgebete also sinnlos und unvernünftig? Nicht unbedingt, wenn wir denn Beten und Bitten als menschliche Aktion verstehen, also als Selbstgespräch, als Poesie, als meinen „Lebenstext“: Ich spreche in stammelnden, suchenden Worten meine Situation aus, spreche meine Verzweiflung aus, meine Hoffnungslosigkeit: Und dies sage ich als Poesie, als „meinen“ Text, möglicherweise auch anderen, Freunden, Verwandten, in der Gruppe einer Gemeinde, in einem philosophischen Salon…

7.
Und was bedeutet dann Bittgebet als meine Poesie, mein Gedicht, mein „Lebenstext?
Ich sehe meine Situation und die Situation der Welt klarer, ich versinke nicht in Sprachlosigkeit, verbleibe als nicht ohne Reflexion. Und wenn ich christlich geprägt bin oder nach dem Glauben suche: Dann weiß ich: Die göttliche Schöpferkraft, der Ewige, der Unendliche, wie auch immer, lässt trotz des Wahns der Menschheit die Menschen nicht fallen, auch mich nicht, auch dich nicht. Diese Spiritualität ist vernünftig. Aber das ist dann alles: Es geht um das sich Einfühlen und Eindenken in eine metaphysische Geborgensein. Die kann einem niemand nehmen.

8.
Dabei wissen diese aufgeklärt, nachdenklichen Frommen: Kriege sind Taten der Menschen, der Politiker, der Nationalisten, der religiös verrückt gewordenen Fundamentalisten. Kriege sind also Ausdruck einer irregeleiteten Freiheit von Menschen, die sich zu Verbrechern entwickelt haben. Diese menschliche Freiheit ist „Gottes“ Gabe an die Menschen. Was wäre denn, wenn Er/Sie die Menschen nicht frei, auch frei zum Tun des Bösen, geschaffen hätte? Dann wären die Menschen eben Tiere. Und die folgen nur ihren Instinkten, sie sind nicht umfassend frei und kreativ.

9.
Können wir also noch Beten und Bittgebete sprechen? Solange fromme Leute mit ihren Gebeten und mit ihrem Glauben nicht andere schädigen, kann jeder und jede glauben was er/sie will. Aber vernünftig ist unserer Meinung nur: Gebete und Bittgebete sind meine Lebenspoesie, die mir mein Leben – auch angesichts des Unendlichen und Ewigen – deutlich macht. Die göttliche Schöpferkraft ist – religionsphilosophisch gesehen – in uns, dort haben wir sie zu pflegen und nicht einen Himmel zu bestürmen. Gott im Himmel zu bestürmen, umstimmen zu wollen, bestimmen zu wollen, ist anmaßend und theologisch dumm und dreist und human letztlich hilflos. Nur Kardinäle, denen nichts hillfreich Politisches einfällt, fordern zum „Bestürmen des Himmels“ auf…Sie fordern damit zum Aberglauben auf. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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Ein Kommentar zu diesem Beitrag von Heinz G.Liberda:

“Wie jemand zum Bittgebet steht, hängt oft mit seinem Gottesbild zusammen und dieses
wiederum mit dem „Seelenkostüm“ des Betreffenden, seiner psychologischen Entwicklung.

Wenn wir uns Gott unbegrenzt vorstellen, durch nichts eingeschränkt, dann sind auch sehr
viele Gottesbilder möglich – neben dem eines überpersönlichen Gottes ebenso gut das
biblische Bild vom Vater, der Bitten „hört“ (aber nicht zum „Erhören“ gezwungen werden kann).

Wenn ein erwünschtes Ereignis eintrifft, um das gebetet wurde, dann kann das als Gebetserhörung
geglaubt werden. Nur, das gewünschte Ereignis hätte auch, unbeweisbar, ohne Bitte eintreffen können.
Aber wer glaubt, dass seine Bitte erhört worden ist, kann Gott gegenüber dankbare Freude empfinden.

Wenn nach katastrophalen Ereignissen – wie z.B. den Atombombenabwürfen 1945 („Theodizee“) –
gebetet wird/wurde, dass so etwas nicht nochmals geschieht – wie Gott sei Dank bis jetzt(!) – ist das
eine Gebetserhörung? Liegt jemand nachweisbar falsch, der das glaubt?

Zuletzt eine wichtige Bitte: „Lieber Gott, lass´ alle Menschen – ob sie darum gebetet haben oder nicht –
ein Jenseits erleben, in dem sich Bittgebete erübrigen.“

H. G. L. 18.12.2023

 

Karl Marx als Ökologe: Gegen das permanente Wachstum!

Über das Buch „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ des Philosophen Kohei Saito
Ein Hinweis von Christian Modehn am 30.11.2023.

1.
Karl Marx wieder lesen, studieren, diskutieren? Das ist gar keine Frage… Weil die real-sozialistischen, verbrecherischen Regime (Gulag, Lager etc…) Marx angeblich „verwirklichten“, d.h. verfälschten, gibt es keinen Grund, Karl Marx jetzt zu ignorieren, wenn es um heutige Kritik am Kapitalismus und Neoliberalismus geht. Und der Kapitalismus als ökonomische Allmacht muss unbedingt kritisiert werden, das ist die allgemeine Überzeugung der Mehrheit der Menschen: Für sie ist nicht nur Gerechtigkeit für alle, sondern auch das Überleben dieser Welt dringendes Gebot.

2.
Marx und sein Werk zu ignorieren, wäre ungefähr genauso, wie wenn Christen jetzt die Bibel, zumal das Neue Testament, beiseite legen würden, nur weil die Institutionen der Kirchen über Jahrhunderte hindurch Verbrechen begangen haben, Ketzer verfolgt und Irrlehrer verbrannt haben und Kriege, gegenseitiges Töten von Christen, richtig fanden. Diese Herren der Kirchen haben das Evangelium und die Gestalt Jesu von Nazareth heftigst missbraucht. Aber das ist kein Grund, das Weisheit Jesu von Nazareth beiseite zu legen, die Bibel muss nur richtig, d.h. kritisch gelesen und verwirklicht werden, sie ist ein Hinweis auf ein humanes Leben für alle.

3.
Das Denken von Karl Marx kann jetzt also einen neuen, auch politischen Aufschwung fördern. Einige höchst überraschende neue Erkenntnisse zum Werk „Das Kapital“ werden über den kleinen Kreis der Forscher für eine breite Öffentlichkeit zugänglich. Der japanische Marx – Forscher Kohei Saito zeigt in seinem Buch „Systemsturz“, dass „es jetzt um eine kühne Neuinterpretation von Marx“ geht (S. 151). Eine solche Neuinterpretation hat „noch niemand vorgelegt “ (S. 112). Sie ist eine grundlegende Korrektur an dem üblichen, vertrauten Marx – Bild: Als hätte sein Denken die Idee der stetigen Steigerung der Produktivkräfte als Mittelpunkt, als sei die umfassendste Industrialisierung und damit die Zerstörung der Natur für ihn alles entscheidend beim Gedanken an einen Sieg des Kommunismus.
Der Marx – Spezialist Saito hingegen entdeckt zusammen mit einem großen internationalen Forscher – Team einen anderen Marx aus den Zeiten der Abfassung des „Kapital“, 1. Band, Veröffentlicht 1868. So wurde Marx zum prominenten Kritiker des Kapitalismus und zwar aus ökologischen Gründen! Das war bislang weitesten Kreisen unbekannt.

4.
Diese Umkehr im Forschen und Denken von Karl Marx wird greifbar in den seit einigen Jahren publizierten, bisher unveröffentlichten „Forschungsnotizen“. Sie erlauben es, „den Fokus auf die in Vergessenheit geratene ökologische Kapitalismuskritik des späten Marx zu richten“ (S. 122). Saito erwähnt eine „enorme Anzahl an Forschungsnotizen von Marx, die sich mit Geologie, Botanik, Chemie, Mineralogie und mehr befassen…So behandelt Marx Themen wie die exzessive Abholzung der Wälder, die Übernutzung fossiler Brennstoffe oder das Artensterben als Widersprüche des Kapitalismus“ (S. 122 f). Diese Erkenntnisse konnte Marx allerdings nicht mehr in seine weiteren Studien zum „Kapital“ einbringen, die Bände 2 und 3 des „Kapital“ wurden von Friedrich Engels nach dem Tod von Marx eigenmächtig herausgegeben.

5.
Im ganzen gesehen hat Marx in seinen sehr umfassenden Forschungsnotizen und Manuskripten eine ökologische Wende und Umkehr in seinem Denken vollzogen. Es geht ihm, so der Marx Forscher Kohei Saito, um die Akzeptanz, Realisierung und Wiederherstellung der „Commons“: Bildung, Natur, Wasser, Menschenrechte sind „Gemeinbesitz“, sie sind gemeinschaftlich produzierte, „organisierte und gemeinschaftlich genutzte Güter, gesellschaftlich geteilter und verwalteter Reichtum, eben Gemeinbesitz“ (S. 108). Commons sind öffentliche Güter… Elektrizität, Wohnung und Gesundheitsversorgung“ (ebd.), die, weil sie öffentliche, nicht private Güter sind, niemals privatisiert werden dürfen und in die gierigen Hände der Kapitalisten geraten dürfen. Sie kaufen diesen genannten Gemeinbesitz auf, machen darauf ihren eigenen Profit, indem sie Commons privatisieren, immer im Zusammenhang mit willigen neoliberalen Regierungen. Diese Menschen verachtende Privatisierungswelle ist in vielen Ländern vor allem des globalen Südens Realität, man denke an die mühevollen Kämpfe der Bürger gegen die Privatisierung des Wassers in Bolivien oder Chile durch Kapitalisten.

6.
In diesem Zusammenhang bringt der Philosoph Kohei Saito eine neue Definition des Kommunismus ein, im Sinne des nun umfassend zu lesenden und zu verstehenden ökologischen Karl Marx. „Marx hatte mit dem Kommunismus niemals eine staatlich verwaltete Einparteiendiktatur im Sinn. Für ihn bedeutete Kommunismus eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel von den Produzenten als Commons (als Gemeinbesitz, Gemeineigentum) gemeinsam verwaltet werden“ (S. 109).

7.
Diese neuen Erkenntnisse zum Werk von Karl Marx verdanken wir einem internationalen Forscher – Team, es gestaltet eine neue Gesamtausgabe der Werkes von Marx und Engels. Sie trägt im Unterschied zur alten Gesamtausgabe (MEGA), unter der Regie der Sozialistischen, Kommunistischen Parteien einst, nun den Titel „MEGA 2“. Die Initiative zu MEGA 2 stammt vom „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ (IISH) in Amsterdam. Das Institut gründete gleich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus bzw. Staatssozialismus die „Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES).

8.
Der genannte japanische Philosoph Kohei Saito ist als Forscher an der MEGA 2 Ausgabe beteiligt. „Der Gesamtumfang von MEGA 2 soll bei Fertigstellung über 100 Bände umfassen, darunter auch bisher unveröffentlichtes Material, was eine bisher nie dagewesene Größenordnung darstellt““ (S. 113). In der „Vierten Abteilung“ von „MEGA 2“ werden die ökologisch relevanten „Exzerpte, Notizen, Marginalien“ veröffentlicht:  LINK

9.
Saito betont: Marx ökologische Wendung nach der Publikation des 1. Bandes des „Kapital“ geht in Richtung einer Degrowth – Wirtschaft. „Degrowth“ bezeichnet eine Wirtschaftsordnung in einer Gesellschaft und einem Staat, die von einer gezielten Verringerung des Materialverbrauchs bestimmt ist. „Degrowth“ meint: In der politischen und ökonomischen Praxis Abschied nehmen von der Ideologie, die Welt bräuchte immer mehr und immer stetiges ökonomisches Wachsen. Von dieser Ideologie profitieren nur die reichen Länder und in ihnen vor allem die Reichen. Die Ressourcen des ständigen Wachstums sind begrenzt.
Der japanische Philosoph Saito weist in seinem Plädoyer für „Degrowth“ eine übliche Vorstellung zurück, der Kapitalismus sei mit Degrowth auch noch vereinbar und kompatibel. Saito meint, solches zu behaupten, sei so ähnlich, wie wenn man „ein rundes Dreieck zeichnen wollte“. Denn der Kapitalismus ist erwiesenermaßen die Hauptursache für die Klimakatastrophen, darum muss der Kapitalismus überwunden werden. In welchen Schritten das gelingen kann, beschreibt Saito in seinem Buch „Systemsturz“.

10.
In einem Interview vom 8. September 2023 mit Benedikt Namdar für die website MOMENT (des Momentum Instituts in Wien) LINK https://www.moment.at/story/kohei-saito-degrowth-kommunismus sagt der Philosoph Kohei Saito: „Eine einfache Definition ist: Kapitalismus ist ein System konstanten Wachstums, unendlicher Profitsteigerung. Es geht darum, Kapital durch Gewinn zu vermehren.  Die Natur hat Grenzen. Durch das ständige Wachstum verletzen Menschen im Kapitalismus genau diese Grenzen. Denn im Kapitalismus verbrauchen wir zu viele natürliche Ressourcen, emittieren zu viele Treibhausgase. Wenn das passiert, entstehen ökologische Krisen wie die Klimakrise. Benedikt Namdar fragt dann:
Wenn nicht Kapitalismus, was dann?
Darauf Kohei Saito: „Ich schlage einen “Degrowth-Kommunismus” vor.  Degrowth will unendliches Wachstum stoppen, daher kann es nicht im Kapitalismus stattfinden.
Eine kommunistische Gesellschaft ist in meiner Auffassung eine, die auf Gemeingütern basiert, die wir miteinander teilen. Ich verbinde Degrowth mit Kommunismus, weil wir vermehrt teilen müssen, wenn wir nicht mehr unendlich wachsen und der Kuchen nicht größer wird.
Ich schlage vor, dass Güter wie Internet, Mobilität, Wasser, Elektrizität und andere Gemeingüter werden. Wir sollten diese miteinander teilen und für alle garantieren. Dann hätten wir die Befriedigung von Grundbedürfnissen garantiert und müssten nicht so viel arbeiten, um Bedürfnisse zu befriedigen.
Es geht bei Degrowth vorrangig darum, ständiger Vermehrung von Kapital ein Ende zu machen. Es muss nicht alles weniger werden. Wir sollten bessere Technologien haben, müssen Smartphones nicht aufgeben. Wir sollten Wachstum in gewissen Gebieten haben, aber verringern, was unnötig ist. Wir brauchen keine Ferraris, Privatjets, Kreuzfahrtschiffe oder Kurzstreckenflüge. Wenn wir auf solche Dinge verzichten, müssen wir auch nicht so viel arbeiten. So kann man mehr Zeit mit Aktivitäten verbringen, die einen glücklich machen.
11.
Welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für die Praxis haben könne, zeigt Saito auf den Seiten 245 bis 279 seines Buches. Wikipedia schreibt über ihn (gelesen am 30.11.2023): „Saito gehört zu einer Gruppe, die in den Bergen westlich von Tokio Land erwirbt, das kollektiv betrieben werden soll, um der lokalen Gemeinschaft dienlich zu sein. Saito ist Ratsmitglied der Progressiven Internationalen”: LINK: https://progressive.international/
12.
Die New York Times publizierte im Sommer 2023 ein ausführliches Porträt über Kohai Saito LINK. : https://www.nytimes.com/2023/08/23/business/kohei-saito-degrowth-communism.html. Leider ist der Beitrag nur gegen Bezahlung erreichbar, lesbar…
13.
Kohai Saito wurde 1987 geboren, er studierte u.a. in Berlin, an der Humboldt Universität wurde er zum Dr.phil. promoviert, der Philosoph Prof. Andreas Arndt ist sein Doktorvater. Saito ist, wie gesagt, Mitarbeiter an der Herausgabe von MEGA 2, zur Zeit ist er auch „Associate Professor“ an der Universität Tokio. 東京大学, Tōkyō Daigaku, abgekürzt: 東大, Tōdai) ist eine staatliche Universität in Bunkyō und wird generell als die Universität Japans mit dem größten Prestige angesehen.
14.
Wir empfehlen das Buch, es wird die Diskussion über Degrowth (Überwindung des permanenten Wachstums) sehr beleben und ein neues Bild des Kapitalismus-Kritikers Karl Marx fördern und damit ein Ende bereiten, Marx und die Marxisten seien am Abbau und der Zerstörung der Natur bloß um des industriellen Gewinns wegen interessiert.

Kohei Saito, „Systemsturz. Der Sieg der Natur Über den Kapitalismus“. Aus dem Japanischen übersetzt von Gregor Wakounig. 316 Seiten, DTV, 2023, 3. Auflage, 25 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.
www. religionsphilosophischer-salon.de

 

 

Vernunft vernünftig verstehen. Eine philosophische Meditation aus aktuellem Anlass!

Kant

Ein Plädoyer für die Vernunftkritik der Philosophie
Eine philosophische Meditation von Christian Modehn

1.
Das Wort Vernunft wird oft gesprochen, selten verstanden, aus ideologischen Interessen wird es ständig mißbraucht.

2.
Zur kritischen Reflexion auf die Vernunft des Menschen (oder besser Vernunft „in“ jedem Menschen) werden wir auch durch politische Entwicklungen aufgefordert.

3.
Jetzt schmückt sich mit „Vernunft“ eine neue politische Gruppierung: das BHW (Wagenknecht), und es formuliert als Programm: „Für Vernunft und Gerechtigkeit“. Sind also die anderen demokratischen Parteien nicht „für Vernunft und Gerechtigkeit“? Welche Inhalte verbirgt das BHW hinter der Floskel „Für Vernunft und Gerechtigkeit“? Das ist eine politische Frage. Eine Antwort bietet die philosophische Reflexion über „Vernunft“ und danach auch zur „Gerechtigkeit“.

4.
Vernunft ist ein universaler Begriff, der die auszeichende Qualität jedes Menschen beschreibt.

5.
Vernunft muss von Verstand unterschieden werden: Verstand bezieht sich auf den technischen, praktischen Umgang mit Welt. Vernunft ist die Selbstreflexion des Geistes, zum Beispiel auf die vorgegebenen Strukturen der Vernunft. Philosophen nennen diese das Apriori, die geistige Dimension, die kein Menschen in eigener Tat beseitigen kann, etwa die Bindung an Wahrheit: Alle Lügner behaupten noch, die Wahrheit zu sagen. Vernunft benennt das Allgemeine, das alle Menschen als Menschen miteinander verbindet: Das Denken und Reflektieren, der Geist, der sich sprachlich äußert.

6.
Vernunft entdeckt im Denken, in der Reflexion durch sich selbst und auf sich selbst, den sachlichen Inhalt dessen, was Vernunft ist. Das heißt:
Vernunft kann ihre inhaltlichen Bestimmungen nur aus sich selbst entwickeln. Inhaltliche Vernunft-Bestimmungen werden also im philosophischen, kritischen Reflektieren auf die Wirklichkeit der Vernunft „entdeckt“.
Dabei zeigt sich: In der Vernunft gibt es absolut geltende Grundsätze: Etwa Kants Prinzip des kategorischen Imperativs, ein formales Kriterium, das anzeigt, unter welchen Bedingungen Handeln der Menschen ethisch wahr oder ethisch falsch ist. Die sich reflektierende Vernunft erkennt also kategorisch geltende Wahrheiten: Der Kategorischen Imperativ ist der absolute, niemals von Menschen abzuschaffende Imperativ: Ethisch handelt nur, also der Würde des Menschseins entsprechend, wer respektiert: Meine persönlichen Maximen für mein Leben sind nur ethisch zu respektieren, wenn sie auch Gesetz für alle anderen Menschen sein können.

In der vernünftigen Reflexion auf die Vernunft als die jedem Menschen gegebene Möglichkeit der Orientierung zeigen sich also die absolut geltenden, universalen Menschenrechte.

Diese evidente Erkenntnis gilt universal, selbst wenn “Menschenrechte” meist nur als politisch-ideologische Floskeln von Politikern missbraucht werden. Menschenrechte gelten selbstverständlich universal, selbst wenn sie in der westlichen Welt enstanden sind und durch die Philosophie der Aufklärung formuliert wurden. Zur aktuellen Bedeutung der Menschenrechte, mit einem Hinweis auf HAITI, siehe Nr. 14.

7.
Vernunft und Menschenrechte sind insofern eins. Auch wenn die vernünftige Reflexion auf die Vernunft immer wieder neue Menschenrechte wahrnimmt, etwa das Menschenrecht, dass kein Mensch Hunger, Analphabetismus, Sklaverei, erleiden darf.

Und es ist ebenso evident, wie sehr die absolut gültige Idee der Menschenrechte missbraucht wurde von Europäern, Politikern, Ökonomen, Kirchenführern, die als Kolonialherren Menschen in Afrika versklavten und die Länder der Afrikaner ausplünderten.

Diese Greueltaten aber sind kein Hindernis, an der Idee der Menschenrechte heute unbedingt festzuhalten und für deren Geltung weltweit zu kämpfen: Was tun denn sonst die NGOs, etwa die Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International usw., als für diese – leider so oft ignorierten – Menschenrechte praktisch und politisch zu kämpfen? 

Sehr schlimm ist nur, dass zentrale Kirchengebäude der Evangelischen Kirche, etwa in Berlin, immer noch, trotz einiger Proteste, ganz ungeniert und offenbar naiv, nach Preußischen Kolonialherren und Kirchen-Chefs, Kaiser Wilhelm I und II, benannt werden, wie etwa die “Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche” in Berlin. LINK:

Die Kirchenleitung weiß selbst, was für einen Skandal mit diesem Titel für ein Gotteshaus sie heute erzeugt, und nennt diese Kirche nur noch schamhaft KWG (analog zum benachbarten KaDeWe ?? ) oder prosaisch “Gedächtniskirche”, um irgendwie ein heiliges Gedächtnis (Demenz?) zu beschwören… Wer wird das noch erleben, dass diese KWG und Gedächtniskirche der Kolonialkaiser einen würdigen, einen humanen, meinetwegen christlichen Titel erhält? Vielleicht im Jahr 2050? Aber dann gibt es ohnehin nur noch sehr sehr wenige Kirchenmitglieder in Berlin…

8.
Der Kategorische Imperativ gilt auch als Maßstab für das Unternehmen BSW, zumal sich das BSW für Vernunft einsetzen will.

Kant
Immanuel Kant

Das Problem ist: Das Programm des BSW will explizit den nationalen Interessen Deutschlands Vorrang geben, das BSW will national sein. Und das Ganze kippt wohl ins Nationalistische um, wenn der Schutz und die Förderung des Nationalen der Abwehr von Zuwanderung von Flüchtlingen und „Fremden“ gegenübergestellt wird. Und dann das Nationale Vorrang haben soll. Die Nation kann niemals oberster Wert sein, auch die Nation und deren Interessen unterstehen dem kategorischen Imperativ. Was wäre eine Nation, etwa in Afrika, die Interessen ihrer Bürger über den Schutz der dort lebenden Deutschen stellen würde? Wer dieses Problem einfacher formuliert haben will, orientiere sich an der universal gelten und universal (theoretisch) anerkannten „Goldenen Regel“.

9.
Der Sozialstaat, der von dem BSW angestrebt wird, ist ein Sozialstaat für Deutsche und für dringend benötige, gut ausgebildete, privilegierte Einwanderer bzw. die wenigen (hochbegabten) anerkannten Flüchtlinge. Das Prinzip Gerechtigkeit, und dies kann nur eine Gerechtigkeit für alle sein, wird also in den Dienst des ökonomischen Vorteils des Nationalen gestellt. Von umfassender Gerechtigkeit kann also keine Rede sein.

10.
Alles Reden von großen, universalen philosophischen Leitbegriffen wie etwa von Vernunft und Gerechtigkeit, muss sich unter die Kriterien der Vernunft stellen, die die Vernunft selbst als absolut gültig erkennt, siehe die Hinweise zum Kategorischen Imperativ. So werden Unklarheiten, Widersprüche, ideologische Bindungen etwa auch im Reden von Freiheit und Gerechtigkeit frei gelegt.

11.
Welche Erkenntnis bleibt nach einer philosophischen Mediation über „Vernunft und Gerechtigkeit“? Nach dem Ende der Post-Moderne und der von den postmodernen Denkern geforderten Relativität von allem, erkennen wir heute mit philosophischer Evidenz: Es gibt für das Leben und Überleben der verschiedenen Zivilisation bzw. Kulturen bzw. Nationen universale Gebote des Handelns (von universalen Werten zu sprechen wäre wohl noch zu beliebig). Auch die Prinzipien des BSW müssen unter diese Kriterien gestellt werden. Unter den ersten Mitstreitern des BSW sind explizit Putin-Freunde dabei, also Leute, die mit diesem Aggressor noch verhandeln wollen und meinen, er möchte über den Frieden (als Anerkennung der Realität des umfassenden Ukrainischen Staates) verhandeln.
Diese naive Haltung der „Putin – Versteher“ im BSW zeigt, wie eingegrenzt das Vernunft-Verständnis dieses Bündnisses ist.

12.
Zur Erinnerung: Putin ist mit seiner zerstörerischen Kriegspolitik gegen universale Menschenrechte gerichtet, siehe dazu die jüngsten Erläuterungen zu Putins Rede am 5. Oktober 2023 im Club „Valdai“, Putin sagte klipp und klar: “Das internationale moderne Recht, konstruiert auf das Basis der Vereinten Nationen, (also die Menschenrechte, CM) ist überholt und muss zerstört werden, und man muss irgend eine neue Sache schaffen“. Auch die Verbundenheit Putins mit Hamas wurde in dieser Rede wieder deutlich.
Siehe dazu:   LINK

13.
Abgesehen von der Nähe des BSW zu Putin: Das BSW ist ein unvernünftiges Projekt. Es kann vor der evidenten philosophischen Reflexion nicht bestehen.

14.

Ergänzung zur aktuellen Bedeutung der Menschenrechte: Der Schrei der Gequälten und Sterbenden in den Lagern Chinas, Russlands, Irans, Saudi-Arabien usw. ist der Schrei nach der Geltung von Menschenrechten, selbstverständlich der nun einmal in der westlichen Welt formulierten UNIVERSALEN Menschenrechte. Diesen Zusammenhang festzustellen, hat absolut gar nichts mit “Kolonialismus” zu tun. Ein weiteres aktuelles Beispiele: Wer setzt sich für die Menschen in HAITI ein, wie viele Reportagen und Sondersendungen werden zum grauenhaften Sterben dort im europäischen Fernsehen gezeigt? Ist diese Ignoranz Ausdruck von Rassismus? Haiti ist ein untergehender, eigentlich schon ein untergegangener  Staat in der Hand der Drogenbanden… Die Bevölkerung (ver)hungert….Im 3. Quartal 2023 wurden dort 1.239 Menschen ermordet, 700 HaitianerInnen wurden entführt, darunter 221 Frauen und 26 Kinder. (Quelle: Vatican news, am 24. Oktober 2023, oder auch Tagesschau ARD 23.10.2023: LINK:

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Konfessionen, Kirchen, Religionen relativieren – zugunsten einer universalen Vernunftreligion.

Warum Immanuel Kant Frieden stiften könnte … und zu einem Vorschlag des Ägyptologen Jan Assmann.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Hinweis erinnert an Erkenntnisse der Philosophie zur Überwindung dogmatisch – fixierter Theologien bzw. Ideologien in Kirchen und Religionen. Philosophie muss solche Erkenntnisse formulieren, verbreiten und zur Diskussion stellen, selbst wenn die Aussichten auf Erfolg, d.h. praktisch-politischen Respekt,  minimal sind. Aber: Es gibt auch Verpflichtungen vernünftigen Denkens. Daran ist festzuhalten, selbst wenn allgemein menschliche, vernünftige Erkenntnisse von (sich religiös nennenden) Terroristen nicht beachtet werden, wie etwa von der Hamas in ihrem Krieg gegen jüdische Menschen in Israel wie auch gegen muslimischen Menschen („Nicht-Hamas-Freunde“) in Gaza.

ERSTER TEIL: Allgemeine Grundsätze

1.
Die gegenwärtigen (und früheren) Kriege sind auch von Religionen bzw. Theologien motiviert und unterstützt, und mit denen haben sich oft Ideologien des Nationalismus zu einer Einheit verbunden. Es ist immer eine fundamentalistische Form religiösen Glaubens, die zu Aggression, Krieg und Auslöschung des „anderen“ (des Feindes) führt. Diese Aggressionen gegen „andere“ haben auch ihre Wurzeln in den Mythen und Erzählungen („heiligen Schriften“) der monotheistischen Religionen. Das heißt: Religionen und Konfessionen, Kirchen, die behaupten, DIE Wahrheit, also die absolute, für alle gültige Wahrheit zu besitzen, müssen schon aufgrund dieser Ideologie den anderen, den „Nichtglaubenden“ und „Anders-Glaubenden“ aggressiv gegenüber treten und sogar zur Konversion auffordern, wenn nicht zwingen, falls die „anderen“ überleben wollen. Die Missionsgeschichte etwa der Christen und Muslime bietet dafür zahllose Beispiele.

2.
Religiöser Glaube kann zu militantem Wahn, werden: Diese Ideologie (oft Theologie genannt) bezieht sich auf Worte aus den Büchern der „göttlichen Offenbarung“: Diese „Offenbarung“ – Interpretation wird aus Gründen politischer Macht ins Reale, Politische, hineingezogen, also aktuell – wortwörtlich, d.h. fundamentalistisch, verstanden. Dabei sind es Mythen, literarische Erzählungen aus uralten Zeiten, die als „Offenbarungen“ Gottes behauptet werden und nun im 21. Jahrhundert noch wegweisend sein sollen. Und dabei werden die vernünftigen Erkenntnisse der universal geltenden Menschenrechte nicht nur ignoriert, sondern verurteilt und bekämpft.

3.
In unserer pluralistischen Welt kann das Kriterium fürs Verstehen religiöser Traditionen niemals aus der dogmatischen Lehre einer Religionen oder Kirche hergeleitet werden. Deren Horizont ist viel zu begrenzt, dogmatisch und intellektuell viel zu verschlossen, um kritische Erkenntnisse für heute zu befördern. Kriterium für ein Verstehen der Religionen, auch ihrer Mythen, ihrer Erzählungen, ihrer Dogmen und Moral-Lehren, ist darum einzig die allgemeine kritische, den universalen Menschenrechten verpflichtete Vernunft. Diese Einsicht wird aber von den Religionen und Konfessionen im eigenen Interesse verdrängt und verfolgt, aber Theologen ahnen: Nur die Anerkennung eines vernünftigen Kriteriums in der Interpretation der Religionen und ihrer „heiligen Bücher“ befreit vom traditionell etablierten, fundamentalistischen Wahn, der zu Gewalt und Krieg führt.

4.
Der katholische Theologe Hans Küng hat recht, wenn er sagte: „Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden zwischen den Religionen“. Dies ist sein Motto und Programm des Weltethos-Projektes. (vgl.“Projekt Weltethos“, 1980). Aber die Religionen müssen, um friedlich zu werden, den Prozess der Selbstkritik durchlaufen, ehe sie wirksam zu Frieden auffordern können. Die Religionen und Kirchen müssen selbst friedlich werden und tolerant, ehe sie selbst glaubhaft und wirksam Frieden stiften können. Sonst bleibt es bei den üblichen, hundertfach bekannten Dialog-Debatten prominenter religiöser Führer und den Aufrufen zu Gebeten für den Frieden. Mit dem Friedensgebet wird – etwa von Päpsten bis heute – unterstellt: Ein persönlicher Gott im Himmel hört die Gebete der Frommen und wirkt dann als Gott je nach Belieben Wunder, die den Frieden bringen. Manche fragen sich:
Wie soll sich Gott bloß entscheiden, wenn etwa im 1. Weltkrieg deutsche Katholiken für den Sieg Deutschlands, französische Katholiken für den Sieg Frankreichs beteten. Aktuellere Beispiele für ein solches nationalistisches Gebets-Verhalten gibt es es viele.

5.
Wenn die Ideologien (Theologien) der Religionen und Konfessionen so bleiben wie sie sind, also sich fundamentalistisch äußern und entsprechende gläubige Zustimmung in der jeweiligen Bevölkerung finden, kann es keinen Frieden unter den kulturell und religiös verschiedenen Menschen geben.

6.
Die entscheidende Frage also heißt: Können heutige, sich selbst absolut setzende Religionen lernen und sich neu orientieren, indem sie auf ihre vertrauten dogmatischen Bestimmungen verzichten oder diese nach Grundsätzen der allgemeinen humanen Vernunft interpretieren?

7.
Nur eine radikale Reform der Inhalte (Theologien, Ideologien) aller Religionen kann zum Frieden führen. Und Reform heißt: Radikale Reduzierung der Dogmen, historisch-kritische Lektüre der so genannten heiligen Schiften: Sie können gar nicht „Wort“ eines in die Welt reinredenden Gottes sein, sondern sie sind bunt gemischte, vielfältige, zum Teil widersprüchliche religiöse Poesie einer bestimmten Zeit.

ZWEITER TEIL: Über Immanuel Kants Vorschläge

Kant
Kant

8.
In seiner „Religionsschrift“, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793, 2. Auflage schon 1794, nach dieser Ausgabe wird, wie üblich, mit „B“ versehen, zitiert), setzt sich Immanuel Kant kritisch, mit den dogmatisch bestimmten christlichen Kirchen („Kirchenglauben“, B 253) auseinander. Er zeigt, wie diese Kirchen vom abgehoben herrschenden „despotischen“ Klerus (B 277) bestimmt sind, wie die Glaubenden in ihrer religiösen Praxis zum Aberglauben und Wunderglauben geführt werden, wie dieser Kirchenglaube insgesamt die Menschen unfrei macht („in eine Beherrschung der Mitglieder der Kirche führt“ B 251).

9.
Weil die dogmatischen, von „Statuten“ (wie Kant sagt) bestimmten Kirchen die göttliche Wirklichkeit nach außen, in die „Ereignis – Geschichte“, auch in die Mythen und Erzählungen versetzen und die göttliche Idee eben nicht im Innern der allgemeinen Vernunft suchen (B 255), kommt es zum ständigen Streit und Kampf über die richtige Interpretation all dieser äußeren, angeblich göttlichen Gegebenheiten. Jede Kirchen hält sich, so Kant, „für die ein(z)ige allgemeine Kirche“ (also die allein selig machende, CM), deswegen wird „der, welcher ihren besonderen Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehasst“ (B 155, 156). Kant spricht dann weiter von Irrgläubigen und Ketzern, die als Abweichler von den jeweiligen Kirchen bestraft und ausgesondert werden.
Kant nennt diese allgemeine kirchliche Verirrung „Religionswahn“, der im Aberglauben gründet. Dieser kirchliche Aberglaube ist völlig dem „wahren, von Gott selbst (in der Offenbarung durch die Vernunft, CM) geforderten Dienst (der Nächstenliebe) entgegen“ (B 256). Es geht Kant um die Anerkennung der Erkenntnis: „Die Erfüllung aller Menschenpflichten ALS göttlicher Gebote, ist es, was das Wesentliche aller Religionen (!) ausmacht“ (B 158). „Das Lesen der heiligen Schriften oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen“ (B 161). Dies ist das „oberste Prinzip aller Schriftauslegung“ (ebd.) Es kommt darauf an, beim Studium des auf Geschichte und heilige Bücher fixierten Kirchenglaubens zu entdecken, „was darin eigentliche Religion (also Vernunftreligion, CM) ist“ (B 162).
Der Vernunftglaube lebt also bereits fragmentarisch in den einzelnen Religionen, wie sollte es auch anders sein, ist Religion immer auch unvollständiger und weithin unvernünftiger Ausdruck des menschlichen Geistes bzw. der Vernunft…

10.
Nebenbei: Kant erwähnt in Fußnoten auch den „Mohammedanismus“ (B 285, Fn. 1), „Er findet in den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens…“ Für den „jüdischen Glauben“ (B 186) sieht Kant die entscheidende Mitte in dessen Fixierung auf „bloß statutarische (also äußerliche, historisch gegebene Satzungen, CM) Gesetze“ (B 186).

11.
Ein Ausweg aus dem konfessionalistischen Religionswahn (den Kant zur Zeit König Friedrich Wilhelm II. in dessen Schikanen und Zensurbestimmungen erlebte,) sieht Kant in der Förderung einer allgemeinen, alle „wohldenkenden Menschen“ betreffenden „unsichtbaren Kirche“ (B 271). Diese unsichtbare, d.h. institutionell nicht wahrnehmbare, aber geistig lebendige Kirche entwickelt aus der allgemeinen Vernunft drei in der Sicht Kants evidente Grundsätze: Den Glauben an einen göttlichen Schöpfer der Welt, die Überzeugung von der Freiheit eines jeden Menschen und die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele des Menschen. Diese allgemeine, „alle Menschen betreffende Vernunftreligion muss auf Vernunft gegründet sein“ (B 163).

12.
Das Erstaunliche ist: Kant „plädiert für eine „allgemeine Weltreligion“ (B 255). Dieser Vorschlag einer allgemeinen Menschheits- Religion entspricht der Idee der „unsichtbaren Kirche“, wie Kant sagt, also der Kirche aller „Wohlgesinnten“, die eine „wahre alleinige Religion“ leben. Diese Religion wird nicht durch äußere Offenbarung vermittelt, sie „offenbart sich im Menschen durch reine Vernunft“ (B 255). „Der reine Vernunftglaube beweist sich selbst“ (B 194), er ist also für jeden Menschen evident.

13.
Aber noch besteht, sagt Kant, der fest etablierte Kirchenglaube. Deswegen vollzieht sich der Übergang zur allgemeinen Vernunftreligion langsam (B 181), die als Vernunft aber auch einen ethischen vernünftigen Staat aufbauen will. „Die wirkliche Errichtung eines ethischen Staates auf Erden als Ziel (den Kant sogar wörtlich als göttlich qualifiziert, B 181) „ist noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (ebd.).

14.
Kant zeigt sich trotz der Repressionen in Preußen zu der Zeit in seiner Religionsschrift durchaus explizit kritisch, wenn nicht polemisch gegenüber der einzelnen dogmatisch – historisch gebundenen Religionen, Konfessionen, die ja Staatsreligionen – von Königen geleitet – damals waren. Von seinem Ziel wird er nicht müde zu sprechen: „Die universale Religion des guten Lebenswandels ist das wahre Ziel des religiösen Menschen, wenn dereinst, so die Hoffnung bzw. Utopie, der Kirchenglaube überwunden ist (vgl. B 269). Erst dann wird Frieden eintreten und die Menschen mit viel weniger Entfremdung leben können…

Dritter TEIL: Moses Mendelssohn und die Vernunftreligion

15.
Immanuel Kant kannte bereits die Publikation des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) mit dem Titel „Jerusalem. Über religiöse Macht und Judentum“. Kant schrieb einen Brief an Mendelssohn am 16.8.1783, kurz nach Erscheinen des Buches. Kant ist voller Bewunderung für Mendelssohn Vorschlag. Worum geht es?
Für den Forscher der Religionsgeschichte der monotheistischen Religionen, den Ägyptologen Jan Assmann, bietet hier Moses Mendelssohn den entscheidenden Unterschied „zwischen den partikularen Religionen wie Judentum, Christentum, Islam einerseits und der allgemeinen Menschheitsreligion (mit ihren von sich aus evidenten Vernunftwahrheiten, CM) andererseits.“ Und Mendelssohn versteht diese Vernunftreligion als eine allen Menschen gemeinsame, auf ihrer gemeinsamen Teilhabe an Gottes Schöpfung beruhende Religiosität. Jeder Mensch gehört demnach zwei Religionen an. Einer bestimmten und angestammten Religion, in die er hineingeboren oder zu der er konvertiert ist, und der allgemeinen Menschheitsreligion. Diese doppelte Mitgliedschaft stiftet, wenn die Menschen sich ihrer nur bewusst werden, Anerkennung und Frieden zwischen den Religionen“ (Jan Assmann, „Totale Religion“, Wien 2016, S. 166).
ABER: Wer sorgt für einen Sieg der Vernunftreligion, wer fördert diese Menschheitsreligion, wo wird sie wie gelehrt in allen Ländern? Dies ist die entscheidende Frage, gerade jetzt.

VIERTER TEIL:  Jan Assmann und die “religio duplex”

16.
In seinem Buch „Totale Religion“ spricht Jan Assmann von der „Religio Duplex“, der doppelten religiösen Bindung, die Menschen leben sollten: Einerseits die Bindung an eine bestimmte Konfession, in der man möglicherweise als Kind erzogen wird.Und der allgemeinen Vernunftreligion, die einige wenige vernünftige religiöse Prinzipien artikuliert. Diese allgemeine Vernunft ist universal für alle Menschen und deswegen wichtiger als die Bindung an die enge, historisch-dogmatische Konfession, in der man groß geworden ist. Und Assmann erinnert auch (S. 172) an die „Goldene Regel“ („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“): „Niemand sollte sich unter Berufung auf religiöse Vorschriften bereitfinden, anderen anzutun, was er selbst sich nicht antun lassen will“, so übersetzt Assmann diese uralte, allen Religionen bekannte „Goldene Regel“ in die heutige Problematik.
Assmann weist darauf hin, dass Gandhi diese religiöse Doppelstruktur im Bewusstsein des einzelnen Frommen schätzte: „Alle konkreten Religionen zielen auf die eine, noch versteckte Religion der Wahrheit“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, S. 259). Diese Religion hat mystischen Charakter, betont Assmann, mit ausdrücklichen Bezug auf Jacob Böhme.

17.
Ein Ausweg aus den Formen des militanten religiösen Fundamentalismus könnte auch die Akzeptanz der „Ringparabel“ sein, wie sie Lessing populär gemacht hat, auch darauf weist Jan Assmann hin. Der echte Ring der drei Ringe (Religionen) ist gar nicht zu erweisen. Assmann schreibt: „Das heißt ja nicht, dass es keinen echten Ring gibt und alles nur Einbildung ist, sondern dass die Echtheit des Rings eine Sache des Glaubens und der tätigen Liebe , aber keine Sache des sicheren Besitzes ist. Es gibt die Wahrheit und es gibt Offenbarung, aber da es mehr als eine gibt, bleibt die absolute Wahrheit verborgen“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, 2015, S. 255). Und in demselben Beitrag kommt Assmann auch auf die Religion Duplex zurück: „Der Preis dieser Theologie ist die behutsame Zurücknahme des harten Offenbarungsbegriffes, d.h des absoluten Wahrheitsanspruches einer bestimmten Offenbarung, ihr Gewinn ist die Entschärfung des interreligiösen Konflikts“ (S. 258).

18.
Es ist wohl eine Niederlage der Vernunft, dass diese hier erinnerte Möglichkeit einer Kultur, also dieses Wissens von der Relativität der eigenen religiösen Bindung, aus unserer Zivilisation und aus den Köpfen der Politiker verschwunden ist … bzw. ignoriert wird, gerade weil es nationalistische Machtinteressen stört. Wir leben also in einer Welt, in der Nationalismus, Fundamentalismus, Festhalten an sozialer Ungerechtigkeit die obersten Götter sind. Kant sagt in der“ Religionsschrift“: „Der Eigennutz ist der Gott dieser Welt“ (B 243)… Insofern ist unsere Welt polytheistisch … Der Monotheismus, heute interpretiert, findet sich in der friedensstiftenden universalen Botschaft der Menschenrechte. Ihr Text sollte in den religiösen Veranstaltungen der verschiedenen Religionen genauso oft verlesen und gedeutet werden wie die Bibel des Alten und Neuen Testaments oder des Korans. Warum soll denn nur die Bibel oder der Koran als heilige Buch der Juden, Christen und Muslims gelten? Wenn schon diese Religionen von einem handelnden und „sprechenden“ Gott reden, warum soll dieser Gott nicht auch in universal geltenden vernünftigen Menschenrechten „sprechen“ und sich gerade so – für die Frommen – als der lebendige Gott erweisen? Sind nicht die Menschenrechte Ausdruck eines säkularen Monotheismus?

19.

Siehe auch das Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, + 2023) über das Thema: “Die Menschenrechte Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion?” LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Schweigen spricht. Eine philosophische Meditation.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Philosophisch meditieren bedeutet: In der Stille eine bestimmte Form unseres Lebens im Denken zu analysieren, vielfältige Dimensionen einer bestimmten Frage zu ordnen, um zu einem tieferen Verständnis zu kommen. Damit befreien wir uns durch eigenes Denken von Üblichkeiten (Zwängen) des Alltags. Philosophieren leistet dadurch einen Beitrag zur Lebensorientierung. Das ist ihr erster Zweck. Ihn zu pflegen in dieser ver—rückten Welt, ist dringend.

2.
Schweigen wird oft noch durch Worte eingeleitet: Zum Beispiel: „Ich bin sprachlos“. Oder auch nur: „Sprachlos!“. Ein Wort, das man oft auf Todesanzeigen lesen kann.

3.
Was ist gemeint, wenn ich sage: „Mir fehlen die Worte“: „Ich kann keine Begriffe finden, die das Ereignis ausdrücken und in ein Gespräch führen können“. „Das Ereignis fällt – momentan – aus dem Horizont meines begrifflichen Denkens. Das Ereignis ist größer als mein Verstehen und Denken“.

4.
Ich verstumme also, gewissermaßen aus Unfähigkeit, in dieser Situation noch verbal zu sprechen: In der Literatur und in Alltagserfahrungen, wie in Krankheit oder im Krieg, gibt es viele Beispiele von Menschen, die für lange Zeit verstummen. Sie machen sich noch die Mühe des Überlebens, aber sie sagen kein Wort mehr. Aber ihr bloßes verstummtes Dasein spricht, hat Bedeutungen…

5.
Schweigen spricht: Das heißt: Die Haltung des Schweigens wird von anderen nicht nur wahrgenommen, sondern gedeutet, etwa: bedauert oder als Arroganz zurückgewiesen. Schweigen ist für den Schweigenden immer ein Tun des Sich – Äußerns. Schweigen ist eine Äußerung ohne Worte. Der Schweigende schreibt noch, er geht spazieren, er pflegt seinen Garten, er meditiert..

6.
Beide Möglichkeiten des Sich-Äüßerns, das verbale Sprechen wie das Schweigen, sind immer mehrdeutig: Der verbal Sprechende kann Lügen verbreiten, der Schweigende kann die Haltung seines schweigsamen Erschüttertseins nur vorspielen. Der viel Redende kann viel Unsinn sprechen. Der in Gesprächsrunden nur dasitzende Schweigende kann Nachdenklichkeit oder intellektuelle Überlegenheit nur vortäuschen. Das „authentische“ verbale Sprechen und Schweigen zeigt sich als solches erst im Rückblick. Kommunikation ist immer ein Risiko der Wahrheit.

7.
Schweigen bleibt also eine Form des Sprechens, also des Sich – Äußerns, und es steht auf einer Ebene mit dem verbalen Sprechen. Verbales Sprechen und Schweigen sind gleich viel wert.

8.
Und vor allem: Verbales Sprechen und Schweigen sind miteinander verbunden. Schweigen hat seinen Ort in der Stille, in der Ruhe, in der Einsamkeit.
Deswegen wird im Schweigen reflektiert, nicht nur über das eigene Leben und die Welt im ganzen, sondern auch über die Qualität der sprachlichen Rede, der eigenen wie der Rede der anderen.

9.
Schweigen im zeitlich begrenzten Rückzug in die Stille macht die dann folgende eigene Rede erst wertvoll. Um über das Wetter zu plaudern, braucht es nicht den Rückzug in die Stille des Schweigens. Wer aber sich selbst mitteilen will, wer versucht, Aspekte der Welterfahrung oder der Kunst oder des Lebens und Liebens auszusagen, muss vorher die Stille des Schweigens erlebt haben. Gibt es noch ein Gespür dafür, dass sich einige Menschen, Dichter, Künstler, Philosophen, Mystiker, Musiker, “aus der Erfahrung des Schweigens” äußern, sprechen?

10.
Die permanenten verbalen Äußerungen von Politikern zu „allem Möglichen“ werden deswegen so schnell vergessen, weil sie eher der Welt des Geredes als der Welt der reflektierten Argumente angehören. Demokratische Politiker plaudern zu viel und erklären zu wenig die Bedingungen des Lebens in der Demokratie. Rechtsextreme Politiker und Diktatoren lügen permanent, finden aber Dumme, die den Blödsinn glauben.
Viele der ständigen Talkshows sind oft nur Shows von Journalisten und Politikern, denen es eher um ihr Ego und ihre Karriere geht als um die Erschließung von Wahrheiten, auch von unbequemen Wahrheiten. Diese werden aus taktischen Gründen der Karriere oft verschwiegen.

11.
Ein philosophischer Vorschlag: Es sollte überhaupt nicht als peinlich gelten, wenn sich TeilnehmerInnen von Gesprächsrunden Momente des Schweigens erlauben. Also Momente, in denen möglicherweise besser nachgedacht werden kann als in dem permanenten Gerede und polemischen Aufeinander-Einreden.
Das gemeinsame Schweigen sollte jeder und jede aushalten und als Chance wahrnehmen, wieder ins eigene kritische Denken zu finden. Nichts ist störender, wenn einzelne die Stille der Pause durch verlegenes Gequatsche überbrücken wollen.

12.
Schweigeminuten, von Regierungen manchmal verordnet, heißen oft auch „Gedenkminuten“. Die Verbundenheit von Schweigen und Denken wird da einmal mehr betont, wenn auch diese offiziellen Schweigeminuten meist nur oberflächlich als „Pflichtübungen“ hingenommen werden.

13.
Aber es ist für eine Philosophie als Form der Lebensgestaltung alles andere als oberflächlich oder sogar albern, auch „Schweigeminuten“ als spirituelle Praxis den einzelnen anzuempfehlen. Aus fünf Minuten Schweigen kann dann auch eine Viertelstunde werden, in denen der einzelne in Stille dasitzt und schweigt, die vielen Gedanken vertreibt und vielleicht nur einen wichtigen Gedanken bedenkt, etwa als Beitrag für ein künftiges Gespräch.
Ohne konkrete Vorschläge bleibt alles Philosophieren als Lebenshaltung abstrakt…Ganz andere Vorschläge sind aber für Menschen notwendig, die lange Zeit allein leben und oft tagelang mit niemandem sprechen können. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die einen permanent reden, um nicht zu sagen quatschen (vor allem über die so genannten sozialen Netzwerke) und viele andere, die ins Verstummen abgedrängt sind, die Alten, die Kranken, die Flüchtlinge in ihren Notunterkünften….

14.
Schweigt Gott?

Diese Frage sollte in einem „religionsphilosophischen Salon“ nicht fehlen. Eine schwierige Frage. Wir meinen: Gott als Gott, also der Ewige, der Absolute, wie auch immer man die klassischen Gottes -„Namen“ wählt, kann gar nicht sprechen und auch nicht schweigen. Er ist weder ein Ding noch ein Mensch. Einige fromme Menschen fühlten sich aber berufen, ihre religiöse Lebenserfahrung in Büchern, Bibel, Koran, niederzuschreiben und diese ihre Texte dann als Gottes Wort auszugeben.
Aber es kann gar nicht Gott als Gott sein, der da in diesen Büchern, in diesen Texten spricht. Es sind religiöse Menschen, die da ihre immer diskutablen religiösen oder moralischen Überzeugungen mitteilen. Und ihre Äußerungen für Gottes Wort halten und so “verkaufen”. Die Macht des Klerus in allen Religionen bedient sich dieser Behauptung, “Gottes Wort” als solches zu besitzen. So entsteht in allen Religionen gewalttätiger Fundamentalismus.

15.
Wenn überhaupt eine „absolute“, eine von Menschen nicht manipulierbare Wirklichkeit  wahrnehmbar ist im Leben, also „spricht“, dann nur im Gewissen eines jeden. Dort zeigt sich ein absoluter Anruf, der vom Menschen nur mit innerer Gewalt „abzuschalten“ ist.

Was hört da jeder Mensch?: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns auch allgemeines Gesetz für alle Menschen werden kann.“
Diese einfache , schwache „Sprache“ eines Absoluten im Gewissen ist machtlos, sie überlässt sich der freien Antwort der Menschen. Und die Menschen überhören oft diese „Sprache“, ziehen das alltägliche Gerede und Geplapper vor – so meinen sie, ihren Egoismus als Grundoption ihres Lebens am besten kaschieren zu können. Das Gewissen verstummt dann irgendwann und die Unvernunft beginnt ihre – auch politische – Herrschaft.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin